Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Im Oktober 2019 richtete die polnische Bischofskonferenz an Papst Franziskus das Gesuch, den heiligen Papst Johannes Paul II. zum „Kirchenlehrer“ zu erheben und ihm den Titel „Patron Europas“ zu verleihen. Dazu erklärte der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki: „Das Pontifikat des Papstes aus Polen war voller bahnbrechender Entscheidungen und bedeutender Ereignisse, die das Erscheinungsbild des Papsttums verändert und den Lauf der Geschichte Europas und der Welt beeinflusst haben.“ Damit sprach er vor allem den Beitrag des Papstes zur Überwindung des sozialistischen Regimes in Osteuropa an. Was den Titel „Kirchenlehrer“ betrifft, so stellte er fest: „Der Reichtum des Pontifikats des heiligen Johannes Paul II. – von vielen Historikern und Theologen als Johannes Paul der Große bezeichnet – entsprang dem Reichtum seiner Persönlichkeit – Dichter, Philosoph, Theologe und Mystiker, welche sich in vielen Dimensionen verwirklichte, von der pastoralen Arbeit und der Lehre über die Leitung der universalen Kirche bis hin zum persönlichen Zeugnis der Heiligkeit des Lebens.“

Das ganze Denken und Wirken Karol Wojtyłas/Johannes Pauls II. lebte aus der Grundüberzeugung, dass sich die menschliche Person nur durch die vollkommene Hingabe ihrer selbst verwirklichen kann. Darin sah er die Herzmitte des Evangeliums (vgl. Mt 10,39; 16,25; Mk 8,35; Lk 17,33; Joh 12,25), wie sie auch das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hatte (vgl. Gaudium et spes, Art. 24). 

Wojtyła hat bereits während des Zweiten Weltkriegs ein Drama verfasst, in dem Adam Chmielowski (1848-1916) die Hauptfigur darstellt. Dabei handelt es sich um einen polnischen Kunstmaler, der sich später ganz den Armen gewidmet und als Bruder Albert die Kongregation der Albertiner gegründet hat. 1949 schloss Wojtyła als junger Priester eine zweite Fassung dieses Dramas ab, das „autobiografische Züge“ aufweist und seine eigene Spiritualität widerspiegelt. Als Papst sagte er über Adam Chmielowski: „Er hat seine Seele hingegeben, das ist es. Und“, obwohl Bruder Albert kein Priester war, fügte Wojtyła im Gespräch mit André Frossard hinzu, „ich frage Sie, was ist der Priesterberuf anderes als ein Aufruf, seine Seele hinzugeben?“ Dass er dieses sein Vorbild 1983 selig- und 1989 heiligsprechen durfte, betrachtete er als eine der größten Freuden seines Pontifikats.

Dr. Theo Mechtenberg, der dieses Drama mit dem Titel „Bruder unseres Gottes“ 1981 ins Deutsche übersetzt hat, verfasste dazu 2017 einen überaus wertvollen Beitrag, den wir zum Titelthema in voller Länge wiedergeben. Er bringt die Persönlichkeit Johannes Pauls II., wie sie bereits in jungen Jahren angelegt war, auf einzigartige Weise zum Ausdruck.

1960 hatte Wojtyła als Weihbischof von Krakau das Buch „Liebe und Verantwortung“ veröffentlicht, das einen wichtigen Meilenstein in seiner Lehre über die menschliche Person darstellt. Der Abschnitt über die Kultivierung des ehelichen Verkehrs zeigt, wie zutiefst menschlich und lebensnah sein Ansatz geprägt ist. Auf dieser Studie baut schließlich seine neuartige „Theologie des Leibes“ auf, für die er den Titel „Kirchenlehrer“ wohl am meisten verdient. Sie stellt ein prophetisches Bollwerk gegen die heutige „Gender-Ideologie“ und gegen die Angriffe auf die Geheimnisse der Inkarnation und des Priestertums dar.

Liebe Leser, mit herzlichen Segenswünschen zum Rosenkranz-Monat Oktober und einem aufrichtigen Vergelt’s Gott für Ihre Spenden erneuern wir unsere Bitte um eine großherzige Unterstützung unseres Apostolats.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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Prophetische Sendung des hl. Papstes Johannes Paul II.

Ein großer Lehrer der Kirche

Dr. Josef Spindelböck (geb. 1964) ist derzeit Rektor und Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten sowie Gastprofessor am Internationalen Theologischen Institut (ITI) in Trumau. Von seinem naturrechtlichen Ansatz her weiß er sich dem hl. Johannes Paul II. eng verbunden. Er habilitierte an der Katholischen Universität Lublin, wo auch Karol Wojtyła in den 50er Jahren als Professor für Ethik gewirkt hatte. Spindelböck brachte 2007 die berühmte Studie „Liebe und Verantwortung“, die Wojtyła 1960 publiziert hatte, neu heraus und veröffentlichte 2015 das Buch „Theologie des Leibes kurzgefasst. Eine Lesehilfe zu ‚Liebe und Verantwortung‘ von Karol Wojtyła sowie zu den Katechesen Johannes Pauls II. über die menschliche Liebe“ (beides erschienen im Verlag St. Josef, Kleinhain). Nachfolgend stellt Spindelböck das lehramtliche Wirken Johannes Pauls II. anhand seiner 14 Enzykliken vor, die auf eindrucksvolle Weise das prophetische Vermächtnis des heiligen Papstes aus Polen beleuchten.

Von Josef Spindelböck

Vor 100 Jahren – am 18. Mai 1920 – wurde Karol Józef Wojtyła in Wadowice als Kind seiner Eltern Karol und Emilia Wojtyła, geb. Kaczorowska, geboren. Was damals noch niemand wusste und ahnen konnte: Der kleine Karol sollte später nicht nur die Priesterweihe empfangen (am 1. November 1946), sondern sogar Bischof und Kardinal werden (am 28. September 1958 war seine Bischofsweihe; am 26. Juni 1967 wurde er zum Kardinal erhoben). Ja, noch mehr: Als Papst Johannes Paul II. hat er die Kirche über Jahrzehnte hinweg in vorbildlicher Weise geleitet und entscheidend geprägt (vom 16. Oktober 1978, seinem Wahltag, bis zum 2. April 2005, seinem Todestag).

Wegweiser für die Zukunft

Hier wird der bescheidene und naturgemäß unvollständige Versuch unternommen, wesentliche Eckpunkte seiner päpstlichen Lehrtätigkeit hervorzuheben. Unbestritten ist: Johannes Paul II. war ein großer Lehrer der Kirche, und dieses Lehramt wirkt weiter als Vermächtnis und Wegweiser für die Zukunft.

Johannes Paul II. war tief verankert im Evangelium und in der Tradition der Kirche. Zugleich ist sein Lehramt als visionär anzusehen, was er vielfach zum Ausdruck gebracht hat. Er durfte die Kirche ins dritte Jahrtausend begleiten. Am Tag seiner Amtseinführung (22. Oktober 1978) ermutigte er alle Gläubigen: „Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus!“

Stärke deine Brüder!

Schon in der ersten Botschaft nach seiner Wahl, die beim Gottesdienst in der Sixtinischen Kapelle am 17. Oktober 1978 verlesen wurde, bekräftigte er seine Verbundenheit mit dem 2. Vatikanischen Konzil, an dem er selbst als Konzilsvater teilgenommen hatte. Und er führte weiter aus: „Aber über das Konzil hinaus sind wir zur Treue gegenüber dem Amt, das wir übernommen haben, in seiner ganzen Breite verpflichtet. Berufen zum höchsten Amt in der Kirche, verpflichtet gerade uns diese Stellung zu vorbildlichem Beispiel an Entschlossenheit und Einsatz. Wir müssen diese Treue mit allen Kräften zum Ausdruck bringen, was sich nur durchführen lässt, wenn wir den Schatz des Glaubens unversehrt bewahren, indem wir besonders jene Gebote Christi erfüllen, mit denen er den Simon als dem von ihm eingesetzten Fels der Kirche die Schlüssel des Himmelreiches gegeben hat (vgl. Mt 16,18). Ihm befahl er, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32) und die Lämmer und Schafe seiner Herde zu weiden zum Beweis seiner Liebe (vgl. Joh 21,15ff.).“

„Totus tuus“ – Geheimnis der Liebe

Das Pontifikat stellte Johannes Paul II. unter den besonderen Schutz der Gottesmutter Maria, der er sein Leben anvertraut hatte („Totus tuus“ – „Ganz dein eigen“). In allem aber verkündete er die Liebe des dreieinigen Gottes, der sich in Jesus Christus aller Menschen erbarmt hat und sie zum Heil führen will. In Kürze seien in chronologischer Ordnung seine 14 Enzykliken vorgestellt, da hier die wichtigen Anliegen seines Pontifikates sichtbar werden.

Beginnend mit „Redemptor hominis“ – „Der Erlöser des Menschen“ (4. März 1979) stellte Johannes Paul II. das in Christus offenbar gewordene Heilsgeheimnis dar, welches von entscheidender Bedeutung für uns Menschen ist: „Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. Und eben darum macht Christus, der Erlöser, wie schon gesagt, dem Menschen den Menschen selbst voll kund“ (Nr. 10).

Der himmlische Vater schenkt uns durch seinen menschgewordenen Sohn Jesus Christus im Heiligen Geist Anteil am göttlichen Erbarmen. Dies war das Thema von „Dives in misericordia“ – „Reich an Barmherzigkeit“ (30. November 1980). Bevor er auf die dritte göttliche Person, den Heiligen Geist, Bezug nahm (in der Enzyklika „Dominum et vivificantem“ – „Den Herrn und Lebensspender“ vom 18. Mai 1986), hatte sich der Papst den arbeitenden Menschen zugewandt („Laborem exercens“ – 14. September 1981) und den Beitrag der Apostel der Slawen, Cyrill und Methodius, gewürdigt („Slavorum apostoli“ – „Die Apostel der Slawen“, 2. Juni 1985). Johannes Paul II. hat Maria, die Gottesmutter, immer wieder angerufen und in der Enzyklika „Redemptoris mater“ – „Die Mutter des Erlösers“ (25. März 1987) als Urbild der glaubenden Kirche sowie als fürbittende Mutter vorgestellt.

Sieg über totalitäre Systeme

Die Zeit seines Pontifikates war gekennzeichnet durch den Einsatz für die Menschenwürde sowie die Verteidigung der Religions- und Gewissensfreiheit angesichts der Bedrohungen durch Diktaturen und kollektivistische Systeme. Die Historiker schreiben ihm maßgeblichen Anteil am Zusammenbruch des Kommunismus zu. In diesem Zusammenhang wurde es nötig, die Orientierungsfunktion der kirchlichen Soziallehre neu herauszustellen. In den beiden Sozialenzykliken „Sollicitudo rei socialis“ (30. Dezember 1987) und „Centesimus annus“ (1. Mai 1991) würdigt Johannes Paul II. die Dokumente seiner Vorgänger (Paul VI., „Populorum progressio“, 1967; Leo XIII., „Rerum novarum“, 1891) und geht auf aktuelle Herausforderungen ein. So konkret seine Reformvorschläge für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung sind, so tiefgehend und grundsätzlich ist seine Analyse der Defizite des Marxismus, aber auch der Ideologie des Kapitalismus und Konsumismus: „Die wahre Ursache der jüngsten Ereignisse ist jedoch die vom Atheismus hervorgerufene geistige Leere. Sie hat die jungen Generationen ohne Orientierung gelassen und sie nicht selten veranlasst, bei ihrer ununterdrückbaren Suche nach der eigenen Identität und nach dem Sinn des Lebens die religiösen Wurzeln der Kultur ihrer Nationen und die Person Christi selbst wiederzuentdecken als einzige Antwort auf die im Herzen jedes Menschen vorhandene Sehnsucht nach Glück, Wahrheit und Leben. Diesem Suchen ist das Zeugnis all derer entgegengekommen, die unter schwierigen Umständen und unter Verfolgungen Gott die Treue hielten. Der Marxismus hatte versprochen, das Verlangen nach Gott aus dem Herzen des Menschen zu tilgen. Die Ergebnisse aber haben bewiesen, dass dies nicht gelingen kann, ohne dieses Herz selber zu zerrütten“ (Centesimus annus, Nr. 24).

Anwalt der Würde des Menschen

Entscheidende lehramtliche Klärungen in der Moraltheologie legte Johannes Paul II. in der Enzyklika „Veritatis splendor“ (6. August 1993) vor. Die sittlichen Werte und Normen verweisen immer auf Gott, selbst wenn dies manchen Menschen nicht bewusst ist: „Die Kirche weiß, dass der moralische Anspruch jeden Menschen im Innersten erreicht, dass er alle miteinbezieht, auch jene, die Christus und sein Evangelium nicht kennen und nicht einmal etwas von Gott wissen. Sie weiß, dass eben auf dem Weg des sittlichen Lebens allen der Weg zum Heil offensteht, woran das II. Vatikanische Konzil mit aller Klarheit erinnert …“ (Nr. 3).

Johannes Paul II. war immer ein Papst des Lebensschutzes. Vor 25 Jahren, am 25. März 1995, unterzeichnete er die Enzyklika „Evangelium vitae“. Ernst und feierlich klingen seine Worte, die auf den Schutz des Lebens eines jeden Menschen Bezug nehmen und eine hohe Lehrautorität im Namen Christi zum Ausdruck bringen: „Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, dass die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist. Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz begründet ist, das jeder Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet (vgl. Röm 2,14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt gelehrt“ (Nr. 57). Abtreibung und Euthanasie hat Johannes Paul II. entschieden abgelehnt und die Anwendung der Todesstrafe jedenfalls für die heutige Zeit praktisch ausgeschlossen.

Dialog im Dienst der Wahrheit

Die ökumenische Dimension seines Pontifikats hob Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ (25. Mai 1995) hervor, denn es ist Christus selbst, der alle seine Jünger zur Einheit ruft.

Mit der Enzyklika „Fides et ratio“ (14. September 1998) zeigte der Papst die notwendige Verbindung von Glaube und Vernunft auf und ging insbesondere auf den wichtigen Beitrag der Philosophie in der Erkenntnis der Wahrheit ein. Weder darf die Vernunft den Offenbarungsglauben ausschließen, noch kann der gläubig gewordene Mensch auf die Betätigung der Gabe der Vernunft verzichten. Denn „Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt. Das Streben, die Wahrheit zu erkennen und letztlich ihn selbst zu erkennen, hat Gott dem Menschen ins Herz gesenkt, damit er dadurch, dass er Ihn erkennt und liebt, auch zur vollen Wahrheit über sich selbst gelangen könne …“ (Nr. 1).

Fels in der Brandung

Mit „Ecclesia de Eucharistia“ (17. April 2003) legte Johannes Paul II. seine letzte Enzyklika vor: Die Kirche lebt von der heiligen Eucharistie, in welcher der Herr sich in seinem Opfer und Mahl den Seinen schenkt und bleibend gegenwärtig ist als wahrer Gott und Mensch unter den Gestalten von Brot und Wein.

Außerdem ist hinzuweisen auf die mit der Promulgation der neuen kirchlichen Gesetzbücher („Codex Iuris Canonici“, 25. Jänner 1983, für die lateinische Kirche; „Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium“, 18. Oktober 1990, für die katholischen Ostkirchen) abgeschlossene Reform des Kirchenrechts gemäß den Vorgaben des 2. Vatikanischen Konzils. Die Dienstfunktion des kirchlichen Rechts für das Heil aller Menschen sollte neu herausgestellt werden.

Der „Katechismus der Katholischen Kirche“ wurde am 11. Oktober 1992 von Johannes Paul II. als „Bezugstext für eine aus den lebendigen Quellen des Glaubens erneuerte Katechese“ und gleichsam als reifste Frucht des 2. Vatikanischen Konzils vorgelegt. Als Papst der Familie erwies sich Johannes Paul II. durch das nachsynodale Apostolische Schreiben „Familiaris consortio“ (22. November 1981) und die über mehrere Jahre hinweg gehaltenen Katechesen zur „Theologie des Leibes“. Johannes Paul II. war ein Freund der Jugend, indem er die Weltjugendtage einführte. Eine lehramtliche Grenzmarke setzte er mit dem Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ vom 22. Mai 1994, worin klar und endgültig festgehalten wird, „dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden“.

Hingegeben für das Heil der Welt

Sein Leiden und Sterben nahm er mit großem Gottvertrauen auf sich. Er war bereits am 13. Mai 1981 nach einem Attentat nur knapp dem Tod entgangen, was Johannes Paul der Fürbitte der Jungfrau von Fatima zuschrieb. Am Vorabend des „Sonntags der Barmherzigkeit“ gab er am 2. April 2005 sein Leben an Gott den Schöpfer zurück.

Blicken auch wir stets auf zu Jesus Christus, den Erlöser der Welt! Dann brauchen wir keine Angst zu haben, und die Kirche wird unter dem Schutz der Gottesmutter Maria mutig in die Zukunft schreiten, bis sich das Reich Gottes in Herrlichkeit vollenden wird. Diese hoffnungsvolle Botschaft gibt uns der heilige Johannes Paul II. mit, und die Kirche als Ganze wird das Testament seiner Lehre und seines Wirkens für das Heil der Seelen stets in ihrem Herzen bewahren. Die Nachfolger im Petrusamt – Benedikt XVI. und Franziskus – bemühen sich je auf ihre Weise, all das fortzuführen, wofür der heilige Papst Johannes Paul II. das Zeugnis des Glaubens und des Lebens abgelegt hat. – Heiliger Papst Johannes Paul II., bitte für uns!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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Zeugnis eines geborenen Türken

Im Licht Johannes Pauls II.

Umut Doygun stammt aus einer muslimischen Familie in der Südtürkei. Durch Christen einer evangelischen Freikirche hat er zunächst den Weg zur Taufe und durch das schlichte Lebenszeugnis eines Mitarbeiters schließlich zur katholischen Kirche gefunden. „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen!“ (Mt 16,18). Doygun erkannte im Evangelium die Wahrheit und hat sich für die Nachfolge Christi entschieden. Doch dann entdeckte er, dass das Petrusamt von Jesus eingesetzt wurde, und fand besonders in der Verkündigung Johannes Pauls II. entscheidende Antworten auf seine Fragen. Aus Dankbarkeit nahm er bei der Konversion „Johannes Paul“ als Tauf- bzw. Firmnamen an, aber auch, um dadurch Zeugnis für seine Treue zum Nachfolger Petri abzulegen – ein Leben im Licht Johannes Pauls II., des heiligen Papstes aus Polen.

Von Umut Johannes Paul Doygun

Ich bin geborener Türke und komme aus einer muslimischen Familie in der Südtürkei, lebe inzwischen aber in Deutschland. Meine Eltern haben mir den Namen „Umut“ gegeben, was auf Deutsch „Hoffnung“ bedeutet. Ich denke, das passt gut zu meinem Leben.

Nach meiner Schulzeit studierte ich in Istanbul Schiffbau. An der Universität begegnete ich amerikanischen Studenten, durch die ich das Christentum kennenlernen durfte. Sie waren freikirchliche Protestanten, die von ihrem Glauben Zeugnis abgelegt haben. Dieser evangelikalen Gruppe verdanke ich, dass ich selbst zum Glauben gefunden und Jesus ganz bewusst als meinen Erlöser und Herrn angenommen habe. An der Schwarzmeerküste bei Istanbul bin ich damals getauft worden.

Meinen Beruf als Schiffbauingenieur habe ich kurz in der Türkei, später in einer Werft am Neckar ausgeübt. Dort arbeitete ein älterer Mann als Schlosser, der tiefgläubiger Katholik war. Sein bescheidenes Leben, seine klugen Entscheidungen und sein Humor haben mich tief beeindruckt. Ich war von seinem Glauben an Gott begeistert und bekam durch ihn einen Zugang zur katholischen Kirche. Mit ihm besuchte ich häufig die heilige Messe. Gleichzeitig vertiefte ich meinen Glauben durch Bibellesung und betete in der Kirche oft um Einsicht und Weisheit. Ich bat Jesus Christus und die Muttergottes, mir den Weg zu zeigen.

Im Jahr 2017 bin ich schließlich in die katholische Kirche aufgenommen worden. Auf diesen Schritt hat mich der Pfarrer persönlich vorbereitet. Zugleich ist er mein Taufpate geworden. Im Mainzer Dom wurde ich vom Domdekan „sub conditione“, also bedingungsweise, noch einmal getauft und gefirmt. Dabei habe ich als zweiten Namen „Johannes Paul“ angenommen. Denn diesen hl. Papst aus Polen verehre ich sehr.

Johannes Paul II. war ein Mann der Schmerzen. Schon in jungen Jahren musste er viel Leidvolles durchmachen. Gott hatte ihm alle seine Lieben weggenommen. In der Kindheit verlor er seine Mutter, dann seinen geliebten Bruder, der Arzt war, und zuletzt seinen Vater. Sein Leben erinnert mich an den Kreuzweg Jesu und auch an den hl. Pater Pio, den er persönlich gekannt hat. Nach dem Mordanschlag am 13. Mai 1981, den er nur knapp überlebte, vergab er seinem Attentäter. Und die Kugel, die ihn durchbohrt hatte, ließ er zu Ehren der Gottesmutter in die goldene Krone der Marienstatue von Fatima einfügen. Er kam aus einem kommunistischen Land und führte durch seinen Einfluss den Zusammenbruch des sozialistischen Systems im Ostblock herbei.

Ein Satz von Johannes Paul II. ist mein persönlicher Leitfaden geworden. Er lautet: „Wenn es um die Wahrheit geht, hat Freiheit ihre Grenzen.“ Und so verteidigte er die Familienrechte und war kompromisslos gegen Abtreibung, gegen den Mord an Kindern im Mutterleib. Trotz zunehmender Krankheit und Gebrechlichkeit wich er keinen Zentimeter von seinem Kurs ab. Johannes Paul II. ist ein einmaliger Heiliger, der mich fasziniert und überzeugt.

Inzwischen bin ich mit einer katholischen Frau aus Deutschland glücklich verheiratet und habe mit ihr zwei Söhne. Auch unserem Erstgeborenen haben wir bei der Taufe „Johannes Paul“ als Zweitnamen mit auf den Weg gegeben. Der Name soll unseren Sohn sein ganzes Leben lang an den heiligen Johannes Paul II. erinnern. Und er soll sich bewusst sein, dass er im Himmel einen großen Schutzpatron hat, der ihn in Freud und Leid begleitet. Gleichzeitig hoffen wir, dass unser Sohn in Zukunft mit seinen Mitmenschen über Papst Johannes Paul sprechen und seine Verehrung fördern wird.

Wir möchten unsere Kinder katholisch erziehen und ihnen einen lebendigen Glauben vermitteln. Dabei vertrauen wir sehr auf den Beistand unserer himmlischen Mutter. Wir sind starke Marienverehrer und beten jeden Tag den Rosenkranz. Ich glaube an die Macht dieses einfachen und schlichten Gebets. Und ich versuche es betrachtend zu beten. Auf die Fürsprache der Gottesmutter habe ich unzählige Gebetserhörungen erlebt. Immer wieder hat Gott wunderbar in mein Leben eingegriffen.

Ich betrachte es als große Gnade, dass mich Jesus Christus als Muslime in seine Nachfolge gerufen hat. Auf unserem Weg bleiben Leiden nicht aus. Wir müssen uns gegenseitig stärken, um unser Kreuz tragen zu können und den Angriffen des Bösen standzuhalten. Ich versuche, den inneren Frieden zu bewahren und auf alles mit Geduld und Hingabe, ja, mit einem Lächeln zu reagieren. An meinem Arbeitsplatz habe ich den Spruch angebracht „O quam cito transit gloria mundi! – O, wie schnell vergeht der Ruhm der Welt!“ und gegenüber den Satz aus der Bibel „Lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und der Wahrheit“ (1 Joh 3,18). Jeden Tag stehen mir diese Worte vor Augen.

Als gelernter Ingenieur bin ich immer wieder fasziniert von der Schöpfung, von den feinsten und weisesten Gedanken Gottes, die ich in der Natur sehe. Man muss blind sein, wenn man diese Wunder allein mit Zufall und Mutation erklären möchte. Mir kommt angesichts des heutigen Zeitgeistes das Wort in den Sinn: „Da sie sich für Weise hielten, sind sie zu Narren geworden“ (Röm 1,22; vgl. Jes 5,21). Mein Halt ist das Wort Gottes. Auf diesem Fundament gründet mein Glaube an Jesus Christus. Und in der katholischen Kirche habe ich die Wahrheit gefunden. Die Kirche mit ihren Sakramenten ist meine geistliche Heimat geworden. Im Zentrum meines Lebens steht die Gegenwart Jesu Christi in der heiligen Eucharistie. Sein Leib und sein Blut unter den Gestalten von Brot und Wein sind für mich das tiefste Geheimnis, in dem wir, wie es der hl. Johannes Paul II. in seiner Enzyklika über die Eucharistie sagt, „den vollkommenen Ausdruck seiner unendlichen Liebe entdecken“.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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Sexuelle Erziehung im Licht der Liebe

Kultivierung des ehelichen Verkehrs

Bis heute ist das beliebteste Werk Johannes Pauls II. die Monografie „Liebe und Verantwortung“,[1] die er als Weihbischof von Krakau bereits 1960 veröffentlicht hat. Auf dieser Studie über die eheliche Liebe baut auch seine „Theologie des Leibes“ auf, die er in den berühmten Mittwochskatechesen zwischen 1979 und 1984 entfaltet hat. Es lohnt sich, beispielhaft das Kapitel „Probleme der Ehe und des ehelichen Verkehrs“ vor Augen zu führen, um zu erkennen, wie konkret und auch heute aktuell seine Überlegungen zur Sexualmoral sind. Das Kapitel findet sich im ergänzenden Abschlussteil von „Liebe und Verantwortung“, in dem sich Karol Wojtyła mit dem Zusammenhang von Sexualwissenschaft und christlicher Ethik beschäftigt. Auf die Verweise zu den Ausführungen in den vorausgehenden Kapiteln der Studie wurde im nachfolgenden Auszug verzichtet.

Von Karol Wojtyła/Johannes Paul II.

Die eigentliche Begründung für eine monogame und unauflösliche Ehe ist die personalistische Norm, zusammen mit der Anerkennung der objektiven Ordnung der Ziele der Ehe. Aus dieser Norm leiten sich auch das Verbot des Ehebruchs im weiten Sinn des Wortes ab und daher ebenso das Verbot des vorehelichen Verkehrs. Nur eine tiefgehende Überzeugung des nicht-utilitaristischen Wertes der Person (nämlich der Frau für den Mann und des Mannes für die Frau) befähigt uns, vollständig, grundlegend und unwiderlegbar diesen sittlichen Standpunkt zu rechtfertigen und in der Praxis seine Beachtung zu suchen. Kann die Sexualwissenschaft dabei irgendeine Unterstützung anbieten und so eine gewissermaßen nachträgliche Rechtfertigung geben? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir unsere Aufmerksamkeit bestimmten überaus wichtigen Aspekten der sexuellen Beziehung zuwenden, welche ihre personale Dimension nur in der Ehe bewahrt, da sie außerhalb der Institution der Ehe eine Person – und dies trifft besonders für die Frau in Bezug auf den Mann zu – ausschließlich und vollständig in die Lage eines Gebrauchsgegenstandes für eine andere Person bringt.

Die entscheidende Rolle des Willens beim sexuellen Akt

Sexuelle Beziehungen (d. h. der sexuelle Akt) sind nicht nur eine einfache Folge der sexuellen Erregung, zu welcher es im Allgemeinen ohne irgendeinen Akt des Willens kommt, also spontan, und der bloß nachträglich zugestimmt oder widersprochen wird. Wie wir wissen, kann die sexuelle Erregung ihren Höhepunkt erreichen, dem die Sexualwissenschaft den Namen „Orgasmus“ gibt, aber diese Erregung im Höhepunkt ist nicht ein- und dasselbe wie der sexuelle Akt (obwohl sie in der Regel nicht ohne Zustimmung des Willens und irgendeine „Aktivität“ erreicht wird). Bei der Analyse des Begehrens des Fleisches haben wir bereits angemerkt, dass sinnliche Reaktionen beim Menschen ihre eigene Dynamik haben, die sehr eng nicht nur mit dem Wert des „Leibes“ und der „Geschlechtlichkeit“, sondern auch mit der unwillkürlichen Dynamik der geschlechtlichen Bereiche des menschlichen Leibes verbunden ist, d. h. mit der Physiologie der Sexualität. Aber der sexuelle Verkehr – der sexuelle Akt zwischen einer Frau und einem Mann – ist ohne einen Akt des Willens unvorstellbar, besonders vonseiten des Mannes. Es handelt sich nicht nur um eine Frage der Entscheidung selbst, sondern auch der physischen Möglichkeit, den Akt auszuführen, wozu ein Mann in jenen Zuständen nicht in der Lage ist, in denen er unfähig ist, seinen Willen auszuüben, zum Beispiel, während er schläft oder nicht bei Bewusstsein ist. Es liegt in der eigentlichen Natur des Aktes, dass der Mann die aktive Rolle spielt und die Initiative übernimmt, während die Frau eine vergleichsweise passive Partnerin ist, deren Aufgabe es ist anzunehmen und zu erfahren. Für die Ziele des sexuellen Aktes ist es für sie ausreichend, passiv und widerstandslos zu sein, so sehr, dass er sogar ohne ihr Wollen stattfinden kann, während sie in einem Zustand ist, in dem sie überhaupt kein Bewusstsein von dem hat, was geschieht: zum Beispiel, während sie schläft oder ohnmächtig, d. h. ohne Bewusstsein ist. In diesem Sinn hängt der Verkehr von der Entscheidung des Mannes ab. Die Tatsache nun, dass diese Entscheidung das Ergebnis sexueller Erregung beim Mann ist, welche stattfinden kann, ohne dass die Frau irgendetwas ähnliches erfährt, ergibt ein Problem von großer praktischer Bedeutung, sowohl vom medizinischen als auch vom sittlichen Gesichtspunkt aus. Die Sexualethik, d. h. die Ethik der Ehe, muss bestimmte Tatsachen näher überprüfen, zu denen die klinische Sexualwissenschaft eine genaue Information bereitstellen kann. Wir haben die Liebe als ein Streben nach dem wahren Gut der anderen Person definiert, als die Antithese des Egoismus. Da ein Mann und eine Frau sich in der Ehe auch sexuell miteinander verbinden, muss das Gut auch auf diesem Gebiet gesucht werden.

Vollkommene Rücksichtnahme auf das sexuelle Erleben des Partners

Im Hinblick auf eine andere Person, d. h. vom altruistischen Gesichtspunkt aus, ist es nötig, darauf zu bestehen, dass der Verkehr nicht bloß als Mittel dazu dienen darf, dass die sexuelle Erregung ihren Höhepunkt in einem der Partner, d. h. beim Mann allein, erreichen kann, sondern dass dieser Höhepunkt in Harmonie erreicht werden muss, nicht auf Kosten eines Partners, sondern mit voller Einbeziehung beider Partner. Das ist in jenem Prinzip eingeschlossen, welches wir bereits so gründlich analysiert haben und das die Ausnutzung der Person ausschließt und die Liebe verlangt. Im vorliegenden Fall fordert die Liebe, dass die Reaktionen der anderen Person, also des „Partners“, vollständig Berücksichtigung finden.

Sexualwissenschaftler stellen fest, dass die Erregungskurve bei der Frau anders ist als beim Mann – sie steigt langsamer an und fällt auch langsamer zurück. Anatomisch tritt die Erregung bei Frauen und Männern auf dieselbe Weise auf (das Zentrum der Erregung ist im Mark bei S2-S3). Der weibliche Organismus reagiert, wie oben angemerkt wurde, in verschiedenen Teilen des Leibes leichter auf Erregung, was bis zu einem gewissen Ausmaß die Tatsache wettmacht, dass die Erregung der Frau langsamer zunimmt als jene des Mannes. Der Mann muss diesen Unterschied berücksichtigen: nicht aus hedonistischen, sondern aus altruistischen Gründen. Es gibt einen Rhythmus, der von der Natur als solcher gegeben ist und den beide Gatten entdecken müssen, sodass der Höhepunkt sowohl vom Mann als auch von der Frau erreicht werden kann und sich soweit als möglich bei beiden gleichzeitig ereignet. Das subjektive Glück, das sie dann teilen, hat die klare Charakteristik des Genusses, den wir frui genannt haben, jener Freude, die sich aus der Harmonie zwischen den eigenen Handlungen und der objektiven Ordnung der Natur ergibt. Andererseits ist der Egoismus – und in diesem Zusammenhang handelt es sich eher um Egoismus auf Seiten des Mannes – nicht vom uti zu trennen, bei dem ein Teil nur seinen eigenen Genuss auf Kosten des anderen sucht. Offenbar können die grundlegenden Lehren der Sexualwissenschaft nicht ohne Bezug zur Ethik ihre Anwendung finden.

Die besonderen Bedürfnisse der Frau beim Geschlechtsverkehr

Die Nichtbeachtung dieser Erkenntnisse der Sexualwissenschaft in der ehelichen Beziehung steht im Gegensatz zum Wohl des anderen Ehepartners und zur Dauerhaftigkeit und zum Zusammenhalt der Ehe selbst. Es muss berücksichtigt werden, dass es für die Frau von Natur aus schwierig ist, sich in der sexuellen Beziehung an den Mann anzupassen, d. h. dass es eine natürliche Unausgeglichenheit der physischen und psychischen Rhythmen gibt, sodass ein Bedürfnis nach Harmonisierung besteht, welche ohne guten Willen unmöglich ist, besonders auf der Seite des Mannes, der die Reaktionen der Frau sorgsam beachten muss. Wenn eine Frau im sexuellen Akt keine natürliche Beglückung erhält, besteht die Gefahr, dass ihre Erfahrung davon qualitativ niedriger ist und nicht ihre ganze Person betrifft. Diese Art von Erfahrung macht neurotische Reaktionen nur zu wahrscheinlich und kann beispielsweise eine sekundäre sexuelle Frigidität verursachen. Manchmal ist Frigidität das Ergebnis einer Hemmung auf Seiten der Frau selbst oder einer fehlenden Miteinbeziehung, welche bisweilen sogar ihre eigene Schuld sein kann. Aber am häufigsten ist sie doch das Resultat des Egoismus beim Mann, der dabei versagt, die subjektiven Sehnsüchte der Frau beim Verkehr und die objektiven Gesetze des sexuellen Prozesses, die sich bei ihr abspielen, zu erkennen, und der bloß seine eigene Befriedigung sucht, manchmal auf geradezu brutale Weise. (Die Tatsache ist bekannt, dass der normale Ablauf des geschlechtlichen Verkehrs durch eine egozentrische Konzentration der Aufmerksamkeit auf das eigene Erleben gestört wird. Die Eheleute sollen sich daran erinnern, dass ihr leibliches Zusammensein zugleich ein geistiges Mysterium der Vereinigung in Liebe und Achtung bedeutet. Die völlige Beanspruchung des Bewusstseins durch die sinnliche Befriedigung – vor allem durch die eigene – erweist sich in gleicher Weise als gefährlich und abträglich sowohl für die biologische, die psychische und die sittliche Seite des Aktes.)

Bei der Frau ruft dies eine Abneigung gegenüber dem Geschlechtsverkehr sowie einen Ekel vor der Sexualität hervor, welcher ebenso schwer oder sogar noch schwerer zu beherrschen ist als der sexuelle Trieb. Dies kann auch Neurosen und manchmal organische Erkrankungen verursachen (diese kommen von der Tatsache, dass der Blutandrang in den genitalen Organen zum Zeitpunkt der sexuellen Erregung zu einer Entzündung im Bereich des so genannten kleinen Beckens führt, wenn die sexuelle Erregung nicht durch die Entspannung beendet wird, welche bei der Frau eng mit dem Orgasmus verbunden ist). Psychologisch verursacht eine solche Situation nicht nur Gleichgültigkeit, sondern oft geradezu Feindseligkeit. Eine Frau empfindet es als sehr schwer, einem Mann zu vergeben, wenn sie im ehelich-sexuellen Leben keine Beglückung erfährt. Es wird schwer für sie, dies zu ertragen, und im Laufe der Jahre kann dies zu einer unübersehbaren traumatischen Reaktion führen. Das kann zum Zusammenbruch der Ehe führen.

Notwendigkeit einer angemessenen sexuellen Erziehung

Um dem vorzubeugen, bedarf es einer angemessenen sexuellen Erziehung: Diese ist als Erziehung mehr als eine bloße Unterweisung in sexuellen Angelegenheiten. Denn es muss nochmals betont werden, dass die physische Abneigung in der Ehe nicht als Primärphänomen existiert, sondern in der Regel eine Sekundärreaktion ist: Bei Frauen ist es die Antwort auf Egoismus und Brutalität, bei Männern auf Kälte und Gleichgültigkeit. Aber die Frigidität und Gleichgültigkeit der Frau ist oft die Schuld des Mannes, wenn er seine eigene Befriedigung sucht, während er die Frau unbefriedigt lässt, was sogar der männliche Stolz nicht zulassen dürfte. Aber in manchen besonders schwierigen Situationen mag der natürliche Stolz auf Dauer nicht ausreichend sein: Jeder weiß, dass der Egoismus einen Mann entweder verblenden und ihn seines Stolzes berauben oder im Gegenteil zu einer krankhaften Übersteigerung des Stolzes führen kann, was der Anlass dafür wird, den Blick für den anderen Menschen zu verlieren. Ähnlicherweise kann die natürliche Freundlichkeit einer Frau, die (wie die Sexualwissenschaftler uns sagen) manchmal „den Orgasmus vortäuscht“, um den Stolz eines Mannes zu befriedigen, auf Dauer auch nicht hilfreich sein. Es handelt sich um bloße Bemäntelungen, und diese können schließlich keine befriedigenden Lösungen für die beim Verkehr erfahrenen Schwierigkeiten geben. Es gibt hier ein wirkliches Bedürfnis nach sexueller Erziehung, und diese muss ein fortdauernder Prozess sein. Das Hauptziel dieser Erziehung ist es, die Überzeugung zu schaffen, dass die andere Person wichtiger ist als ich. Eine solche Überzeugung wird nicht plötzlich und aus nichts entstehen und nicht bloß auf der Grundlage des physischen Verkehrs. Sie kann nur das Ergebnis einer ganzheitlichen Erziehung in Liebe sein. Sexueller Verkehr als solcher lehrt nicht Liebe, sondern die Liebe wird sich, wenn sie eine echte Tugend ist, auch im ehelich-sexuellen Verkehr erweisen. Nur dann kann die „sexuelle Unterweisung“ ihre vollen Vorteile vermitteln: Ohne Erziehung in unserem Sinn kann sie sogar schaden.

Kultur des ehelichen Lebens auf der Grundlage instinktiven Wissens

Eben hier geht es um die Kultur des ehelichen Lebens, und es wird klar, was damit gemeint ist: nämlich nicht die Technik, sondern die Kultur. Sexualwissenschaftler (z. B. van de Velde) legen das Schwergewicht oft auf die Technik, während diese eher als etwas Sekundäres und oft vielleicht sogar als jenem Zweck Entgegengesetztes angesehen werden sollte, von dem man annimmt, dass sie ihm dient. Der Trieb ist so stark, dass er beim normalen Mann und der normalen Frau eine Art des instinktiven Wissens schafft, „wie man sexuell zusammenkommt“, während die künstliche Analyse (und das Konzept der „Technik“ beinhaltet dies) die ganze Angelegenheit eher verdirbt, denn man erwartet hier eine gewisse Spontaneität und Natürlichkeit (welche freilich der Sittlichkeit untergeordnet ist). Dieses instinktive Wissen muss in der Folge zu einer „Kultur des Zusammenlebens“ heranreifen.

Hier soll auf die Analyse der Zärtlichkeit und insbesondere der „uneigennützigen Zärtlichkeit“ hingewiesen werden. Diese Fähigkeit, sich leicht in die Emotionen und Erfahrungen einer anderen Person hineinzuversetzen, kann eine große Rolle bei der Harmonisierung des ehelichen Verkehrs spielen. Sie hat ihren Ursprung in der Gefühlsempfindung, welche sich primär auf den Menschen richtet und so die heftigen Reaktionen der Sinnlichkeit mäßigen und abschwächen kann, welche sich auf den Leib und die ungehinderten Impulse des Begehrens des Fleisches richten. Genau deshalb, weil ein langsameres und allmählicheres Ansteigen in der Kurve der sexuellen Erregung für den weiblichen Organismus charakteristisch ist, ist das Erfordernis nach Zärtlichkeit während des physischen Verkehrs – und auch bevor er anfängt und nach seinem Abschluss – in rein biologischen Begriffen erklärbar. Wenn wir die kürzere und heftigere Kurve der Erregung beim Mann berücksichtigen, dann erhält ein Akt der Zärtlichkeit im Zusammenhang des ehelichen Verkehrs von seiner Seite aus die Bedeutung eines Akts der Tugend – insbesondere der Tugend der Enthaltsamkeit und so indirekt der Tugend der Liebe. Die Ehe kann nicht auf die physische Beziehung reduziert werden, sie benötigt ein emotionales Klima, ohne welches die Tugenden der Liebe und auch der Keuschheit in der Praxis schwer zu verwirklichen sind.

Gegenseitige Erziehung auf dem Weg der Einfühlung in den anderen

Hier sind jedoch nicht flache Sentimentalität oder oberflächliche Liebe vonnöten, die wenig mit der Tugend zu tun haben. Die Liebe soll helfen, einen Menschen zu verstehen und mit ihm zu fühlen, denn das macht es für den einen möglich, den anderen zu erziehen, und im ehelichen Leben für Mann und Frau, einander zu erziehen. Der Mann muss mit der Tatsache rechnen, dass die Frau in einem bestimmten Sinn eine „andere Welt“ ist als er, nicht nur im physischen, sondern auch im psychischen Sinn. Da er die aktive Rolle in der ehelichen Beziehung zu spielen hat, muss er jene andere Welt kennen lernen und sich natürlich so weit als möglich emotional in diese hineinversetzen. Das ist eben die positive Funktion der Zärtlichkeit. Ohne sie wird der Mann bloß versuchen, die Frau den Forderungen seines eigenen Leibes und seiner Psyche zu unterwerfen, wobei er sie in diesem Prozess häufig verletzt. Natürlich muss auch die Frau den Mann zu verstehen suchen und ihn zugleich dazu erziehen, dass er sie versteht. Beide Dinge sind gleich wichtig. Die Vernachlässigung der Erziehung und das Scheitern des Verstehens können beide das Ergebnis des Egoismus sein. Die Sexualwissenschaft bietet Unterstützung für die Formulierung der Prinzipien der Sittlichkeit und der ehelichen Erziehung.

Harmonischer sexueller Verkehr ohne Gewissenskonflikt

Unterstützt der gesamte Beitrag der klinischen Sexualwissenschaft für unser Verständnis sexueller Beziehungen zwischen Mann und Frau also in direkter Weise das Prinzip der Monogamie und die Unauflöslichkeit der Ehe? Stehen deren Ergebnisse im Gegensatz zum Ehebruch und zu vorehelichen oder außerehelichen Beziehungen? Vielleicht nicht direkt, aber dann können wir nicht so viel von der Sexualwissenschaft verlangen, da ihr unmittelbares Anliegen sich mit dem sexuellen Akt als einem bestimmten physischen oder allenfalls psycho-physischen Prozess befasst sowie mit seinen Bedingungen im Organismus und in der Psyche. Indirekt jedoch fördert die Sexualwissenschaft durchwegs die natürliche sexuelle und eheliche Sittlichkeit, da sie der psychischen und physischen Gesundheit von Mann und Frau, im grundlegendsten Sinn verstanden, so viel Bedeutung zumisst. Auf diese Weise ist harmonischer sexueller Verkehr nur dort möglich, wo er keinen Konflikt der Gewissen beinhaltet und nicht von Ängsten beunruhigt wird. Eine Frau kann beispielsweise in einer außerehelichen Beziehung offensichtlich vollständige sexuelle Befriedigung erhalten, aber der Konflikt des Gewissens kann sich dahingehend auswirken, dass der natürliche biologische Rhythmus gestört wird. Die Ruhe und Sicherheit des Gewissens haben eine entscheidende Auswirkung auch auf den Organismus. Es ist nicht nötig anzumerken, dass dies als solches kein Argument für die Monogamie und die eheliche Treue und gegen den Ehebruch ist; es zeigt nur bestimmte Konsequenzen der natürlichen Gesetze der Sittlichkeit auf. Die Sexualwissenschaft braucht nicht Argumente bereit zu stellen, aus denen wir diese Regeln ableiten können; es ist ausreichend, wenn sie nebenbei die Regeln bestätigt, die bereits von anderswoher bekannt und mit anderen Mitteln begründet worden sind. Es ist dann durchaus gewiss, dass die Ehe als eine stabile Institution, welche die Frau beim möglichen Ereignis der Mutterschaft (matris munus) beschützt, zu einem beträchtlichen Ausmaß eine Frau von jenen Reaktionen der Angst befreit, die nicht nur ihre Psyche beeinträchtigen, sondern auch ihren natürlichen biologischen Rhythmus stören können. Nicht die geringste Angst ist jene, ein Kind zu haben: Sie ist die Hauptquelle weiblicher Neurosen.

Glückliche Ehe als Frucht sittlicher Entscheidung und gelebter Liebe

Eine harmonische Ehe ist die Lösung dieser Schwierigkeiten; aber wir haben gezeigt, dass diese Harmonie nicht das Ergebnis einer Technik, sondern nur einer Kultur des Zusammenlebens oder in letzter Analyse der Tugend der Liebe sein kann. In ihrem eigentlichen Wesen ist eine derartige Ehe nicht nur das Ergebnis einer sexuellen Wahl, sondern einer sittlich gültigen Entscheidung.

Die Biologie und die Physiologie als solche versetzen uns nicht in die Lage, irgendwelche Gesetze zu entdecken und zu formulieren, warum ein Mann und eine Frau sich entscheiden zu heiraten. Es scheint, dass es keine „rein“ biologischen Faktoren der Anziehung gibt, während andererseits Personen, die sich in der Ehe verbinden, bestimmt aneinander sexuell sowie auch auf andere Art und Weise interessiert sind; Menschen, die von Anbeginn füreinander physische Abneigung empfinden, treten nicht in die Ehe ein. Die Gesetze gegenseitiger Anziehung können nur manchmal im Sinne des psychologischen Prinzips der Anziehung des Gleichen durch das Gleiche oder umgekehrt durch die Anziehung der Gegensätze bestimmt werden: Die Sache ist für gewöhnlich viel komplizierter. Tatsache ist es, dass sinnliche und gefühlsmäßige Faktoren eine machtvolle Auswirkung im Augenblick der Wahl haben, aber dass eine vernünftige Analyse dennoch die entscheidende Bedeutung haben muss.

Es muss auch festgestellt werden, dass die verbreiteten „Erprobungen“ des Zusammenlebens vor der Ehe kein Kriterium für die „Wahl“ eines Ehegatten ergeben, denn die spezifischen Kennzeichen des Zusammenlebens in der Ehe sind eine Sache und jene des vorehelichen Zusammenlebens eine andere. Eine falsche Zuordnung ist nicht bloß eine Sache der physischen Unvereinbarkeit, und es ist sicher, dass man nicht im Voraus durch voreheliches Zusammenleben die Vereinbarkeit testen kann. Paare, die sich in der Folge selbst als falsch verbunden betrachten, hatten sehr oft im Anfangsstadium eine perfekte sexuelle Beziehung. Der Zusammenbruch ihrer Ehe hat offensichtlich eine andere Ursache. Diese Sicht der Dinge steht in enger Übereinstimmung mit dem ethischen Prinzip, das voreheliche Beziehungen ausschließt: Sie bestätigt dieses gewiss nicht direkt, aber jedenfalls weist sie hin auf die Ablehnung des entgegengesetzten Prinzips, das den geschlechtlichen Verkehr vor der Ehe erlaubt, ja empfiehlt.

In keinem Punkt widersprechen die Folgerungen, die von der klinischen Sexualwissenschaft erzielt werden, den Hauptprinzipien der Sexualethik: Monogamie, eheliche Treue, die reife Wahl der Person etc. Das Prinzip ehelicher Schamhaftigkeit findet ebenfalls Bestätigung in der Existenz von Neurosen, wie sie Sexualwissenschaftler und Psychiatern wohl bekannt sind, welche das Ergebnis von sexuellem Verkehr, verbunden mit Angst, sind: der Angst, durch einen unerwünschten Faktor von außen überrascht zu werden. Von daher ergibt sich das Erfordernis für einen geeigneten Ort, für ein eigenes Heim oder eine Wohnung, d. h. in Übereinstimmung mit den Forderungen der Schamhaftigkeit und wo sowohl der Mann als auch die Frau spüren, dass sie gleichsam „das Recht haben“, in völliger ehelicher Intimität zu leben.

 

Anmerkung: Der Text ist der Ausgabe von Prof. Dr. Josef Spindelböck entnommen: Karol Wojtyła (Johannes Paul II.): Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie. Auf der Grundlage des polnischen Textes neu übersetzt und hrsg. von Josef Spindelböck, Verlag St. Josef, Kleinhain 20102, 393-404.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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[1] Karol Wojtyła (Johannes Paul II.): Liebe und Verantwortung – Eine ethische Studie. Karol Wojtyła lässt die anspruchsvolle Schönheit der Berufung zur Liebe, wie sie sich in Ehe und Familie verwirklicht, aufleuchten. Im Vorwort zur ersten Auflage 1960 erklärte er, es bestehe die „Ansicht“, „Geistliche und Personen, die im Zölibat leben“, dürften „in Sachen Liebe und Ehe eigentlich überhaupt nichts sagen“. Doch dem entgegnete er: „Ihr Mangel an eigener, persönlicher Erfahrung wird durch eine sehr reiche mittelbare Erfahrung ausgeglichen, die der pastoralen Arbeit entspringt. Bei dieser Arbeit begegnen sie diesen Problemen so oft und in den unterschiedlichsten Situationen, dass sich daraus eine andere, zweifelsohne mehr mittelbare und ‚fremde‘, zugleich aber auch breitere Erfahrung bildet.“ Auf der Grundlage des polnischen Textes neu übersetzt und herausgegeben von Josef Spindelböck, 2., neu durchgesehene Auflage 2010, geb., 420 S., 15,80 Euro. Bestellbar beim Verlag St. Josef, Kremser Str. 7, A-3123 Kleinhain, Tel. 0043 (0) 2742 360088, E-Mail: ver-lag@stjosef.at

Zur aktuellen Bedeutung der „Theologie des Leibes“

Vermächtnis des hl. Johannes Paul II.

Der hl. Johannes Paul II. hat uns ein gewaltiges Schrifttum hinterlassen. Es ist bleibender Ausdruck seines Denkens und Wirkens. Durch seine Wahl zum Papst erlangte sein geistiges Schaffen auch lehramtlichen Charakter und Bedeutung für die ganze Kirche. Dabei stechen besonders seine Abhandlungen über die menschliche Liebe und das Wesen von Mann und Frau hervor. Er selbst hat diesen Schwerpunkt seines Werkes als „Theologie des Leibes“ bezeichnet. Angesichts der „Gender-Ideologie“ tritt ihre Bedeutung und prophetische Kraft mit zunehmender Brisanz hervor. Pfr. Erich Maria Fink zeigt auf, wie der Ansatz Johannes Pauls II. mit der Diskussion um Gender und die Stellung der Frau in der Kirche zusammenhängt.

Von Erich Maria Fink

Synodales Arbeiten ist seit der Zeit der Apostel ein wesentliches Element kirchlichen Lebens. Aufeinander zu hören, die Ideen aller Beteiligten zu berücksichtigen, gemeinsam zu beraten, die verschiedenen Gesichtspunkte abzuwägen und so zu einer Entscheidung über das weitere Vorgehen zu gelangen, also sich „miteinander auf den Weg“ zu machen, was ja das Wort „synodal“ bedeutet, das hat für uns Christen eine theologische Dimension. Offenheit füreinander und gegenseitiger Austausch geben dem Wirken Gottes Raum und bringen den Heiligen Geist ins Spiel.

Ich bin überzeugt, dass Papst Franziskus eine entscheidende Weichenstellung für die Erneuerung der Kirche und ihren Weg in die Zukunft vorgenommen hat, indem er der „Synodalität“ Priorität einräumt. Gleichzeitig ist sich Franziskus klar bewusst, dass diese Form des kirchlichen Miteinanders einer soliden Grundlage und Kultivierung bedarf. Nicht umsonst soll sich die kommende Bischofssynode in Rom darüber Gedanken machen, nach welchen Prinzipien synodales Leben in der Kirche gestaltet werden kann und muss. So ist beispielsweise selbstverständlich, dass über das „depositum fidei“, also über geoffenbarte Glaubenswahrheiten, nicht jedwedes Gremium einer Ortskirche demokratisch abstimmen kann. Gegenstand regionaler Beratungen muss ein anderer sein. So wird Papst Franziskus nicht müde, der Kirche in Deutschland aufzuzeigen, worum es ihr bei einem „Synodalen Weg“ gehen muss, sei es mit seinem Brief an das „pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ oder mit der jüngsten „Instruktion zur pastoralen Umkehr der Pfarreien“, nämlich um eine Aufarbeitung der Missbrauchskrise mit dem Ziel, neues Vertrauen zu schaffen und einen missionarischen Aufbruch zu fördern.

„Erzbischof Heße: Offen über Frauenweihe diskutieren“

Vatican News, das offizielle Portal des Heiligen Stuhls, veröffentlichte am 20. August 2020: „Der Hamburger katholische Erzbischof Stefan Heße hat sich für eine offene Debatte über die Zulassung von Frauen zum Weiheamt in der katholischen Kirche ausgesprochen.“ Es wird berichtet, wie Heße, der Mitglied des Forums „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“ beim Synodalen Weg ist, das Apostolische Schreiben Ordinatio Sacerdotalis sieht: „Auch mit dem 1994 veröffentlichten Schreiben von Papst Johannes Paul II. zum Ausschluss des Frauenpriestertums sei die Angelegenheit nicht erledigt. ‚Die Diskussion ist nach wie vor da, sie ist lebendig, und sie ist durch ein Papier nicht zu ersticken.‘“

Es ist nur die eine Seite, den verbindlichen Charakter dieses Dokuments hervorzuheben, den Bischöfe in ihrer Verantwortung für die wahrheitsgetreue Verkündigung der Glaubenslehre ja kennen müssen. Die andere Seite ist der theologische Hintergrund, auf dem diese Frage angegangen wird. Und dazu heißt es in dem Bericht: „Laut Heße gibt es viele neue Argumente, die miteingebracht werden müssten. ‚Die historische Perspektive ist eine – aber die ist nicht alles.‘ Theologen stellten beispielsweise die Frage, ob bei der Menschwerdung Christi das Mannwerden oder das Personwerden das Entscheidende sei.“

Die Frage nach der menschlichen Person

Erzbischof Heße liefert in der Diskussion um die Frage nach der Relevanz des Geschlechts bei Menschwerdung und Priestertum das Stichwort „Person“. Genau darum ging es dem hl. Papst Johannes Paul II. in seinem gesamten philosophischen und theologischen Denken. Es ist zu wenig, wenn man gewöhnlich davon spricht, er hätte in seiner Anthropologie einen „personalistischen“ Ansatz verwendet. Nein, Johannes Paul II. hat in seinem gesamten Lebenswerk auf unverwechselbare Weise herausgearbeitet, was die menschliche Person ausmacht und wie ihre unantastbare Würde begründet werden kann.

Es gibt Stimmen, die meinen, bei aller Betonung der Endgültigkeit und Unfehlbarkeit von Ordinatio Sacerdotalis müsste eine so entscheidende Frage doch im Rahmen eines Konzils und nicht am Schreibtisch entschieden werden. Ich habe für solche Überlegungen Verständnis, doch sollte man sich meines Erachtens bewusst machen, auf welchem Fundament seines Denkens und Lehrens Johannes Paul II. dieses Dokument veröffentlicht hat. Er war sich der Dimension der Frage vollkommen bewusst, sah aber auf prophetische Weise die Herausforderungen voraus, die mit dem Gender-Mainstream auf die Kirche zukommen. Dieser Zeitgeist versucht, das Geschlecht von der Schöpfungsordnung loszulösen und es dem Belieben des Menschen verfügbar zu machen. Demgegenüber hat Johannes Paul II. aufgewiesen, dass das Geschlecht zur Identität der Person gehört. Der christliche Glaube verlangt eine integrale Sicht der Person, nach der das Mann- und Frausein nicht nebensächliche Erscheinungsformen darstellen, sondern das Wesen der Person und ihrer Selbstverwirklichung berühren. Dies gilt nach Johannes Paul II. auch für die Christologie, die Ekklesiologie und die Mariologie, insbesondere im Blick auf das bräutliche Verhältnis von Christus und seiner Kirche.

Werdegang und Zeugnis Johannes Pauls II.

Betrachtet man das geistige Vermächtnis Johannes Pauls II., so entdeckt man in seinem gesamten Schrifttum eine unglaubliche Geschlossenheit, aber auch eine ständige Weiterentwicklung und Vertiefung. Sein wissenschaftliches Forschen beginnt mit der Dissertation über die Mystik des hl. Johannes vom Kreuz (1948). Den jungen Karol Wojtyła aber interessierte dabei das Innere der menschlichen Person. In seiner Habilitation über Max Scheler (1953) verband er damit die sittliche Dimension des personalen Handelns. Und bereits damals setzte er sich intensiv mit der Frage nach dem personalen Charakter der ehelichen Liebe auseinander. So entstand die für die damalige Zeit „progressive“ Studie „Liebe und Verantwortung“ (1960). Nun machte sich Wojtyła auf den Weg, einerseits philosophisch das Wesen der menschlichen Person gründlich zu analysieren – er verfasste sein Hauptwerk „Person und Tat“ (1969), andererseits schöpfungstheologisch aufzuzeigen, welche sittlich-personalen Anforderungen die Liebe zwischen Mann und Frau an den Menschen stellt. Diese Ausführungen hatte er in Polen ausgearbeitet und als Papst von 1979 und 1984 als Katechesen bei den Generalaudienzen abschnittweise vorgetragen.

Es war ein unglaublich mutiger Schritt Johannes Pauls II., die gesamte Welt der Geschlechtlichkeit mit all ihren emotionalen und psychologischen Dimensionen in die Theologie hereinzuholen und in der kirchlichen Lehrverkündigung offen darüber zu sprechen. Dies aber verlieh ihm auch die Selbstsicherheit und das damit verbundene Sendungsbewusstsein, über die Bedeutung des Geschlechts im Geheimnis der Menschwerdung Gottes und in der Fra-ge des sakramentalen Weihepriestertums verbindliche und endgültige Lehrentscheidungen zu treffen.

Im Licht der Heiligsten Dreifaltigkeit

Die „Theologie des Leibes“ Johannes Pauls II. kann an dieser Stelle nicht eingehender entfaltet werden, es soll jedoch wenigstens ein entscheidender Gedanke angedeutet werden. „Als Mann und Frau schuf er sie“, so überschrieb er selbst seine berühmten Mittwochskatechsen. Johannes Paul II. legt dar, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen und damit bestimmt hat, dass kein Mensch als Person das Ganze des Menschseins darstellt, sondern auf das Miteinander verwiesen ist. Diese Entscheidung des Schöpfers kann der Mensch nur in Demut annehmen. Gleichzeitig hat Gott bei seiner Menschwerdung dieses „Teil-Sein“ selbst angenommen und ist eben nicht einfach nur „Mensch“ geworden, sondern ein Mann, der auf seine Braut, die Kirche, verwiesen ist. Dieses Faktum der Schöpfungs- und Erlösungsordnung aber verweist in analoger Weise auf das ewige Wesen der drei göttlichen Personen, die in ihrem innertrinitarischen Leben jeweils nur einen Teil der göttlichen Wirklichkeit darstellen, in der Bewegung der Liebe aber das Ganze, nämlich die eine Gottheit bilden. Für Johannes Paul II. legt die Kirche auch durch das auf den Mann beschränkte Weihepriestertum Zeugnis davon ab, dass der Mensch letztlich nicht als einzelne Person vollständiges Ebenbild Gottes darstellt, sondern in der Gemeinschaft gelebter Liebe.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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Zum Drama „Der Bruder unseres Gottes“ von Karol Wojtyła

Wegzeichen der Barmherzigkeit

Dr. Theo Mechtenberg (geb. 1928) ist Theologe und promovierter Germanist. Seit Mitte der 1960er Jahre setzt er sich unermüdlich für die deutsch-polnische Verständigung ein und verleiht dem Brückenschlag einen reichhaltigen publizistischen Ausdruck. Auf diesem Hintergrund hat er auch zahlreiche Schriften Karol Wojtyłas aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt bzw. übertragen. Als ausgesprochener Kenner des Denkens und Lebens Johannes Pauls II. veröffentlichte er am 15. April 2017 auf seiner Webseite[1] einen eindrucksvollen Beitrag zum Drama „Der Bruder unseres Gottes“,[2] das Wojtyła bereits 1949 als junger Priester fertiggestellt hatte. Mechtenberg führt mit seinem Artikel auf einzigartige Weise in die geistigen Wurzeln und das Erbe des hl. Johannes Paul II. ein.

Von Theo Mechtenberg

Evangelii Gaudium (EG), das Apostolische Schreiben von Papst Franziskus, traf nicht nur auf Zustimmung. Kritisiert wurden vor allem seine Äußerungen zu einer autonomen, den freien Marktkräften überlassenen Wirtschaft sowie zu den riskanten Finanzspekulationen, deren krisenhafte Erschütterungen wir in den vergangenen Jahren schmerzhaft zu spüren bekamen.

Dem Papst wurde unterstellt, mit dem Aufweis dieser die Welt bedrohenden Missstände das kapitalistische System als solches verurteilt zu haben. Entsprechend kommt etwa Rainer Hank in seinem am 1. Dezember 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienenen Beitrag „Die Kirche verachtet die Reichen“ zu dem Schluss: „Weil Papst Franziskus die theologisch begründeten Ressentiments des Christentums gegenüber den Reichen teilt, hat er den Armen nur Barmherzigkeit und Almosen anzubieten.“ Abgesehen davon, dass Papst Franziskus keineswegs die Marktwirtschaft als solche verurteilt, weckt Hank beim Leser mit dem Begriffspaar „Barmherzigkeit und Almosen“ eine eher altertümliche Vorstellung der Bekämpfung von Armut, die durch die „Wachstumserfolge der kapitalistischen Wirtschaft“ überholt sei.

Gegenüber solcher Geringschätzung der Barmherzigkeit misst ihr Franziskus einen hohen Stellenwert bei, was er in den wenigen Monaten seines Pontifikats nicht nur durch Worte, sondern auch mit zahlreichen Aufsehen erregenden Gesten unter Beweis gestellt hat. Mit Thomas von Aquin sieht er in der Barmherzigkeit „die größte aller Tugenden“ (EG 37). Dabei bedeutet dieser Primat nicht, wie er an anderer Stelle betont, dass sie lediglich „am Anfang“ eines Tugendkataloges steht, sondern dass sie „die ‚erste‘ im qualitativen Sinn“ ist, durch nichts Anderes ersetzbar (EG 164).

Der Bruder unseres Gottes – ein Drama der Barmherzigkeit

Im Folgenden soll anhand eines literarischen Textes der Vielschichtigkeit von Barmherzigkeit nachgespürt werden. Verfasst hat ihn der junge Priester Karol Wojtyła. Fünf Jahre (1945-1950) hat er in der Zeit des Stalinismus und eines harten Kirchenkampfes an diesem Drama mit dem Titel „Brat naszego Boga“ (Bruder unseres Gottes) gearbeitet. An eine Veröffentlichung war zu jener Zeit kommunistischer Zensur nicht zu denken. Erst nachdem der Autor 1979 zum Papst gewählt worden war, konnte das Werk ein Jahr später bei „Znak“, einem katholischen Krakauer Verlag, erscheinen.

Protagonist des Dramas ist Adam Chmielowski (1848-1916), eine historische Gestalt, polnischer Freiheitskämpfer, bedeutender Maler, Gründer des Ordens der Albertiner, als Bruder Albert 1989 von Papst Johannes Paul II. heilig gesprochen. Die spannungsvolle Wandlung vom Künstler zum Bruder der Armen bildet den Inhalt dieses Dreiakters. Doch dieses Werk ist mehr als eine dramatisierte Biografie. Es geht dem Autor – wie er in der Einleitung ausführt – um das „transhistorische Element“ dieser historischen Gestalt, um die Teilhabe an einer sich stufenweise entfaltenden Barmherzigkeit.

Die Logik der Gleichgültigkeit

Barmherzigkeit ist keine Selbstverständlichkeit. Man kann sich ihr auf verschiedene Weise entziehen und dies durchaus rational begründen. So wie Adams Freunde, die sich in seinem Atelier versammelt haben und – über seine Mildtätigkeit irritiert – ihre Vorstellungen zur Armut diskutieren. Einer aus der Runde leugnet rundweg jede Verantwortung für die Armen. Jeder Mensch sei dazu berufen, sich seiner Fähigkeiten entsprechend zu verwirklichen und auf diese Weise die Gesellschaft zu bereichern. Verweigere sich jemand dieser Aufgabe, dann habe er die Konsequenzen zu tragen. Aus dieser individualistischen Grundeinstellung bewertet er selbst die von der städtischen Behörde den Bettlern und Obdachlosen zur Verfügung gestellte „Wärmehalle“ kritisch. Er sieht in derlei Einrichtungen „asoziale Erscheinungen“, die „Arbeitsscheue und Aussteiger geradezu anziehen“ (33). Andererseits würden sie zum Glück die soziale Lage beruhigen, während jene, die sich angesichts dieses Elends „von Ungeduld leiten lassen, […] mit ihrem Edelmut die Umstürze geradezu“ herbeirufen (35). Und an Adam gewandt bedauert er, dass er durch seine Mildtätigkeit seinen Beruf als Künstler vernachlässige und Gefahr laufe, seiner eigentlichen Verantwortung untreu zu werden.

Diese Logik der Gleichgültigkeit gibt es auch heute. Wozu braucht es noch, so ist zu fragen, die eigene Barmherzigkeit, wenn die Gesellschaft zur Bekämpfung des menschlichen Elends doch über die dazu erforderlichen Strukturen und Ämter verfügt? Ein weites Netz von Arbeitsagenturen und Sozialämtern, von ambulanter Kranken- und Altenpflege, von kirchlichen Diensten und Hilfswerken sowie ein vielgliedriges Gesundheitssystem tragen Sorge um jene, die von einem unglücklichen Schicksal betroffen werden.  Man kann darin durchaus eine institutionalisierte Barmherzigkeit sehen, ermöglicht durch die Solidarität der Steuerzahler, und dies unabhängig davon, ob jemand der Armut und den Armen gleichgültig gegenüber steht oder nicht. Aber können wir uns damit zufrieden geben? Die Klagen mehren sich, dass in unseren Sozialsystemen aufgrund zunehmender Ökonomisierung der konkrete Mensch mit seinen Leiden aus dem Blick gerät; dass es in diesen Institutionen an Barmherzigkeit mangelt, die – wie das Wort sagt – das Erbarmen mit dem Notleidenden zu einer Herzenssache macht. So stehen unsere Sozialsysteme nicht nur für den Versuch, das menschliche Elend zu überwinden oder wenigstens zu lindern, sie machen vor allem das Ausmaß des Elends offenbar. Barmherzigkeit wird durch sie keineswegs überflüssig. Ganz im Gegenteil. Sie verlangen nach ihr, damit sie nicht zu einem seelenlosen Funktionsmechanismus entarten.

So fragt es sich, ob unsere Sozialsysteme auf Dauer tragfähig bleiben, wenn es am Geist der Barmherzigkeit mangelt; in der Gesellschaft insgesamt sowie – und dies vor allem – bei denen, die in ihren verschiedenen Einrichtungen tätig sind.

Die Konfrontation mit dem menschlichen Elend

Selten liegt das menschliche Elend offen zutage. Wer in einer gesicherten, bürgerlichen Welt lebt, bekommt es nicht unbedingt zu Gesicht. Auch Adam Chmielowski und seine Freunde begegnen eher zufällig der Kehrseite ihres gut gesicherten Lebens. An einem kalten, regennassen Tag suchen sie Schutz in einem Torbogen und befinden sich unversehens in einer städtischen Aufwärmhalle, überfüllt mit Bettlern und Obdachlosen. Während seine Freunde eher sachlich auf diese für sie ungewohnte Szene reagieren, geht Adam zwischen den Pritschen umher „wie ein Verirrter. […] Im schwachen Schein der Öllichter schien sein Gesicht wie von grünem Wachs überflossen. In den weit aufgerissenen Augen stand das Entsetzen“ (23). Und einer aus der Runde erahnt die Tragweite des Geschehens: „Eines ist sicher: seit diesem Erlebnis gehört er nicht mehr sich selbst, nicht mehr seiner Kunst“ (24).

Eine außergewöhnliche Begegnung mit dem Elend muss nicht, kann aber einen inneren, die Gleichgültigkeit überwindenden Wandel herbeiführen. Doch eine derartige Erfahrung, wie sie Adam und seinen Freunden widerfuhr, ist in unserer Gesellschaft kaum mehr denkbar. Was wir an menschlichen Katastrophen erfahren, beruht nur in Ausnahmefällen auf einer plötzlichen, persönlichen Konfrontation, ist vielmehr in der Regel durch die Medien vermittelt. Und wer Tag für Tag mit derlei Meldungen bedacht wird, stumpft eher ab, als dass er sich zur Barmherzigkeit motivieren ließe. Es sei denn, in den Medien wird werbewirksam zu Spenden aufgerufen, die dann auch reichlich fließen. Momentane, zeitlich begrenzte Aktionen, oft zur Beruhigung des eigenen Gewissens, selten persönlich von nachhaltiger Wirkung. Ein Gefühl der Ratlosigkeit macht sich breit; ein Gefühl, angesichts des globalen Elends als einzelner letztendlich doch hilflos zu sein.

Soziales Engagement

Während sich Adams Freunde noch alleine in seinem Atelier aufhalten, betritt ein Stadtbote den Raum und überreicht ein an Adam adressiertes Schreiben des Armenpflegers. Wenig später kommt Adam selbst, begrüßt die Gäste und reißt eilig den Briefumschlag auf. Und reagiert äußerst empört. In Händen hält er die Antwort auf seine Eingabe nach mehr Fürsorge für die Ärmsten der Armen. Der Bescheid ist negativ: Außer dieser einen Aufwärmhalle könne die Stadt leider für Obdachlose nicht mehr tun. Adams Kommentar: „Wir verstecken uns, entfliehen auf kleine Inseln des Luxus, der sogenannten feinen Gesellschaft, des sogenannten sozialen Systems und fühlen uns bei all dem auch noch sicher. Doch – nein. Diese Sicherheit ist ein einziger Lug und Trug“ (31).

Soziales Engagement, ob im Geheimen oder öffentlichkeitswirksam, sind ein Ausdruck von Barmherzigkeit. Ein solcher Einsatz ist in unserer Gesellschaft so selten nicht: Nachbarschaftshilfe, Besuchsdienst bei kranken und alten Menschen, Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge und Asylanten, Protestaktionen gegen Fremdendfeindlichkeit, wo rechtextreme Gruppen gegen Immigranten zu Felde ziehen, Bürgerinitiativen gegen Missstände im Sozialbereich und zur Verbesserung der Situation sozial benachteiligter Mitmenschen. Ähnlich wie in „Der Bruder unseres Gottes“ führen derlei Bemühungen nicht immer zum Ziel. Wer sich sozial engagiert, dem bleiben Frustrationen nicht erspart. Sie müssen ausgehalten werden und sind kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Beharrlichkeit ist gefragt.

Die Logik des Revolutionärs

Im weiteren Verlauf spitzt sich die Dramatik zu. Sie betrifft das Verhältnis von Revolution und Barmherzigkeit. Der Sitz im Leben ist unschwer in der Auseinandersetzung des jungen Priesters Karol Wojtyła mit dem Marxismus-Leninismus zu erkennen, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum ideologischen und gesellschaftlichen Gestaltungsprinzip Volkspolens wurde – und damit zu einer ernsten Herausforderung für den christlichen Glauben. Diese Auseinandersetzung findet in den Gesprächen zwischen Adam und dem Unbekannten, einem Prototyp des Revolutionärs, ihren Ausdruck. Dieser hatte sich gleichfalls in Adams Atelier eingefundene und den Gesprächen zugehört, doch ohne sich einzumischen. Erst als die Gäste den Raum verlassen hatten, sucht er das Gespräch mit Adam. In ihm sieht der Unbekannte einen möglichen Verbündeten, der – anders als seine Freunde – der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber nicht gleichgültig zu sein scheint, sondern – wie er selbst – von einem inneren Zorn ergriffen. Er spürt, dass Adam nach Wegen sucht, mit diesem Zorn umzugehen, dass er die Möglichkeit erwägt, ihm in seiner Kunst Ausdruck zu verleihen. Doch das sei, wie der Unbekannte Adam wissen lässt, der falsche Weg. Es komme vielmehr darauf an „dass er endlich losbricht“ (45). Und als Adam einige Bettler, die bei ihm anklopfen, bei sich aufnimmt, tadelt der Unbekannte diesen Akt der Barmherzigkeit als „Kraftvergeudung“ sowie als eine verderbliche „Zügelung des Bewusstseins“, die den Ausbruch des Zorns blockiere: „Aha, Barmherzigkeit. Hier ein paar Groschen, dort ein paar Groschen, für das Recht, seine Millionen in aller Ruhe zu besitzen. […] Und dazu zehn, zwölf, sechzehn Stunden übermenschlicher Schufterei für ein paar lumpige Pfennige, für weniger als das Recht auf Leben, für die Hoffnung eines zweifelhaften Trostes drüben – die nicht das geringste ändert, die nur seit Jahrhunderten den gewaltigen, herrlichen Ausbruch menschlichen Zorns aufhält – eines menschlichen, schöpferischen Zorns“ (47f.). Es ist dies die marxistische These von der Religion als Opium des Volkes, einer Religion, die mit ihrer Vertröstung einer Welt frei von Ausbeutung und menschlicher Entfremdung im Wege stehe.

Auch die Revolution hat ihre Ratio, ihre unbestreitbare Logik. Sie besitzt im „großen Zorn“, der sich an den Ungerechtigkeiten dieser Welt entzündet, ihren objektiven Grund. Keines der revolutionären Argumente wird von Adam polemisch bestritten, auch nicht der religionskritische Einwand, die Mildtätigkeit stabilisiere nur ein ungerechtes System. Erst mit dem Gewicht ihrer Argumente wird die Revolution zu einer Herausforderung der Barmherzigkeit.

„Arme habt ihr immer…“

Wie reagiert Adam auf diesen Aufruf zur Revolution? Nicht indem er die Argumente des Unbekannten polemisch zurückweist, sondern mit einer erneuten inneren Erschütterung; indem er „mit tonloser Stimme und tiefer Traurigkeit“ den Redefluss des Unbekannten unterbricht: „ … Arme habt ihr immer bei euch … doch mich habt ihr nicht immer…“; indem er sein Gesicht in beide Hände birgt und zur Bank taumelt. „… Arme habt ihr immer… – mich nicht … – Wie furchtbar das alles, mein Herr!“ Damit endet der erste Akt.

Es ist die Schlüsselszene des Dramas. Der Fremde hat Adam das ganze, auf einen revolutionären Wandel drängende menschliche Elend vor Augen geführt. Ihm ist der Ernst der Situation durchaus bewusst; er weicht ihm nicht aus, antwortet darauf aber mit dem Jesuswort aus der bei den Synoptikern und Johannes überlieferten Salbung in Bethanien. „Arme habt ihr immer bei euch“ – in jedem politischen System. Keine Revolution wird eine Welt ohne Armut schaffen können. Eine ebenso nüchterne wie schockierende Erkenntnis. Und sie wird noch verschärft durch den Nachsatz: „Doch mich habt ihr nicht immer…“ Eine Welt der Armen ohne den, der um ihretwillen in die Welt kam?

Wer die biblische Szene von der Salbung in Bethanien unvoreingenommen liest, wird sie wohl kaum so verstehen, wie Adam sie begreift. Sie liest sich zwar als eine Zurechtweisung der Jünger, die mit Unmut auf die verschwenderische Salbung reagieren, hätte man doch mit der dafür aufgebrachten Summe vielen Armen helfen können. Für Adam werden diese Worte aber zu einem Augenblick plötzlicher Hellsichtigkeit. „Arme habt ihr immer bei euch…“ Er findet in ihnen die Bestätigung für das vom Unbekannten vor ihm ausgebreitete Elend, doch er erfasst sie nicht aus der Perspektive des Revolutionärs, sondern – verbunden mit dem zweiten Satzglied „doch mich habt ihr nicht immer…“ –  als Anspruch, an Stelle von Jesus und in seinem Geist den Armen zu dienen. Es ist eine Erkenntnis, die einer Offenbarung gleichkommt und eine innere Wandlung bewirkt, einen tiefgreifenden Einschnitt, der das bisherige Leben in Frage stellt und eine neue Existenzform verlangt. Adam erlebt in diesem Augenblick seine Bekehrung zu wahrer Barmherzigkeit.

Derlei Bekehrungen sind ein gnadenhaftes Geschehen, das man zwar annehmen, nicht aber von sich aus herbeizaubern kann. Der heilige Franziskus, Mutter Teresa und manch anderer Heiliger haben diese Erfahrung gemacht. Auch wenn wir sie nicht einfach nachvollziehen können, als wegweisende Orientierung hat sie auch für uns ihre Gültigkeit.

Eine Phase innerer Kämpfe

Der Moment der Erleuchtung ist der Beginn eines mühseligen Weges zu neuer Selbstfindung. Adam erreicht sie nur um den Preis innerer Kämpfe, mit denen die erfahrenen Erschütterungen verarbeitet werden und sich die innere Zerrissenheit zu einer neuen Ganzheit fügt. Damit bildet dieser Prozess das Zentrum der von Adam durchlebten dramatischen Spannung. Sie nimmt denn auch die Mitte dieses Dreiakters ein. Dabei geht es um die Lösung des Widerstreits zwischen Vernunft und Liebe. So bekennt Adam in der Beichte: „Meine größte Versuchung ist der Gedanke, man könne mit der bloßen Vernunft lieben. Allein mit ihr. Dass dies genüge“ (67).

Den Konflikt zwischen Vernunft und Liebe trägt Adam in dreifacher Hinsicht aus: Im Verhältnis zu den Bettlern und Obdachlosen, in Auseinandersetzung mit seiner Kunst sowie – letztlich und entscheidend – in Überbietung der Logik der Revolution durch Barmherzigkeit.

Das Ungenügen bloßer Mildtätigkeit

Die Erfahrung, die Adam in der Aufwärmhalle macht, ist sehr widersprüchlich: Er findet nicht nur Dankbarkeit für die Kleidung und Nahrung, die er den Armen bringt. Einige der Bettler und Obdachlosen sind gewaltbereit und möchten am liebsten „dem Stadtpräsidenten und all diesen Herren von der Armenpflege die Scheiben“ einschmeißen (51). Andere haben sich resignierend mit ihrem Schicksal abgefunden. Kommt Adam mit seinen Spenden, dann streiten sie regelmäßig heftig um die besten Sachen und gieren nach mehr. Ja, er erregt als „Wohltäter“ sogar Anstoß, wird abgewiesen: „Dieses Gesindel sitzt in den Palästen, hat’s mollig warm, tanzt, scherzt und kippt von Zeit zu Zeit ein Likörchen. Und wenn diesen Leuten hin und wieder die Idee zu einem solchen Ausflug in den Kopf kommt, dann werfen sie dir ein paar Knochen vor. […] Und du verbeugst dich brav, nennst sie Wohltäter und küsst ihre Hand“ (57). Derlei Ausbrüche zeigen, dass sich die Armen in ihrem Stolz verletzt fühlen. Sie als „Arme“ und „Bettler“ zu bezeichnen, hieße, sie „ins Gesicht spucken. Wir sind, mein Herr, keine berufsmäßigen Bettler. Wir sind Opfer einer Ordnung, eines Systems – wie Sie wollen“ (73).

Angesichts solcher Reaktionen ist Adam zunächst ratlos. Doch ausgerechnet die Worte der Abweisung helfen ihm weiter, indem sie seinen Selbstbetrug entlarven: „Denn ich – das ist wahr – wollte mich freikaufen… Hier einen Mantel, dort einen Laib Brot, hier jemand für ein Nachtlager… Doch das alles bedeutet nichts… Arme Teufel, Bettler, Landstreicher bleiben sie ohnehin…“ (76). Insofern stimmt Adam mit dem Unbekannten überein: Bloße Mildtätigkeit ändert an der Situation der Armen rein gar nicht; sie bleiben, was sie sind. Nicht anders der Wohltäter. An Adam gewandt sagt der Unbekannte: „Du bist der geblieben, der du warst. Ein Patron der Bettler an den Straßenecken und vor den Kirchtüren. Du bist nicht über den Bannkreis deines Ichs hinausgekommen, nicht zum Vorbild freier Menschen gereift“ (87). Nur die Konsequenz, die Adam daraus zieht, ist gegenüber dem Revolutionär eine andere.

Das Ungenügen der Kunst

Normalerweise verarbeiten wir uns belastende Erfahrungen im Rahmen unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten. So hat denn auch Adam seinen Erlebnissen in der Aufwärmhalle in dem Gemälde „Ecce Homo“ Ausdruck verliehen. Ein Bild des leidenden Christus-Menschen, in seiner Seele gereift als „Vision der Verlassenen“ (64). Doch in innerer Zwiesprache vor seiner Leinwand spürt Adam ein Unbehagen. Seine Erfahrung mit den Ärmsten der Armen, die sich im Bildnis des „Ecce Homo“ spiegelt, verlangt mehr als nur nach einem künstlerischen Ausdruck. Adam durchlebt eine tiefe Krise: „Ich kann nicht mehr. Kann nicht. Außerdem brauchen sie mich nicht. Ganz gewiss. Sag, wo ist mein Weg? […] Sag mir, was wird aus mir, wozu bin ich noch nütze, wenn du mein Bild verwirfst, und sie verwerfen mich?“ (65). In der Beichte bekennt er die Not seines inneren Zwiespalts zwischen seiner Berufung als Künstler und dem Anspruch der Armen: „Ich kann schließlich nicht beides gleichzeitig lieben, denn lieben kann ich nicht nur halb. Für mich ist dies wie der Sog zweier Abgründe“ (69). Darauf hat der Priester die eine Antwort: „Überlass dich der formenden Kraft der Liebe“ (70).

Zwischen den Lebensschicksalen von Adam Chmielowski und Karol Wojtyła gibt es eine innere Verwandtschaft. Auch der Autor dieses Dramas ist Künstler. Zwar kein Maler, wohl aber Literat und Schauspieler. Als Student der Polonistik hatte Karol Wojtyła bereits zwei Dramen verfasst und in einem Untergrundtheater mitgewirkt. Ähnlich wie Adams Freunde waren auch die seinen irritiert, als sie von der Entscheidung ihres Kollegen erfuhren, Priester zu werden. So wie jener hatte auch er sich durch innere Kämpfe zu seiner geistlichen Berufung durchringen müssen. Damit trägt dieser Teil des Dramas nicht nur biografische, sondern zudem autobiografische Züge.

Das Ungenügen der Revolution

Der Unbekannte ist nicht nur Adams Gegenspieler. Er hat ihn auch zur Erkenntnis verholfen, dass bloße Mildtätigkeit nicht genügt. Und für diese „Offenbarung“ ist Adam ihm dankbar. Doch sie ist zugleich der Punkt, an dem sich beider Wege scheiden in den des „großen allgemeinen Zorns“ (100) und in den der „BARMHERZIGKEIT“ (101). Die Revolution scheitert an ihrem Anspruch, den Menschen „kraft eigenen Zorns“ nicht nur zu vielen, sondern „zu allen Gütern“ zu erheben (100). Dieser Anspruch verlangt nicht nur, er rechtfertigt auch den „großen Zorn“, die gewaltsame Umwälzung aller Verhältnisse, durch die Ausbeutung und menschliche Entfremdung ihr Ende finden sollen; sozusagen die Verheißung eines Paradieses auf Erden. Und was ihr entgegensteht, muss beseitigt werden; auch die Barmherzigkeit. „Sucht keine Barmherzigkeit. Barmherzigkeit erniedrigt euch. Ihr habt sie nicht nötig. […] Nichts aus Gnade. Barmherzigkeit ist der Grauschleier, hinter dem der geheimnisvolle, unbegreifliche Reiche sein wahres Gesicht verbergen möchte. […] Hütet euch vor den Aposteln der Barmherzigkeit. Sie sind eure Feinde“ (94f.). Viele, auch Intellektuelle, sind dieser Verheißung erlegen und mussten bitter erfahren, dass Revolution, die keine Barmherzigkeit kennt, zu einem erbarmungslosen System führt.

Das Ungenügen der Revolution wird daran deutlich, dass sie den Menschen eben nicht zu allen Gütern erheben kann. Denn „das Elend des Menschen ist größer als alle Güter zusammen. […] Ist größer als all das, zu dem sich der Mensch kraft seines Zorns erheben kann.“ Dabei hält Adam fest, dass sich der Mensch „zu allen Gütern erheben soll. Zu allen. Auch zu den größten.“ Aber „hier ist Barmherzigkeit nötig“ (100f.).

Mit der Entscheidung, in den Dienst dieser Barmherzigkeit zu treten, hat Adam den Konflikt zwischen Vernunft und Liebe für sich gelöst. Der zweite Akt endet damit, dass der Unbekannte die Bettler und Obdachlosen, die seinen Worten keinen Glauben schenken, als „Spreu der Revolution“ (98) ihrem Schicksal überlässt. Adam aber bleibt bei ihnen; doch nicht, um lediglich ihr Schicksal zu teilen, sondern um in einem anderen Sinn ihren „Zorn zu erziehen, ihn zu wägen, damit er reift und sich als schöpferische Kraft erweist“ – im Gegensatz zu denen, die „diesen Zorn ausbeuten“ und „missbrauchen“ (101).

Den Konflikt zwischen Vernunft und Liebe erlebt jeder auf die eine oder andere Weise in seinem Leben. Dem Ruf der Liebe zu folgen, erscheint oftmals als höchst unvernünftig. Beispiele gibt es in den klassischen Liebesgeschichten zur Genüge – sowohl in dem Sinn, dass sich jemand gegen alle Vernunft für die Liebe entscheidet und dafür oftmals einen hohen Preis zahlt, als auch in den Fällen, wo einer sich aus Vernunftgründen dem Anspruch der Liebe verweigert. Ähnliches gilt für den Ruf der Barmherzigkeit. Wie oft gehen wir achtlos an der ausgestreckten Hand einer Bettlerin vorbei – aus purer Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit, weil wir uns einreden, sie sei für ihren Clan auf die Straße geschickt worden, und der Tagesertrag fließe in die Taschen der reichen Bosse; oder weil wir uns damit beruhigen, dass schließlich die Sozialämter zuständig sind und es daher der Bettelei gar nicht bedarf. Gründe lassen sich immer finden. Und auch das Ungenügen am eigenen Beruf ist gar nicht so selten. Nicht weil es an der nötigen Leistung fehlen und sich aus diesem Grund das Gefühl von Unzufriedenheit einstellen würde, sondern aus dem Gespür, dass Leistung allein, mag sie noch so gut sein, keine letztliche Erfüllung verbürgt. Berufliche Befriedung ist auch von dem mit dem Beruf gegebenen menschlichen Umgang abhängig, und da gibt es reichliche Möglichkeiten, anderen und sich selbst gegenüber barmherzig zu sein.

Eine Bruderschaft der Armen für die Armen

Adam Chmielowski legte 1888 als Bruder Albert die Gelübde der Armut und Enthaltsamkeit ab und nahm in Krakau unter der Devise „jedem Hungernden Brot, jedem Obdachlosen eine Bleibe, jedem Nackten Kleidung“ eine karitative Tätigkeit auf. Aus diesen Anfängen erwuchs eine bis heute fortwirkende Ordensgemeinschaft mit männlichem und weiblichem Zweig. Diesen Stoff greift Karol Wojtyła im letzten Akt seines Dramas auf und gestaltet einen der letzten Tage im Leben des 1916 verstorbenen Bruders der Armen. Dabei kommen keine neuen Aspekte zur Sprache, sondern dieser eine Tag erscheint „als Widerhall früherer Kämpfe; er beschließt das Drama nicht eigentlich, sondern erschließt es noch einmal in seiner tiefen, unter dem Lauf der Ereignisse beruhigten Gestalt“ (105).

So ist es die Intention des Autors, den unter der Spannung zwischen der von der Vernunft gebotenen Selbstbewahrung und der sich preisgebenden Liebe stehenden Prozess menschlicher Selbstfindung und geistlicher Berufung nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern als etwas zum „festen Bestand des Lebens“ Gehörendes zu verdeutlichen.

Aus den Bettlern und Obdachlosen ist eine Gemeinschaft von Brüdern geworden. Karol Wojtyła zeichnet nicht das Bild einer Idylle, sondern einer durch Krisen angefochtenen Gemeinschaft: „Bruder Albert, was ist das für ein Los, das Ihr uns zuteilt? Warum gebietet Ihr uns Armut und Bettel?“ (121). Vernünftige Fragen, deren Antwort aber jenseits der Vernunft liegt. Albert verweist darauf, dass sich in ihnen und durch ihr Gelübde der frühere Hass auf die Armut in Liebe zu ihr gewandelt habe. Doch letztlich hilft allein der Blick auf „das dunkle Kreuz in der Mitte des Raumes“ (124).

Auch das Motiv der Spannung zwischen Kunst und Barmherzigkeit wird erneut aufgegriffen. Hubert, Künstler wie Adam, doch Literat und Komponist, begehrt Aufnahme in die Gemeinschaft der Brüder. Es entspinnt sich ein längeres Gespräch, an dessen Ende der junge Mann von Bruder Albert abgewiesen wird – zu weiterer Suche nach seinem Weg.

Schließlich begegnet auch das Thema des „großen Zorns“ wiederum. Diesmal in Form seines Ausbruchs, denn in Krakau kommt es zu Unruhen der Arbeiter, gleichsam ein Vorschein der 1918 ausbrechenden Oktoberrevolution. Für Bruder Albert ist dies keine Überraschung: „Ich habe seit langem davon gewusst. Es musste kommen“ (126). Dieser Zorn hält an, „denn er ist berechtigt“ (127). Dies ist der vorletzte Satz des Dramas. Ihm folgt als Schlusssatz: „Eines jedoch weiß ich sicher: Ich wählte die größere Freiheit“ (127).

Barmherzigkeit ist eine zeugnishafte Warnung vor dem Ausbruch von Gewalt; verhindern kann sie diese nicht. Das bringt auch Papst Franzskus in seinem Apostolischen Schreiben zum Ausdruck: „Solange die Ausschließung und die soziale Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen“ (EG 59). Überhaupt zeigt Evangelii Gaudium eine Nähe zu dem Drama seines Vorvorgängers. Gleich einleitend heißt es: „Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr. […]“ (EG 2). Liebe und Barmherzigkeit verlangen, „aus sich selbst“ herauszugehen, „um das Wohl aller zu sichern“. Und Franziskus fordert dieses Aus-sich-herausgehen für die Kirche insgesamt. Versagt sie sich diesem Anspruch, dann „riskiert das moralische Gebäude der Kirche, ein Kartenhaus zu werden, und das ist unsere größte Gefahr“ (EG 39). Daher ist dem Papst eine „ ,verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit […] krank ist“ (EG 49). Und in Zusammenhang mit seiner Anklage einer Wirtschaft, die in Folge sozialer Ungleichheit einem Teil der Gesellschaft den Wohlstand sichert, während der andere Teil davon ausgeschlossen wird, heißt es: „Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, […] hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, […] als sei all das eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht“ (EG 54).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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[1] Mechtenberg-Polen Blog: atmech1.wixsite.com/mechtenberg-polen/
[2] Veröffentlichung auf Deutsch: Der Bruder unseres Gottes, in: Karol Wojtyła: Der Bruder unseres Gottes. Strahlung des Vaters. Zwei Dramen. Übertragung ins Deutsche von Theo Mechtenberg, Herder 1981, S. 9-127. Auf diese Ausgabe beziehen sich die in Klammern gesetzten Seitenangaben im nachfolgenden Artikel.

„Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche“

In einem Offenen Brief hat der Regensburger Bischof Voderholzer auf den Textentwurf des Synodalforums III reagiert, in dem es um die Thematik Frauen und Ämter geht. Er protestiert, da entgegen ausdrücklicher Vereinbarungen eine biblische Grundlegung mitgeliefert wurde, die erst im Zusammenhang mit dem Gesamttext beraten werden sollte. Doch wendet er sich auch inhaltlich gegen die gemachten Aussagen. Ein Auszug.

Von Bischof Rudolf Voderholzer, Regensburg

Noch größer war die Überraschung, als ich dann im Text lesen musste: „Jesus hat Jüngerinnen und Jünger, weiht niemanden.“ Was soll eine solche Aussage? Genauso gut müsste man auf dieser Ebene dann sagen: „Jesus tauft auch niemanden, er firmt niemanden, geht auch sonntags nicht zur Messe, usw.“ Dass die Sakramente der Zeit der nachösterlichen Kirche zugehören, wird verschleiert. Dass es in der Theologie aber eine sehr differenzierte Reflexion auf die Frage der Einsetzung der Sakramente gibt, wird ignoriert.

Um dies nur kurz anzudeuten: Der Markus-Evangelist benutzt Schöpfungsterminologie, wenn er von der Konstitution des Zwölferkreises spricht! In einer für die biblische Grundlegung des Weihesakramentes ganz entscheidenden Stelle heißt es im Zusammenhang des Wirkens des vorösterlichen Jesus in Mk 3,13f.:

„Jesus stieg auf einen Berg und rief die zu sich, die er selbst wollte, und sie kamen zu ihm. Und er setzte zwölf ein (epoiêsen dôdeka), damit sie mit ihm seien und damit er sie aussende…“ Dann folgt eine Liste mit den Namen der zwölf, die der Lukas-Evangelist dann bekanntlich mit den Aposteln im engeren Sinne identifiziert. Ihnen gilt auch die Zusage: „Wer euch hört, der hört mich“ (Lk 10,16). Mit diesen Zwölf wird er auch das Letzte Abendmahl begehen, in dessen Rahmen er in den Zeichenhandlungen des Brotbrechens und des Erhebens des Kelches sein Kreuzesopfer unblutig vorwegnimmt und für die Zeit der Kirche die Feier der Eucharistie als Vergegenwärtigung seines Todes und seiner Auferstehung einsetzt. Papst Franziskus hat erst jüngst in Übereinstimmung mit der gesamten Lehrtradition der Kirche in Nr. 101 des Nachsynodalen Schreibens „Querida Amazonia“ festgestellt: „Jesus Christus zeigt sich als der Bräutigam der Eucharistie feiernden Gemeinschaft in der Gestalt eines Mannes, der ihr vorsteht als Zeichen des einen Priesters. Dieser Dialog zwischen Bräutigam und Braut, der sich in der Anbetung vollzieht und die Gemeinschaft heiligt, sollte nicht auf einseitige Fragestellungen hinsichtlich der Macht in der Kirche verengt werden“ (QA Nr. 101).

So protestiere ich gegen den Bruch der Vereinbarung im Forum III, die bibeltheologische Grundlegung gemeinsam zu erarbeiten. Ich hoffe nicht, dass hiermit versucht wird, mit einer einseitig verfälschten Bibeltheologie die Teilnehmer der Regionalkonferenzen in eine bestimmte Richtung zu lenken, bzw. sie in falscher Sicherheit zu wiegen. Ich muss zugeben, dass mich ein solches Verhalten sehr enttäuschen und ratlos machen würde. Welcher Geist würde hier dahinter stecken? Wollen wir nicht alle „Mitarbeiter der Wahrheit“ (3 Joh 8) sein, besonders in den Beratungen des Synodalen Weges?

Mehr noch verwahre ich mich inhaltlich gegen den in der oben zitierten Formulierung zum Ausdruck kommenden Argumentationsstil, der jedes theologische Niveau vermissen lässt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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Johannes Paul II. und Therese von Lisieux

Allein die Liebe rettet

Am 19. Oktober 1997, dem Weltmissionssonntag, erhob Papst Johannes Paul II. die hl. Therese von Lisieux (1873-1897, Festtag: 1. Oktober) zur Kirchenlehrerin. Am selben Tag veröffentlichte er dazu das Apostolische Schreiben „Wissenschaft der göttlichen Liebe“. Schon am 24. August 1997 hatte er zum Abschluss des Weltjugendtags in Paris beim Angelus erklärt: „Ich habe Wert darauf gelegt, diesen Akt hier feierlich anzukündigen, denn die Botschaft der heiligen Therese, dieser in unserer Zeit so sehr gegenwärtigen jungen Heiligen, ist besonders für euch Jugendliche geeignet."[1]

Von Monika-Maria Stöcker

Täglich erfahren wir durch die Medien, dass unsere Welt „aus den Fugen“ geraten ist: Die wunderbare Schöpfung Gottes hat durch das unverantwortliche Handeln von Interessengruppen ihr Gleichgewicht verloren; Macht-, Profit- und Geldgier, Werteverfall, Glaubensabfall, Sinn- und Orientierungslosigkeit, Drogenabhängigkeit und ein unscheinbarer Virus namens Corona bestimmen das Leben; auch unsere geliebte Kirche scheint nicht mehr der sichere „Hafen“ zu sein, in dem wir uns bisher geborgen fühlten. Ist das die objektive und einzige Sichtweise? Dann hätten wir wirklich allen Grund, den „Kopf in den Sand“ zu stecken und zu resignieren. Wir können aber auch eine andere Sichtweise einnehmen, nämlich die Situation, in der wir uns befinden, mit den Augen der hl. Therese von Lisieux betrachten.

Hundert Jahre nach ihrem Tod hat Papst Johannes Paul II. am 19. Oktober 1997 bei einem feierlichen Gottesdienst auf dem Petersplatz in Rom die hl. Therese von Lisieux zur Kirchenlehrerin erhoben. Viele fragten sich: Wie ist das möglich? Sie hat keine Theologie studiert und kein gelehrtes Buch geschrieben, sondern nur ein paar Hefte mit ihrer Lebensbeschreibung, Briefe, Gedichte, Gebete, Theaterstücke und „letzte Worte“ hinterlassen. Aber was Therese geschrieben und gesagt hat, ist ein wunderbares Zeugnis der BARMHERZIGEN LIEBE GOTTES, die sie in ihrem Leben erfahren hat und in Ewigkeit besingen will. Sie beschreibt den „Kleinen Weg der Liebe“ im Alltag als einen für alle Menschen gangbaren Weg. Es ist ein Weg, der durch alle Wirrnisse und Dunkelheiten der Zeit – damals wie heute – ein sicherer Weg zur Heiligkeit und in die himmlische Heimat ist. Ihre Beziehung zur Kirche, in der es auch in ihrer Zeit so manche Schwierigkeiten gab, drückt sie in den Worten aus: „Im Herzen der Kirche, die meine Mutter ist, werde ich die Liebe sein, so werde ich alles sein.“ Die hl. Therese war sich bewusst, die LIEBE ALLEIN ist die reinigende und erneuernde Kraft in Kirche und Gesellschaft. Durch ihr beispielhaftes Leben und ihre Lehre ist sie für alle Zeiten ein strahlendes Licht der LIEBE und der WAHRHEIT.

In seiner Predigt am Tag der Ernennung zur Kirchenlehrerin hob Papst Johannes Paul II. hervor, dass trotz ihres jungen Alters die Einblicke Thereses in die Wahrheit des christlichen Glaubens von außergewöhnlicher Tiefe seien. Am selben Tag veröffentlichte er das Apostolische Schreiben DIVINI AMORIS SCIENTIA (= Wissenschaft der göttlichen Liebe). Darin heißt es: „Die Wissenschaft der göttlichen Liebe, die der Vater des Erbarmens durch Jesus Christus im Heiligen Geist ausgießt, ist ein Geschenk, das den Kleinen und Demütigen gewährt wird, damit sie die Geheimnisse des Gottesreiches, die den Gelehrten und Weisen verborgen sind, erkennen und verkünden… Die geistliche Lehre Thereses von Lisieux hat zur Ausbreitung des Reiches Gottes beigetragen. Mit ihrem Beispiel der Heiligkeit, der vollkommenen Treue zur Mutter Kirche, der Gemeinschaft mit dem Stuhl Petri wie auch mit den besonderen Gnaden, die sie für viele Missionare und Missionarinnen erlangte, hat sie einen außerordentlichen Dienst für die erneuerte Verkündigung und Praxis des Evangeliums Christi und für die Ausbreitung des katholischen Glaubens unter allen Völkern der Erde geleistet…“

Obwohl die hl. Therese als Karmelitin ihr Kloster niemals verlassen hat, verbreitete sich ihre Botschaft von der BARMHERZIGEN LIEBE GOTTES und vom KLEINEN WEG DER LIEBE in Windeseile um die ganze Welt. Unzähligen Menschen war und ist sie Lehrerin des Glaubens, Wegbegleiterin und Licht auf ihrem alltäglichen Lebensweg.

Das „Theresienwerk e.V.“ mit Sitz in Augsburg, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Botschaft und Lehre der hl. Therese durch Literatur, Exerzitien, Einkehr- und Begegnungstage bekannt zu machen. Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit als Referentin im Theresienwerk (1991-2004) durfte ich den Wunsch der theresianischen Jugendgruppe „Die Flamme“ erfüllen und ein Buch für junge Menschen schreiben: „Das Abenteuer einer großen Liebe – Therese von Lisieux“. Ich bat die hl. Therese, meine Hand zu führen. Zwei Anliegen waren mir wichtig: die Sprache der jungen Menschen unserer Zeit zu treffen und die hl. Therese so darzustellen, wie sie wirklich war. Das Buch trägt den Untertitel: „Nicht nur für junge Leute“. Viele Erwachsene, unter ihnen Bischöfe, Priester und Theologen, haben es gelesen und ihre Freude und Dankbarkeit schriftlich zum Ausdruck gebracht, nicht zuletzt auch Papst em. Benedikt XVI. Inzwischen ist es in zehn Sprachen übersetzt. Wenngleich ich als Autorin des Buches gelte, habe ich den starken Eindruck, dass die hl. Therese sich meiner bedient hat und darum die eigentliche Autorin ist.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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[1] Monika-Maria Stöcker: Das Abenteuer einer großen Liebe – Therese von Lisieux (1873-1897), geb., 230 S., ISBN 978-3-7902-2102-2 Euro 7,00 – Bestell-Tel.: 0651-4608-121, Mail: buchversand@paulinus-verlag.de, paulinus-verlag.de

Der Zwölfer-Kreis hat sich mit der „Mariahilfkirche Luzern“ geschlossen

Nun leuchten alle Sterne

Am Samstag, den 18. Juli 2020, wurde das zwölfte Heiligtum in die Gebetsgemeinschaft „Maria – Mutter Europas“ aufgenommen und damit der von P. Notker Hiegl OSB geplante 12-Sterne-Kranz vollendet. Es handelt sich um die Mariahilfkirche in Luzern, der im Rahmen eines Festgottesdienstes die Ehrenplakette „Maria Mater Europae“ überreicht werden konnte.

Von Notker Hiegl OSB

Richte deinen Blick auf Maria

Bischof Dr. Viktor Josef Dammertz OSB (1929-2020) rief in seiner Predigt zur Einweihung der Kapelle „Maria Mutter Europas“ auf dem Gnadenweiler bei Beuron am 9. Juni 2007 in Erinnerung: „Papst Johannes Paul II. hat immer wieder betont, dass Europa seine christliche Seele wiederentdecken müsse. Ein Abschied vom Christentum oder auch nur eine spürbare Verflüchtigung christlicher Substanz würde unserer europäischen Identität, unserer Kultur und unserem Zusammenleben in der Gesellschaft einen schweren Schaden zufügen… Gerne greifen wir den Wunsch von Papst Johannes Paul II. (inzwischen heiliggesprochen) auf, der uns zugerufen hat: Kirche in Europa, richte deinen betrachtenden Blick auf Maria und erkenne, dass sie mütterlich und teilnahmsvoll anwesend ist bei den vielen Problemen, die heute das Leben des Einzelnen, der Familien und der Völker begleiten (Ecclesia in Europa, 124).“ Auch Papst Benedikt XVI. hat immer wieder dazu aufgerufen, dass Europa „seine Seele nicht verlieren möge“. Den Blick Europas auf Maria, die Frau der Offenbarung (Offb 12,1-6), zu lenken, ist Kernpunkt unserer ganzen 12-Sterne-Aktion.

Vom Jahr 2007 an haben sich der Reihe nach Heiligtümer in verschiedenen Ländern Europas unserer Initiative angeschlossen. Zunächst hielten wir Ausschau nach den Rändern des Kontinents und begründeten eine Partnerschaft mit Beresniki (Rebinina)/Russland im Nordosten, Gibraltar im Südwesten, Reykjavik/Island im Norden und Mellieħa/Malta im Süden. Nachdem wir dieses Kreuz über Europa gelegt hatten, folgten mit Gottes Hilfe Buchboden im Gro-ßen Walsertal/Österreich, Pannonhalma/Ungarn, Doroslo/Serbien, Charkiw/Ukraine, Schauenberg im Elsass/Frankreich, Oppeln/Polen und schließlich jetzt die Mariahilfkirche in Luzern/Schweiz. Alle Kapellen und Kirchen wurden mit dem Segen des jeweils zuständigen Diözesanbischofs aufgenommen.

Mariahilfkirche Luzern im Bistum Basel

Bei einem Besuch in Flüeli lernte ich den Schönstatt-Priester P. Rene Klaus kennen, der zugleich Rector ecclesiae der Mariahilfkirche in Luzern ist. Nach einem Gespräch mit Bischof Felix Gmür teilte er mir mit, dass er das Heiligtum für die Friedensmission „Maria – Mutter Europas“ zur Verfügung stellen kann: „Das Gebet für die Völker Europas für Frieden und Evangelisierung unterstützt der Bischof von Basel. In den vergangenen Jahrhunderten durften Menschen in Europa immer wieder den Schutz der Gottesmutter Maria erfahren. Sie auch künftig um ihren Schutz und ihre Fürbitte anzurufen, bleibt wichtig. Die Mariahilfkirche in Luzern wird seit 2012 als ‚Haus und Schule des Gebetes‘ vom Verein „Pro Mariahilfkirche Luzern“ getragen. Gebetsanliegen sind hier also gut aufgehoben. Der Bischof von Basel stimmt der Aufnahme der Mariahilfkirche Luzern in den Kreis der Kirchen, die zum Gebetsnetz ‚Maria Mutter Europas‘ gehören, zu.“

Ausstrahlungsort der Ursulinen

Die Kirche ist ein Denkmal von nationaler Bedeutung für die Schweiz. Der gewaltige Gebäudekomplex mit Kloster, Schule und Mariahilfkirche über der Stadt Luzern ist Ausdruck der Gegenreformation in der Innerschweiz. Der Zwinglianismus und der Calvinismus hatten sich besonders der Stadtkantone bemächtigt. Von 1676 bis 1684 ließen Ursulinen in drei Etappen Pensionatsflügel, Kirche und Klosterflügel erbauen. Der Mariahilf-Komplex war neben der Hofkirche weiter unten am Hang und der Jesuitenkirche auf der gegenüberliegenden Seite der Reuss ein weiteres Zeugnis für den Anspruch der Stadt Luzern, missionarisches Zentrum zur Erhaltung des katholischen Glaubens in der Eidgenossenschaft zu sein. Die Ursulinen hatten sich bereits 1659 in Luzern angesiedelt und sich gemäß ihrem Auftrag hauptsächlich der Ausbildung von Mädchen und jungen Frauen gewidmet. Sie unterhielten eine unentgeltliche Töchterschule, ein Pensionat für adelige Töchter, eine Sonntagsschule für Frauen und Mägde und ein Seminar für Lehramtskandidatinnen, die zumeist Novizinnen waren.

Unter den Schwestern ragte besonders die mystisch begnadete Sr. Euphemia Dorer (1667-1752) hervor. Ihre Visionen und ihre Stigmatisation am Fronleichnamsfest 1697 machten sie in Luzern und später auch an ihrem neuen Wirkungsort Freiburg im Breisgau zur Symbolfigur der Volksmission und der Herz-Jesu-Verehrung, die dabei eine wichtige Rolle spielte. Heute noch weisen Bilder und ein geschnitztes Herz Jesu über dem Tabernakel in der Mariahilfkirche auf diese Zeit hin.

Weitere Entwicklung dieses Heiligtums

Nach dem Überschwappen der Französischen Revolution 1798 auf die Eidgenossenschaft beendete die Säkularisation das gesegnete Wirken der Schwestern. Die helvetische Regierung bestimmte Luzern zum Sitz der neuen Regierung und den Mariahilf-Komplex zum Versammlungsort des helvetischen Großen Rates. Das Schiff der Kirche wurde in einen Plenarsaal umgebaut und in den weiträumigen Klostertrakten wurden Kanzleien, Archive und die Staatsdruckerei untergebracht. Doch noch ehe die konstituierende Sitzung stattfand, verlegte die Regierung im Zug der Kriegswirren ihren Sitz 1799 nach Bern, wo sie sich bis heute befindet. 1843 durften die Ursulinen zwar wieder zurückkehren, mussten jedoch schon vier Jahre später die Stadt während des Kulturkampfs endgültig verlassen. Schließlich war am 8. Dezember 1947 in der Mariahilfkirche die letzte hl. Messe gefeiert worden. Während in unserer Zeit über eine Profanierung nachgedacht wurde, bildete sich 2008 aus einer Gruppe von überzeugten Katholiken, darunter zwei Priestern und einem Diakon, der Verein „Pro Mariahilfkirche Luzern“. Er setzt sich für die Erhaltung und Wiedereröffnung der Kirche ein.

Ehrentitel „Maria Mutter Europas“

Hauptzelebrant beim Festgottesdienst zur Verleihung des Ehrentitels „Maria Mutter Europas“ am Samstag, den 18. Juli 2020, war P. Rene Klaus. Zusammen mit dem Luzerner Stadtpfarrer und Diakon Urban Camenzind vom Verein „Pro Mariahilfkirche Luzern“ durfte ich als Gastprediger konzelebrieren. Zwar unter Corona-Bedingungen, doch unter Glockengeläut und bei schönstem Sommerwetter versammelten sich etwa 80 Gläubige. Der Hauptaltar mit dem Mariahilf-Bild (erweitertes Lukas-Cranach-Bild) und seinen vier schwarzen Marmorsäulen strahlte im Scheinwerferlicht, der Volksaltar war geschmückt mit einer Rosenborde, darunter das neue wertvolle und schmucke Fürbittbuch mit Goldschrift, daneben die erste große Votivkerze und darüber die zwölfte blaue Emaille-Plakette „Maria Mater Europae“. Pater Rene nahm die Segnung der Tafel mit einem eigens zu diesem Anlass verfassten Weihegebet vor:

Maria, du Hilfe der Christen, du Mutter Europas, wie die Jünger nach der Himmelfahrt sich um dich versammelten und im gemeinsamen Gebet den Heiligen Geist empfingen, so mögen sich alle Menschen und Völker Europas um dich sammeln und in gläubigem Gebet verharren. Wir sind sicher, dass solchem Gebet der verheißene Heilige Geist geschenkt wird. Möge dieses Gebet besonders gepflegt werden in den dir, Mutter Europas, geweihten Kapellen und Kirchen. Wir selber stellen uns ganz in deinen Dienst. Gib, dass an deiner Hand und unter deinem Schutz Europa wieder christliches Land werde. Führe uns und viele den Pilgerweg des Glaubens, dass wir das verheißene Ziel des ewigen Lebens erlangen. Amen.

Nach dem Gottesdienst wurde die Tafel unter dem Beifall der Gläubigen an der Außenmauer befestigt. In froher Atmosphäre klang der bedeutungsvolle Tag bei Speis und Trank aus.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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100 Jahre Gnadenbild von Fatima

„In Weiß gekleidet“

Pfarrer Jörg Fleischer (geb. 1982) erinnert an die Entstehung des Gnadenbilds von Fatima vor 100 Jahren und weist auf die geistlichen Impulse hin, die von der Statue ausgehen. Papst Johannes Paul II., der Fatima dreimal besuchte, schenkte auch der Statue große Aufmerksamkeit. Am 15. Mai 2019 sagte Papst Franziskus bei der Generalaudienz: „Der 13. Mai ist der Tag, welcher der ersten Erscheinung Unserer Lieben Frau von Fatima gedenkt. Am gleichen Tag fand das Attentat auf das Leben des hl. Johannes Paul II. statt. Erinnern wir uns an seine Worte: ‚In allem, was geschehen ist, sah ich den besonderen Schutz Mariens‘.“ Und aus der Botschaft der Gottesmutter zitierte er: „Ich bin gekommen, um die Menschheit zu bitten, ihr Leben zu ändern und Gott nicht länger mit ihren Sünden zu beleidigen. Die Menschen sollen den Rosenkranz beten und ihre Sünden büßen.“

Von Jörg Fleischer

Fatima ist heute weltbekannt. Unzählige Pilger aus allen Ländern der Erde kommen nach Fatima und sie gehen gestärkt in der Liebe zu Christus und seiner Mutter wieder heim. Fatima ist aber nicht nur einer der großen Marienwallfahrtsorte Europas. Fatima ist eine Botschaft, die sich über die ganze Welt verbreitet hat.  Es ist die Botschaft der Umkehr, des Gebets und der Sühne, die Unsere Liebe Frau den drei Seherkindern anvertraute. Nicht selten wurde die Botschaft der Rosenkranzkönigin zusammen mit einer Darstellung der Madonna von Fatima zu den Menschen getragen. Verstreut über die ganze Welt gibt es tausende Abbildungen der sog. „Fatima-Madonna“ in Kirchen, Kapellen, auf öffentlichen Plätzen und natürlich in den Wohnungen und Häusern der Menschen. In diesem Jahr 2020 feiert diese beliebte Mariendarstellung ihren 100. Geburtstag. Im Jahr 1920 wurde das originale Gnadenbild der Muttergottes von Fatima in einer Bildhauerwerkstatt in Braga/Portugal geschaffen.

Nachdem Unsere Liebe Frau bei der vierten Erscheinung den Bau einer Kapelle gutgeheißen hatte, schritt man zum Bau der heutigen Erscheinungskapelle. Sie wurde 1919 errichtet. Nun brauchte es aber auch eine Statue der Jungfrau von Fatima. Der Konvertit Gilberto Santos aus Torres Novas beauftragte daraufhin im Jahr 1919 die Werkstatt Franzeras aus Braga, eine solche Statue nach den Angaben der Seherkinder anzufertigen. Ein junger Schnitzer namens Santeiro José Ferreira Thedim führte den Auftrag aus. Dieser junge Mann schnitzte aus brasilianischem Zedernholz das gut einen Meter hohe Gnadenbild.

Nach der Fertigstellung kam die Statue zunächst in das Haus von Gilberto nach Torres Novas. Viele Menschen kamen dorthin, um das Bildnis der Himmelskönigin zu bestaunen und davor zu beten. Es kamen sogar so viele Menschen, dass die kirchenfeindlichen staatlichen Behörden verboten, die Statue nach Fatima zu bringen. Das Haus von Herrn Santos wurde polizeilich bewacht. So musste die Statue im Geheimen nach Fatima gebracht werden. Ein alter Bauer, der Vater des Spenders, sah die Schwierigkeiten, in die sein Sohn geraten war. Er legte die Statue in eine alte Kiste, stellte diese auf einen Fuhrwagen im Hof und bedeckte sie mit verschiedenen landwirtschaftlichen Geräten so, dass es aussah, als würde er aufs Feld fahren. Er brachte die Statue nach Fatima, wo sie am 13. Mai 1920 vom Ortspfarrer in der Pfarrkirche gesegnet wurde.

Am 13. Juni 1920 wurde die Statue schließlich erstmals in der Erscheinungskapelle aufgestellt und verehrt. Zunächst brachte man sie nachts noch in das Haus der Maria da Capela, einer Frau, die von Anfang an für die Wallfahrtsstätte sorgte. Man befürchtete, dass die kirchenfeindlichen Kräfte die Kapelle samt der Statue zerstören könnten. Als im Jahr 1922 Sprengsätze die Kapelle zerstörten, zeigte sich, dass die Sorge nicht unbegründet war. Heute aber thront die Königin des Hl. Rosenkranzes Tag und Nacht vor der kleinen Kapelle, am Ort der Erscheinungen, um ihre Kinder aus aller Welt zu empfangen.

Es wird berichtet, dass Lucia nicht sehr zufrieden war mit der Statue, doch wie soll Menschenhand die Königin des Himmels formen? Die Erscheinung war eine Lichtgestalt. Die Kinder sagten über die Erscheinung der Gottesmutter, dass sie strahlender als die Sonne war. Das Licht, in dem Maria erschien, erinnert an das Wort aus dem ersten Johannesbrief: „Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm!“ (1 Joh 1,5). Maria hat ihr Licht von Gott empfangen. Er hat sie erwählt und ohne Erbschuld erschaffen. Mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen, lebt sie in jenem Licht, das er selbst ist.

Das Gnadenbild verließ nur einige Male die Erscheinungskapelle. Man brachte sie nach Lissabon, nach Spanien und auf den Wunsch von Papst Johannes Paul II. 1984 und 2000 nach Rom. Das letzte Mal verließ das Gnadenbild Fatima, als Papst Franziskus am 13. Oktober 2013 die Weltweihe an das Unbefleckte Herz Mariens in Rom erneuerte. Das Gnadenbild von Fatima zählt zu den bekanntesten und populärsten Mariendarstellungen der Gegenwart.

Zahlreiche Kopien, sog. Pilgermadonnen, durchwandern die ganze Welt. Das Heiligtum von Fatima besitzt 13 Pilgermadonnen, die regelmäßig verschiedene Länder und Kontinente besuchen. Die erste dieser Pilgerstatuen wurde am 13. Mai 1947 gekrönt und ausgesandt.  Die Idee einer Pilgermadonna kam aus Deutschland. Ein Berliner Pfarrer hatte die zündende Idee, dass das Gnadenbild der Muttergottes von Fatima alle Länder und Hauptstädte Europas besuchen sollte. Bis zu den Grenzen Russlands sollte die Rosenkranzkönigin getragen werden.

Im gesamten deutschsprachigen Raum finden sich mehrere ältere und neuere Nachbildungen der Madonna von Fatima.

Das Gnadenbild von Fatima hat eine tiefe Symbolik, die uns unsere Taufberufung vor Augen stellt.

Das weiße Kleid

Das weiße Kleid erinnert uns an unser Taufkleid. In der Taufe sind wir alle Kinder Gottes geworden und Gott hat uns die Erbschuld und alle Sünden vergeben. Im Blick auf das Gnadenbild von Fatima wird uns wieder neu bewusst, dass wir erlöst sind und es im Leben von uns Christen darum geht, unsere Taufe zur Entfaltung zu bringen und in Heiligkeit zu leben. Bei der Taufe wurde uns vom Priester zugerufen: „Du bist in der Taufe eine neue Schöpfung geworden und hast – wie die Schrift sagt – Christus angezogen. Das weiße Gewand sei dir ein Zeichen für diese Würde. Bewahre sie für das ewige Leben.“ Das weiße Kleid der Madonna erinnert uns an unsere Würde, die Gott uns geschenkt hat. Das weiße Kleid fordert uns aber auch auf gegen die Sünde und den Schmutz in unserem alltäglichen Leben zu kämpfen. Die Muttergottes ruft deshalb eindringlich zur Umkehr und Buße, um auf dem richtigen Weg zu bleiben.

Die gefalteten Hände und der Rosenkranz

Die Hände der Jungfrau sind zum Gebet gefaltet. Das Gebet ist unsere tägliche Verbindung zu Gott. Im Gebet begegnen wir Gott und sprechen mit ihm wie Kinder mit ihrem Vater. Im Gebet geben wir dem dreifaltigen Gott die Ehre, loben, preisen ihn und beten wir ihn an. Beim täglichen Gebet bringen wir unsere Freuden und Leiden zu ihm und vertrauen ihm unser ganzes Leben an. Das Gebet gehört nicht nur zu unserer täglichen Christenpflicht, sondern ist für unsere Freundschaft mit Gott unerlässlich. Nicht umsonst heißt es, dass das Gebet das Atmen der Seele ist. In jeder der sechs Erscheinungen von Mai bis Oktober 1917 ruft Maria zum täglichen Rosenkranzgebet auf. Bei der letzten Erscheinung im Oktober offenbarte die Senhora ihren Namen: „Ich bin Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz!“ Der Rosenkranz an den Händen der Gottesmutter ist die ständige, mütterliche Einladung, dass wir den Rosenkranz täglich beten sollen.

Die Krone

Im Bericht über das Aussehen der Erscheinung berichten die Kinder nichts von einer Krone am Haupt der Jungfrau. Das Gnadenbild in der Cova da Iria wurde aber am 13. Mai 1946 im Auftrag von Papst Pius XII. zur Königin der Welt gekrönt. Die Krone ist eine Stiftung der Frauen Portugals als Dankesgabe für die Verschonung vor dem II. Weltkrieg.

Die gekrönte Jungfrau hat eine tiefe Botschaft an uns. Im fünften Gesätz des glorreichen Rosenkranzes beten wir: „Der dich, o Jungfrau, im Himmel gekrönt hat.“ Gott hat Maria mit der Krone des ewigen Lebens beschenkt und sie, die treue Magd, mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. In Maria erblickt das ganze pilgernde Gottesvolk die Erfüllung der Verheißung, die Gott uns allen geben hat. Gott will auch uns ewiges Leben und einst die Auferstehung schenken. Im Lukas-Evangelium heißt es: „Selig, die das Wort Gottes hören und befolgen!“ (Lk 11,28). Unsere Liebe Frau sagte am 13. Juli zu den Hirtenkindern: „Am Ende wird mein unbeflecktes Herz triumphieren!“ Diese Verheißung bezieht sich auf die Geschichte der Welt und der Kirche und zugleich auf das Leben jedes Christen. An der Hand der Gottesmutter und durch ihre Botschaft geleitet gehen wir als Glaubende unseren Weg in der Nachfolge ihres göttlichen Sohnes, der auch uns die Krone des ewigen Lebens schenken wird.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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Vom Hirtenmädchen und dem Künstlermönch (5)

Schwester Lúcia fand Gefallen

In der letzten Folge der Artikelserie über die Entstehung der Statue vom Unbefleckten Herzen Mariens am Glockenturm der Rosenkranzbasilika in Fatima findet das Werk seinen glücklichen Abschluss. Prof. Dr. Wolfgang Koch und seine Frau Dorothea, die die Geschichte in fünf Beiträgen zusammengefasst haben, halten den Bericht des Künstlermönchs P. Thomas McGlynn für eines der eindrucksvollsten Zeugnisse über die Ereignisse von Fatima. Schwester Lúcia, die an der Gestaltung der Statue aktiv mitgewirkt hatte, befürwortete eine Veröffentlichung der Entstehungsgeschichte. Ihr ging es allein darum, „die Seelen, die heute so materialistisch gesinnt sind, zu Übernatürlichem zu erheben“.

Von Dorothea und Wolfgang Koch

Schwester Lúcia selbst gestaltet

Dem Künstlermönch P. McGlynn gelingt es, Werkzeuge und Materialien zu beschaffen – fifty pounds of clay (fünfzig Pfund Ton = 22,5 kg). Aber der Ton ist zu nass und muss mühsam behandelt werden. Schließlich ist alles bereit: ein formloser Klumpen Ton, den harte Arbeit in ein Etwas bringt, das Irmã Dores (Schwester Dores) kritisieren kann (von 1926 an war Lúcia im Orden der Dorotheerinnen und hatte den Ordensnamen Maria das Dores, zu Deutsch: Maria der Schmerzen; 1948 durfte sie in den Karmel wechseln und erhielt den Namen Maria Lucia vom Unbefleckten Herzen).

Grob sind die Arme gestaltet, wie sie es beschrieben hatte. Als sie eintritt, sagt er, seine einzige Absicht sei, eine Statue zu schaffen, die der Erscheinung im Juni in jeder Hinsicht so viel als möglich ähnlich sei.

Sie werde nur kurz kommentieren und dann wieder gehen, dachte er. Aber sie bleibt die ganze Zeit, vormittags und nachmittags, alle Tage, während er arbeitet. Ihre erste Kritik beschränkt sich auf die Arme. Akribisch korrigiert sie Höhe und Winkel jedes Vorderarms und die Gesten jeder Hand. Mit leicht gekräuselter Stirn zieht sie eine imaginäre Line von der Hand herunter, als ob sich das Licht Unserer Lieben Frau von dort zu den Kindern des Jahres 1917 ausbreitet. Als die erste Sitzung vorüber ist, sind die allgemeinen Proportionen und die Position der Hände bestimmt.

Irmã Dores’ Haltung wandelt sich. Nun steht sie nicht mehr unter Befragung durch zwei Dominikaner im Habit, die sich beinahe wie mittelalterliche Inquisitoren vorkamen und sich dabei herzlich unwohl fühlten. Zur Arbeit hatte P. McGlynn sein Kollar durch einen Schal ersetzt, trug eine hellblaue Schürze, einen sweater (Pullover) und hatte seine Ärmel aufgekrempelt. Er bat darum, rauchen zu dürfen. Für Irmã Dores wird das Projekt zum Herzensanliegen, von dessen Erfolg sie überzeugt ist. Immer schon habe sie sich eine Statue der Erscheinung gewünscht, die das Unbefleckte Herz verkündet, bekennt sie dem Künstlermönch. Ja, sie wäre gern selbst Bildhauerin, um eine solche Statue zu schaffen. Da sie es nicht sei, glaube sie, Gott habe ihr P. McGlynn gesandt, um diese Statue zu schaffen.

Mother King übersetzt, eine irische Dorotheenschwester, die Irmã Dores seit ihrem Noviziat kennt. Manchmal sprechen Nonne und Mönch miteinander auf Englisch. Irmã Dores hört aufmerksam zu, während sie einen Rosenkranz knüpft. Plötzlich hebt sie den Kopf und sagt: „Wisst ihr, wenn ihr beide Englisch redet, hört es sich an, als ob ihr überhaupt nicht artikuliert.“ Es werde Zeit, dass sie Englisch lerne, meint Mother King und erklärt, Nossa Senhora heiße Our Lady. „Hauer laddy“, wiederholt sie und lächelt über den wunderlichen Klang. Der Amerikaner versucht es mit OK – „hokayee“, lautet spontan das Echo. Aber er erntet Tadel: „Schämen Sie sich nicht, Irmã Dores slang beizubringen?“

Die meiste Zeit steht Irmã Dores nah bei der Statue und beobachtet die Modellierung ganz genau. Manchmal berührt sie den Ton mit den Fingern oder einem Modellierwerkzeug, zum Beispiel als er den Schleier nach ihrer Beschreibung formt. Nichts scheint zu passen. Schließlich modelliert sie einen Teil des Schleiers selbst, so wie er heute am Glockenturm zu sehen ist. Kein Detail lässt sie aus – heißt es gut oder kritisiert.

Wesentlich für die Gesamtwirkung ist der Faltenwurf. Wie sind „Wellen des Lichtes“ anzudeuten? Es konnten keine realistischen Gewebefalten sein. Und sie mussten etwas vom lebendigen Charakter „welligen Lichtes“ zeigen, von dem sie sprach. Schließlich glückt ein Versuch. Aber dennoch schlägt sie Änderungen vor. Die Wellen hätten sich an der Taille gebrochen. Von der Taille ab standen Wellentäler Wellenbergen gegenüber. Dennoch habe Unsere Liebe Frau keinen Gürtel getragen. Die Falten hätten auch keine Brüste angedeutet, sondern nur mit sanftem Bogen ihren Busen.

Die „kleine Kugel aus Licht“ setzt Pater McGlynn auf die Taille, sie aber bittet, sie um a quarter of an inch zu erhöhen, einen guten halben Zentimeter, und gibt genau an, wo die beiden „Strahlen von Sonnenlicht“, die sie tragen, im Schleier verschwinden. Um die Erscheinung des Herzens und der Dornen zu veranschaulichen, geht sie in den Garten, kehrt mit Dornenzweigen wieder und deutet an, wie sie das Herz vertikal umgaben und wie viele Dornen ungefähr in das Herz stachen. Sie seien wie verbrannt, braun und von natürlicher Beschaffenheit gewesen.

Irmã Dores wusste genau, wohin der Stern am Saum zu platzieren war. Wie viele Zacken? Sie wisse es nicht. P. McGlynn schlägt den fünfzackigen Sowjetstern vor. Schließlich werde Russland einst ein Schmuck zu Füßen Unserer Lieben Frau sein. Die Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Er verweist auf die beiden „Strahlen aus Sonnenlicht“, die jene „Kugel aus Licht“ tragen. Bildeten sie nicht ein V wie victory, vitória? Dies symbolisiere doch: „Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren“. Aber auch hier erntet er nur ein „Ich weiß es nicht“.

Und das Gesicht der Statue? Ihre Kritik ist endlos – die Stirn, die Wangen, der Mund, das Kinn, die Augen – immer wieder neu! Es habe Augenblicke gegeben, in denen Ärger beinahe seinen Respekt verdrängt hätte, wäre ihm nicht bewusst geblieben: Irmã Dores war Lúcia dos Santos von Fatima. Schließlich ist sie zufrieden, und er muss zugeben, dass er ohne ihre Weisung ein solches Gesicht niemals geschaffen hätte; aber es gefiel ihm viel besser als das des ersten Modells. Die Statue kann gegossen werden. Der Bischof gibt die Erlaubnis für eine Fotografie, die Lúcia mit ihrer Statue zeigt: „Obwohl es viel Arbeit war“, sagt sie, „hat es sich gelohnt, es richtig zu machen.“

Muitas, muitas saudades

Saudades sei vielleicht das ausdrucksstärkste Wort der portugiesischen Sprache und unübersetzbar, erfährt Pater McGlynn. Allen Schmerz des Abschieds enthalte es, Erinnerung an wunderbare Zeit, die Liebe der Freunde, den Wunsch jedes nur erdenklichen Segens, Hoffnung auf Wiedersehen, Dankbarkeit für alles Empfangene – jedes Empfinden von Freunden im Augenblick des Abschieds. Wenn aber muitas davorgesetzt wird, verstärken sich diese Empfindungen auf eine Weise, die sich jeder Analyse entzieht. Muitas, muitas saudades werden zum Abschied des Künstlermönchs ausgetauscht, der weiß, dass sein englisches parting is such a sweet sorrow (Abschied ist so ein süßer Schmerz) nichts auszusagen vermag.

Berührt hatten ihn vor allem Irmã Dores’ wache Intelligenz und künstlerischer Sinn, ihre vollkommene Einfachheit, Natürlichkeit und Zurückhaltung, aber auch ihr rascher, empfindsamer Humor. Zum Abschied schenkt sie ihm zwei Blatt liniertes Papier, von ihr beschrieben – die Gebete Unserer Lb. Frau und des Engels. Mother provincial (die Provinzoberin) bittet den Priestermönch, die Statue zu segnen. Er stellt sie vor den Tabernakel am Altar der Seligsten Jungfrau und betet das Segensformular. Als er die Stufen emporsteigt, um den sakramentalen Segen zu spenden, bricht aus den Schwestern triumphaler Gesang zum Lobpreis von Nossa Senhora de Fátima (Unserer Lb. Frau von Fatima), die erste Ehre, die der neuen Statue erwiesen wird.

Kurz vor der Abfahrt bitten die Schwestern P. McGlynn, vor der Statue einen Akt der Weihe an das Unbefleckte Herz zu vollziehen. Zuvor wollte der Künstlermönch jedoch noch eine allerletzte Zustimmung gewinnen. Ein Wort, das er gelernt hatte, lautet gostar, to like: mögen. Und als beinahe noch nie dagewesenes Wagnis fragt er das Hirtenmädchen mit Blick auf ihre Statue: Gosta? Und mit einem Lächeln gewährt es das größte Kompliment, das der Statue je gemacht wurde: Gosto – I like it. Sie nimmt ihren Platz bei den Schwestern ein, die Statue steht vor dem Tabernakel und der Priester vollzieht die Weihe. Und in allen saudades denkt er an den Ausdruck Unserer Lieben Frau, die ganz aus Licht ist, sweet but sad (süß aber traurig).

Über Coimbra reisen die beiden Dominikaner zurück, um dem Bischof von Leiria zu danken. P. McGlynn war jedoch ein kühner Gedanke gekommen. Angesichts ihrer Entstehungsgeschichte wollte er dem Bischof vorschlagen, die Statue für die große Nische am Glockenturm der Rosenkranzbasilika auszuführen: als Zeichen der amerikanischen Verehrung Unserer Lieben Frau in Ihrem jüngsten Heiligtum – die amerikanischen Katholiken würden gewiss bedeutende Finanzmittel dafür aufbringen. Pater McGlynn hatte Irmã Dores gebeten, dafür zu beten. Doch der Bischof wehrt ab. Längst gebe es andere Pläne.

Aber nach einigen Tagen, die die Mönche in Fatima beten, wunderbaren Heilungen nachgehen, die Gräber von Jacinta und Francisco besuchen und das Geheimnis der Quelle in der Cova da Iria ergründen, die entsprang, als man dort die erste Heilige Messe las, erhalten sie Nachricht vom Bischof. Er wolle den amerikanischen Priester noch einmal sehen. Und das Unerwartete geschieht – der Künstlermönch erhält den Auftrag, die Statue des Hirtenmädchens groß für die Nische am Glockenturm auszuführen. Die Skulptur zeige, sagt der Bischof, warum Maria in Fatima erschienen sei: um durch Verehrung Ihres Unbefleckten Herzens die Welt zur Umkehr, Wiedergutmachung und Rettung zu rufen.

Auf dem Rückweg bittet P. McGlynn Pius XII., der ihn in seinem privaten Arbeitszimmer empfängt, um seinen Segen für die Statue. Gern erinnere er sich an ihre Begegnung im Jahre 1935, spricht ihn der Papst an, und danke für die schöne Papstbüste, die er für die apostolische Delegation in Washington geschaffen habe. P. McGlynn stellt die Statue auf den päpstlichen Schreibtisch und schildert Lúcias Anteil an ihrer Entstehung. Pius XII. folgt ihm aufmerksam und betrachtet das Werk mit offensichtlicher Genugtuung. Feierlich und langsam segnet er die Statue.

Zum Abschluss bittet der Mönch: „Wird Seine Heiligkeit alle segnen, die dafür arbeiten, die Botschaft von Fatima in den Vereinigten Staaten zu verbreiten?“ Pius XII. schlägt mit großem Ernst das Kreuz. Von P. McGlynns römischen Besuchen bewegt besonders die Aufnahme, die Lúcias Statue im Collegium Russicum findet. Die Priester und Seminaristen diskutieren, ob die Verehrung des Unbefleckten Herzens in Russland angenommen würde. Angesichts der russischen Marienfrömmigkeit und des Sinnes dieses Volkes für Symbolik halten sie es für möglich. Schließlich stellen sie die Statue auf ein Podest vor der Ikonostase der Kapelle, verrichten orientalische Gebete und vollziehen eine Weihe an das Unbefleckte Herz in russischer Sprache.

Irmã Dores weiß, dass P. McGlynn über Fatima, ihre Statue und seine Reise nach Portugal schreiben möchte. Bald nach seiner Rückkehr erreicht ihn ein Brief, in dem sie an sein Vorhaben erinnert und ihn beauftragt: „Bitte stellen Sie die geistliche Bedeutung der Dinge heraus, um die Seelen, die heute so materialistisch gesinnt sind, zu Übernatürlichem zu erheben, so dass sie die wahre Bedeutung der Absicht verstehen, um derentwegen Unsere Liebe Frau auf die Erde kam. Sie ist, sie zu Gott zu führen.“

Entstanden ist das schönste Fatima-Buch, das die Verfasser kennen und jedem, der nur ein wenig des Englischen mächtig ist, ans Herz legen (Vision of Fatima). Es wurde ein Buch über die 70 Jahre später vielleicht am meisten missverstandenen Eigenschaften Gottes, Seine Gerechtigkeit mit ihren endgültigen Konsequenzen und Seine Barmherzigkeit, vermittelt durch das Unbefleckte Herz Unserer Lieben Frau von Fatima.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2020
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