Pater Franziskus Maria vom Kreuz Jordan, der Gründer der Salvatorianer, wird am 15. Mai 2021 in der Lateranbasilika in Rom seliggesprochen. Damit geht ein lang ersehnter Wunsch der Ordensgemeinschaft in Erfüllung. Die Erhebung eines deutschen Ordensgründers zur Ehre der Altäre aber ist für die ganze Kirche in Deutschland ein Geschenk. Dabei dürfen wir das Charisma von P. Jordan als besonderes Licht für unsere Zeit verstehen. Denn er gilt als Vorläufer der Neuevangelisierung. Und damit kann er uns wichtige Impulse schenken.
Geboren wurde er am 16. Juni 1848 im badischen Gurtweil bei Waldshut als Johann Baptist Jordan, gestorben ist er am 8. September 1918 im Armenspital in Tafers in der Schweiz. Sein Grab befindet sich heute im Mutterhaus des Ordens in Rom.
Als er am 8. Dezember 1881 die „Apostolische Lehrgesellschaft“ ins Leben rief, war er 33 Jahre alt. Ihm schwebte eine große Gemeinschaft aus allen Ständen vor, welche das Feuer des Glaubens in den Herzen der Menschen neu entzünden sollte. Denn schon damals beobachtete er ein Verdunsten des Glaubens und sah einen gewaltigen Abfall voraus. Sein großes Anliegen war es, die theologischen Wahrheiten verständlich unter die Menschen zu bringen. Und daran sollten sich alle Christen beteiligen, insbesondere auch Frauen. Sicherlich war er mit dieser Vision seiner Zeit weit voraus. Doch heute hat sich die Kirche sein Programm im Aufruf zur Neuevangelisierung zu eigen gemacht.
P. Jordan hat uns ein geistliches Tagebuch hinterlassen, das uns einen wunderbaren Einblick in seine Spiritualität und in seinen missionarischen Geist gewährt. Für ihn waren Zusammenhalt und Einheit unter den Mitarbeitern im Weinberg des Herrn entscheidend für eine wirksame Verkündigung des Evangeliums. So schreibt er: „Unsere Gesellschaft soll einen echten Kommunismus und Sozialismus leben, wie ihn die ersten Christen geübt haben.“
„Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast“ (Joh 17,3). Davon war P. Jordan ergriffen. Alles war darauf ausgerichtet, Jesus Christus bekannt zu machen und die Blicke der Menschen auf das Ewige auszurichten. Immer wieder finden sich Worte wie: „Richte doch deine Blicke hinauf, wo dir die ewigen Freunde stets die himmlische Heimat zeigen! Suche dem zu gefallen, bei dem du ewig bleiben darfst!“ – „Sorge dafür, dass die Mitglieder Geschmack finden am Himmlischen, nicht am Irdischen!“
Und man staunt nicht wenig, wenn man liest, welchen Platz er bei all seinen Verpflichtungen und organisatorischen Aufgaben dem Gebet eingeräumt hat. Er hämmert es sich gleichsam ein, wenn er wiederholt schreibt: „Franz, bete inständig!“ – „Nimm dir täglich wenigstens sieben Stunden Zeit für das Gebet! Hörst du!? Unterlasse es nicht!“ – „Widme dich täglich sieben Stunden!“ Ohne Gebet werden sich die Herzen nicht für die Gnade öffnen.
Wir freuen uns, dass wir P. Dr. Stephan Otto Horn SDB dafür gewinnen konnten, uns in die Bedeutung des neuen Seligen einzuführen. Er gehört selbst dem Salvatorianer-Orden an und steht als langjähriger Mitarbeiter Benedikt XVI. sehr nahe.
Liebe Leser, aufrichtig danken wir Ihnen für Ihre großherzige Unterstützung unseres Apostolats (bitte beachten Sie, dass wir eine neue Bankverbindung haben: IBAN: DE46 7116 0000 0001 1905 80; BIC: GENODEF1VRR). In seiner neuen Enzyklika „Fratelli tutti“ erinnert Papst Franziskus an die „universale Mutterschaft“ Mariens, die „eine neue Welt gebären will, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen“. Auf Ihre Fürsprache erbitten wir Ihnen Gottes reichsten Segen.
Zur bevorstehenden Seligsprechung von P. Franziskus Jordan SDS
Vorläufer der Neuevangelisierung
P. Dr. Stephan Otto Horn SDS (geb. 1934) ist „prominentes“ Mitglied des Salvatorianer-Ordens, dessen Gründer, P. Franziskus Maria vom Kreuze Jordan (1848-1918), am 15. Mai 2021 in der Lateranbasilika in Rom seliggesprochen werden soll. P. Stephan war von 1981 bis 1986 Professor für Dogmatik in Augsburg und von 1986 bis 1999 Professor für Fundamentaltheologie in Passau. Als ehemaliger Assistent bei Professor Joseph Ratzinger in Regensburg war er bis vor kurzem Sprecher des „Schülerkreises von Joseph Ratzinger – Papst Benedikt XVI.“. Noch heute engagiert er sich für das „Wiener Studienhaus Johannes von Damaskus“. Im nachfolgenden Interview gibt Horn einen wertvollen Einblick in das Lebenswerk von P. Jordan und stellt dessen Bedeutung für die heutige Zeit heraus. Am Ende geht er auch auf Benedikt XVI. und das Wiener Studienhaus ein.
Kirche heute-Interview mit P. Stephan Otto Horn SDS
KIRCHE heute:Herr Pater Stephan, Sie gehören dem Salvatorianer-Orden an. Wie haben Sie den Weg in diese Ordensgemeinschaft gefunden?
Prof. Dr. Horn: Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Salvatorianer in Wurzach im Allgäu ein Humanistisches Gymnasium und ein Internat eröffnet, in dem ich heranwachsen durfte. Dort habe ich mich bald wie in einer guten Familie daheim gefühlt und dort erfuhr ich auch von der missionarischen Tätigkeit der salvatorianischen Ordensgemeinschaft. Beides hat mich angezogen. Erst später ist mir aufgegangen, wie sehr das Leben in unserem Haus von der Spiritualität des Gründers geprägt war.
Der Orden erwartet in Bälde die Seligsprechung von P. Franziskus Maria vom Kreuze Jordan, dem Gründer Ihres Ordens. Der Prozess hat sich lange hingezogen. Welche Hindernisse gab es auf dem Weg zur Seligsprechung und was führte nun zum Durchbruch?
Schon früh war bei denen, die dem Gründer nahe standen, die Überzeugung gereift, dass er bei allen inneren Anfechtungen und äußeren Schwierigkeiten sich radikal in den Dienst Christi gestellt hatte und ganz aus dem Vertrauen auf Gottes Vorsehung lebte. Gleichzeitig war er manchen seiner Mitbrüder aber auch zu kühn und zu wenig klug. Sein Nachfolger, P. Pancratius Pfeiffer, ging zunächst daran, Erkundigungen besonders über seine frühen Jahre zu sammeln: angefangen von seinem Leben in der Familie in Gurtweil und in der Malerwerkstatt in Waldshut, über den Schüler im Gymnasium in Konstanz und den Studenten der Theologie und der Sprachen in Freiburg im Breisgau bis hin zum Seminaristen in St. Peter im Schwarzwald. 1931 konnte er eine Biografie veröffentlichen, in der er auch auf die genannten Bedenken einging. Während des Zweiten Weltkriegs und danach wurden Diözesanprozesse geführt, in denen über hundert Zeugen des Lebens von P. Franziskus zu Wort kamen. Schwierigkeiten ergaben sich angesichts unterschiedlicher Beurteilungen seiner Person in zwei anderen Prozessen, dem der Mitgründerin der Salvatorianerinnen, der 1968 seliggesprochenen Maria von den Aposteln Wüllenweber, und dem der Ehrwürdigen Dienerin Gottes, Schwester Franziska Streitel, der Oberin der ersten Schwesterngemeinschaft, die er mit ihr in Rom ins Leben gerufen hatte. Besonders nach dem Konzil und den frühen nachkonziliaren Krisenjahren wuchs in den salvatorianischen Gemeinschaften das Interesse an der Seligsprechung. Dies brachte eine Intensivierung der Forschung. Der Durchbruch kam, als die Kommissionen des Vatikans – die historische Kommission und die theologische – sich einmütig für die vorgelegte Darstellung seines Lebens und für die Heroizität der Tugenden von P. Jordan aussprachen. So wurde 2011 von Papst Benedikt XVI. die Vorbildlichkeit seines Lebens anerkannt. Einen letzten Durchbruch brachte nun vor kurzem die Anerkennung eines Wunders durch Papst Franziskus. So dürfen wir nun seine Seligsprechung am 15. Mai des kommenden Jahres in der Lateranbasilika erleben, die an erster Stelle den Namen „Archibasilica Sanctissimi Salvatoris“ trägt.
P. Jordan wird als Visionär bezeichnet. Was war seine Vision? Worin bestehen seine zukunftsweisenden Impulse?
Um auf diese Frage einzugehen, könnte ich zunächst auf Erfahrungen des jungen Baptist Jordan, unseres späteren P. Franziskus, verweisen. In seinem zweiten Studienjahr an der Universität in Freiburg wurde ihm eines Tages eine innere Eingebung geschenkt, in der er die Nähe Gottes verspürte, aber zugleich erahnte, wie sehr der Glaube in Deutschland und Europa gefährdet war. So erfasste er mehr und mehr die Aufgabe, ihn neu zu erwecken. Er selbst hatte besonders bei der Ersten Kommunion eine solche Erweckung erlebt und seitdem ein intensives geistliches Leben in der Freude an Gott begonnen. Mit diesen inneren Erfahrungen verband sich die Begegnung mit missionarischen Menschen und Bewegungen, besonders mit Arnold Janssen und seiner missionarischen Initiative in Steyl und mit Kanonikus Schorderet in Freiburg in der Schweiz mit seinem Presseapostolat. Bald erfasste ihn mehr und mehr der Sendungsauftrag Jesu an seine Jünger, zu allen Völkern zu gehen und ihnen seine Botschaft zu verkünden. Seine Vision war es, ein neues missionarisches Bewusstsein zu vermitteln. Er gehört also zu Gestalten, die den Missionsauftrag des Herrn neu erfassten und die man zugleich als Vorläufer einer Neuevangelisierung verstehen kann. Das hieß für ihn die Aufgabe, allen und besonders den jungen Menschen eine persönliche Beziehung zu Jesus zu vermitteln. Damit verband sich für ihn die Aufgabe, den Eltern und anderen für die Erziehung Verantwortlichen zu helfen, ihre apostolische Berufung besser zu erfüllen. Er erspürte, dass dabei die Medien negativ wie positiv eine besondere Rolle spielten und begann sein Apostolat damit, für die deutschsprachigen Länder eine Zeitschrift für die Familien herauszugeben, der er den Namen „Missionär“ gab. Für den früheren Präfekten der Kongregation für die Heiligsprechungen, Kardinal Angelo Amato, ist P. Franziskus Jordan eine große missionarische Gestalt, welche mit seiner Vision gerade heute wichtig ist: den Gläubigen das tiefe Bewusstsein zu vermitteln, dass sie eine missionarische Berufung haben. Das gibt seiner Seligsprechung ein großes Gewicht für die heutige Kirche.
Von P. Jordan ist ein geistliches Tagebuch erhalten, das er schon als Student begonnen und bis zu seinem Tod geführt hat. Was offenbart dieses Tagebuch über seinen geistlichen Werdegang?
Es gibt uns in einem ersten großen Teil Einblick in geistliche Erfahrungen des Studenten und des Seminaristen. Es sind Erfahrungen innerer Dunkelheit und Verlassenheit, aber auch der Nähe Gottes. Es zeigt uns sein geistliches Ringen um die Berufung und Notizen, in denen er erste Skizzen über eine apostolische Gemeinschaft niederlegte. Es zeigt uns seine Liebe zur Heiligen Schrift und zu den Worten von Kirchenvätern. Seine Sprachenbegabung gab ihm auch die Möglichkeit, aus ganz unterschiedlichen geistlichen Schriftstellern zu schöpfen. Wir sehen seine Freude an der Begegnung mit dem Herrn in der Eucharistie, aber auch seine Bereitschaft, für die Botschaft des Evangeliums Widerspruch und Verachtung auf sich zu nehmen. Das ganze Tagebuch zeigt uns kaum Reflexionen, sondern eher knappe Worte, die aus dem Herzen kamen, geistliche Erfahrungen, Worte der Sehnsucht nach dem Heil aller Menschen in Christus, des Vertrauens, der Bereitschaft. Es zeigt uns notvolle, wie von Glück erfüllte Gebete und Vorsätze eines Gläubigen, der viel zu ringen hat. P. Franziskus Jordan kann durch sein Geistliches Tagebuch gut zum täglichen Begleiter im Alltag des Lebens werden, der stärkt und ermutigt. Es zeigt wohl kaum große Einschnitte in seinem geistlichen Werdegang, abgesehen von dem inneren Geschehen eines Bundes mit Gott am Allerheiligen-Fest 1891. Es ist wie ein Brennpunkt, in dem er seine Berufung endgültig bejaht und in Gott verankert hat.
Was hat den jungen Priester Johann Baptist Jordan aus Deutschland zur Gründung eines neuen Ordens bewogen? Welche entscheidenden Meilensteine weist die Entstehungsgeschichte des Salvatorianer-Ordens auf?
Ich habe schon geschildert, wie sehr das Gespür für die beginnende Säkularisierung und damit die Gefährdung des Glaubens ihm ins Herz gedrungen war. Diesem Abfall vom Glauben wollte er sich entgegenstellen. So trafen ihn die Sendungsworte Jesu an seine Jünger, in alle Welt zu gehen, ganz tief. Es stellte sich ihm nun schon in seiner Studienzeit in Freiburg die Frage, ob Gott von ihm die Gründung einer apostolischen Gemeinschaft erwarte. Diese Frage bedrängte ihn vor allem in seinem Seminarjahr in St. Peter im Schwarzwald und begleitete ihn nach seiner Priesterweihe weiter in Rom, wo er orientalische Sprachen studierte. In diesem Zusammenhang machte er eine große Reise nach Alexandrien und Kairo, Jerusalem und in den Libanon. In Jerusalem begegnete er einem großen Missionar, dem späteren Kardinal Massaja, der ihm die Echtheit seiner Berufung bestätigte. Mit dem Segen von Papst Leo XIII. im September 1880 begann er mit Feuereifer, seine Pläne ins Werk zu setzen. Er dachte zunächst an eine dreigliedrige Gemeinschaft – erstens an missionarische Priester und männliche Laien, aber auch an Frauen, die sich gemäß den evangelischen Räten ganz dem apostolischen Dienst hingeben sollten, dann an Akademiker, die in ihrem Beruf für den Glauben eintreten wollten, und schließlich an die für junge Menschen Verantwortlichen, besonders die Eltern. Den Zweig der Akademiker konnte er nicht zu wirklicher Blüte führen. Auch die Gründung des ersten Zweiges und damit der inneren Mitte seiner Gesellschaft bereitete Schwierigkeiten. Es gelang ihm, abgesehen von seinem engsten Mitarbeiter Bernhard Lüthen, nicht, Diözesanpriester für diese missionarische Berufung zu gewinnen. Er ging sehr bald daran, seine Gemeinschaft als Ordensgemeinschaft zu gestalten. Schon von Anfang an dachte er auch an eine Schwesterngründung. Nachdem die schon erwähnte Schwester Franziska Streitel, die er dafür gefunden hatte, bald ihren eigenen Weg zu einer franziskanisch geprägten Gründung suchte, konnte er Therese von Wüllenweber, eine hervorragende und geistlich gebildete Frau, als Mitgründerin an die Spitze der salvatorianischen Schwesterngemeinschaft stellen. Für den dritten Zweig begann er sein erstes Apostolat mit deutschen und italienischen Zeitschriften für Eltern, aber auch für Kinder.
Später konnte er eine erste Gruppe von Missionaren nach Nordostindien senden. Wieder ein paar Jahre später konnte er in die Außenbezirke von Wien Mitbrüder als Katecheten für die Neuevangelisierung von Arbeitern schicken. Es folgte dann eine Periode von Neugründungen in Nord- und Südamerika, aber auch in einer ganzen Reihe europäischer Länder. Mit geringen finanziellen Mitteln hatte er vielen jungen Menschen unentgeltlich die Ausbildung in seinen Gemeinschaften ermöglicht. Als ein von der Kirche bestellter langjähriger Visitator dies nicht mehr erlaubte, führte diese Entscheidung zu einem Rückgang an Berufungen und zu einer inneren Krise, aus der die Gesellschaft aber trotz mancher Verluste gestärkt hervorging.
P. Jordan hatte sich auf das Studium zahlreicher orientalischer Sprachen konzentriert. Was hat es damit auf sich und welche Rolle spielte diese Besonderheit für seinen Weg?
Schon als Gymnasiast und besonders als Student hatte Jordan eine geradezu geniale Sprachenbegabung erkennen lassen, sodass sein Bischof ihn nach Rom zum Studium orientalischer Sprachen sandte. Mit Beginn seiner Gründung machte er aber mit seiner überbordenden Leidenschaft, sich in immer neue Sprachen zu vertiefen, schlagartig Schluss. Sie war wohl die menschliche Basis dafür, dass er Gottes Anruf begreifen konnte, er solle mit seiner Gesellschaft in allen Völkern und Sprachen entsprechend dem Ruf der Vorsehung Gottes wirken. Diese universale Ausrichtung beinhaltete für ihn auch die Absicht, in allen erzieherischen und sozialen Bereichen zu wirken, um Menschen zum Glauben zu führen.
Wie sieht die Situation des Ordens heute aus? Wie groß ist die Gemeinschaft und wo ist sie tätig?
Zunächst möchte ich darauf verweisen, dass es dem Orden nach dem Konzil in manchen Ländern gelungen ist, die Absicht des Gründers, Gläubige als Mitarbeiter zu gewinnen, auf eine neue Weise zu verwirklichen. Zahlreiche Gruppen von salvatorianisch geprägten Laien sind zum Beispiel in Brasilien entstanden. Von ihrer Lebendigkeit zeugt auch das Wunder, das einem salvatorianischen Elternpaar geschenkt worden ist: es stand trotz aller negativen Prognosen von Medizinern, die zur Abtreibung eines missbildeten Kindes rieten, zum Leben ihres Kindes. Zusammen mit anderen Laiensalvatorianern riefen sie P. Franziskus Jordan um seine Fürbitte an und wurden von Gott mit der Geburt eines gesunden Kindes erhört.
Um aber auf unsere beiden Ordensgemeinschaften zu sprechen zu kommen, möchte ich zunächst darauf verweisen, dass wir auseinanderstrebende Strömungen im Zuge der von der Kirche erwarteten Regelreform allmählich überwinden konnten. Die Säkularisierung, die vor allem durch die kulturelle Revolution der achtundsechziger Jahre verschärft worden ist, hat freilich unsere männliche wie die weibliche Ordensgesellschaft besonders in Europa, und dabei neuerdings auch in Polen, mit dem sehr weitgehenden Rückgang von Berufungen dramatisch getroffen. Andrerseits sind unsere Gemeinschaften in Ost- und Westafrika, vor allem im Kongo und in Tansania, zum Blühen gekommen. In Indien haben wir einen guten Neubeginn erleben dürfen, nachdem wir nach dem Ersten Weltkrieg die Tätigkeit in Nordostindien aufgeben mussten. Auf den Philippinen haben wir Salvatorianer ein Ausbildungszentrum für Südostasien gegründet, in dem wir nicht nur junge Männer aus dem Land, sondern besonders aus Vietnam und neuerdings aus Indonesien ausbilden. In ihm wirken auch Mitbrüder aus Deutschland und Österreich. In Lateinamerika sind wir über die frühen Gründungen in Kolumbien und Brasilien hinaus ebenfalls gewachsen, z.B. in Venezuela; neuerdings beginnen wir in Mexiko Wurzeln zu schlagen. Beide Ordensgemeinschaften zusammen haben etwa 2.000 Mitglieder.
Welche Bedeutung hat die Seligsprechung von P. Jordan für den Orden? Was erwarten Sie sich von diesem Ereignis?
Ich erhoffe mir eine neue Freude an unserer Berufung, eine innere Erneuerung und eine neue Ausstrahlung, vor allem aber eine noch tiefere Beziehung zu unserem Gründer. Diese kann aus einer neuen Beschäftigung mit seinem Leben und mit seiner Spiritualität erwachsen, aber noch mehr aus einer vertieften Zwiesprache mit ihm, durch die wir ihn zu unserem geistlichen Begleiter und Fürsprecher in unserem apostolischen Leben, Beten und Arbeiten machen. Ebenso sehr wäre es für mich eine Freude, wenn wir jene Elemente seiner apostolischen Visionen, die wir nur ansatzhaft realisiert haben, neu aufnehmen und weiterentwickeln könnten. Ich erhoffe aber auch und vor allem, dass viele Christen besonders in unserer Heimat P. Franziskus vom Kreuz kennenlernen und sich von seinem Charisma inspirieren lassen, um so ihr Christsein mehr als bisher als eine apostolische und missionarische Berufung zu begreifen.
Haben Sie sich während Ihrer akademischen Laufbahn an das Charisma Ihres Ordens erinnert? Welche Rolle spielte die Zugehörigkeit zum Salvatorianer-Orden in Ihrem Leben?
Ja, ich habe in der akademischen Laufbahn, die ich nicht gesucht habe, sondern auf die ich gestellt worden bin, versucht, als Salvatorianer zu leben und zu wirken. Ich war von P. Franziskus her immer davon überzeugt, dass ein schlichtes Ordensleben in evangelischer Armut eine apostolische Kraft in sich trägt. Der Gehorsam hat mir geholfen, Aufgaben zu übernehmen, die ich mir selber nicht zugetraut hätte, und so habe ich Gottes Vorsehung erfahren dürfen. Je mehr ich mich in sein Leben und in seine Schriften vertieft habe, desto mehr hat unser Gründer mein Leben geprägt.
Sie waren von 1972 bis 1977 Assistent bei Joseph Ratzinger und sind bis heute Sprecher seines Schülerkreises. Worin sehen Sie die herausragenden theologischen und geistesgeschichtlichen Akzente, welche Benedikt XVI. der Welt hinterlassen wird?
Die Nähe zu Professor Ratzinger, die mir in Regensburg durch die Aufgabe als Assistent gegeben wurde, gehört zu den größten Gnaden meines Lebens. Als er zum Erzbischof von München geweiht und bald darauf zum Kardinal ernannt worden ist, entstand bald darauf sein Schülerkreis mit seinen Doktoranden und Habilitanden aus seinen Wirkungsstätten Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg, dessen Sprecher ich mit seinem anderen Assistenten, Siegfried Wiedenhofer, wurde und bis vor kurzem geblieben bin.
Ihre Frage ist nicht leicht zu beantworten, da so große Persönlichkeiten zumeist erst aus einer zeitlichen Distanz gewürdigt werden können. Es gibt nur eine Handvoll Päpste, die wie er zugleich Theologen waren. So erwarte ich, dass er eines Tages von der Kirche als Kirchenlehrer anerkannt wird. Für die Theologie und die Theologen ist sein Wirken, auch wenn das heute mancherorts nicht anerkannt wird, doch für die ganze Kirche zukunftsweisend. Er hat noch vor dem Konzil die Theologie von der Heiligen Schrift und von der Vätertheologie her entfaltet und versucht, den theologischen Reichtum von der frühen Zeit der Kirche bis in ihre Gegenwart aufzunehmen. So ist er auch für die Auslegung der Schrift wegweisend geworden. Er hat sich auf der Basis des Glaubens der Kirche auch den theologischen und geistlichen Reichtümern der Orthodoxie und der Reformation geöffnet. Er hat sich bemüht, Glaube und Vernunft zu versöhnen, und hat so das Gespräch mit Philosophie und Naturwissenschaft gesucht. Er hat die eigene Verantwortung der Theologie bejaht. Zugleich sieht er ihre Fruchtbarkeit dort, wo sie in der Einheit mit der Kirche und ihrer Glaubenstradition vollzogen wird. Und schließlich hat er Theologie und Spiritualität als unzertrennlich betrachtet. So sind für ihn die Heiligen die ersten Theologen. Das große Erbe seines Pontifikats liegt wohl darin, dass er die Kirche aus dem Glauben erneuern wollte, indem sie Gott in den Mittelpunkt stellt und gerade so von innen her auch die Gesellschaft erneuern kann – selbst dort, wo sie selber nur eine kreative Minderheit ist.
Eines Ihrer wichtigen Engagements ist auch das im „Wiener Studienhaus Johannes von Damaskus“. Können Sie etwas zur Entstehungsgeschichte sagen? Wer hat diese Initiative ins Leben gerufen und wer ist der Träger?
Es will ein Haus sein, in dem junge Christen aus der östlichen und westlichen Tradition, das heißt katholische, orthodoxe und orientalische Christen miteinander leben und beten, studieren und arbeiten. Auf diese Weise will dieses gemeinsame Leben dazu beitragen, dass die Entfremdung der Kirchen von Ost und West überwunden und damit eine tiefere Einheit gefunden wird. Das Wiener Studienhaus Johannes von Damaskus wurde von der katholischen Professorin Dr. Michaela C. Hastetter gemeinsam mit dem orthodoxen Theologen P. Ephräm Dr. Givi Lomidze gegründet.
Wie hängt das Studienhaus mit Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zusammen?
Michaela Hastetter gehört zu den Gründungsmitgliedern des Neuen Schülerkreises Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. und war lange dessen Sprecherin. Die Gründung in Wien ist aus der Begegnung mit der Theologie Joseph Ratzingers in ihr gereift und katholischerseits als geistliche Gemeinschaft (CCVU) von Kardinal Schönborn für die Erzdiözese Wien anerkannt. Diese Gemeinschaft lebt stark aus der Tradition des ungeteilten ersten Jahrtausends, die auch die Spiritualität von Papst Benedikt entscheidend geprägt hat. Dieses Studienaus in Wien wird auch orthodoxerseits bejaht.
Was sind die Ziele der Einrichtung? Worin bestehen die Aktivitäten des Studienhauses? Was steht aktuell auf dem Programm? Wie entwickelt sich das Leben der Einrichtung?
Das Ziel liegt, wie ich schon angedeutet habe, in einem gemeinsamen Leben und Studieren, Beten und Arbeiten von jungen Christen aus Ost und West, um aus der Entfremdung Freundschaft werden zu lassen, um die Kirchenväter, aber auch die Liturgie und das Leben beider Seiten tiefer kennenzulernen und so für einen gesunden Dialog fähig zu werden, aber auch schon in Gebet und Studium, Gebet und Arbeit auf eine tiefere Einheit hin zusammenzuwachsen. Unser Haus ist erst vor dreieinhalb Jahren gegründet worden und hat nach dem, was ich bisher beschrieben habe, 2019 das St. Ephräm Wissenschaftliche Zentrum für theologische Orient&Okzident-Studien (STEP) ins Leben gerufen, um so einen weiteren Schritt zu setzten. Es kooperiert dabei mit der Hochschule ITI (Internationales Theologisches Institut) in Trumau. Gerade jetzt, am 5. Oktober dieses Jahres, hat es zunächst ad experimentum den Studienbetrieb eines externen zweijährigen Masterstudiums in theologischen Orient&Okzident-Studien in unserem Wiener Studienhaus aufgenommen, in dem Lehrende wie Studierende aus beiden kirchlichen Traditionen zusammenkommen und nach der Seminarmethode Quellentexte aus der östlichen und westlichen christlichen Tradition lesen und gemeinsam reflektieren. Das STEP wird getragen von „Nisibis – Verein zur Förderung von theologischen Orient&Okzident-Studien“, der für Freunde des Zentrums offensteht. Gottseidank haben wir es bis heute geschafft, all unsere Initiativen auf Spendenbasis zu realisieren.[1]
Welche Anstöße könnten Sie unseren Lesern und der katholischen Kirche in Deutschland in der aktuellen Situation mit auf den Weg geben?
Ich möchte den Lesern dazu raten, sich mit der Theologie und Spiritualität von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. vertraut zu machen. Sein Erbe kann uns allen helfen, die Kirche in Deutschland von einem vertieften Glauben her zu erneuern, so dass sie in der vollen Einheit der universalen Kirche verbleiben kann. Gerade so wird sie als kreative Minderheit auch von jungen Menschen her neu entdeckt werden und selber die rechten Lösungen für ihre gesellschaftliche Verantwortung finden können.
Wir bedanken uns aufrichtig für das aufschlussreiche Interview und wünschen Ihnen weiterhin Kraft für Ihr vielfältiges und fruchtbares Wirken!
[1] Spendenkonto: Wer den von Pater Stephan Horn genannten „Verein zur Förderung von theologischen Orient&Okzident-Studien“ unterstützen möchte, kann folgendes Konto verwenden: Empfänger: Nisibis / Bankverbindung: Raiffeisenbank Baden bei Wien / IBAN: AT39 3204 5000 0042 4598 / BIC: RLNWATWWBAD / Verwendungszweck: Spende für STEP
Schritte der Evangelisierung
Jesus Christus begegnen
Pfarrer August Sparrer, Stiftskanoniker in Altötting, lernte bei seinem Studienfreund Bischof Dr. Oswald Hirmer die Pastoral der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ und das „Bibelteilen“ kennen. Nachdem er zu diesem Thema in Südafrika Schulungen erlebt hatte, begleitete er im Exerzitienhaus Werdenfels zehn Wochenkurse für Priester und nahm als Mitglied der Gemeinschaft Emmanuel an zwölf Pfarreimissionen in Deutschland teil. Daraus sind seine Erfahrungen zur Neuevangelisierung erwachsen.
Von August Sparrer
In Südkorea gibt es etwa 55.000 „Kleine Christliche Gemeinschaften“. Vor einigen Jahren besuchte Missionsbischof Dr. Oswald Hirmer mit einigen deutschen Bischöfen die Gemeinschaften vor Ort. Die Bischöfe waren begeistert davon, wie die Laien sich gegenseitig evangelisieren und fähig sind, Evangelisierung an noch nicht Getauften durchzuführen.
Der deutsche Missionsbischof Dr. Michael Wüstenberg ermutigt zum Austausch von Glaubenserfahrungen mit dem Evangelium. Auch als Bischof sei er durch diese Menschen reichlich beschenkt worden und habe immer wieder gewonnen. Er warb für eine zurücknehmende Führungshaltung, in der eher die Rolle des „Befähigers“ in den Vordergrund rücken sollte. Bei der Evangelisation ist es ratsam, schrittweise vorzugehen. Die einzelnen Elemente sollten aufeinander aufbauen bzw. sich ergänzen.
Einheit der Verantwortlichen
Der erste und zugleich wichtigste Schritt ist die Einheit der Verantwortlichen einer Evangelisationsbemühung: Wenn unter den Verantwortlichen ein Geist der Einheit, der Liebe und Freude herrscht, dann strahlt diese Einheit auch auf die Fernstehenden oder niederschwellig Interessierte aus.
Neuevangelisierung erfordert eine geeinte Kirche in Diözese und Pfarrei. Der Herr hat in seinem hohepriesterlichen Gebet den Vater angerufen: „Vater, lass alle, die an mich glauben, eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21).
Wenn das Wort des hl. Bonaventura zutrifft, „die Kirche, das sind die sich gegenseitig Liebenden“, dann ist hier wohl großer Handlungsbedarf: Für die Bischöfe als Gemeinschaft und für jede Diözese als Ganzes gilt auch das Wort des heiligmäßig verstorbenen Bischofs Klaus Hemmerle: „Wichtiger ist Handeln in Einheit als noch so perfektes Handeln in der Isolation. Also: Wichtiger ist Zusammenarbeit als Arbeit. Wichtiger ist communio als actio.“
Evangelisation und Musik
Musik und Gesang berühren das Herz der Menschen. Sie spielen bei der Verkündigung und beim Gottesdienst eine große Rolle. Es ist angebracht, bei der Evangelisation solche Lieder und Musikstücke zu nutzen, die das heutige Lebensgefühl der Menschen ansprechen und sie begeistern können. Oft sind die Menschen unserer Tage sehr verkopft. Bei „Nightfever“-Abenden zum Beispiel werden nicht wenige Menschen gerade durch solche Lieder zur eucharistischen Anbetung und zum Sakrament der Versöhnung motiviert.
Persönliche Glaubenszeugnisse
Bisher erfolgte die Glaubensweitergabe hauptsächlich durch Vermittlung von Glaubenswissen. Das ist nach wie vor wichtig. Doch dabei soll nicht vergessen werden, dass die ersten Glaubenszeugen sehr persönliche Glaubenserfahrungen mitgeteilt haben: „Was wir gehört und gesehen haben.“ Paulus berichtet oft von persönlichen Glaubenserfahrungen und Jesus selbst hat sein Herz vor den Jüngern ausgeschüttet: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Mt 26,38). Papst Paul VI. sagte: „Heute ist der Zeuge mehr gefordert als der Lehrer.“
Persönliches ist angesichts des allgemeingesellschaftlichen Individualisierungsprozesses stärker gefragt. Bei der Evangelisierung ist es wichtig, den Sinn des persönlichen Glaubenszeugnisses zu erklären und einzubeziehen. Zeugnis ist immer auch Selbstoffenbarung der bezeugenden Person; es ist nicht neutral, distanziert. Was der Zeuge von sich offenbart, ist gerade die Beziehung zum Bezeugten und zwar als empfangende Beziehung. Er berichtet von dem, was Gott an ihm getan hat. Sein Interesse ist ganz darauf gerichtet, dass Gott in seinem Handeln aufscheint. Er macht dadurch gegenwärtig, dass er die Wirkung und das Echo dieses göttlichen Handelns in sich zeigt.
Führung in der Form des Zeugnisses verlangt Mut. Es setzt die Führung in gewisser Weise aufs Spiel, denn es enthält die Herausforderung, dass das Zeugnis angenommen und geglaubt wird. Zeugnis lässt nicht neutral, sondern verlangt Stellungnahme.
Begegnung mit dem Wort Gottes
Evangelisierung muss eine Begegnung mit dem Wort Gottes ermöglichen. Das kann durch Hinführung zum sog. „Bibelteilen in kleinen christlichen Gemeinschaften“ geschehen. Die gemeinsame Begegnung mit Christus in seinem Wort garantiert, dass Jesus Christus in den Mittelpunkt des Lebens tritt. Sic schenkt Christuszentriertheit.
Wenn sich kirchlich Verantwortliche in einem gegenseitigen Austausch über das Wort Gottes treffen, wird ihnen mehr und mehr eine gemeinsame Vision über die anzustrebende neue Gestalt der Kirche zukommen.
Papst Benedikt XVI. hat uns in seinem Nachsynodalen Schreiben „Verbum Domini“ die Beschäftigung mit dem Wort Gottes ans Herz gelegt. In Nr. 72 ist zu lesen: „Darum hat die Bischofssynode mehrmals die Bedeutung der Pastoral in den christlichen Gemeinden als den eigentlichen Bereich hervorgehoben, in dem ein persönlicher und gemeinschaftlicher Weg mit dem Wort Gottes beschrieben werden kann, so dass dieses wirklich die Grundlage des geistlichen Lebens bildet. Zusammen mit den Synodenvätern wünsche ich mir von Herzen das Aufkeimen einer neuen Zeit, in der alle Glieder des Gottesvolkes eine größere Liebe zur Heiligen Schrift empfinden, so dass sich durch ihr betendes und gläubiges Lesen allmählich die Beziehung zur Person Christi selbst vertieft.“
Der US-Theologe George Weigel schreibt in seinem Buch „Die Erneuerung der Kirche“: „Die Katholiken der gegenreformatorischen Kirche bekamen in den Katechesen die Wahrheit des Evangeliums vermittelt. Sie sind vereinfachte, aber in doktrineller Hinsicht stimmige Antworten auf die Frage: ,Ihr, für wen haltet ihr mich?’ (Mk 8,29). Für den vom Evangelium bestimmten Katholizismus sind diese kurzen Lehrformeln jedoch der Ausdruck für etwas, das im Kern eine persönliche Begegnung ist, eine persönliche Begegnung mit Jesus Christus. Im Katholizismus der Zeit der Gegenreformation sollte der Gläubige wissen, wer Jesus Christus ist und durch das Wissen über ihn zur Begegnung mit ihm finden. Im evangelikalen Katholizismus dagegen steht die Begegnung und die Bekanntschaft mit dem Herrn am Anfang“ (Media Maria Verlag, S. 93ff.).
In seinem Schreiben an die deutschen Katholiken zum Synodalen Weg fordert Papst Franziskus dazu auf: „Das Evangelium soll das Leben der einzelnen Menschen durchwirken und wir sollen uns um eine stete Evangelisierung bemühen. An den Schulen spiegelt sich Vieles, was auch die Gesellschaft trägt und durch dieses Training kann ein Beitrag geleistet werden, Lehrkräfte wieder an wesentliche Teile der Frohen Botschaft heranzuführen und diese auch im Alltag mit ihren Schülern, dem Kollegium und den Eltern zu leben.“ (Tagespost v. 23. Juli 2020: Training für katholische Schulen, S. 27).
Wenn wir die Geschichte unserer Pastoral genauer anschauen, dann war und ist sie bestimmt von der Weitergabe des Wissens über Jesus. Neuevangelisierung aber verlangt die Hinführung zu einer persönlichen Begegnung mit Jesus Christus.
Persönliche Begegnung mit Jesus Christus in den Sakramenten
Auf dieser Grundlage kann eine gute Feier der Liturgie die Herzen der Menschen bewegen. In deren Folge kann ein Verständnis für die eucharistische Anbetung wachsen und so eine Möglichkeit zu einer persönlich-eucharistischen Begegnung mit Christus geschenkt werden.
Auch die Hinführung zum Sakrament der Versöhnung kann erfolgen, wenn die Menschen eine persönliche Beziehung zu Christus gefunden haben und sich von Christus geliebt erfahren können. Dann erst wird eine Reue über die Missachtung der Person Jesu möglich.
Schließlich soll die Hinführung zur Erneuerung der Tauf- und Firmgnade den Teilnehmern an Glaubenskursen die Möglichkeit geben, ihre Tauf- und Firmgnade ganz persönlich und ausdrücklich zu realisieren.
Schon vor vielen Jahren stellte Pfr. Kurt Gartner fest: „Der Umgang der Kirche mit dem Sakrament ist ihr Schicksal, das heißt, er bestimmt wesentlich ihren geschichtlichen Weg. Denn der Umgang der Kirche mit dem Sakrament formt oder verformt ihre göttliche Gestalt, gibt ihr Kraft oder raubt sie ihr. Wenn das ,Niveau’, auf dem die Sakramente gespendet werden, nicht das der Bekehrung zum lebendigen Gott ist, entsteht auch die Kirche nicht als Umkehrgemeinschaft; als Jüngergemeinde bzw. Bundesgemeinde. Sie kann dann nicht Salz der Erde und Licht der Welt sein. So wie die Kirche die Sakramente spendet, trifft sie immer ihr eigenes Wesen, denn sie ist Sakrament = Jesus Christus in dieser Welt. So wie die Kirche mit dem Sakrament umgeht, geht sie in Wahrheit mit Christus um“ (zitiert aus dem Buch: Lieber Bruder Bischof, Herder Verlag 1990).
Aber genau das ist der Grund für die Glaubensverflachung und der Grund dafür, dass Christen mit der Institution Kirche nichts mehr anfangen können. Denn wer nicht zu einer persönlichen Begegnung mit Christus geführt wird, kann die Kirche – auch mit ihrer Menschlichkeit – nicht verstehen und akzeptieren. Das mag auch ein Grund für die Schwierigkeit sein, über seine eigenen Glaubenserfahrungen mit Jesus zu sprechen.
Der Sinn der „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“ besteht darin, sich gegenseitig im Glauben zu evangelisieren. Aus Erfahrung weiß ich, wie bei solchem echten Glaubensaustausch eine große innere geistliche Haltung und frohe Atmosphäre entsteht, Freude über den gemeinsamen Glauben und auch Mut, die Glaubenserfahrung weiterzugeben.
Papst Benedikt XVI. nannte Gabriele Kuby „eine tapfere Kämpferin gegen die Ideologien, die letztlich auf eine Zerstörung des Menschen hinauslaufen“. Am 27. November 2012 ermutigte er sie mit den Worten: „Gott sei Dank, dass Sie reden und schreiben!“ Nun hat Kuby ein neues Buch vorgelegt. Es trägt den Titel „Die verlassene Generation“[1] und geht der Frage nach, ob unsere Kinder in der Lage sein werden, mit den kommenden sozialen Herausforderungen umzugehen. Ihren Alarmruf beginnt sie mit einem ungeschminkten Faktencheck zur heutigen Situation der jungen Generation: „Krank an Leib und Seele“. Peter Hahne meinte zum neuen Buch von Kuby: „Danke für dieses aufrüttelnde Klartext-Buch. Hilfeschrei und Weckruf um fünf vor zwölf. Wer jetzt nicht wach wird, dem ist nicht mehr zu helfen.“ Nachfolgend fasst sie selbst zusammen, worauf es ihr in diesem Weckruf ankommt.
Von Gabriele Kuby
Ein Viertel bis zu einem Drittel der Kinder und Jugendlichen ist diagnostiziert krank an Leib und Seele. In Rheinland-Pfalz und Berlin sind ein Drittel der Jugendlichen in therapeutischer Behandlung. „Es ist eine neue Morbidität zu beobachten von akuten zu chronischen Krankheiten, von körperlichen zu seelischen Störungen der emotionalen und psychischen Entwicklung, des Sozialverhaltens, der motorischen und kognitiven Entwicklung“ – so die Bundesärztekammer.
Man stelle sich vor, wir würden allabendlich mit diesen Zahlen in den Medien konfrontiert, anstatt mit dubiosen Testergebnissen über Covid 19: Es würde ein heilsames Erschrecken durchs Land gehen, denn niemand will die Kinder krank machen. Aber wir verhalten uns wie die berühmten drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen.
Mein Buch will die Augen der Menschen für die Wirklichkeit öffnen, die Ohren und das Herz der Erwachsenen für das Leiden der Kinder und den Mund für das Aussprechen der Wahrheit.
Die junge Generation wird bald erwachsen sein. Schon jetzt wird sie von Menschen erzogen, von denen viele zu den Opfern der sexuellen Revolution gehören und dadurch tiefe seelische Wunden haben. Die nachwachsende Generation soll nicht nur die Renten des demografischen Wasserkopfes bezahlen, sie soll auch die Demokratie tragen. Alexis de Tocqueville hat um 1830 die aufstrebende Demokratie in Amerika beschrieben und kam zu der Erkenntnis, dass sie nur auf einem christlichen Unterbau funktionieren kann. Wenn Menschen nicht von sich aus nach dem Guten streben, wie sollen sie dann in der Lage sein, das zerbrechliche Gehäuse einer freiheitlichen Demokratie zu stützen und immer wieder neu zu erkämpfen? Um es mit dem Wort des Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde zu sagen: Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen kann.
Wenn wir die junge Generation krank machen, dann zerstören wir diese Voraussetzungen. Man kann auch sagen, wenn wir das Christentum, welches die großartige europäische Kultur hervorgebracht und getragen hat, liquidieren, dann ist kein demokratischer Staat zu machen.
• Kinder werden verhütet;
• Kinder werden vor der Geburt getötet, wenn sie nicht gewollt sind;
• Kinder werden im Labor produziert, wenn sie gewollt sind;
• Kinder werden um ihre Abstammung betrogen;
• Kinder werden als Embryo eingefroren und von der Forschung „verbraucht“;
• Kinder werden in einem gemieteten Mutterleib ausgetragen;
• Kinder werden von gleichgeschlechtlichen Paaren gekauft und aufgezogen;
• Kinder werden ab dem Säuglingsalter kollektiver Fremdbetreuung ausgeliefert;
• Kinder werden bereits im Kindergarten sexualisiert;
• Kinder werden in der Schule mit der Kentler/Sielert-Sexualpädagogik indoktriniert und sexualisiert;
• Kinder werden in ihrer Geschlechtsidentität verunsichert;
• Kinder werden darin bestärkt, ihr Geschlecht zu wechseln;
• Kinder werden dem Smartphone ausgeliefert;
• Kinder werden der Pornografie ausgeliefert;
• Kinder werden massenhaft sexuell missbraucht;
• Kinder werden zu Scheidungsopfern;
• Kinder müssen in zerbrochenen Familien aufwachsen;
• Kinder werden ihrer Kindheit beraubt.
Wundert es jemanden, dass Kinder depressiv und aggressiv, krank und süchtig werden? Dass das Leistungsniveau immer mehr verfällt, dass sie massenhaft mit Ritalin gedopt werden, dass sie sich nicht mehr binden können und wollen?
Schauen wir näher hin: Es beginnt damit, dass die durchschnittliche Frau eineinhalb Jahrzehnte lang verhütet. Sex systematisch von der Fruchtbarkeit zu trennen, erscheint uns selbstverständlich. Uns ist nicht bewusst, dass dadurch eine Geisteshaltung entsteht, die das Kind der menschlichen Willkür ausliefert, anstatt es als Geschenk Gottes zu begreifen, über dessen Leben wir nicht verfügen können, dem wir vielmehr zu dienen haben.
Tritt der GAU trotzdem ein und eine Frau wird ungewollt schwanger, dann erlaubt ihr das Gesetz, es umzubringen. Heute fordern linke Parteien ein „Menschenrecht auf Abtreibung“. Selbst Personen des öffentlichen Lebens, die sich Katholiken nennen und sogenannten katholischen Vereinen vorstehen, unterstützen Abtreibungsorganisationen. Machen wir uns eigentlich klar, was da geschieht?
Die häufigste Methode bis zur zwölften Schwangerschaftswoche – bis dahin darf „der Zellhaufen“ mit einem schlagenden Herzen, zwei Gehirnhälften, Geschlechtsorganen, Ohrmuschel und Fingernägeln straffrei getötet werden – ist die Ausschabung. Der Muttermund wird geweitet, eine Curette mit geschliffener Spitze wird in die Gebärmutter eingeführt. Das Baby wird mit dem Messer zerschnitten und die Gebärmutter wird ausgeschabt. Der Abtreiber oder die assistierende Krankenschwester prüft, ob in der blutigen Masse alle Körperteile vorhanden sind, also kein Körperteil in der Gebärmutter zurückgeblieben ist, weil dies zu Komplikationen führen könnte. Linke Parteien, auch der US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden, fordern die straffreie Abtreibung bis zur Geburt. Dabei wird ein lebensfähiges und schmerzempfindendes Kind gemetzelt.
Die millionenfache Tötung des ungeborenen Kindes ist ein Absturz der modernen Welt in die Barbarei, die als „Freiheit“, als „pro choice“, als „She decides“ verkauft wird. Wo ist die Humanität unseres Humanismus? Man könnte das Böckenfördsche Diktum abwandeln: Der Humanismus lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Diese Voraussetzung ist das Christentum. Noch einmal: Der Mensch muss gut sein wollen, wenn eine Gesellschaft ihre Freiheit und Humanität bewahren will.
Paare, die sich ein Kind wünschen, würden niemals von „Zellhaufen“ sprechen. Die Nachricht, dass die Frau ein Kind empfangen hat, erfüllt sie mit Jubel. Der unerfüllte Kinderwunsch kann allerdings zu einer anderen Art von Hybris führen: Wir produzieren das Kind, kaufen den genetischen Rohstoff, Samen und/oder Eizelle, und mieten den Bauch einer fremden Frau, um es auszutragen. Das Kind wird um seine natürliche Abstammung betrogen, weil Erwachsene meinen, sie hätten ein „Recht auf ein Kind“. Dieses Recht gibt es nicht, vielmehr hat das Kind ein Menschenrecht auf seine biologischen Eltern. Die Internetseiten der Reproduktionskliniken zeigen strahlende Eltern mit dem „Baby take home“ auf dem Arm. Die Qualen, die Frauen bei den Hormonbehandlungen durchleben, die Tötung von rund zwanzig Embryonen, um vielleicht ein Kind zu zeugen, die Sklaverei der ausgebeuteten Leihmütter, die riesige Versagerquote von 80%, die gesundheitlichen Risiken der künstlich produzierten Kinder – davon redet niemand.
Hat es ein Kind geschafft, das Licht der Welt zu erblicken, dann soll es so schnell wie möglich von der Mutter weggerissen und der kollektiven Fremdbetreuung ausgeliefert werden. UNICEF macht die Dichte der Kinderkrippen zum Maßstab für die „Kinderfreundlichkeit“ eines Landes – welcher Zynismus! CDU-Familienministerin von der Leyen hat dem Land das kommunistische Modell der Aufzucht von Kleinkindern verpasst mit dem Slogan: Kinder brauchen Bildung. Kleine Kinder brauchen Bindung, damit sich ihre Lernfähigkeit auf einer sicheren emotionalen Grundlage überhaupt natürlich entfalten kann. Die psychologischen Untersuchungen sind eindeutig: Kinder können lebenslang geschädigt werden, wenn sie zu früh und zu lang in die Krippe kommen mit zu wenigen, häufig wechselnden Betreuerinnen für viel zu viele Kinder.
Mit drei Jahren kommen sie in den Kindergarten, aber dieser Garten ist kein geschützter Raum mehr, in dem die Anlagen der Kinder spielerisch entfaltet werden. Schon hier beginnt der Stress, schon hier werden die Kinder sexualisiert. Auf die massenhaften Entwicklungsdefizite der Schulanfänger reagiert die öffentliche Kindergartenpädagogik mit Bildungsanforderungen. Das erzeugt Stress – den größten Feind des Spiels. Pädagogen beklagen die Minderung der Spielfähigkeit der Kinder, denn sie hat eine Reduzierung ihrer Lern- und Konzentrationsfähigkeit zur Folge.
Die staatlich verordnete Sexualisierung der Kinder beginnt bereits im Kindergarten. Sie bekommen Kuschelecken für „Doktorspiele“, wo sie sich unbeobachtet nackt ausziehen dürfen, denn das Kind hat angeblich „ein Recht auf Sexualität“. Diese ideologische Erfindung von Wilhelm Reich zum Zwecke der Zerstörung der Familie wurde vom homosexuellen Kinderschänder Helmut Kentler und seinem Zögling Uwe Sielert zum Credo der Sexualpädagogik gemacht. Nun dient der schulische Sexualunterricht dazu, Kinder in hedonistische Sexualpraktiken einzuführen und zur Akzeptanz des LSBTIQ-Lebensstils zu erziehen, denn dieser gehört zu den „europäischen Werten“.
Nicht nur müssen Kinder dieser staatlichen Indoktrination in der Schule ausgesetzt werden, sie können auch außerhalb der Schule nicht mehr davor bewahrt werden, seit das Smartphone zur Grundausstattung des Schülers gehört. Es eröffnet den Zugang zu den sozialen Netzwerken und zur Pornografie. Das Ergebnis ist die „Smartphone Epidemie“ (Prof. Manfred Spitzer) und die Internetsucht, die die Jugendlichen einsam, übergewichtig und krank macht. Kinder können nicht mehr vor der Schändung ihrer Seele durch Pornografie bewahrt werden.
Das letzte Kapitel befasst sich mit den Scheidungsfolgen. Es hat den zugespitzten Titel „Das unblutige Kinderopfer“. Scheidung ist für jedes Kind traumatisch und führt zu Verwerfungen des Lebensweges. Die Kinder müssen die Zeche zahlen für den Verlust der Erkenntnis, dass Liebe früher oder später Opfer verlangt. Die Leiden der Kinder werden tabuiert. Es zählen nur die emotionalen und sexuellen Bedürfnisse der Erwachsenen.
Sieht man diesen großen Bogen im Zusammenhang, dann wundert es einen nicht mehr, dass ein Großteil der Kinder und Jugendlichen Geborgenheit und verlässliche Bindung nicht kennt und an Leib und Seele krank wird. Was Hänschen in der Familie nicht lernt, lernt Hans nimmermehr: Urvertrauen, Bindungsfähigkeit, Anstand, Lernbereitschaft, Leistungsfähigkeit, Selbstvertrauen… Je weniger die Familien diese Menschenbildung leisten, umso mehr wächst der Bedarf an öffentlich finanzierten Jugendämtern, Heimen, Psychiatrien und Gefängnissen, an Sozialarbeitern, Therapeuten, Ärzten und Polizisten. Schulversager, Schwererziehbare, Heimkinder, Suizidale, Drogensüchtige, Skinheads, Hooligans, Neonazis, Antifa-Terroristen, Hausbesetzer, Anarchisten pflegen nicht aus intakten Familien zu kommen.
Die zunehmende Zahl kaputter Jugendlicher, welche die kinderfeindliche Gesellschaft hervorbringt, dient dem Staat als Vorwand, immer mehr in den privaten Raum der Familie einzudringen und das im Grundgesetz garantierte „natürliche Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder“ (Art. 16,2) auszuhebeln. Natürlich hat der Staat das Recht und die Pflicht bei schwerer Vernachlässigung der Kinder einzugreifen. Aber es geht um mehr.
Seit Jahren versucht die Linke, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, obwohl Rechtsexperten einhellig sagen, die Rechte der Kinder sind durch das Grundgesetz geschützt, es bedarf keiner Ergänzung. Es geht um die berühmte „Lufthoheit über die Kinderbetten“, die Möchte-gern-Kanzler Olaf Scholz gefordert hat. Kinder sollen aus der schützenden Obhut der Eltern herausgebrochen und gegen sie in Stellung gebracht werden können. Ganz konkret haben wir diese Konflikte jetzt in den Familien mit dem Thema „Geschlechtsdysphorie“. Es ist unter jungen Mädchen der Hype erzeugt worden, dass ein Geschlechtswechsel ihre Probleme lösen würde, was eine Lüge ist. Die Selbstmordrate bei Transgender-Personen beträgt vor und nach Maßnahmen zum Geschlechtswechsel 40 %, achtmal mehr als im Durchschnitt der Bevölkerung. Eltern, die ihre Kinder vor der Selbstzerstörung bewahren möchten, haben es schon jetzt sehr schwer. Wenn in naher Zukunft Sonderrechte für Kinder Verfassungsrang erhalten, wäre den Eltern die rechtliche Basis entzogen, ihre Kinder davor zu bewahren, zumal das Unbehagen mit dem eigenen Geschlecht bei über 80 % nach wenigen Jahren von allein verschwindet.
Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass die Mehrheit der Eltern verantwortungsvoll und liebevoll mit den Kindern umgeht, dass sie nicht abtreiben, die Kinder nicht in die Krippe stecken, sie vor der staatlichen Sexualisierung in Kindergarten und Schule bewahren möchten, den Medienmissbrauch zu verhindern suchen, für die Scheidung keine Option ist, die Kinder nach christlichen Wertvorstellungen erziehen möchten. Wenn aber ein Drittel der Kinder und Jugendlichen krank ist, dann ist die ganze Gesellschaft krank und die Zukunft gefährdet.
Das eigentliche Problem ist, dass die Familienzerstörung von den internationalen Institutionen, den UN und der EU, und den nationalen Regierungen systematisch betrieben wird. Der von Soros-Aktivisten unterwanderte Europäische Gerichtshof lässt nicht zu, dass Kinder vom Sexualunterricht befreit werden; er lässt nicht zu, dass verantwortungsvolle, opferbereite Eltern in Deutschland Homeschooling machen. 2021 will Präsident Macron auch in Frankreich das Homeschooling verbieten.
Totalitäre Systeme dulden keine Nischen. Es darf keine Stimme geben, die sagt, „der Kaiser ist nackt“. Das Hinterhältige des gegenwärtigen Kulturmarxismus ist, dass er sich in den Schafspelz von Freiheit, Demokratie und Menschenrechte hüllt und deswegen von den meisten nicht erkannt wird.
An der Basis bleibt uns nur, uns trotz allem für das rechte Leben in der Familie zu entscheiden und alles zu tun, damit die Kinder so aufwachsen und erzogen werden, dass sie sich mit Zuversicht und Vertrauen für den Aufbau einer besseren Welt einsetzen. Starke Eltern machen sie dafür stark.
[1] Gabriele Kuby: Die verlassene Generation, geb., 368 S., ISBN 978-3-86357-276-1, Euro 17,80 – Bestellung: Tel.: +49 (0) 7563 608 998-0; www.fe-medien.de
„Das Biotop des Menschen“
Familie fördern
Die eindringlichen Schilderungen der negativen Folgen des Zeitgeistes für das Wohl der Kinder lässt Gabriele Kuby in einen Appell zur Förderung der Familie, dem Biotop des Menschen, einmünden. Nachfolgend das abschließende 13. Kapitel ihres neuen Buches „Die verlassene Generation".[1]
Von Gabriele Kuby
Die Gesellschaft steht vor der Wahl: weiter die Vater-Mutter-Kinder-Familie als überholt diffamieren, Familien mit mehr als zwei Kindern in die Armut treiben, immer mehr unglückliche Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen hervorbringen und so unendlich viel Leid und unlösbare gesamtgesellschaftliche Probleme zu produzieren – oder die Existenzbedingungen der Familie tatsächlich zu fördern. Dazu muss sich die Politik endlich dem Würgegriff familienzerstörender Ideologien und ihrer Lobbys entwinden. 70% der Kinder wachsen in Deutschland auch heute noch bei ihren verheirateten Eltern auf und mehr als die Hälfte aller Ehen wird geschieden. Sie müssen gestärkt werden, denn die Familie ist gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte „die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“.
Konkrete staatliche Maßnahmen für die Familie könnten unter anderem sein:
• Der Schutz des Lebensrechts des Kindes ab der Empfängnis
• Familiengründungsdarlehen und Eigenheimförderung mit progressiver Reduktion der Rückzahlung pro Kind
• Progressive Steuerminderung pro Kind bis zur völligen Steuerbefreiung
• Echte Wahlfreiheit zwischen Eigenbetreuung und Fremdbetreuung kleiner
Kinder durch gleichwertige finanzielle Förderung
• Angemessener Rentenanspruch für die Jahre der häuslichen Kinderbetreuung
• Wirksame Förderung des Wiedereinstiegs in den Beruf nach den Zeiten der Kinderbetreuung
• Familienkunde statt Sexualerziehung in der Schule
Es gibt in Europa ein Land, das die meisten dieser Maßnahmen in den letzten Jahren umgesetzt hat und damit als „Labor“ für ihre Wirksamkeit gelten kann – Ungarn. Die Erfolge zeigen, dass familienfördernde Maßnahmen in wenigen Jahren zu spektakulären Veränderungen führen können: Die Zahl der Scheidungen ist um fast ein Viertel gesunken, die Zahl der Eheschließungen um annähernd die Hälfte gestiegen. Die Abtreibungen sind um ein Drittel gefallen und die Geburtenrate ist von 1,23 Kindern pro Frau auf 1,5 Kinder gestiegen. Das erhält zwar noch nicht den Bestand der Bevölkerung, doch die Weichen sind umgestellt.
Auch wenn die Politik in den meisten anderen Ländern der Familie weiterhin die materiellen und sozialen Grundlagen entzieht, kann niemand einen Mann und eine Frau daran hindern, ihr eigenes Familienbiotop zu schaffen. Dafür braucht es eine Lebensvision, Entschlossenheit, Mut und Vertrauen in die guten Kräfte des Lebens.
Eine stabile, konfliktarme Ehe ist die wichtigste Voraussetzung für das Gedeihen der Kinder. Deswegen ist die bewusste Partnerwahl entscheidend. Wenn einer sagt: „Ich liebe dich“, kann es Schall und Rauch sein. Wenn einer sagt: „Ich will dich heiraten“, wird es interessant. Teilen wir die Lebensvision? Teilen wir die wichtigsten Werte? Wie werden wir Familien- und Berufsarbeit unter den gemeinsamen Hut bringen? Wie viele Kinder wünschen wir uns? Wie werden wir sie erziehen? Es lohnt sich, über dies alles zu reden, bevor man sich bindet.
Wenn die wechselseitige Prüfung mit einem vollen und ganzen Ja zueinander bestanden ist, „bis dass der Tod euch scheidet“, dann ist das Fundament gelegt, auf dem das Familienhaus gebaut werden kann. Ein Haus aus Stein ist wünschenswert, ein Haus aus Liebe das Entscheidende. Es soll von Kinderlachen erfüllt sein – von Spiel und Arbeit, von Fürsorge und Gespräch, von Streit und Versöhnung, von Freunden der Kleinen und der Großen, von Musik und Festen, von unverbrüchlichem Zusammenhalt – mit einem Wort: von Leben. Die Liebe der Eltern zueinander schafft das Feld, in dem Kinder wachsen und gedeihen können. Sie halten diese Liebe für selbstverständlich und unauflöslich, denn daraus sind sie entstanden. Familienbande sind stark und belastbar. Wenn sie dennoch reißen, werden Kinder bis ins Mark enttäuscht. Sie verdienen es, davor bewahrt zu bleiben.
Eltern, die ihre Kinder zu gesunden, leistungs- und liebesfähigen Menschen heranbilden wollen, wird dies nur gelingen, wenn sie nicht tun, was „alle“ tun, und sich von der staatlichen und medialen Propaganda nicht in die Irre führen lassen.
Sie werden das Kind in die Mitte stellen und ihre Lebensplanung darauf ausrichten, dass die elementaren Bedürfnisse des Kindes erfüllt werden.
Sie werden das kleine Kind nicht kollektiver Fremdbetreuung ausliefern, denn wie könnten sie das Lächeln des Säuglings, den ersten Schritt, die ersten Worte versäumen? Wie könnten sie sich der Erfahrung der bedingungslosen Liebe des Kindes berauben und dem Kind nicht ihre bedingungslose Liebe als Vater und Mutter schenken? Wie könnten sie das Urvertrauen des Kindes vielleicht für immer schädigen?
Sie werden die Unschuld und Reinheit ihrer Kinder verteidigen und nicht zulassen, dass durch die Sexualisierung in Kindergarten und Schule ihr Schamgefühl gebrochen und ihre Seele abgestumpft wird, sodass die Vision von Ehe und Familie verdunkelt wird und die charakterlichen Voraussetzungen nicht grundgelegt werden.
Sie werden nicht hinnehmen, dass die Geschlechtsidentität ihres Kindes als Mädchen oder Junge absichtsvoll unterminiert wird.
Sie werden ihre elterlichen Erziehungsrechte in Kindergarten und Schule verteidigen und sich dagegen wehren, dass sie durch familienfeindliche Kinderrechte geschmälert werden.
Sie werden ihren Kindern den Reichtum des realen Lebens zugänglich machen: Entdeckung der Natur, Begeisterung für Sport und Musik, Entfaltung der Begabungen, Förderung des wissensdurstigen Lernens, handwerkliche Fertigkeiten, echte, statt virtueller Freunde.
Sie werden Medienkompetenz vermitteln, sodass die Medien den Aufgaben und Lebenszielen der Kinder dienen, anstatt zu einem schalen, Sucht erzeugenden Ersatz für unbefriedigten Lebenshunger zu werden.
Sie werden alles tun, um ihre Kinder vor der Schändung ihrer Seele durch Pornografie oder gar sexuellen Missbrauch zu bewahren.
Sie sind entschlossen, an den Konflikten in ihrer Ehe zu wachsen und sich nicht scheiden zu lassen.
Welch eine Herausforderung! Das Normale ist in der heutigen Zeit zu einer Herkulesaufgabe geworden. Es dürfte die Mehrheit der Bevölkerung sein, die diese Ziele verwirklichen will, wenn es ihnen nicht so schwer gemacht würde im kulturrevolutionären Mahlstrom dieser Zeit. Im Alleingang ist das heute kaum zu meistern. Entscheidend ist, Netzwerke für Familien zu schaffen und auszubauen, die einander im gemeinsamen Einsatz für ihre Existenzbedingungen und im praktischen Alltag unterstützen.
Wir brauchen Mütter, die ein warmes Nest für ihre Kinder bauen, und Väter, die den Schutz der Familie als ihre primäre Aufgabe erkennen. Perfekte Eltern gibt es nicht. Aber opferbereite Liebe gibt es, die mit den Kindern mitwächst und sich im Loslassen bewährt. Kaum etwas fordert so sehr zur Selbsterziehung heraus wie die Erziehung von Kindern. Die Opfer, die Eltern bringen, werden ihnen vergolten werden in der existenziellen Befriedigung, lebenstüchtige Kinder erzogen zu haben, in der Liebe der Enkel und in der Fürsorge der Kinder für die Eltern, wenn sie ihrer im Alter bedürfen. Jede gesunde Familie ist Salz und Licht für die Welt. Jeder gesunde junge Mensch ist ein Baustein für die Zukunft.
[1] Gabriele Kuby: Die verlassene Generation, geb., 368 S., ISBN 978-3-86357-276-1, Euro 17,80 – Bestellung: Tel.: +49 (0) 7563 608 998-0; www.fe-medien.de
Mit gleichgeschlechtlichen Neigungen Frieden finden
Geheiligt in der Wahrheit
Kurienkardinal Robert Sarah nimmt eine Buchveröffentlichung zum Anlass, das Thema Homosexualität im Licht des katholischen Glaubens zu beleuchten.[1] Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen sind – wie alle anderen Gläubigen auch – dazu berufen, aus der Gnade des Kreuzesopfers Christi zu schöpfen und sich der christlichen Vollkommenheit anzunähern. Dies ist ohne Ringen um die Tugend der Keuschheit für niemanden möglich. Am Beispiel Betroffener zeigt Kardinal Sarah auf, dass allein die Wahrheit freimachen kann. Und das bedeutet für Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen, dass sie nur auf dem Weg der Reinheit ein vom Frieden Gottes erfülltes Leben erlangen können. Besonders die Hirten ruft Kardinal Sarah auf, ohne Furcht vor dem Zeitgeist die „mütterliche Liebe und Weisheit“ der Kirche in die Pastoral mit Menschen einzubringen, die in sich eine homosexuelle Neigung wahrnehmen. Wir dürfen niemandem die Fülle des Evangeliums vorenthalten, so der Kardinal. Sein Geleitwort hat er auf den 13. Mai 2017 datiert, den Gedenktag Unserer Lieben Frau von Fatima.
Von Robert Kardinal Sarah
Im Oktober 2015, zwei Tage bevor die Familiensynode begann, nahm ich an einer internationalen Konferenz an der St.-Thomas-Universität in Rom teil, die von Courage International, von Ignatius Press und vom Napa-Institut ausgerichtet wurde. Die Konferenz trug den Titel „Die Wahrheit in Liebe leben“ und befasste sich mit der Pastoral für Männer und Frauen, die mit gleichgeschlechtlichen Neigungen leben. Ich habe einen Vortrag gehalten und danach Vorlesungen über christliche Anthropologie und die kirchlichen Normen für die Seelsorge angehört.
Zeugnisse Betroffener über ihren Leidensweg
Dann hörte ich bei einer Podiumsdiskussion Zeugnisse, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte, von drei Männern und einer Frau mit gleichgeschlechtlichen Neigungen. Diese Zeugnisse berührten mich tief. Alle berichteten, wie sie zuvor ein homosexuelles Leben gelebt hatten, aber dann eine Umkehr des Herzens erlebt haben. Ihre Geschichten waren nicht von sentimentaler Natur. Sie haben ihre Kämpfe nicht mit oberflächlicher oder unaufrichtiger Zurschaustellung von Frömmigkeit verbrämt. Im Gegenteil, sie haben ihre Herzen mit sichtlicher Demut und Tapferkeit auf ernsthafte und überzeugende Art vor der Zuhörerschaft geöffnet.
Ich habe erfahren, wie diese vier Personen gelitten haben, manchmal aufgrund von Begleitumständen, die sich ihrer Kontrolle entzogen hatten, manchmal aber auch aufgrund eigener Entscheidungen. Ich nahm die Einsamkeit, den Schmerz und die Traurigkeit wahr, die sie ertragen mussten, weil sie ein Leben geführt hatten, das ihrer wahren Identität als Gotteskinder entgegenstand.
Entdeckung der Schönheit der Lehre der Kirche
Mit der Zeit wurde ihr Leid jedoch zum Anlass, die Gnade, den Herrn und die Schönheit der Lehre der Kirche kennenzulernen. Nur bei einem Lebensstil im Einklang mit der Lehre Christi war es ihnen möglich, den Frieden und die Freude zu erfahren, nach der sie immer gesucht hatten. Sie begegnen auch immer noch dem Kreuz. Ihr Leben ist weder einfach noch frei von Traurigkeit. Aber jetzt erleben sie mithilfe der Kirche die Wahrheit des Evangeliums und den Frieden, der daraus hervorgeht – in den Sakramenten und im Gebet, in reiner christlicher Freundschaft und in der Hoffnung auf den gekreuzigten und auferstandenen Erlöser.
Oft werden wir von Bischöfen und Priestern darauf hingewiesen, dass der Katechismus festschreibt, dass Männer und Frauen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen mit „Achtung, Mitleid und Takt“ behandelt werden müssen; „für die meisten von ihnen stellt sie eine Prüfung dar“ (KKK, 2358). Für mich haben diese vier Sprecher dem Thema der Homosexualität ein Gesicht gegeben, sodass ich noch besser die Weisheit der Kirche bezeugen kann, wenn ich diese wertvollen Worte des Katechismus zu Gehör bringe.
„Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“
Schon in ihrer mütterlichen Liebe und Weisheit weist die Kirche im Katechismus auf einige weitere, die Homosexualität betreffende Aspekte hin, welche einige Mitglieder des Klerus nicht gelten lassen wollen, eingeschlossen die klare Warnung: „Sie [die homosexuellen Handlungen] sind in keinem Fall zu billigen“ (KKK 2357). Achtung, Mitleid und Takt, wozu der Katechismus zu Recht aufruft, erlauben uns nicht, Männer und Frauen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen der Fülle des Evangeliums zu berauben. Die „harten Worte“ Christi und seiner Kirche wegzulassen, ist keine Nächstenliebe. Im Gegenteil, es ist ein schlechter Dienst, den wir dem Herrn und jenen erweisen, die als sein Ebenbild und ihm gleich geschaffen und durch sein kostbares Blut erlöst sind. Wir können nicht mitfühlender oder erbarmungsvoller sein als Jesus der Frau gegenüber, die beim Ehebruch ertappt worden war; Jesus sagte ihr zwei gleichbedeutend wichtige Dinge: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11).
In Vereinigung mit dem Kreuzesopfer des Herrn
Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen „sind berufen, in ihrem Leben den Willen Gottes zu erfüllen und, wenn sie Christen sind, die Schwierigkeiten, die ihnen aus ihrer Veranlagung erwachsen können, mit dem Kreuzesopfer des Herrn zu vereinen“ (KKK 2358). Sie „sind zur Keuschheit gerufen“, und wir werten sie ab, wenn wir denken, sie könnten diese Tugend nicht erreichen, eine Tugend, die für alle Jünger gilt. Wie alle Mitglieder der Kirche „können und sollen sie sich Schritt um Schritt, aber entschieden der christlichen Vollkommenheit annähern“, wozu alle Getauften berufen sind (KKK 2359). Diese Worte des Katechismus gelten für alle gleichermaßen, weil sie wahrhaft seelsorgerliche Nächstenliebe ausdrücken. Sie laden uns ein, als Glieder des Leibes Christi unseren Brüdern und Schwestern mit gleichgeschlechtlichen Neigungen beizustehen, die auf dem Weg sind, die christliche Vollkommenheit zu erreichen, zu der der Herr alle seine Kinder aufruft. Jesus verlangt nichts Unmögliches von uns oder etwas, für das er uns nicht seine Gnade geben würde. Die Kirche ist die Quelle dieser Gnade.
Stärkung für eine evangeliumsgemäße seelsorgliche Praxis
Die Kirche sieht sich heutzutage vielen Herausforderungen und Gefahren gegenüber. Aus diesem Grund ist die Einheit, für die der Herr so eindringlich gebetet hat (vgl. Joh 17,21), ein Muss, besonders für den Klerus. Jesus betete dafür, dass seine Priester „in der Wahrheit“ geheiligt seien (Joh 17,17). Wir können nur heilig sein und andere zur Heiligkeit führen in dem Maß, in dem wir selbst “in der Wahrheit geheiligt sind“ (Joh 17,19).
Ich möchte viele dazu ermutigen, das folgende Zeugnis zu lesen, welches, wie die vier anderen Zeugnisse, die mich innerlich bereichert haben, die Barmherzigkeit und Güte Gottes bezeugt, die Wirksamkeit seiner Gnade und die Wahrhaftigkeit der Lehre der Kirche.
Stimmen wie diese werden in der Diskussion um die seelsorgerliche Praxis für Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen selten gehört. Ich ermutige besonders meine Mitbrüder, die Bischöfe und Priester, dieses Buch zu lesen, von dem ich hoffe, dass es ihre Überzeugung bestärkt, dass die Weisheit der Kirche in diesem schwierigen und empfindlichen Bereich wahrhafte Liebe und echtes Mitgefühl zum Ausdruck bringt.
Weg zur Freundschaft mit Christus
„Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage“, sagte Jesus (Joh 15,14). Nur Christus kann die Wunden der Sünde und der Trennung heilen. Nur die Kirche hat Antworten auf die tiefgründigsten Fragen des Menschen und auf seine innersten Bedürfnisse nach Liebe und Freundschaft. Nur die Fülle des Evangeliums kann das menschliche Herz zufriedenstellen. Nur die Gebote weisen den Weg zu einer Freundschaft mit Christus und untereinander, denn „seine Gebote [sind] nicht schwer“ (1 Joh 5,3).
[1] Daniel C. Mattson: Warum ich mich nicht als schwul bezeichne. Wie ich meine sexuelle Identität entdeckte und Frieden fand. Vorwort der dt. Ausgabe von Gerhard Kardinal Müller / Vorwort der engl. Ausgabe von Robert Kardinal Sarah, geb., 360 S., ISBN 978-3-9479311-7-0, Euro 19,95 (D), Euro 20,50 (A); Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; E-Mail: buch @media-maria.de; www.media-maria.de In seinem Buch beschreibt Daniel C. Mattson seinen Weg als Christ. Für eine gewisse Zeit ging er seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen nach, doch er fand Gott und in ihm Frieden. Von Beruf ist er Musiker, spielt Posaune und hat in verschiedenen Meisterklassen, unter anderem am Konservatorium St. Petersburg mitgewirkt. Seine Erfahrungen wurden auch in einer Dokumentation unter dem Titel „Desire of the Everlas-ting Hills“ verfilmt. Nun schreibt er: „Für den Rest meines Lebens möchte ich nichts anderes mehr tun als auch den anderen erzählen, wo das lebendige Wasser zu finden ist.“
Parallelen zu den Bekenntnissen des hl. Augustinus
Sohn und Freund Gottes
Daniel C. Mattson wuchs in einer christlichen Familie auf und verspürte seine Neigung zu Jungs schon im Alter von sechs Jahren. Sein Leben war gekennzeichnet von Turbulenzen zwischen seiner Gottesbeziehung und seiner gleichgeschlechtlichen Neigung. Als der Konflikt in ihm zu groß wurde, kehrte er Gott den Rücken und begann eine Beziehung mit einem anderen Mann. In diesen sehr persönlichen Erinnerungen beschreibt Mattson seinen Weg der Abstürze und Erfolge, bis er schließlich den Frieden fand und seine wahre Identität entdeckte: als Mann und als geliebter Sohn Gottes. Nun hält er auch Vorträge zum Thema Homosexualität, in denen er auf dem Hintergrund seines eigenen Lebensweges die Lehre der katholischen Kirche darlegt. Gerhard Ludwig Kardinal Müller entfaltet in seinem Vorwort zum Zeugnis von Mattson auf einfühlsame Weise die christliche Haltung zur brisanten Thematik der Homosexualität.[1]
Von Gerhard L. Kardinal Müller
Zu Beginn möchte ich den Autor des Buches „Warum ich mich nicht als schwul bezeichne“ (Why I Don‘t Call Myself Gay) für seinen außerordentlichen Mut beglückwünschen. Denn es gehört Courage dazu, gegen die „pansexistische Internationale“ die katholische Lehre vom Ursprung der Geschlechterdifferenz im Schöpferwillen Gottes zu vertreten. Wir werden sehen, dass Daniel Mattson einer radikal antichristlichen Anthropologie, die den Menschen auf sexuelle Lust reduziert, nicht nur widerspricht, sondern kenntnisreich und argumentativ deren Schwächen und verheerende Folgen aufzuzeigen vermag. – Ich möchte dem Autor aber auch danken für die Hilfe, die er Personen mit einer same sex attraction leistet. In der gesetzlichen Anerkennung der sexuellen Beziehung von Personen des gleichen Geschlechtes als Ehe sieht er nicht das Gelingen der Revolution der „Homosexual Liberation“ – einem Kultbuch von John Murphy (1971) –, sondern gerade das Scheitern der wahren Befreiung dieser Personen. Denn ihnen wird die Wahrheit über sich selbst vorenthalten, die allein frei macht. Die katholische Lehre mit ihrer klaren Unterscheidung der unverletzlichen Personwürde des Menschen und des richtigen oder falschen Verhaltens (behaviour) ist die wahre Anwältin des Menschen – sowohl in seinem Versagen als auch in seinem Bemühen um das Gute.
Das Buch beginnt biografisch und es behält die Perspektive persönlicher Betroffenheit bei auch in den folgenden Teilen, die den Leser in eine tiefe theologische und philosophische Reflexion hineinführen. Darin gibt es Parallelen zu den Bekenntnissen des hl. Augustinus, auf den er – bei einer erstaunlichen Kenntnis der Kirchenväter, des hl. Thomas von Aquin und anderer moraltheologischer und geistlicher Schriftsteller, ausdrücklich Bezug nimmt. Aber es hat nichts mit Selbstrechtfertigung zu tun oder einer Anklage anderer Menschen, der Gesellschaft oder gar der katholischen Kirche, die haftbar gemacht werden für die eigene Veranlagung und Situation.
Der Autor wahrt bei aller Offenheit doch die Diskretion und die Grenzen der Schamhaftigkeit, die – bei ähnlichen Büchern des Coming-out –, die Leser leicht in die Rolle eines Voyeurs drängen. Zur Würde des Menschen, der nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen ist, gehört auch nach dem Sündenfall die Wahrung des Respektes vor dem anderen, der nicht zum Objekt der eigenen ungeordneten Sinnlichkeit und Leidenschaft erniedrigt werden darf. Das erotische Anschauen der Nacktheit ist der Intimität der ehelichen Liebe vorbehalten (vgl. Gen 1,24f).
Die Desintegration von Sexus und Eros wird durch die Erlösung überwunden. Besonders in der sakramentalen Ehe ist die innere Zuordnung von Sexus und Eros auf ihre Integration in der Agape geöffnet. Agape ist die Form von Liebe, die sich im Verschenken verwirklicht und darin auch ihren Ursprung in Gott offenbart, der die Liebe in seinem dreifaltigen Leben ist.
Dass Menschen sexuell von Personen desselben Geschlechtes angezogen werden, ist keine persönliche Sünde. Erst die freie Einwilligung in ein Verhalten, das dem heiligen und Heil bringenden Willen Gottes widerspricht, führt zur Schuld. Da das Vorhandensein einer Desorientierung der seelischen und körperlichen Antriebe keine Schuld ist, die wir vor Gott und den Menschen auf uns laden, darf sie auch nicht zu Schuldkomplexen führen. Mithilfe der Gnade und gutem Willen vermag der Mensch, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Mit der Gnade Gottes ist die Keuschheit, das heißt die auf die Liebe hin geordnete Geschlechtlichkeit möglich sowohl in der Ehe als auch in Form der Enthaltsamkeit nicht verheirateter oder gottgeweihter Personen. Aber aufgrund der Erbsünde gibt es in allen Menschen eine ungeordnete Begehrlichkeit. Sie ist eine von der Vernunft schwer zu beherrschende Triebhaftigkeit, die sich der natürlichen Neigung zur hingebenden Liebe widersetzt. Diese Konkupiszenz bezieht sich nicht nur auf die sexuellen Triebe, sondern auf alle geistigen, seelischen und leiblichen Neigungen und Antriebe.
Wo der Mensch den ungeordneten Neigungen nachgibt und sich in ihnen verfängt, kann es auch zu einem Hass kommen auf Gott und auf seine Gebote, die uns der Sünde überführen. Erst durch die Erlösungsgnade werden wir neu geschaffen, wenn auch die Neigung zur Sünde im Getauften noch bleibt. Sie ist Neigung zur Sünde, aber nicht selbst Sünde, wie das Konzil von Trient erklärt. Sie dient nun als Medium der Prüfung und der tieferen Reifung im Glaubensgehorsam gegenüber Gott.
Durch die Erbsünde ist die menschliche Natur verletzt, aber nicht zerstört. Der Mensch ist aufgerufen, mit der Gnade der Rechtfertigung und der Erhöhung zur Gotteskindschaft und Gottesfreundschaft mitzuwirken. Mit dem Heiligen Geist können wir das Begehren des Fleisches, das heißt der desintegrierten geist-leiblichen und sozialen Natur und der Persönlichkeitsstruktur, besiegen. „Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit; gegen all das ist das Gesetz nicht. Die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt“ (Gal 5,22-24).
Die Identität des Menschen ergibt sich aus seiner personalen Beziehung zu Gott, welcher der Garant unserer Würde und Freiheit ist. Wir erkennen, dass Gott Ursprung und Ziel des Menschen ist. Der Sinn des Lebens kann nicht im sinnlichen Genuss, im Ausleben der Triebe, in der Befriedigung sexueller Lust bestehen, sondern nur im Suchen und Finden der Wahrheit und im Tun des Guten.
Deshalb wehrt sich der Autor zu Recht dagegen, wegen der sexuellen Anziehung durch Personen des eigenen Geschlechtes für eine Ideologie vereinnahmt zu werden, die aus dieser ungeordneten Neigung neben Mann und Frau eine dritte Kategorie von Menschen erfindet, nämlich den Gay. In der Gender-Ideologie erweitert man diese Kategorien ins Unendliche, indem man aus jeder Form von sexueller Vorliebe eine eigene geschlechtliche Identität konstruiert. Sich also als Gay zu identifizieren oder sich als solcher identifizieren zu lassen, heißt, den ganzen Reichtum des Menschseins, die Entfaltung aller geistigen und künstlerischen Gaben, die Verantwortung für die Welt und die Transzendenzoffenheit mit der Berufung zum ewigen Leben nur auf eine sexuelle Attraktion durch Menschen des eigenen Geschlechtes zu reduzieren.
Diesem Menschenbild, das sich einer sozialen Konstruktion verdankt, steht die christliche Anthropologie entgegen, die sich an der geschaffenen Natur des Menschen und an der Offenbarung der Wahrheit und der Liebe Gottes orientiert. Indem man Begriffe wie Gay aus einer Kopfgeburt hervorgehen lässt, macht man die Normalität einer ehelichen Beziehung von Mann und Frau zu einer Variante der menschlichen Natur. Statt der Unterscheidung von Mann und Frau gibt es auf einmal zwei andere grundlegende Menschentypen: nämlich den homosexuellen und heterosexuellen Menschen. Mit der Veränderung der Sprache, ihrer Begriffe und gedanklichen Kategorien verändert man die Wahrnehmung der Wirklichkeit, ohne sie in der Realität verändern zu können. Ein Mann bleibt ein Mann und eine Frau bleibt eine Frau – trotz der künstlichen, aber nicht realen „Geschlechtsumwandlung“. So wurde auch der Kampfbegriff der Homophobie erfunden, um jede Alternative zur Ideologie der Homo- und Gender-Bewegungen a priori zu diskreditieren. Menschen mit Problemen der sexuellen Desorientierung, die sich dieser Bewegung nicht anschließen, werden folgerichtig als Verräter geächtet.
Das ist das Wesen der Ideologie, dass sie eine falsche Wirklichkeit konstruiert und den Menschen zu ihrem Sklaven macht. Man muss nur an die brutale Rücksichtslosigkeit denken, mit der scheinbar liberale und sozialistische Regierungen westlicher Staaten diese Agenda durchpeitschen und die Gewissen der Andersdenkenden terrorisieren.
Es geht bei der globalen Auseinandersetzung nicht – wie beschwichtigend gesagt wird – nur um die Rechte von bisher verfolgten Minderheiten, sondern um den ursprünglichen Sinn und das letzte Ziel des menschlichen Daseins.
Was ist überhaupt die menschliche Natur? Was ist Sinn und Ziel der Ehe von Mann und Frau als Keimzelle der Kirche und der Gesellschaft und als Quelle ihres Glücks und Weg zur Vollkommenheit in Gott? Welche Berufung drückt sich aus in der Erkenntnis des Menschen als Person, wenn der Mensch die einzige Kreatur ist, die von Gott um ihrer selbst willen geschaffen ist, „die sich selbst nur durch die aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann“ (GS 24)[2] und dass die einzigartige Würde jedes einzelnen Menschen sowohl durch die Offenbarung wie auch durch die Vernunft erkannt wird (DH 2)?[3] Kann der Mensch, obwohl er ein irdisches und weltliches Lebewesen ist, aufgrund der unendlichen Offenheit seines Geistes überhaupt im Irdischen und Vergänglichen seine Vollendung finden? Hat er deswegen nicht eine göttliche Berufung, die durch die Selbsttranszendenz seines Geistes in Vernunft und Freiheit in Gott ihre Erfüllung findet?
Das sind die Fragen, die uns auch heute wie zu jeder Zeit bewegen. Die Reduktion auf ein animalisches Wesen, die den Menschen um Gott betrügt und die Gesellschaft spaltet in Lügner und Belogene, bedeutet keinen Fortschritt in der Perfektion des Menschen, sondern erweist sich als ein enormes Defizit in der Anthropologie. Sie lässt den Menschen in Sinnlosigkeit und Verzweiflung zurück. Ihr geheimes Paradigma ist der Nihilismus.
Die Ruinen, die die Reduktion des Menschen auf ein Triebwesen zurücklässt, sind erschütternd: Abtreibung, verbrauchende Embryonen-Forschung, die unzähligen Menschen, die in ihrer ehelichen Treue verraten wurden, und die, die ihr Versprechen gebrochen haben, die vielen Kinder und Jugendlichen, die um die Geborgenheit ihres Zusammenlebens mit ihrem eigenen Vater und ihrer eigenen Mutter betrogen wurden, die verlogene Umdefinition der Ehe zu einer Sexkomplizenschaft, wenn sie ihrer fundamentalen Einheit von Mann und Frau in der fruchtbaren Liebe beraubt wird.
Die sogenannte sexuelle Revolution hat nicht – wie sie sich selbst beschönigend darstellt – die Menschen von einer rigorosen und prüden bürgerlichen Doppelmoral befreit. Sie ist vielmehr verantwortlich für die Desintegration von Sexus, Eros und Agape, die in der substanzialen Einheit von Seele und Leib grundgelegt sind.
Der Autor kann überzeugend erklären, warum ein Leben nach den Geboten Gottes, wie sie in der Lehre der Kirche erklärt werden, den Menschen nicht krank macht, sondern von innen heraus heilt und ihm Hoffnung und Sinn gibt, die über die Grenzen des nur Menschlichen hinausweisen. Die Gebote Gottes sind vom Menschen nicht im bloß formalen Gehorsam zu erfüllen, weil sie keine von außen auferlegten Normen sind. Sie sind vielmehr Ausdruck des Willens Gottes, der uns liebt und uns gerade darum von unserer Selbstbezogenheit heilen will. Nur in der Liebe zu Gott und zum Nächsten, den wir lieben sollen wie uns selbst, können alle Gebote heilbringend erfüllt werden. „Denn darin besteht die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was aus Gott gezeugt ist, besiegt die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube“ (1 Joh 5,3-4).
In dem Personalausweis, den dein Schöpfer dir ausstellt, wird deine Identität nicht als Gay oder Ähnliches ausgegeben. Dort steht, wer du wirklich bist: Sohn und Freund Gottes. Dies mit seiner Lebensgeschichte und einer tiefen philosophisch-theologischen Reflexion aufgezeigt zu haben, ist das Verdienst des Buches von Daniel C. Mattson, und seiner Erklärung, warum er es sich verbittet, als Homosexueller bezeichnet zu werden.
[1] Daniel C. Mattson: Warum ich mich nicht als schwul bezeichne. Wie ich meine sexuelle Identität entdeckte und Frieden fand. Vorwort der dt. Ausgabe von Gerhard Kardinal Müller / Vorwort der engl. Ausgabe von Robert Kardinal Sarah, geb., 360 S., ISBN 978-3-9479311-7-0, Euro 19,95 (D), Euro 20,50 (A); Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; E-Mail: buch @media-maria.de; www.media-maria.de In seinem Buch beschreibt Daniel C. Mattson seinen Weg als Christ. Für eine gewisse Zeit ging er seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen nach, doch er fand Gott und in ihm Frieden. Von Beruf ist er Musiker, spielt Posaune und hat in verschiedenen Meisterklassen, unter anderem am Konservatorium St. Petersburg mitgewirkt. Seine Erfahrungen wurden auch in einer Dokumentation unter dem Titel „Desire of the Everlas-ting Hills“ verfilmt. Nun schreibt er: „Für den Rest meines Lebens möchte ich nichts anderes mehr tun als auch den anderen erzählen, wo das lebendige Wasser zu finden ist.“ [2] Paul VI.: Pastoralkonstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute, 7. Dez. 1965. [3] Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung Dignitas Humanae über die Religionsfreiheit, 2.
Der Krieg um Bergkarabach im Licht der Enzyklika „Fratelli tutti“
Der Fremde ist dein Bruder
Der Konflikt um Bergkarabach im südlichen Kaukasus schwelt schon lange, ja, er zieht sich seit Jahrhunderten durch die Geschichte der beteiligten Völker. Wieder einmal ist die Lage eskaliert und die Region wird von heftigen militärischen Auseinandersetzungen erschüttert. Im Blick auf die Kriegshandlungen zwischen Armenien und Aserbeidschan stellt Pfarrer Erich Maria Fink die aktuelle Bedeutung der neuen Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus heraus. Durch seine seelsorgliche Tätigkeit in Russland ist Pfarrer Fink mit den jüngsten Ereignissen in vielfacher Weise konfrontiert. Auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen zeigt er die Brisanz der Visionen auf, die der Papst in seinem Lehrschreiben entfaltet.
Von Erich Maria Fink
Armenien und Aserbeidschan sind unsere Nachbarn. Das sage ich als Seelsorger in Russland. Beide Länder waren Teilrepubliken der ehemaligen UdSSR, sog. Unionsrepubliken, und haben der sozialistischen Aufbauarbeit in ihren Ländern viel zu verdanken. Sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht sind sie zu Partnern und ernstzunehmenden Staaten herangewachsen. Ohne den Sozialismus glorifizieren zu wollen, muss diese Tatsache anerkannt werden.
Unter kommunistischer Herrschaft verloren die Grenzverläufe zwischen den verbrüderten Republiken an Bedeutung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sollte sich dieser Umstand als enormes Konfliktpotential erweisen. Worauf zuvor wenig geachtet wurde, brachte plötzlich Völker und Nationen gegeneinander auf, wie sich dies in den zentralasiatischen Staaten oder in der Ukraine zeigte. In Bergkarabach jedoch war es schon zu sowjetischer Zeit nicht gelungen, die beiden Parteien zu befrieden. Es handelt sich um eine endlose Geschichte, die bis ins erste Jahrtausend zurückreicht. Mit der Christianisierung Armeniens und der späteren Ausbreitung des Islam nahm der Konflikt schon vor Jahrhunderten einen religiösen Charakter an. In der neueren Zeit stand die Auseinandersetzung unter dem Zeichen der Unabhängigkeitsbewegung und der Ausformung eines nationalen Bewusstseins in den beiden Kaukasusrepubliken. Daran beteiligten sich historische Schutzmächte wie die Türkei für das muslimische Aserbeidschan und Russland für das christliche Armenien. Sie verleihen der Auseinandersetzung eine globale Dimension, wie sie in dem neu aufflammenden Krieg deutlich hervortritt.
Persönliche Erfahrungen
Bei meiner seelsorglichen Tätigkeit in Russland kam ich von Anfang an mit der Thematik in Berührung. Unsere deutschstämmige Jugendleiterin hatte einen aserbeidschanischen Moslem aus Baku geheiratet. Dieser arbeitet bis heute als Journalist für Zeitschriften, die versuchen, ein positives Bild von der islamischen Gesellschaft in Aserbeidschan zu vermitteln. Schon bald hatte er mich eingeladen, mit ihm zusammen seine Mutter in Baku und seine Heimat zu besuchen. Ich lernte ein aufstrebendes Land mit einer unglaublichen Offenheit für den Westen kennen. Die Sehnsucht nach einer bündnishaften Zusammenarbeit mit der EU war allgegenwärtig. Gleichzeitig erlebte ich eine nationale Identität, die sehr stakt auf die Frage Bergkarabach fixiert war. Das Trauma der Besetzung der Region durch Armenien im Krieg zwischen 1992 und 1994 saß ungeheuer tief. Die Gastgeber, die uns die Gräber der Gefallenen zeigten, gingen wie selbstverständlich davon aus, dass wir mit voller Überzeugung auf ihrer Seite stünden.
Auf dem Hintergrund meiner Eindrücke organisierte ich kurze Zeit später eine Pfarrwallfahrt nach Aserbeidschan, da sich dort auch sorgfältig gepflegte Zeugnisse christlicher Vergangenheit wie die „albanische“ Kirche in Şəki befinden. Auch herrschte nach dem Besuch von Papst Johannes Paul II. eine äußerst wohlwollende Atmosphäre für die katholische Mission. Erst später ist mir klar geworden, dass die Zuordnung der Kulturdenkmäler zur „albanischen“ Kirche in vielen Fällen ungewiss ist. Meist dürfte es sich um Vermächtnisse armenischer Kultur handeln. Aus politischen Gründen seien Spuren armenischen Christentums verwischt worden. So habe es Versuche gegeben, an Steindenkmälern alle typisch armenischen Kreuze unkenntlich zu machen. Es gehört jedenfalls zum heutigen Geschichtsverständnis, dass die aserbeidschanische Nation ihre Identität neben dem Turkvolk der Azeris auch auf albanische Nachkommen zurückführt.
Gleichzeitig leben im Ural viele armenische Familien, die wir teilweise seelsorglich betreuen. Dabei stehen wir mit den in Moskau arbeitenden armenischen Priestern in Verbindung. Auch nach Armenien haben wir eine Pfarrwallfahrt unternommen, die uns in alle Gebiete des Landes bis an die Grenzen von Bergkarabach geführt hat. Das moderne Land zeigt pulsierendes Leben mit einer tiefen christlichen Verwurzelung. Die Tatsache, dass das christliche Armenien gegen alle Anstürme des Islams standgehalten hat, prägt das gesamte Selbstverständnis der Armenier, so, als hätten die Angriffe während der vergangenen 1000 Jahre erst gestern stattgefunden. Und Bergkarabach wird mit eben diesen Emotionen nationaler Identität verteidigt.
Ausweglose Situation
Die derzeitige Situation wird dadurch erschwert, dass die Zughörigkeit von Bergkarabach zu Armenien keine völkerrechtliche Grundlage besitzt und bislang von keinem Staat anerkannt worden ist. Zugleich aber muss bedacht werden, dass der größte Teil der Einwohner in der Region von Armeniern gebildet wird. Außerdem werfen sich beide Konfliktparteien gegenseitig Pogrome, Vertreibungen und Massenmorde in der Vergangenheit vor, wofür es tatsächlich auch historische Anhaltspunkte gibt.
Politisch ist der Konflikt dadurch verwickelt, dass die Türkei, die sich nun direkt am Krieg beteiligt, ein Nato-Mitglied ist. Die westliche Welt müsste sich aus Bündnisverpflichtungen heraus eigentlich hinter die großosmanischen Vorstellungen des derzeitigen Präsidenten stellen oder sich zumindest aus Rücksicht auf ihren Partner zurückhalten. Dabei steht auch der Genozid an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Raum, der sein grelles Licht auf die derzeitigen Aktivitäten der Türkei wirft. Hinzu kommt der wirtschaftliche Faktor. Wegen der westlichen Investitionen in das Ölgeschäft standen die Industriestaaten früher eher auf der Seite Aserbeidschans. Rein menschlich und politisch gesehen ist die Lage hoch explosiv und verworren.
Friede verlangt Umkehr der Herzen
Man muss sich wirklich fragen, wie in der heutigen Zeit zwei zivilisierte Staaten mit kriegerischer Zerstörungswut aufeinander losgehen können. Für mich ist das Szenario umso unfassbarer, als ich beide Länder und deren Menschen kennen und lieben gelernt habe. Es handelt sich nicht um Terrorakte, sondern um einen Krieg, bei dem sich die Soldaten auf beiden Seiten freiwillig zum Kampf melden und Verteidigungsbereitschaft bis zum letzten Blutstropfen geloben. Und armenische Kirchenvertreter bringen über die Medien ihre Erwartung zum Ausdruck, dass Europa als christlicher Kontinent doch sicherlich militärisch eingreifen würde.
Wie aktuell ist hier die neue Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus! Er öffnet uns die Augen dafür, dass ohne eine Umkehr der Herzen keine Lösung solcher Konflikte möglich ist. Auch bei den verantwortlichen Politikern auf nationaler und internationaler Ebene müsse die Umkehr zu einem Umdenken, zur Überwindung egoistischer Gier und zu einem aufrichtigen Friedenswillen führen. Nur mit einem neuen Bewusstsein, könne man zur Verständigung, zu Kompromissen und zu einem gerechten Ausgleich der Interessen gelangen.
Alles, was der Papst in seiner Enzyklika thematisiert, das Aufbauen von Feindbildern (Nr. 266), das Schüren von Hass und Angst (z.B. Nr. 192, 227), Macht- und Herrschaftsansprüche (z.B. Nr. 15, 249) oder Rachegelüste (z.B. Nr. 71, 251, 242), all das hat sich im Konflikt um Bergkarabach verdichtet. Wie entscheidend wäre es in diesem Moment der Geschichte beider Völker, dass sie sich nicht als Fremde, sondern als Brüder, als Geschwister betrachteten. Franziskus schreibt: „In jedem Krieg wird letztlich „das Projekt der Brüderlichkeit selbst […], das der Berufung der Menschheitsfamilie eingeschrieben ist, zerstört.“ Und als Grund sieht er das „Fehlen von Horizonten, die uns zur Einheit zusammenführen“, nämlich die Überzeugung, dass wir alle Brüder sind (Nr. 26).
Natürliche Verbündete
Im Kaukasus stehen sich Christen und Muslime gegenüber. Wie aktuell ist genau auf diesem Hintergrund das Friedens-Engagement von Papst Franziskus! Bewusst hat er in seine Enzyklika das islamisch-christliche „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ aufgenommen und zum Teil wörtlich wiedergegeben. Zusammen mit dem ägyptischen Großimam und Rektor der al-Azhar Universität hatte er es am 4. Februar 2019 in Abu Dhabi unterzeichnet. Und zu Beginn der Enzyklika schreibt er: „Wenn mir bei der Abfassung von Laudato si’ eine Quelle der Inspiration durch meinen Bruder, den orthodoxen Patriarchen Bartholomaios, zuteilwurde …, so habe ich mich in diesem Fall besonders vom Groß-imam Ahmad Al-Tayyeb anregen lassen, dem ich in Abu Dhabi begegnet bin“ (Nr. 5).
Für Papst Franziskus ist völlig klar, dass die Menschheit ihre Probleme wie Hunger, Kriege, Terrorismus und Umweltzerstörung nur lösen kann, wenn sie sich als Familie versteht und alle einander als Brüder und Schwestern annehmen. „Brüderlichkeit“ meint zunächst die Tatsache, dass wir Brüder sind. Erst auf dieser Grundlage kann eine „soziale Freundschaft“ aufgebaut werden, in der die Bereitschaft wächst, füreinander einzutreten und zu teilen.
In der Enzyklika betont Franziskus und zitiert dabei Benedikt XVI.: „Die Vernunft für sich allein ist imstande, die Gleichheit unter den Menschen zu begreifen und ein bürgerliches Zusammenleben herzustellen, aber es gelingt ihr nicht, Brüderlichkeit zu schaffen“ (Nr. 272, vgl. Enzyklika Caritas in veritate, 2009). Ein Säkularismus, der die transzendente Würde des Menschen verneine, sei nicht in der Lage, alle Menschen als Brüder und Schwestern anzuerkennen. Deswegen seien wir als Christen und Muslime dazu berufen, im Licht des Glaubens an Gott, den Schöpfer aller Menschen, einer gottfernen Welt die Wahrheit über den Menschen und seine Berufung zur „Brüderlichkeit“ zu bezeugen. Christen und Muslime sind nach Papst Franziskus also gleichsam natürliche Verbündete im Aufbau einer brüderlichen Welt. Deshalb stellt er den Besuch des heiligen Franz von Assisi bei Sultan Malik-al-Kamil in Ägypten zu Beginn der Enzyklika so deutlich heraus (Nr. 3) und lässt sie am Ende mit der Vision des seligen Charles de Foucauld, der sein Leben in der afrikanischen Wüste unter Muslimen verbracht hat, ausklingen: „Nur durch die Identifikation mit den Geringsten wurde er zum Bruder aller Menschen. Möge Gott jeden von uns zu dieser Vision inspirieren. Amen“ (Nr. 287).
Die Enzyklika kann den Krieg nicht beenden, aber der Konflikt macht offenbar, wie wahr die Aussagen dieses Dokuments sind. Im konkreten Fall, so heißt es, sei von der internationalen Politik ein „schnellstmögliches Eingreifen [verlangt], um das Vergießen von unschuldigem Blut zu stoppen“ (Nr. 192). Im globalen Kampf gegen gewaltbereitem Fundamentalismus, Terrorismus und Imperialismus aber führt an der Vision und dem Engagement, wie es in der Enzyklika aufgezeigt ist, kein Weg vorbei.
„Der Glaube ist das Einzige, was uns geblieben ist“
Libanon: Überlebenskampf im Trümmerfeld
„Ich hörte den Lärm nicht, aber ich spürte die Druckwelle, die Welle heißer Luft, die durch mein zerbrochenes Bürofenster hereinkam. Mein Schreibtisch und der Fußboden waren mit Glassplittern bedeckt. Es gab keine Türen mehr, keine Fenster, nichts.“ So beschreibt der maronitisch-katholische Erzbischof von Beirut, Paul Abdel Sater, gegenüber „Kirche in Not“ die ersten Sekunden nach der Explosion, die die Hauptstadt des Libanon in den Abgrund gerissen hat.
Von KIRCHE IN NOT Deutschland
Am 4. August gingen in Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft – eine der größten nichtnuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte. Mindestens 190 Tote, über 6500 Verletzte, etwa 300.000 Obdachlose waren die verheerenden Folgen.
Christliches Viertel schwer getroffen
Und mittendrin in Tod und Verwüstung: das christliche Viertel Aschrafiyya, eines der ältesten der Stadt, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Hafen, wo die Katastrophe ihren Anfang nahm. Kein Haus ist dort ohne Schäden, Krankenhäuser, Kirchen – alles ist in schwere Mitleidenschaft gezogen.
Gut acht Wochen nach der Explosion war ein Team von „Kirche in Not“ vor Ort. Das Leben ist zurück in den Gassen, überall Gedränge und Geschiebe – besonders an den Stellen, wo Lebensmittel und andere Hilfsgüter ausgegeben werden. Denn viele Bewohner von Beirut konnten bei der Explosion buchstäblich nur das retten, was sie am Leib trugen. Und das wenige Ersparte ist durch Inflation und Wirtschaftskrise im Libanon ohnehin kaum noch etwas wert.
Eine Menschentraube drängt sich auch vor der Tür des „Schutzzentrums für Mütter und Kinder“, das von den Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul betrieben wird. Jetzt ist dort eine der sechs Ausgabestationen für Nothilfepakte, die „Kirche in Not“ unmittelbar nach der Explosion für über 5.800 Familien finanziert hat.
Etwa 70 Personen stehen heute in der Schlange. Sie bekommen zwei Kisten, jede sechzehn Kilo schwer – darum sind viele Hilfsbedürftige mit dem Handkarren gekommen. In den Kisten sind Lebensmittel, Hygieneartikel und andere Kleinigkeiten des täglichen Bedarfs. Eine Familie mit fünf Personen kann davon etwa einen Monat leben.
„Der Glaube ist uns geblieben“
Auch Mona (52), holt sich heute ihr Paket ab. Sie lebt mit ihrer 94-jährigen Mutter zusammen. Obwohl die Greisin fünf Kriege überlebt hat – oder vielleicht sechs, so genau weiß sie das nicht mehr – „ist sie seit der Explosion traumatisiert; sie erschrickt vor jedem Geräusch“, berichtet Mona. Mona ist seit fünf Jahren arbeitslos. Vor der Krise half ihr und der Mutter ein Verwandter mit umgerechnet rund 180 Euro im Monat aus. Durch die fortschreitende Inflation kriegt sie davon aber nur noch so viel wie früher mit 40 Euro.
„Während des Bürgerkriegs schlug eine Rakete in unser Haus ein und tötete meine Schwester“, erzählt Mona. „Ich bekam eine Depression, aber der Glaube hat mir geholfen. Er hilft mir auch jetzt. Der Glaube ist das Einzige, was uns geblieben ist.“ Mut mache ihr auch, dass die Barmherzigen Schwestern jederzeit ein offenes Ohr für sie haben, und mehr als das: „Schwester Rita kommt, wann immer wir sie brauchen. Oft wird es spätabends, weil sie den ganzen Tag so beschäftigt ist. Aber sie findet immer Zeit für uns. Für mich ist das lebendige Botschaft Christi auf Erden.“
Der Winter steht bevor
Die so gelobte Schwester Rita leitet das Mütterzentrum. Auch gerade jetzt hat sie alle Hände voll zu tun, nur wenige Minuten bleiben für das Gespräch mit den Mitarbeitern von „Kirche in Not“. „Die Lage hier ist dramatisch, weil die meisten Menschen gar nichts mehr haben“, stellt die Ordensfrau fest. Ihre Einrichtung hat vor der Explosion etwa 120 Familien betreut, jetzt sind es 500. Es gibt eine Suppenküche, dazu die Ausgabestellen für die Nothilfepakte. Sr. Rita stemmt das zusammen mit ihren Mitschwestern und einer Schar von Freiwilligen.
Zwischen Hilfesuchenden und Helfern drängeln sich auch noch Handwerker – denn auch das Mütter-Zentrum wurde von den Detonationen beschädigt: Sämtliche Fenster und Teile des Dachs wurden herausgesprengt. Eigentlich ist das Haus kaum nutzbar. „Aber wir müssen weiterarbeiten“, erklärt Sr. Rita. „Also haben wir schnell jemanden mit der Reparatur beauftragt – auch wenn wir nicht wissen, wie wir die Handwerker bezahlen sollen.“ Nach der ersten Nothilfe nimmt „Kirche in Not“ sich auch dieser Sorgen an: Noch vor dem Winter müssen die ersten notdürftigen Instandsetzungen finanziert werden, dann ist der Wiederaufbau von Kirchen, Klöstern und Hilfseinrichtungen dran.
Zwischen den Lebensmittel-Kisten mit dem Logo von „Kirche in Not“, Werkzeugen und Gerüsten hängt ein Kreuz an der Wand. Darunter steht auf Französisch der Satz: „Ihr seid das Zeichen der Barmherzigkeit Gottes.“ In Schwester Ritas Worten klingt das so: „Unser Charisma ist es, den Schmerz Christi auf Erden zu lindern. Wir wollen Gott dienen und Zeugnis für ihn ablegen – besonders in den schweren Zeiten, die wir gerade durchmachen.“
„Wie durch ein Wunder unversehrt“
Wie schwer diese Zeiten für die Menschen im Libanon gerade sind, wird sichtbar an Nabil, dem Schwester Rita zusammen mit dem Team von „Kirche in Not“ einen Hausbesuch abstattet. Der 56-Jährige ist spastisch gelähmt und kann das Bett nicht mehr verlassen. Seine Mutter liegt im Krankenhaus. Er hat keinen anderen Verwandten. Nabil konnte sich nicht in Sicherheit bringen vor den Detonationen am 4. August, erzählt Sr. Rita: „Die Glassplitter fielen auf ihn. Wie durch ein Wunder blieb er unversehrt.“
Angesichts von Nabils Lage wird verständlich, was Sr. Josephine, eine weitere Mitarbeiterin im Mütterzentrum entschieden erklärt. So viele Menschen würden angesichts der Wirtschaftskrise und der Explosionskatastrophe von Auswanderung sprechen. Aber „jetzt ist der richtige Zeitpunkt, hier zu bleiben. Es ist höchste Zeit, unser Volk zu begleiten. Jeder hier hat ein Problem.“
Woran für Sr. Josephine kein Zweifel besteht, das haben viele junge Libanesen schon anders entschieden: Sie hält nichts mehr in ihrem Heimatland. Auswanderung nach Nordamerika oder Europa lautet ihr Ziel. Nicht nur für den Libanon geht es um alles oder nichts, auch für die christliche Gemeinschaft im gesamten Nahen Osten.
Droht Explosion des Fanatismus?
Der Libanon hat den größten christlichen Bevölkerungsanteil in der Region. Doch der geht zurück: Laut dem Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ des weltweiten päpstlichen Hilfswerks „Kirche in Not“ gehört heute noch gut ein Drittel der sechs Millionen Libanesen einer der christlichen Konfessionen an. Schätzungen des US-Außenministeriums zufolge lag ihr Anteil 2010 noch bei knapp über 40 Prozent.
Hinzu kommt, dass viele Hilfen für Syrien oder den Irak über den Libanon fließen. Gerade die Kirchen sind engagiert im Einsatz für Kriegsflüchtlinge und Vertriebene aus diesen Ländern. Doch wie soll das weitergehen, wenn die Gemeindemitglieder immer weniger werden, und was bedeutet das für das gesellschaftliche Gleichgewicht in der Region?
Das fragt sich auch der maronitische Erzbischof Paul Abdel Sater im Gespräch mit „Kirche in Not“. Er erinnert an die Worte des hl. Johannes Paul II., der einmal sagte: „Der Libanon ist eine Botschaft.“ Diese Botschaft wird deutlich in der Solidarität, die junge Leute aus dem ganzen Land und aus unterschiedlichen Religionen motivierte, nach der Explosion nach Beirut zu kommen und bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Christen und Muslime stünden zusammen.
„Wenn der Libanon das nun aber verliert, bedeutet das, dass der Fanatismus zunehmen wird. Und wenn es Fanatismus gibt, gibt es Zerstörung“, ist der Erzbischof überzeugt und fügt hinzu: „Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft den wahren Wert des Libanon nicht zu schätzen weiß. So etwas ist im Nahen Osten nur selten, und das muss von der internationalen Gemeinschaft bewahrt werden.“
Es ist töricht, Angstfreiheit vorzutäuschen. Angst kann uns lähmen und unser Glück vergiften. Sie zettelt Kriege an und führt nicht selten zu religiösem Fanatismus. Wie viel Angst ist in uns vorhanden, nicht mehr geliebt zu werden und dann in Sinnlosigkeit, Verzweiflung und Chaos zu verfallen? Dr. Peter Dyckhoff geht der Frage nach, wie wir unsere Angst überwinden können.[1] Wer Gott als liebendes Gegenüber erfährt und sich von ihm bedingungslos angenommen weiß, wird frei und kann sein Leben ohne Angst gestalten. Durch Jesus Christus lernt der Mensch, sich zu dem zu entwickeln, wie Gott ihn gedacht und gemacht hat.
Von Peter Dyckhoff
Wie die Seele Jesu in der Ölbergstunde aufgewühlt und von Angst durchzogen war, so muss auch die Ankündigung seines Scheidens aus dieser Welt auf die Jünger gewirkt haben. Durch den Abschied Jesu droht den Jüngern die Angst vor dem Alleinsein, weil sie allein in der Welt leben müssen, wo sie keine Bleibe haben. Die Jünger wie auch wir werden vom scheidenden Jesus aufgefordert zu glauben, weil uns die Welt der Finsternis durch ihren Hass die Geborgenheit in Jesu mystischer Gegenwart und in seinem Wort streitig machen will. Jesus verspricht den Jüngern und damit auch uns ein angstfreies Herz, wenn wir vertrauen und ihm glauben.
Die Erschütterung des Herzens und damit die Angst ist das Gegenteil von Glauben. Wodurch kann es zu einer solchen Erschütterung des Herzens kommen? Durch die Verlockungen der Welt, durch Anfeindungen, falsche Entscheidungen und durch die „Abwesenheit“ Jesu Christi. Diese Einbrüche in das menschliche Leben können so tief gehen, dass das Innerste, das Herz, davon betroffen wird. Gibt das Herz dieser Verunsicherung nach, entsteht Angst im Menschen. Auf ganz besondere Weise trägt die „Abwesenheit“ Jesu zur Verunsicherung des Herzens und der sich daraus ergebenden Angst bei.
Wir sollten um diese Zusammenhänge wissen, dürfen uns aber von der Angst nicht bestimmen lassen, sondern müssen Jesus Christus in unserem Herzen den Vorrang geben. Ein festes Vertrauen auf den Herrn wirkt der Erschütterung des Herzens entgegen. Auch die aus dem Gebet gewonnene innere Ruhe und die Festigkeit im Glauben tragen zur Überwindung der Angst bei.
Euer Herz sei ohne Angst! Können wir dieses Wort Jesu heute noch aus seinem Mund bedenkenlos annehmen? Können wir dieses Wort verwirklichen angesichts des Elends in der Welt, dessen Zeugen wir täglich sind? Kriege und Mord, Unterdrückung und Folter, Terror und Gewalt, fliehende und angstbeladene Menschen, weinende und schreiende Frauen und Männer, verängstigte Kinderaugen, hungernde und sterbende Menschen. Angst um den Arbeitsplatz, Angst um materielle Sicherheit, Angst vor Verantwortung… Darüber hinaus gibt es noch die viel existenziellere Angst: Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren, Angst um die Kinder, Angst, ob das Leben gelingen wird, Angst vor Krankheit, dem Älterwerden und dem Sterben. Nicht die vielen kleinen Ängstlichkeiten des Alltags sind es, sondern jene Grundängste, die wie ein dunkler Schatten unser Dasein begleiten.
Der Herr überlässt uns nicht einfach unserem Schicksal, sondern zeigt uns einen Weg auf, indem er auf sich selbst weist, auf seinen Weg, den er geht. Wie sieht dieser Weg für uns aus? Befreit er uns von unserer Lebensangst? Die Antwort ist die Wahrheit. Man kann sie schauen. Jesus selbst ist – uns voraus – diesen Weg gegangen. Wenn wir diesen Weg betrachten, stellen wir fest: Er ist kein Ausweg, sondern sein Weg führt durch die oft bittere Wirklichkeit dieser Welt hindurch auf ein Ziel hin. Doch zunächst führt der Weg ans Kreuz. Auf diesem Weg hat auch Jesus Angst. Er fühlt, was es heißt, verlassen zu sein, ohnmächtig und scheinbar ohne Hoffnung: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46).
Aber gerade inmitten dieses Dunkels, trotz aller Hoffnungslosigkeit und Zerstörung, bleibt ein unerschütterlicher Halt, eine Gewissheit in aller Lebensangst: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist (Lk 23, 46). Der Vater führt ins Leben, und er lässt nicht nur seinen eingeborenen Sohn Jesus Christus auferstehen, sondern auch uns. In die Auferstehung führt also der Weg, den uns Jesus weist. Dies ist weder Theorie noch irgendeine Ideologie, sondern das ist sein Leben. „Wenn ihr schon meinen Worten nicht glaubt“, sagt Jesus, „so glaubt doch wenigstens aufgrund der Werke. Aufgrund dessen also, was mein Leben ist!“
An diesem seinem Leben ist abzulesen, wohin der Weg führt – auch aus aller vorübergehenden Angst heraus. Darum gilt: Euer Herz sei ohne Angst. Wir dürfen aus der Garantie seines eigenen Lebens dieser Einladung folgen und ihm grenzenlos vertrauen.
Jesus kannte die Menschen, besonders die Menschen in ihrer Angst und in ihrer Sehnsucht nach Zuwendung, indem er selbst in die äußerste menschliche Angst hineingegangen ist. Durch seinen Tod und seine Auferstehung hat er sie verwandelt in eine bleibende Freude.
[1] Peter Dyckhoff: Euer Herz sei ohne Angst, geb., 80 S., ISBN 978-3-9479312-2-4, Euro 12,95 (D), Euro 13,30 (A).Bestell-Tel.: +49 (0)7303-952331-0; Fax: +49 (0)7303-952331-5; E-Mail: buch@media-maria.de; www.media-maria.de
Gebete, die zur Vereinigung mit Gott führen
Aufstieg der Seele
Das Gebetbuch „Ruhe finden in dir"[1] ist eine Einladung, sich auf den Weg des Glaubens zu begeben, der mit unseren menschlichen Fragen beginnt und den Blick auf Gott ausrichtet. Der Betende lernt, sich Gott gegenüber vertrauensvoll zu öffnen, um seine entgegenkommende Liebe zu empfangen. Dr. Peter Dyckhoff bietet eine Einführung in das Buch, das auch als Leitfaden für persönliche Exerzitien verwendet werden kann. Mit zwei oder drei Texten am Tag gelangt man sowohl tiefer in den Glauben als auch schrittweise näher zu Gott.
Von Peter Dyckhoff
„Ruhe finden in dir“ besteht aus persönlichen Gebeten, die einen Glaubensweg darstellen, der mit einer im Herzen gefühlten großen Unruhe beginnt. Über die Verwurzelung in Christus und das Aneignen seiner Nachfolge führt der Weg in die Anbetung und ins Schweigen.
Im ersten Teil des Buches lässt der Betende seine unerfüllte Sehnsucht zu und trägt sie zusammen mit seinen anderen Unvollkommenheiten, Fehlern und Vergehen vor Gott, den er in immer neuen Lebenssituationen um Hilfe anfleht. Der so Klagende und zu Gott Rufende bekommt allmählich eine Ahnung davon, dass Gott ihn zwar hört, ihn aber nicht immer sofort erhört.
Wer betet, bleibt trotz des schmerzhaften Aufbruchs, trotz vieler unbeantworteter Fragen, Unsicherheiten und Zweifel im Gespräch mit Jesus Christus, den er als „Herr“ anredet. Ohne dass er über Maria, die Mutter des Herrn, spricht, ist sie ihm Vorbild im Glauben, indem sie sich in einem fortwährenden Dialog mit Gott befindet. Selbst als der Engel Gabriel ihr anscheinend Unmögliches berichtet und ankündigt, bricht Maria das Gespräch mit dem Engel und damit mit Gott nicht ab. Der Betende hält sich treu und voll Hoffnung an diesen gelungensten Dialog Gottes mit einem Menschen und unterbricht ihn auch dann nicht, wenn er zweifelt und keinen Schritt weiterzugehen wagt.
Da er die Sehnsucht nach Gott in sich zulässt und die Suche nach ihm nicht aufgibt, habe ich diesen ersten Schritt „Sehnsucht und Suche“ genannt. Die Sehnsucht des reichen Jünglings im Evangelium war so stark, dass er sich aufmachte, Jesus zu suchen. Als er jedoch Jesus auf seinem Weg begegnete und mit ihm ein Gespräch führte, waren die Anforderungen Jesu für ihn derart hoch, dass er sie nicht erfüllen konnte. Der reiche Jüngling – weil er es bisher nicht gelernt hatte, loszulassen – brach von sich aus den Dialog mit Jesus ab und ging traurig fort.
Der Betende jedoch, der seinen eigenen Weg finden möchte, hält unter jeglichen Umständen durch und führt das Gespräch betend mit dem Herrn weiter. Aus seinen Gebetsworten wird offenbar, dass der Herr ihm auf geheimnisvolle Weise antwortet und er diese leise Sprache Gottes immer besser versteht.
Der zweite Teil dieser Gebete heißt daher „Weg und Begegnung“. Der Gott Suchende hat Einblick in den rechten Weg nehmen dürfen und erkannt, dass ihn einzig und allein die Demut und die Hingabe zur Begegnung mit dem Herrn führen – der Erfüllung seiner Sehnsucht. Die Wahl der Worte ist wesentlich feinfühliger und der Inhalt der Gebete drückt vornehmlich Dank und Gottesliebe aus.
Der wie Maria im Gespräch mit Gott Bleibende macht tiefgreifende Glaubenserfahrungen. Die wesentlichste für ihn ist, dass sein Leben Sinn erhält, ein bleibendes Fundament, und dass er in Christus verwurzelt ist. Bei allem menschlichen Auf und Ab geht ihm eines nicht verloren: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe zu Christus. Der Betende drückt seine Gotteserfahrung aus, indem er sagt: „Du hast meine Seele berührt und alles erhält Sinn.“
Der dritte Teil des Zu-Gott-Sprechens ist daher überschrieben „Mein Leben erhält Sinn“. Die Sehnsucht jedoch, sich noch tiefer und dauerhaft in Gott zu verankern, bleibt. Der Betende spürt, dass es nicht mehr sein Weg ist, auf dem ihn Jesus Christus begleitet, sondern sein Weg ist bereits in die Nachfolge Christi übergegangen und somit zum Weg Christi geworden. Die Sprache stößt hier an ihre Grenzen, wenn der noch menschlich fassbare Weg übergeht in einen mystischen Weg. Der Mensch hat nunmehr den einen Wunsch: eins zu werden mit Jesus Christus.
Der vierte Teil „Eins werden mit dir“ versucht dieses ansatzweise in Worte zu fassen, wobei das Geheimnis des Glaubens, der Tod und die Auferstehung Jesu Christi und das allerheiligste Sakrament im Mittelpunkt eines jeden Gebets stehen. Über und durch das Sakrament der Liebe Gottes, die heilige Kommunion, schwinden die vielen Gebetsworte und leiten die schweigende Anbetung ein. Die Seele steht staunend vor der höchsten und ewigen Liebe, fest verwurzelt in Christus, entzündet vom Feuer des Heiligen Geistes, der wiederum Liebe ist.
In der mystischen Tradition des Christentums sind die Schritte, die im zweiten bis vierten Teil des Buches gegangen werden, auch als „Reinigung“ (purificatio), „Erleuchtung“ (illuminatio) und „Vereinigung“ (unio) bezeichnet worden. In diese dreifache Bewegung auf dem Weg des Glaubens und der Nachfolge Christi möchte Sie dieses Gebetbuch einladen.
Die eingestreuten 35 Zeichnungen von Rembrandt unterstreichen die einzelnen Gebetstexte.
[1] Peter Dyckhoff: Ruhe finden in dir (Gebete), geb., 366 S., 35 Rembrandt-Zeichnungen, ISBN 978-3-86357-271-6, Euro 12,00 – Bestell-Tel.: +49 (0) 7563 608 998-0 – E-Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de
Zu den Reformbemühungen des „Synodalen Wegs“
Das Wandelbare und das Unwandelbare der Kirche
Für Erzbischof Dr. Karl Braun ist es klar, dass die Kirche der Apostel in ihrer Erscheinung eine andere war als die Kirche des Mittelalters oder die Kirche des 21. Jahrhunderts. Was sie im Jahr 3000 sein werde, könnten wir nicht sagen. Nur an dem einen müssten wir festhalten: „Die sich an ihr vollziehenden Wandlungen werden, wenn sie keine Verfälschungen sein sollen, an den Grund- und Wesenszügen ausgerichtet sein, die das Unveränderliche und Bleibende in der Kirche ausmachen.“ Erzbischof Braun arbeitet in seinem Beitrag heraus, was zum unwandelbaren Wesen der Kirche gehört und was veränderbar ist. Die Kirche habe dynamischen Charakter und sei stets im Wachsen begriffen, wie der Gottmensch Jesus Christus in seinem irdischen Leben auch. Doch müssten alle Reformbestrebungen daran gemessen werden, ob sie zu einer Vertiefung des von Gott geschenkten Geheimnisses oder zu einer Verflachung des christlichen Lebens führen.
Von Erzbischof em. Karl Braun
In Ansprachen, Interviews, Artikeln und auch Büchern erheben derzeit haupt- und nebenamtliche Theologinnen und Theologen die Forderung nach grundlegenden Veränderungen in der Kirche. Angesichts des Skandals des sexuellen Missbrauchs könne oder dürfe nichts mehr so bleiben, wie es bisher war, zumal insbesondere auch Amtsträger betroffen seien. Manche verlangen deshalb, die Maßnahmen auch auf Bereiche auszuweiten, die als „endgültig“ entschieden gelten wie die Frage der Priesterweihe von Frauen.
Vor kurzem berichtete mir ein Pfarrer von Fragen, die sein Pfarrgemeinderat vorwurfsvoll an ihn gerichtet habe: „Herr Pfarrer, warum stellen Sie sich so gegen alle Neuerungen in der Kirche, die von vielen gewünscht werden: gegen die Aufhebung des Zölibats, gegen die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten, gegen die Interkommunion mit den evangelischen Christen, gegen das Frauenpriestertum oder gegen die Akzeptierung eheähnlichen Zusammenlebens Homosexueller?“
Das alles sei nur eine Frage der Zeit. In der Kirchengeschichte gebe es zahlreiche Beispiele dafür, dass manches, was zunächst autoritativ abgelehnt worden sei, schließlich doch Eingang in die Kirche gefunden habe. Ist dem wirklich so?
Geschichtlicher Wandel an der äußeren Gestalt der Kirche
Es liegt zunächst nichts Problematisches in der Feststellung, dass die Kirche in ihrer zweitausendjährigen Geschichte manche Veränderungen erfahren hat. Als ein auch menschliches Gebilde ist sie dem Gesetz des Werdens unterworfen. Dabei vollzog sich der Wandel nicht nur an der äußeren Gestalt der Kirche, sondern er erfasste, da ja äußere Form und innerer Gehalt niemals vollkommen zu trennen sind, auch ihren inneren Bereich.
Verfolgt man solche Wandlungen in der Kirche nach ihrer Eindringungstiefe und in ihrer Erstreckung von außen nach innen, so fallen die Veränderungen im äußeren Bereich natürlich besonders leicht ins Auge. Als Beispiel bietet sich hier etwa der Kirchenbau an, dessen Entwicklung von der halbprofanen mediterranen Basilika zur wuchtigen Schwere der Romanik als Ausdruck der Heilsordnung führte, dann zur himmel-anstrebenden Gotik, zum triumphierenden Barock und schließlich zu den nüchternen Gebetssälen und Mehrzweckbauten der Gegenwart, jedes Mal verbunden mit einem je eigenen Welt- und Kirchenbewusstsein, das offenbar Veränderungen unterlag. Eng damit verknüpft ist der Wandel auf dem Gebiet der kirchlichen Kunst, etwa dem der Musik, die im Urchristentum weithin abgelehnt wurde und die sich nach ihrer Anerkennung durch die Kirche von den Anfängen im Psalmengesang und Choral bis hin zu den konzertanten Messen des 17. Jahrhunderts und zum „Neuen geistlichen Lied“ sowie zur Duldung der Jazzmusik in der heutigen Zeit entwickelt hat.
Entwicklungen im inneren Lebensbereich der Kirche
Für Entwicklungen im inneren Lebensbereich der Kirche lässt sich eine Reihe von Beispielen anführen, beginnend etwa mit dem einschneidenden Wandel der Urkirche von einer judenchristlichen Gemeinde zu einer Kirche auch der Heiden – ein geschichtliches Lernen (unter Anleitung des Heiligen Geistes: Joh 16,13), dessen Erschütterung in der Apostelgeschichte noch nachzufühlen ist (Apg 11,1ff; 15,1ff; 19-28; Gal 2,11-17). Nicht weniger markant war die Entwicklung, die sich in der nachapostolischen Zeit in der Herausbildung der kirchlichen Ämter vollzog.
Noch tiefer in das innere Wesensgefüge der Kirche aber griff die Entwicklung auf sakramentalem und liturgischem Gebiet ein. Eine enorme Wende bedeutete hier die Ablösung der ursprünglichen Erwachsenentaufe durch die Kindertaufe, die sich allerdings schon sehr früh abzeichnete. Noch dramatischer ging der Übergang von der einmaligen, öffentlichen, überaus schweren Kirchenbuße zur individuellen Beichte, zum Bußsakrament, im Lauf des 6. Jahrhunderts vonstatten. Auch die im Zentrum des sakramentalen Lebens stehende Eucharistiefeier war so manchen, teilweise auch unguten Entwicklungen unterworfen.
Die Liturgie, die als „Gesetz des Betens“ schon in das „Gesetz des Glaubens“ hineinragt, lenkt den Blick schließlich auf den innersten Bereich des kirchlichen Lebens, auf den Kern von Glaube und Dogma, von Glaube und Sitte. Selbst in diesem Kernbereich hat es geschichtliche Entwicklungen gegeben, obgleich sie im Bereich des Sittlichen zahlenmäßig gering sind. Hier werden als Beispiele angeführt: der Wandel der Kirche in der Auffassung der Sklaverei, in Bezug auf das Zinsverbot und schließlich hinsichtlich der Religionsfreiheit, die angeblich von den Päpsten des 19. Jahrhunderts verworfen, vom Zweiten Vatikanum dagegen gutgeheißen worden sei. Hier ist es allerdings notwendig, zu differenzieren. Gegen was haben sich die Päpste genau gewandt? Welche Positionen wurden exakt verurteilt?
Der Wandel wird aber besonders im Bereich des Dogmas sichtbar, den man seit langem erkannt und seit dem 19. Jahrhundert in den Begriff der „Dogmenentwicklung“ gefasst hat. So zeigt sich etwa ein „Zuwachs“ der Glaubensartikel vom Apostolischen Glaubensbekenntnis (zwölf Artikel) zum Glaubensbekenntnis von Nicäa und Konstantinopel (vierzehn Artikel). Andererseits sind wichtige kirchliche Lehren – etwa zur Eucharistie, zu den Sakramenten oder zum Amt – in diesem altkirchlichen Credo gar nicht enthalten. Man muss auch anerkennen, dass etwa die frühe Christenheit im Streit der Schulen von Alexandria und Antiochia das Geheimnis Jesu als Einheit von Gottheit und Menschheit in einer Person vor dem Konzil von Chalkedon (451) noch nicht klar erfasst und ausgedrückt hatte, dass man in den ersten drei Jahrhunderten keine förmliche Marienverehrung und keine Mariendogmen kannte, dass man das Geheimnis der Eucharistie bis zum 13. Jahrhundert hin in seinem Kern, nämlich in der Wesensverwandlung, noch nicht mit letzter Klarheit getroffen hatte.
Überzeitliche und unwandelbare Dimension der Kirche
Diese Beobachtungen aber dürfen nicht zu der Annahme verleiten, in der Kirche befände sich alles im Wandel. Dies wäre Zeichen einer mangelnden Unterscheidungsfähigkeit, eines fehlenden Verständnisses für das übernatürliche, menschlich-göttliche Wesen der Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil fasst diesen Glauben in die Formel: „… Die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Danach ist die Kirche eine gottmenschliche Wirklichkeit, dem Gottmenschen Christus nachgebildet, und kein bloßes Sozialgebilde, keine rein menschliche Größe, als die sie in dem Slogan gekennzeichnet wird: „Die Kirche sind wir“ – „Wir sind die Kirche“.
Auf das Problem des Wandels bezogen heißt dies: In der Kirche ist etwas Göttliches in die Welt eingebrochen. In ihr ragt etwas Ewiges und Überzeitliches in die zeitliche Welt hinein. Daraus ergibt sich der unabweisbare Schluss: Das Göttliche in der Kirche kann sich nicht wandeln, das Ewige kann nicht dem Wechsel unterworfen sein, das Überzeitliche nicht der Zeit ausgeliefert sein.
Zu den wesentlichen Gestalten des in der Kirche Bleibenden und Unwandelbaren, an das man sich halten darf und halten muss, gehören etwa: die göttliche Offenbarung, die die Kirche in einem geisterfüllten Zeugnis hütet, nämlich in der Heiligen Schrift; außerdem die Dogmen der Kirche, die sittlichen Normen und Gebote, wie sie im Dekalog, in den Zehn Geboten, niedergelegt sind; ebenso die Sakramente und die Liturgie, sofern sie in ihrem bleibenden Wsensgehalt gefeiert wird. Schließlich gehören zu den unaufgebbaren Ausformungen des Unwandelbaren auch die hierarchische Verfassung der Kirche und die geistlichen Vollmachten oder Ämter, die sich in das Lehramt, das Priesteramt und das Hirtenamt gliedern.
Offenheit der verbindlichen Entscheidungen nur nach vorne
In seinem Buch „Grundkurs des Glaubens“ beschreibt Karl Rahner die Entstehung der Kirche als einen geschichtlichen Prozess (bearbeitet v. Nikolaus Schwerdtfeger und Albert Raffelt, Freiburg 1999, S. 317-325). In der konstitutiven Zeit der Kirche habe sich diese in freier geschichtlicher Entscheidung, die vom Heiligen Geist sanktioniert worden sei (vgl. Apg 15,28), bestimmte Strukturen gegeben, die „göttliches Recht“ und deshalb nicht mehr in Freiheit abzuschaffen seien. Dazu gehören für ihn eine verbindliche Lehre (in der Gestalt des neutestamentlichen Kanons) und eine ebenso verbindliche Struktur (in der Gestalt einer monarchisch-episkopalen Verfassung und eines bleibenden Petrusamtes). So laufe eben Geschichte ab, die eine „Einbahnstraße“ sei. Mit all diesen Entscheidungen (auch den Dogmatisierungen der Konzilien in der späteren Christentumsgeschichte) sei dann regelmäßig der Weg zurück „versperrt“. Man kann also nach der Feststellung Rahners nicht so tun und sagen, es stehe uns noch einmal frei, darüber zu beschließen, ob wir wieder eine jüdische Sekte werden wollten oder ob bestimmte Schriften dem Kanon des NT hinzugefügt oder aus ihm entfernt werden sollten. In diesem Fall würde die Identität des christlichen Glaubens in Frage gestellt. Aber in derselben Weise hätten diese Strukturen (und zumal die Verfassungsstrukturen wie Bischofs- oder Petrusamt) eine Geschichte nach vorne, die offen und damit wirkliche Geschichte sei.
Die gemeinsame, tiefe Wurzel all dieser Elemente des Unwandelbaren liegt in Jesus Christus. Deshalb lehrt das Zweite Vatikanum: „Die Kirche bekennt überdies, dass allen Wandlungen vieles Unwandelbare zugrunde liegt, was seinen letzten Grund in Christus hat, der derselbe ist gestern, heute und in Ewigkeit.“ Die theologische Diskussion des 19. und 20. Jahrhunderts (z.B. John Henry Newman: „Über die Entwicklung der Glaubenslehre“, 1845) und die lehramtlichen Stellungnahmen des 20. Jahrhunderts (Zweites Vatikanisches Konzil, Dei verbum, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung; Erklärung Mysterium Ecclesiae der Glaubenskongregation, 1973, besonders Nr. 5) haben gezeigt, dass unterschieden werden muss: Von Gott aus gesehen ist in Jesus Christus alles gesagt. Er ist Gottes letztes Wort vor der Parusie, vor der Wiederkunft Christi zum Jüngsten Gericht: „Es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus…“ (Dei verbum 4). Vom Menschen aus gesehen aber gilt: Jeder Mensch (und jede geschichtliche Epoche) muss sich neu Jesus Christus stellen, „um das Verständnis der Offenbarung mehr und mehr zu vertiefen“ (Dei verbum 5). Die Grundoffenbarung Gottes in Jesus Christus und der christliche Glaube sind zu allen Zeiten die gleichen. Wandeln können sich im Lauf der Geschichte ein bestimmter sprachlicher Ausdruck und eine bestimmte äußere Form. Das ist eine ganz entscheidende Einsicht.
Im Unterschied zum Islam ist das Christentum keine „Buchreligion“. Der Inhalt unseres Glaubens ist nicht ein Text, sondern eine lebendige Person: Jesus Christus, der als Auferstandener weiter unter uns in dieser Welt wirkt (vgl. Röm 10,9). Nur wenn das Geheimnis des Gottmenschen anerkannt wird, gibt es auch in der Kirche etwas unwandelbar Göttliches. Es findet sich in allen Bauelementen der Kirche, die sich als von Christus abkünftig erweisen wie das Wort Gottes, das Dogma, die Sakramente und die Ämter. Zum Kreis dieser bleibenden Konstitution der Kirche gehören aber unter mehr personalem Aspekt auch bestimmte Helfergestalten, die Christus in je verschiedener Weise zum besonderen Dienst am Heil der Menschen herangezogen hat. Das sind die Engel, die Heiligen und zuhöchst Maria, die „alma socia“ des Erlösers.
Dynamischer Charakter der Kirche
Die Betonung des Unwandelbaren in der Kirche hat mit dem Einwand zu rechnen, dass auf diese Weise die Kirche als rein statisches Gebilde gedacht werde, das von seinem Wesen her keine Dynamik, keine Entwicklung und kein Wachstum kenne und das so in einer geschichtlichen Welt als geschichtsloser Fremdkörper erscheinen müsse, aber das ist ein Missverständnis. Es ergibt sich aus der Nichtbeachtung der wahren Menschheit des Gottessohnes. Von dieser wissen wir aus dem Evangelium selbst, dass sie oder dass Jesus als Mensch „heranwuchs“ (Lk 2,40) und „an Weisheit zunahm“ (Lk 2,52). Auch der Gottmensch Jesus Christus hatte Anteil an einem gewissen Wandel.
Dieser Grundsatz darf auch an das „gottmenschliche“ Leben der Kirche herangetragen werden. Er besagt dann, dass auch die genannten göttlichen Elemente und Gründe der Kirche für Entwicklung, Entfaltung und Wachstum offen sind. Auch das Ewige, das göttlich Unwandelbare besitzt ein Verhältnis zur Geschichte und zum menschlich Wandelbaren. Dieses Verhältnis ist aber nicht so zu denken, dass sich die unwandelbaren Wesensbestände ändern und anders werden könnten, sondern nur so, dass sie in den Gläubigen wachsen und reifen und an innerem Sinn und an innerer Kraft gewinnen (vgl. Dei verbum 5). Das gilt von all den genannten Elementen im Bau der Kirche.
Wer sich ernsthaft mit dem Glauben auseinandersetzt, wird feststellen, dass – trotz gegenteiliger Behauptungen – in den Aussagen des kirchlichen Lehramtes quer durch alle Jahrhunderte hindurch eine Kontinuität besteht. „Purzelbäume“ macht der Heilige Geist nicht. Unter seiner Führung gab es im Lauf der Geschichte in der Auseinandersetzung mit Irrtümern, durch Einsichten der Heiligen und das Ringen der Theologen einen Klärungs- und Reifungsprozess. Auch das II. Vatikanische Konzil stellt keinen Bruch zu dem dar, was früher gelehrt wurde, wohl aber hat es manche neue Perspektiven aufgezeigt.
Kardinal Joseph Ratzinger hat von den zwei Missverständnissen und Fehlformen der Glaubensüberlieferung gesprochen. Die eine Fehlform sei der „theologische Klassizismus“, der meint, eine bestimmte (ursprüngliche) Form des Christentums sei der unüberbietbare Ausdruck des christlichen Glaubens. Die andere Fehlform sei die „enthusiastische“ Überzeugung, die jetzige Form des Christentums sei ihre vollendetste Ausdrucksweise.
Die notwendige Erneuerung
Die authentische wahre Entfaltung und Vertiefung des Glaubens ist eine viel schwierigere Aufgabe als die geistlose Anpassung an die Massenmentalität der Gegenwart. Sie stellt aber auch einen lebendigen, dynamischen, den Geist der Menschen bewegenden Vorgang dar, demgegenüber die Anpassungsstrategie völlig unoriginell, bequem und träge wirkt. Tatsächlich handelt es sich bei vielen heutigen Reformvorschlägen nachweislich um die künstliche Wiederbelebung von jahrhundertealten, in christlichen Randgruppen gepflegten Irrtümern.
Im Gegensatz dazu könnte die Verlebendigung der ewigen Wahrheiten des Glaubens in einer sogenannten nachchristlichen Welt einen den christlichen Geist erregenden, wagemutigen Antrieb bewirken; einen Antrieb, der aber nicht unverbindlich in die Breite geht, sondern der in die Tiefe dringt und aus dieser Tiefe, wie das Evangelium sagt, „Altes und Neues hervorholt“ (Mt 13, 52). Auf diesem Weg in die Tiefe des Glaubens hinein muss die Kirche ausschreiten, wenn sie in der Geschichte präsent bleiben will. Das geht aber nur so, dass sie der Welt in allem Wandel auch das Unwandelbare vorhält. Sie muss dies tun in einer Weise, die zeitentsprechend, aber nicht zeitunterworfen ist; denn als Erfüllungsgehilfin des Zeitgeistes hat die Kirche keine Chance.
Carlo Acutis vor Tausenden Pilgern in Assisi seliggesprochen
Junge voller Wunder
Am 10. Oktober 2020 wurde Carlo Acutis (1991-2006) in Assisi seliggesprochen. Das kurze und intensive Leben des Jungen, der sich für Eucharistie und Internet begeisterte, hat viele Menschen berührt und bekehrt. Nach der Diagnose einer akuten promyelozytischen Leukämie (APL) hatte er nur noch wenige Tage zu leben. Er opferte sein Leiden für den Papst und die Kirche auf und starb innerhalb einer Woche.
Von Paola Ronconi / Comunione e Liberazione
Antonio wacht eines Nachts auf und hat Durst. Viel zu hastig trinkt er eiskaltes Wasser. Alles Blut fließt in den Magen. Ihm wird schwindelig, er stürzt und verletzt sich am Kopf. Drei Monate muss er im Krankenhaus bleiben und alles wieder lernen, was sein Gehirn vergessen hat. Er ist 15 Jahre alt, mitten in der Pubertät. Aber eines Abends nimmt er in seinem Krankenhausbett den Rosenkranz zur Hand. Wer weiß, vielleicht hilft es ja. So schläft er ein und träumt: Ein Junge in einem roten Polohemd sagt ihm, er solle keine Angst haben, er werde bald gesund. Und er solle etwas weiterführen, was er begonnen habe. Vom Himmel aus werde er ihn begleiten. Ein seltsamer Traum! Aber innerhalb eines Tages funktioniert Antonios Körper wieder normal und kurz darauf wird er entlassen. Wer dieser Junge aus dem Traum war, wird ihm einen Monat später klar, als er per Post eine Werbesendung mit Material über das Leben eines gewissen Carlo Acutis erhält.
Flavio lebt in der Nähe von Todi. Aus beruflichen Gründen sucht er bei Facebook die Kontaktdaten einer Person. Es gibt eine ganze Reihe von Profilen mit dem gesuchten Namen. Während er seinen Kunden sucht, fällt ihm ein Profilfoto besonders auf: ein Junge im roten Poloshirt. Unter dem Foto steht: „Eucharistie, die Autobahn zum Himmel“. Doch das Profil gehört seltsamerweise einem 70-jährigen Mann… Flavio sucht in den anderen Fotos und findet heraus, dass der Junge im roten Hemd in Assisi begraben ist, nicht weit von Todi. Zweimal fährt er an dem Friedhof vorbei, aber der ist jedesmal geschlossen. Dann hat auch er einen Traum: Papst Franziskus besucht genau dieses Grab. Am nächsten Tag ist der Papst tatsächlich in Assisi. Flavio verfolgt den Besuch im Fernsehen. Gegen Abend hat er plötzlich eine Eingebung und fährt noch einmal zu dem Friedhof. Bei Sonnenuntergang kommt er dort an. Am Himmel steht ein Regenbogen und führt ihn direkt zu dem Grab von Carlo Acutis. Flavio ist sechzig Jahre alt und hat schon seit dreißig Jahren nichts mehr mit dem Glauben zu tun. Doch am Grab dieses Jungen, der ihn auf Facebook so fasziniert hatte, bricht er in Tränen aus.
Carlo Acutis, der am 10. Oktober in Assisi seliggesprochen wurde, „evangelisierte“ schon immer gerne über das Internet. Es war seine große Leidenschaft. Schon als Kind besorgte er sich Informatikbücher in der Buchhandlung der Technischen Universität, und mit elf Jahren begann er ein Online-Verzeichnis aller eucharistischen Wunder. Drei Jahre arbeitete er daran und schließlich wurde daraus eine Ausstellung mit 160 Tafeln. Carlo wollte allen Menschen vermitteln, wie lebendig Jesus im eucharistischen Brot ist, so dass schon oft in der Geschichte eine Hostie zu Fleisch geworden ist.
Seine Mutter hatte schon in frühester Kindheit gemerkt, dass ihr Sohn etwas Besonderes war. Schon im Alter von 4 oder 5 Jahren wollte Carlo immer in die Kirche gehen, um Jesus hallo zu sagen. Mit sieben Jahren äußerte er den Wunsch, möglichst bald zur Erstkommunion zu gehen, um „Jesus essen“ zu können. Danach hatte Carlo eine ganz besondere Beziehung zu Jesus. Fast täglich besuchte er die Messe, nahm an der eucharistischen Anbetung teil und betete den Rosenkranz. „Die Messe dauerte für ihn eigentlich den ganzen Tag“, sagt seine Mutter. „Er spürte zutiefst die Nähe Gottes und versuchte so zu handeln, dass es den Herrn nicht kränkte. Er hatte das starke Gefühl, dass es jemanden gibt, der immer über uns wacht.“ Und dem kann man in Fleisch und Blut begegnen, heute in der Kirche nebenan viel leichter als vor 2000 Jahren.
Im Oktober 2006, im Alter von 15 Jahren, erkrankte Carlo an akuter Leukämie und starb innerhalb weniger Tage. Seine Mutter Antonia erinnert sich noch gut, wie erstaunt sie war bei der Beerdigung: „Die Kirche war rammelvoll. Aber viele von den Leuten hatte ich noch nie gesehen. Darunter viele Ausländer, Arme, Obdachlose, obwohl wir im Zentrum von Mailand lebten.“ Carlo hielt oft an, um Leute zu begrüßen, plauderte mit den Pförtnern der großen Wohnblöcke. Viele von ihnen mussten weit weg von ihrer Heimat leben.
„Am Tag nach der Beerdigung“, erinnert sich die Mutter, „überbrachte man mir einen Brief. Es war ein Gedicht von einem jungen Mann aus Sri Lanka, einem Aushilfsmesner in Santa Maria Segreta. Ich staunte über die Tiefe und Schönheit dieser Zeilen. Es schien, als seien Carlo und er gute Freunde gewesen. ‚Haben Sie öfter mit Carlo gesprochen?‘, fragte ich ihn. ‚Nie‘, antwortete er. ‚Aber er grüßte mich immer mit einem Lächeln.‘ Carlo hatte den jungen Mann offenbar so tief berührt, dass er ihn in dem Gedicht ‚den schönsten Stern am Himmel‘ nannte.“
Tausende solcher Zeugnisse hat Antonia in den letzten Jahren gesammelt. „Es gab viele Bekehrungen und Heilungen, von Anfang an“, berichtet sie. Nicht zuletzt das Wunder, das sie selbst, wie sie sagt, von Carlo erhalten hat: die Zwillinge, die sie im hohen Alter und in nicht optimaler körperlicher Verfassung zur Welt brachte.
Ein Wunder hat die Kirche besonders untersucht: die plötzliche und unerklärliche Heilung eines Kindes aus Brasilien, das an einer schweren Missbildung der Bauchspeicheldrüse litt.
Carlo wurde am 10. Oktober in Assisi seliggesprochen, wo sein Grab in der Kirche Santa Maria Maggiore inzwischen zu einem regelrechten Wallfahrtsort geworden ist. […]
Als die diözesane Phase des Seligsprechungsprozesses am 24. November 2016 beendet war, sagte der damalige Erzbischof von Mailand, Kardinal Angelo Scola: „‚Wer anders als Gott selbst, Jesus Christus, der sich dem Vater hingibt, könnte für uns eintreten?‘ Das sind Worte von Carlo. Unglaublich, dass ein Junge in diesem Alter eine so tiefe Intuition besitzt und so das Herz unseres Glaubens, die Eucharistie, erklären kann … Sein Beispiel wird unseren jungen Menschen helfen, die schönsten Kräfte des Lebens erblühen zu lassen und mit Jesus in Beziehung zu treten als demjenigen, der es uns erlaubt, in Fülle der Schönheit, Güte und Wahrheit Gottes selbst zu begegnen.“
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