Liebe Leser
Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel
Ökumene ist das Bemühen um die sichtbare Einheit aller Christen. Die katholische Kirche sieht darin ihren ureigenen Auftrag. Denn es gehört zu ihrem Wesen, die weltweite Christenheit zu repräsentieren und dem einen geheimnisvollen Leib Christi einen integralen Ausdruck zu verleihen. Umso größer ist ihre Verantwortung für die Wiederherstellung der sichtbaren Einheit mit den getrennten Christen.
Unter allen christlichen Konfessionen hat allein sie das Petrusamt bewahrt. Und sie ist sich bewusst, dass es ohne diesen obersten Hirtendienst keinen sichtbaren Ausdruck der Einheit aller Christen geben kann. „Weide meine Lämmer! Weide meine Schafe!“ (Joh 21,15ff). So hat Jesus dem hl. Petrus und seinen Nachfolgern die Aufgabe übertragen, in seiner Vollmacht allen Christen durch die ganze Geschichte hindurch als oberster Hirte vorzustehen. Wenn die Kirche im Blick auf die getrennten Christen um die Gnade betet, dass „ein Hirt und eine Herde werde“, meint sie damit auch konkret die Einheit aller mit dem Papst.
Die biblische Vision von dem einen Hirten und der einen Herde, die schon bei den Propheten des Alten Bundes aufscheint, zielt zunächst auf Jesus Christus als den von Gott gesandten Hirten ab und auf das aus allen Völkern herausgerufene neue Volk Gottes, das dieser Hirte weidet. Der Papst ist nach göttlichem Willen zwar „Stellvertreter Christi auf Erden“, doch muss er sein Amt immer in dem Bewusstsein ausüben, dass bis ans Ende der Zeiten Jesus Christus selbst der oberste Hirte seiner Herde bleibt. Er ist es, der für die Seinen da ist bis zum Ende der Welt (Mt 28,20) und sie zum ewigen Leben führt. Der Petrusnachfolger aber muss in allem die Hirtensorge des Herrn widerspiegeln.
Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die katholische Kirche die Pflicht auferlegt, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um den ökumenischen Dialog in Gang zu bringen und die bestehenden Spaltungen zu überwinden. In seiner Enzyklika „Ut unum sint“ – „Dass sie eins seien“ vom 25. Mai 1995 bezeichnete der hl. Papst Johannes Paul II. diese Selbstverpflichtung der katholischen Kirche zur Ökumene als „unumkehrbar“.
Papst Franziskus stellt sich dieser Herausforderung. Auf dem Weg zu wachsender Übereinstimmung möchte er bis an die Grenzen des Möglichen gehen. Beim Empfang einer Delegation des Lutherischen Weltbundes am 25. Juni 2021, dem Jahrestag der Verlesung der „Confessio Augustana“, sprach er sich für „eine in den Unterschieden versöhnte Einheit“ aus. Doch eine erneuerte Gemeinschaft könne nicht durch „kirchliche Diplomatie“, durch „menschliche Vermittlung und Übereinkünfte“ erreicht werden, sondern nur durch „die Gnade Gottes, die das Gedächtnis und das Herz reinigt“. Und im Blick auf das 500-Jahr-Jubiläum der „Confessio Augustana“ 2030 rief er dazu auf: „Im nächsten Schritt wird es um das Verständnis der engen Verbindung zwischen Kirche, Amt und Eucharistie gehen. Dabei wird es wichtig sein, mit geistlicher und theologischer Demut auf die Umstände zu schauen, die zu den Spaltungen geführt haben.“
Als Leitartikel geben wir dazu den Vortrag von Kurt Kardinal Koch wieder, den er am 8. Juni 2021 auf einer Ökumene-Konferenz in Ungarn gehalten hat. Um konkrete Fragen wie Amt und Eucharistie besser klären zu können, muss nach Kardinal Koch der fundamentale Unterschied im Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Welt anerkannt und ausgeräumt werden.
Liebe Leser, von Herzen danken wir Ihnen für Ihre großherzige Unterstützung, auf die wir ganz und gar angewiesen sind, und wünschen Ihnen auf die Fürsprache unserer himmlischen Mutter Maria Gottes reichsten Segen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
An welcher Frage entscheidet sich die Ökumene mit den Protestanten?
Gott und die Welt
Am 8. Juni 2021 hielt Kurt Kardinal Koch, der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, auf einer Ökumene-Tagung in Ungarn einen der Hauptvorträge. Die Konferenz, an der neben Péter Kardinal Erdö, dem Erzbischof von Budapest, auch Bischöfe der evangelischen Kirchen in Ungarn teilnahmen, fand in der benediktinischen Erzabtei Pannonhalma statt. In seinem Vortrag zeigte Kardinal Koch den maßgeblichen Unterschied zwischen katholischem und protestantischem Glaubensverständnis auf. Die Reformation hatte die „Gnade“ in den Mittelpunkt der christlichen Erlösung gestellt, doch ihr eine völlig neue Deutung gegeben. Nach reformatorischer Lehre ist „Gnade“ nämlich nur eine vergebende Haltung Gottes gegenüber dem Menschen, aber keine Mitteilung göttlichen Lebens in diese Welt hinein. Kardinal Koch machte diese Zusammenhänge an den drei Begriffen Transzendenz, Immanenz und Transparenz fest. Sein Vortrag in voller Länge.
Von Kurt Kardinal Koch
Einheit von Schöpfung und Erlösung
In den Credos der Kirche bekennen wir Gott als Schöpfer Himmels und der Erde, als Erlöser des Menschen und der Welt und als Vollender seiner Schöpfung. Mit diesem dreigliedrigen Aufbau, der dem Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes nachgebildet ist, bringen wir unsere Glaubensüberzeugung zum Ausdruck, dass Schöpfung und Erlösung unlösbar zusammengehören. Diese Überzeugung liegt auch den christlichen Festen zugrunde. In der Liturgie des Hochfestes von Pfingsten beispielsweise folgt auf die Lesung aus der Apostelgeschichte, in der die Geburt der Kirche durch das Herabkommen des Heiligen Geistes auf die Versammlung der Jünger berichtet wird, als Antwort Psalm 104, der ein Lobpreis der Schöpfung und auf den Schöpfer ist, der das All in Weisheit geschaffen hat, und in dem die schönen Verse zu meditieren sind: „Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht, die Erde ist voll von deinen Geschöpfen“ (Ps 104,24). Diese Zuordnung von Lesung und Antwortpsalm erinnert an die geschichtliche Entwicklung, dass Pfingsten ursprünglich ein Fest der Schöpfung, genauer ein Erntefest gewesen, in Israel zum Fest der Erinnerung an die Ereignisse am Sinai geworden ist und im Christentum als Erneuerung des Sinai-Geschehens und damit als Geburtsfest der Kirche gefeiert wird. In der Liturgie des Pfingstfestes wird damit sichtbar, dass der christliche Erlösungsglaube und das Bekenntnis zum Schöpfergott untrennbar miteinander verbunden sind und dass christliche Liturgie immer eine elementar kosmische Dimension aufweist.[1] Der deutsche Philosoph Josef Pieper hat deshalb den innersten Kern eines Festes als „Zustimmung zur Welt“ bezeichnet.[2] Da ein Fest immer dann gegeben ist, wenn Menschen Ja sagen und wenn sie der Welt, dem Sein überhaupt und darin sich selbst zustimmen können, weil sie dem Grund ihrer selbst und damit dem Grund ihres Lebens, nämlich Gott zustimmen, bedeutet ein Fest immer Bejahung des Daseins und Bestätigung des Geschöpfseins.
Damit ist das Wesentliche im Verhältnis des christlichen Glaubens zur Welt ausgesagt, dass es nämlich ein positives Verhältnis ist, wie es bereits im biblischen Schöpfungsbericht zum Ausdruck gebracht wird: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut“ (Gen 1,31). Dieses Prädikat erweist sich in der religiösen Geschichte der Menschheit als neu und einmalig wie einzigartig. Im Unterschied zu vielen religiösen Traditionen, die stets von einem gewissen Dualismus in dem Sinne geleitet sind, dass die Welt nicht aus einer Hand, und zwar einer guten stammt, sondern dass auch andere, nämlich unheimliche Mächte am Werk sind, kennt der biblisch offenbarte Gott schlechterdings keinen Konkurrenten. Er allein und nicht behindert von irgendeinem Demiurgen ist der Schöpfer und der Herr der Welt. Deshalb ist die Welt sein Werk, und dieses Werk ist gut.
Der Mensch als Ebenbild Gottes und als Sünder
Was von der Welt im Allgemeinen zu sagen ist, gilt erst recht vom Menschen, der im biblischen Schöpfungsbericht als Abbild Gottes prädiziert wird: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27). Mit dieser Bezeichnung ist die äußerst positive Zusage verbunden, dass der Mensch nicht irgendein Zufallsprodukt der Erde, sondern ein gewolltes und geliebtes „Projekt Gottes“ ist.[3] Damit ist die Höchstwürde des Menschen in dem Sinne zum Ausdruck gebracht, dass jedem, der das Antlitz eines Menschen trägt, göttlicher Rang und damit Unantastbarkeit zukommt.
Diese sehr positive Sicht des Menschen findet in der biblischen Tradition freilich ihre Kontrastfolie in der Tatsache, dass der Mensch nicht nur als Ebenbild Gottes, sondern auch als Sünder betrachtet wird. Der tiefste Gehalt der Sünde wird dabei darin gesehen, dass der Mensch sein Geschöpf-Sein leugnet und werden will wie Gott. Es fällt auf und muss zu denken geben, dass gerade das Bedenken des Sünder-Seins des Menschen zu konfessionell geprägten Sichten des Verhältnisses des christlichen Glaubens zur Welt im Allgemeinen und zum Menschen im Besonderen geführt hat.[4] Diese verschiedenen Sichten sind gerade in unterschiedlichen Interpretationen des biblisch-anthropologischen Fundamentalthemas der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet.
Die katholische Tradition ist weitgehend vom Bemühen geprägt, die im alttestamentlichen Buch Genesis grundgelegte Unterscheidung und Zuordnung von Imago und Similitudo im Blick auf die besondere Würde des Menschen hervorzuheben und deshalb zu betonen, dass die Gottebenbildlichkeit des Menschen durch die Sünde zwar beschädigt worden, aber nicht verloren gegangen ist. Die katholische Tradition hat von daher trotz aller Sündigkeit an der Geschöpflichkeit des Menschen in einem positiven Sinn festgehalten und hat sie darin wahrgenommen, dass der Mensch von Natur aus für Gott offen und für die Wahrheit Gottes empfänglich ist und dass die Natur des Menschen sich danach sehnt, von der Gnade Gottes aufgenommen und vollendet zu werden, gemäß dem katholischen Grundprinzip: „gratia supponit naturam et perficit eam“.
Die reformatorische Tradition hat demgegenüber eine sachliche Differenz von Imago und Similitudo verneint und die die Gottebenbildlichkeit des Menschen charakterisierenden Begriffe von Bild und Ähnlichkeit so stark miteinander identifiziert, dass, wie der evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg betont, „der Verlust der Urstandsgerechtigkeit Adams durch den Sündenfall nun auch den Verlust der Gottebenbildlichkeit des Menschen bedeuten musste“.[5] Diese sehr pessimistische Sicht des Menschen kommt in einer emphatischen Weise im reformierten Heidelberger Katechismus zum Ausdruck,[6] und zwar dadurch, dass der ganze erste Teil vom Elend des Menschen handelt. Es wird zwar kurz festgehalten, dass Gott den Menschen „gut und nach seinem Ebenbild erschaffen“ hat;[7] dann jedoch wird sofort zur Feststellung übergegangen, dass aufgrund des Ungehorsams und Falls von Adam und Eva im Paradies die Natur des Menschen „vergiftet“ ist[8] und das Elend des Menschen darin besteht, dass der Mensch von Natur aus geneigt ist, „Gott und meinen Nächsten zu hassen“.[9] Das Elend des Menschen wird am tiefsten in seiner Unfähigkeit wahrgenommen, Gott und seine Nächsten zu lieben, so dass Jesu Gebot der Gottes- und Nächstenliebe den Menschen erst recht mit seinem Elend konfrontiert, wie überhaupt die Zehn Gebote in der Sicht des Heidelberger Katechismus den primären Sinn darin haben, „damit wir un-ser ganzes Leben lang unsere sündliche Art je länger je mehr erkennen“.[10] Von der Geschöpflichkeit des Menschen und vor allem von der gütigen Providenz Gottes für den Menschen ist im Heidelberger Katechismus zwar durchaus auch die Rede; doch die Insistenz auf dem Elend des Menschen ist so stark konturiert, dass die „reformatorische Einsicht von der grundsätzlichen Bosheit des Menschen"[11] die Geschöpflichkeit des Menschen kaum mehr als eine positive Wirklichkeit wahrzunehmen vermag.
In der christlichen Anthropologie werden damit konfessionelle Unterschiede sichtbar, die man in gewiss zugespitzter Weise so auf den Begriff bringen kann: Die katholische Tradition geht von der fundamentalen Überzeugung aus, dass die Natur des Menschen zwar von der Sünde infiziert ist, jedoch wesengemäß gut bleibt; sie ist in der Folge von einem schöpfungstheologischen Optimismus geprägt. Die reformatorische Tradition zeichnet sich dem gegenüber aufgrund ihrer Annahme einer weitgehenden oder gar totalen Zerstörung der menschlichen Natur durch die Sünde eher durch einen hamartiologischen Pessimismus aus.[12] Hinter diesen konfessionellen Unterschieden dürfte sich eine unterschiedliche Sicht des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz und dementsprechend von Eschatologie und Geschichte verbergen, worauf Walter Kardinal Kasper bereits in den Anfängen der ökumenischen Dialoge den Finger gelegt hat: „Der Protestantismus ist erfüllt von der Transzendenz Gottes über der Geschichte, der Katholik leugnet diese Transzendenz nicht, aber er betont ebenso stark unsere Teilhabe am Leben Gottes und damit die Sakramentalität der christlichen Wirklichkeit."[13]
Das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz
Damit dürfte deutlich sein, dass die konfessionellen Unterschiede nicht einfach einzelne Lehren betreffen, sondern jeweils eine Gesamtsicht des Christlichen implizieren, die sich dann freilich bei der Thematisierung von einzelnen Lehren wie beispielsweise der Lehre von der Kirche und der Lehre von den Sakramenten auswirken. Diese verschiedenen Glaubensverständnisse müssen sich freilich, vorausgesetzt dass sie nicht absolut gesetzt werden, weder kontradiktorisch widersprechen noch gegenseitig ausschließen. Sie können sich vielmehr auch gegenseitig befruchten und bereichern. Dies kann aber nur einsichtig werden, wenn sie im größeren Zusammenhang des Verhältnisses zwischen der Transzendenz Gottes und der Immanenz der weltlichen Wirklichkeit überhaupt betrachtet werden.
Die protestantische Tradition pflegt den Akzent auf die Differenz zwischen Gott und Welt, zwischen Schöpfer und Schöpfung, zwischen Transzendenz und Immanenz zu legen. In extremer Zuspitzung ist dies beim Züricher Reformator Huldrych Zwingli festzustellen, der im berechtigten Bestreben, jede Kreaturvergötterung auszuschließen, auf einer strikten Trennung zwischen dem Göttlichen und dem Kreatürlichen bestanden hat, die nicht einmal durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes durchbrochen werden kann. Diese Insistenz auf der Differenz hat bei Zwingli zu einer konsequenten Abwehr des Sakramentalen geführt, wie vor allem bei seiner seltsam anmutenden Begründung für die Ablehnung der eucharistischen Realpräsenz deutlich wird, dass sich Christus nach seiner Himmelfahrt im Himmel aufhalte und deshalb nicht zugleich leiblich im Abendmahl auf Erden gegenwärtig sein könne.
Eine solche Betonung der Differenz zwischen Gott und Welt kann natürlich gute theologische Gründe für sich beanspruchen. Denn nur wo Differenz gegeben ist, wird in negativer Hinsicht einer drohenden Vergöttlichung der weltlichen Wirklichkeit gewehrt und wird in positiver Hinsicht das Gegenüber Gottes zur Welt ernst genommen und kann ein wirklicher Schöpfungsdialog stattfinden, weil der Schöpfergott seine Geschöpfe anzusprechen vermag. Dann jedoch, wenn die Differenz zwischen Transzendenz und Immanenz zu einer dualistischen Unterschiedenheit von Gott und Schöpfung gesteigert wird, kann die Gegenwart Gottes in der Welt und das Gegenwärtigsein der Schöpfung in Gott nicht mehr gedacht werden und wird letztlich die Konzeption einer Gott-losen Welt und eines Welt-losen Gottes vertreten, wie der katholische Dogmatiker Gisbert Greshake sensibel feststellt: „Einer Welt, die nicht mehr als Medium der Offenbarung Gottes erfahren wird, die also im wahrsten Sinne des Wortes gott-los ist, entspricht auf der anderen Seite ein welt-loser Gott. Ein solcher aber erwies sich im Fortgang der neuzeitlichen Geschichte immer mehr und erweist sich heute vollends als ein unwirklicher, illusionärer Gott."[14]
Demgegenüber pflegt die katholische Tradition eher von einem gegenseitigen In-Sein von Schöpfer und Geschöpf und von Transzendenz und Immanenz auszugehen, und ist vom Anliegen getragen, aufgrund der Annahme einer grundlegenden Analogie die Immanenz Gottes in seiner Schöpfung zu betonen. In diesem Sinn hat Thomas von Aquin in seiner „Summa theologica“ die christliche Grundüberzeugung zum Ausdruck gebracht und vielfältig variiert, dass Gott „in allen Geschöpfen“ ist und unmittelbar wirkt als „der, der ihnen ihr Sein, ihre Kraft und ihre Aktivität“ gibt, so dass kein Geschöpf „so fern von Gott“ sein kann, „dass es ihn nicht in sich hätte“. In diesem Zusammenhang konnte der Aquinate sogar den erstaunlichen Vergleich wagen: „Wie die Seele ganz in jedem Teil des Körpers ist, so ist auch der ganze Gott in allen Geschöpfen und in jedem einzelnen."[15] Eine ähnliche Sicht findet sich auch in den Spiritualitäten von bedeutenden Heiligen, beispielsweise in der Überzeugung des hl. Benedikt, dass Gott in allem gelobt werden soll („ut sit in omnibus glorificetur Deus“) und im Leitmotiv des hl. Ignatius von Loyola, dass Gott in allen Dingen gefunden werden kann.
Diese emphatische Betonung der Immanenz Gottes in seiner Schöpfung und der Schöpfung in ihm muss freilich mit der anderen Glaubensaussage zusammengehen, dass Gott sich selbst in seiner Schöpfung keineswegs voll und ganz verwirklicht, sondern bei aller Immanenz zugleich auch transzendent bleibt und sie unendlich übersteigt. Dort hingegen, wo die Weltimmanenz Gottes derart verabsolutiert würde, dass die Welttranszendenz Gottes aufgehoben wäre, würde die gefährliche Konzeption einer monistischen oder gar pantheistischen Identität von Gott und Welt und damit die Sakralisierung der Schöpfungswirklichkeit vertreten.
Die Transparenz der Transzendenz in der Immanenz
Ökumenische Theologie steht von daher vor der fundamentalen Aufgabe, die beiden genannten Extremkonzeptionen einer dualistischen Differenz zwischen Gott und Welt und einer monistischen Identität von Gott und Welt zu überwinden und die Weltimmanenz und die Welttranszendenz Gottes zugleich zur Geltung zu bringen. Denn zur Göttlichkeit Gottes gehört es, dass er nicht jenseits und außerhalb seiner Schöpfung ist – als der von ihr nur Unterschiedene und ganz Andere –, sondern dass er im Logos aufgrund seiner Menschwerdung und in seinem Geist in jedem seiner Geschöpfe gegenwärtig ist. Zur Göttlichkeit Gottes gehört es aber ebenso, dass er nicht in der Schöpfung aufgeht oder gar mit ihr zusammenfällt – als der mit ihr Identische –, sondern dass er der Schöpfung gegenüber auch transzendent bleibt.
Beides zusammenzudenken, dass Gott als Schöpfer nicht nur der der Welt transzendente ist, sondern auch und gerade in seiner weltjenseitigen Unendlichkeit der der Welt immanente Gott ist, ist nur möglich, wenn man vom christlichen Kerngeheimnis der göttlichen Dreieinigkeit her denkt, worauf vor allem der evangelische Ökumeniker Wolfhart Pannenberg hingewiesen hat: „Der trinitarische Gott hebt, ohne Verwischung der Differenz von Schöpfer und Geschöpf, diesen Gegensatz auf im Gedanken der Versöhnung. Erst der trinitarisch gedachte Gott ist, ohne Beseitigung des Unterschieds von Gott und Geschöpf, sondern gerade durch Anerkennung dieses Unterschieds auf beiden Seiten, alles in allem."[16]
Im Licht des Geheimnisses der göttlichen Trinität wird vollends deutlich, dass die Kategorien der Transzendenz und der Immanenz allein nicht genügen, um das Verhältnis Gottes zur Welt adäquat zu beschreiben. Diese Kategorien vermögen bloß die Tatsache zu erfassen, dass Gott nicht Welt und die Welt nicht Gott ist. Es bedarf vielmehr einer dritten Kategorie, nämlich derjenigen der Transparenz, die die Gegenwart der Transzendenz Gottes in der Immanenz der Schöpfung ausdrückt und die Immanenz der Schöpfung als den Ort verstehen lässt, an dem sich die Transzendenz Gottes anzeigt und verwirklicht.
Sakramentales Leben und Denken
Diese dritte Kategorie, die Transparenz der Transzendenz in der Immanenz und der Transparenz der Immanenz für die Transzendenz, lässt sich theologisch noch präziser mit dem christlichen Grundbegriff des Sakramentalen umschreiben. Dabei zeigen freilich nicht nur die so genannten Abendmahlsstreitigkeiten im 9. und 11. Jahrhundert, sondern auch ein Blick in die gegenwärtige Situation der Christenheit, dass die Realität des Sakramentalen und das theologische Denken über Sakramentalität eine elementare Herausforderung darstellen, die der katholische Theologe Theodor Schneider in diesen Worten ausgedrückt hat: „Das innere Sehen, das Erkennen der inneren Wirklichkeit im äußeren Geschehen, das bleibt das große Problem Gottes mit uns Menschen."[17]
Eine Revitalisierung des sakramentalen Lebens und Denkens erweist sich heute als dringend notwendig, da nur im sakramentalen Denken sowohl der Transzendenz- als auch der Immanenz-Orientierung Rechnung getragen werden kann. Denn es macht das eigentliche und tiefste Wesen des Sakramentes aus, dass es gleichsam an zwei „Welten“ teilhat. Indem zum Ausdruck gebracht wird, dass die Wirklichkeit des Transzendenten im Bereich des Immanenten gegenwärtig ist, wird dieser zugleich transfiguriert und für das Transzendente transparent. Eine äußere Weltwirklichkeit wird zum sichtbaren und wirksamen Zeichen für eine innere und unsichtbare Wirklichkeit. Sakramentales Denken ist Erkennen der transzendenten Wirklichkeit im immanenten Bereich. So werden beispielsweise in der Feier der Eucharistie die Elemente von Brot und Wein zu wirksamen und realisierenden Zeichen der Gegenwart der Person und des Heilswerks Jesu Christi.
Geht man dieser Realität des Sakramentalen auf den Grund, legt es sich nahe, das eigentliche Verhältnis zwischen Gott und Welt im Gedanken der Verwandlung wahrzunehmen. Denn dieser Gedanke setzt das Weltliche voraus und macht es für das Göttliche transparent. Dies zeigt bereits die menschliche und menschheitliche Erfahrung, in der „Wandlung“ seit jeher ein Urwort ist. Alles, was lebt, befindet sich in Wandlung. Im Laufe eines Jahres wandelt sich die Natur immer wieder. Auch der menschliche Organismus wandelt sich nicht nur in den verschiedenen Lebensabschnitten; er ist vielmehr jederzeit in Wandlung begriffen, bei der immer wieder Neues geschieht. Von daher kann es nicht erstaunen, dass das Wissen um Wandlung auch zu den Urgegebenheiten des eucharistischen Glaubens gehört. Dies gilt vor allem von der Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi, die die katholische Tradition mit dem Begriff der Transsubstantiation beschrieben und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass das, was in der Eucharistie geschieht, nicht Um-Funktionierung, sondern wirkliche Um-Wandlung von Brot und Wein und letztlich, wie Teilhard de Chardin es sehr tief geschaut hat, die antizipierende Feier der universalen Transsubstantiation des ganzen Kosmos in den Leib Jesu Christi ist.
Solidarischer Bezug und kritischer Kontrast
Von dieser Vision her zeigt sich, dass das Verhältnis des christlichen Glaubens zur Welt im Zeichen der Wandlung ein spannungsvolles Verhältnis darstellt, wie es in der Heiligen Schrift Jesus mit zwei Bildern zum Ausdruck bringt, wenn er von seinen Jüngern erwartet, dass sie „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ sind. Das erste Bild vom „Salz der Erde“ betont den solidarischen Bezug von uns Christen zur Welt. Wie im alltäglichen Leben das Salz im Küchenschrank nicht viel nützt und mit der Zeit schal wird, sondern erst wirksam wird, wenn man es in die Suppe streut, so kann auch das Salz des Evangeliums in der Sakristei der Kirche nicht viel bewirken; es muss vielmehr in unmittelbaren Kontakt mit der heutigen Welt gebracht werden. Das zweite Bild vom „Licht der Welt“ akzentuiert demgegenüber den notwendigen Kontrast von uns Christen gegenüber der Welt. Uns Christen ist damit zugemutet, Farbe zu bekennen, unsere eigene Physiognomie zu entwickeln und auch gegen den modischen Zeitgeist von heute mit prophetischer Stimme Stellung zu beziehen.
Jesus erwartet von seinen Jüngern, dass sie sich in ihrem Verhältnis zur Welt immer als „Salz der Erde“ und damit in solidarischem Bezug zu ihr und zugleich als „Licht der Welt“ und damit in deutlichem Kontrast zu ihr erweisen und sich bewähren. Wir Christen sollen dabei nicht das Eine tun und das Andere lassen, sondern beides zugleich und versöhnt miteinander. Wie die Benediktiner und Franziskaner in der einen Kirche spannungsvoll zusammen leben, so sollen wir Christen zugleich benediktinisches „Licht der Welt“ und franziskanisches „Salz der Erde“ sein. Denn Kirche und Welt dürfen weder fundamentalistisch voneinander getrennt noch säkularistisch miteinander vermischt werden. Sie müssen vielmehr miteinander vermittelt und zugleich voneinander unterschieden werden. Oder um die christologische Formel von Chalkedon zu verwenden: Das Verhältnis zwischen Kirche und Welt muss „unvermischt und ungetrennt“ gestaltet sein. Dies ist der Weg des christlichen Glaubens, wie ihn uns das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Versöhnung zwischen evangelischer Ursprungstreue und kairologischer Zeitgemäßheit gewiesen hat, und zwar in der Hoffnung, dass dieser Weg auch ökumenisch begehbar sein wird.[18]
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
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[1] Vgl. J. Kardinal Ratzinger: Der Geist der Liturgie. Eine Einführung (Freiburg i. Br. 2000), bes. 20-29: Liturgie – Kosmos – Geschichte.
[2] J. Pieper: Zustimmung zur Welt. Eine Theorie des Festes (München 1963).
[3] J. Ratzinger/Benedikt XVI.: Der Mensch als Projekt Gottes, in: Ders.: Gottes Projekt. Nachdenken über Schöpfung und Kirche (Regenburg 2009) 54-72.
[4] Vgl. K. Kardinal Koch: Der Mensch als ökumenische Frage. Gibt es (noch) eine gemeinchristliche Anthropologie?, in: B. Stubenrauch/M. Seewald (Hrsg.): Das Menschenbild der Konfessionen. Achillesverse der Ökumene? (Freiburg i. Br. 2015) 18-32.
[5] W. Pannenberg: Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen in der neueren Theologiegeschichte (München 1979) 8.
[6] Vgl. K. Koch: Der Heidelberger Katechismus in katholischer Sicht heute, in: M. E. Hirzel/F. Mathwig/M. Zeindler (Hrsg.): Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext (reformiert! 1) (Zürich 2013) 287-306.
[7] Heidelberger Katechismus, Frage 6.
[8] Heidelberger Katechismus, Frage 7.
[9] Heidelberger Katechismus, Frage 5.
[10] Heidelberger Katechismus, Frage 115.
[11] P. Lampe: Homo homini lupus, in: H. Schwier/ H.-G. Ulrichs (Hrsg.): Heidelberger Beiträge zum Heidelberger Katechismus (Heidelberg 2012) 27-35, zit. 29.
[12] Vgl. K. Koch: Der Gott der Geschichte. Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer Philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive (Mainz 1988), bes. 320-367: „Natürliche Theologie“ als kontroverstheologisches Problem.
[13] W. Kasper: Das Gespräch mit der protestantischen Theologie, in: Concilium 1 (1965) 334-344, jetzt in: Ders.: Wege zur Einheit der Christen = Gesammelte Schriften, Band 14 (Freiburg i. Br. 2012) 237-261, zit. 244.
[14] G. Greshake: Gott in allen Dingen finden. Schöpfung und Gotteserfahrung (Freiburg i. Br. 1986) 24.
[15] Thomas von Aquin: Summa Theologica I, q. 8.
[16] W. Pannenberg: Probleme einer trinitarischen Gotteslehre, in: W. Baier u. a. (Hrsg.): Weisheit Gottes – Weisheit der Welt. Festschrift für J. Kardinal Ratzinger, Bd. 1 (St. Ottilien 1987) 329-341, zit. 341.
[17] Th. Schneider: Zeichen der Nähe Gottes. Grundriss der Sakramententheologie (Mainz 1979) 18.
[18] Vgl. K. Kardinal Koch: Heutigwerden des Glaubens im Dialog zwischen Welt und Gott. Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils in der heutigen Situation des Christentums, in: St. Ley/I. Proft/M. Schulze (Hrsg.): Welt vor Gott. Für George Augustin (Freiburg i. Br. 2016) 231-242.
Vorausblick auf 500 Jahre „Confessio Augustana“ 2030
In den Unterschieden versöhnte Einheit
Am 25. Juni 2021 empfing Papst Franziskus eine Delegation des Lutherischen Weltbundes, darunter den Präsidenten, Erzbischof Musa Panti Filibus, und den damals noch amtierenden Generalsekretär, Pfarrer Martin Junge. Hintergrund ist das Gedenken an die Verlesung der „Confessio Augustana“ am 25. Juni 1530 vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Augsburg, aber auch der Ausblick auf das 500-Jahr-Jubiläum 2030. Papst Franziskus ging in seiner Ansprache davon aus, dass das Augsburger Bekenntnis als Dokument innerkatholischer Versöhnung gedacht war, und legte wichtige Kriterien für den aktuellen ökumenischen Dialog vor. Gleichzeitig erinnerte er an seinen Besuch 2016 in Lund, der Stadt, wo der Weltbund gegründet wurde. „Bei diesem unvergesslichen ökumenischen Ereignis erlebten wir die dem Evangelium innewohnende Kraft der Versöhnung und wir bezeugten, dass wir ,durch Dialog und gemeinsames Zeugnis […] nicht länger Fremde‘ sind (Gemeinsame Erklärung, 31. Oktober 2016), sondern Brüder und Schwestern“, so der Papst.
Von Papst Franziskus
Liebe Brüder und Schwestern, auf dem Weg „vom Konflikt zur Gemeinschaft“ sind Sie am Tag des Gedenkens an die Confessio Augustana nach Rom gekommen, damit die Einheit unter uns wächst. Ich danke Ihnen dafür und bringe meine Hoffnung zum Ausdruck, dass die gemeinsame Reflexion über die Confessio Augustana im Hinblick auf den 500. Jahrestag ihrer Verlesung am 25. Juni 2030 unserem ökumenischen Weg zugutekommen wird. Und dieser Weg wird nur in der Krise gemacht: die Krise, die uns hilft, das zur Reife zu bringen, was wir suchen. Von dem Konflikt, den wir Jahrhunderte lang durchlebt haben, Jahrhunderte, zu der Gemeinschaft, die wir wollen, und um das zu tun, begeben wir uns in eine Krise. Eine Krise, die ein Segen des Herrn ist.
Die Confessio Augustana stellte damals einen Versuch dar, die drohende Spaltung der westlichen Christenheit abzuwenden; ursprünglich als Dokument innerkatholischer Versöhnung gedacht, nahm sie erst später den Charakter eines lutherischen Bekenntnistextes an. Bereits 1980, anlässlich des 450-jährigen Jubiläums, stellten Lutheraner und Katholiken fest: „Was wir in der Confessio Augustana als gemeinsamen Glauben erkannt haben, kann uns helfen, diesen Glauben auch in unserer Zeit gemeinsam neu zu bekennen“ (Gemeinsame Erklärung „Alle unter dem einen Christus“, Nr. 27). Gemeinsam bekennen, was uns im Glauben eint. Da kommen einem die Worte des Apostels Paulus in den Sinn, der schrieb: „Ein Leib … eine Taufe, ein Gott“ (Eph 4,5-6).
Ein Gott
Im ersten Artikel bekennt die Confessio Augustana den Glauben an den dreieinen Gott und bezieht sich dabei auf das Konzil von Nizäa. Das Glaubensbekenntnis von Nizäa ist ein verbindlicher Ausdruck des Glaubens nicht nur für Katholiken und Lutheraner, sondern auch für unsere orthodoxen Brüder und Schwestern und für viele andere christliche Gemeinschaften. Es ist ein gemeinsamer Schatz. Bemühen wir uns darum, dass der 1700. Jahrestag dieses großen Konzils im Jahr 2025 dem ökumenischen Weg, der ein Geschenk Gottes und für uns ein unumkehrbarer Weg ist, neuen Schwung verleiht.
Eine Taufe
Liebe Brüder und Schwestern, all das, was uns die Gnade Gottes freudig erleben und miteinander teilen lässt – die wachsende Überwindung von Trennungen, die fortschreitende Heilung des Gedächtnisses, die versöhnte und geschwisterliche Zusammenarbeit unter uns –, findet seine Grundlage eben in der „eine[n] Taufe zur Vergebung der Sünden“ (Nicaeno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis). Die heilige Taufe ist die ursprüngliche Gabe Gottes, die all unserem religiösen Bemühen und all unserem Engagement zur Erlangung der vollen Einheit zugrunde liegt.
Ja, denn die Ökumene ist nicht Ausübung kirchlicher Diplomatie, sondern ein Weg der Gnade. Sie beruht nicht auf menschlicher Vermittlung und Übereinkünften, sondern auf der Gnade Gottes, die das Gedächtnis und das Herz reinigt, alle Starrheit überwindet und auf eine erneuerte Gemeinschaft hin ausrichtet. Sie zielt nicht auf ein Herunterhandeln oder auf konziliante Synkretismen, sondern auf eine in den Unterschieden versöhnte Einheit. In diesem Sinne möchte ich alle, die sich im katholisch-lutherischen Dialog engagieren, ermutigen, mit Zuversicht im unablässigen Gebet, im gemeinsamen karitativen Handeln und in der Leidenschaft für die Suche nach größerer Einheit unter den verschiedenen Gliedern des Leibes Christi fortzufahren.
Ein Leib
Diesbezüglich enthält die Regel von Taizé eine schöne Ermahnung: „Mach die Einheit des Leibes Christi zu deiner eigenen leidenschaftlich angestrebten Überzeugung.“ Die Passion für die Einheit reift durch das Leiden, das wir angesichts der Wunden, die wir dem Leib von Christus zugefügt haben, empfinden. Wenn wir Schmerz über die Spaltung der Christen empfinden, nähern wir uns dem an, was Jesus erlebt, wenn er weiterhin mitansehen muss, wie seine Jünger uneins sind und sein Gewand zerrissen ist (vgl. Joh 19,23). Heute haben Sie mir eine Patene und einen Kelch aus den Werkstätten von Taizé geschenkt. Ich danke Ihnen für diese Gaben, die uns an unsere Teilnahme an der Passion des Herrn denken lassen. In der Tat erleben auch wir eine Art Passion, im doppelten Sinn des Wortes: einerseits empfinden wir Leid, weil es noch nicht möglich ist, sich um denselben Altar zu versammeln, um denselben Kelch; andererseits aber verspüren wir auch die Leidenschaft im Dienst an der Sache der Einheit, für die der Herr gebetet und sein Leben hingegeben hat.
Gehen wir also mit solcher Passion unseren Weg vom Konflikt zur Gemeinschaft weiter, auf der Straße der Krise. Im nächsten Schritt wird es um das Verständnis der engen Verbindung zwischen Kirche, Amt und Eucharistie gehen. Dabei wird es wichtig sein, mit geistlicher und theologischer Demut auf die Umstände zu schauen, die zu den Spaltungen geführt haben, im Vertrauen darauf, dass es – wenngleich die traurigen Ereignisse der Vergangenheit nicht ungeschehen gemacht werden können – dennoch möglich ist, sie im Rahmen einer versöhnten Geschichte neu zu sehen. Ihre Generalversammlung im Jahr 2023 könnte ein wichtiger Schritt sein, um das Gedächtnis zu reinigen und die vielen geistlichen Schätze zu würdigen, die der Herr über die Jahrhunderte für alle angelegt hat.
Liebe Brüder und Schwestern, der Weg vom Konflikt zur Gemeinschaft, auf der Straße der Krise, ist nicht leicht, aber wir sind nicht allein: Christus begleitet uns. Der gekreuzigte und auferstandene Herr segne uns alle, besonders Sie, lieber Herr Pfarrer Junge, lieber Freund, der Sie zum 31. Oktober Ihren Dienst als Generalsekretär beenden. Ich danke Ihnen nochmals herzlich für Ihren Besuch und lade Sie ein, gemeinsam, jeder in seiner eigenen Sprache, das Vaterunser für die Wiederherstellung der vollen Einheit unter den Christen zu beten. Und die Art, das zu tun, überlassen wir dem Heiligen Geist, der kreativ ist, sehr kreativ, und außerdem poetisch. Beten wir das Vaterunser!
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
„Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus“
Zur Frage der katholisch-protestantischen Ökumene
Sehr häufig wird eine Rede Joseph Ratzingers zum Thema Ökumene zitiert, die er im Rahmen einer Ökumenischen Akademie am 25. und 26. Januar 1976 in Graz gehalten hat. Die Tagung fand zum zehnjährigen Gedenken an die Aufhebung der gegenseitigen Exkommunikationen zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und Rom statt. Professor Ratzinger sprach zum Thema „Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus“. Seine Rede wurde zunächst in der Fachzeitschrift Ökumenisches Forum – Grazer Hefte für konkrete Ökumene (Jg. 1 (1977), Nr. 1, S. 31-41) veröffentlicht und später auch in den Sammelband „Theologische Prinzipienlehre“ (München 1982, 203-214) aufgenommen. Zunächst ging Ratzinger auf „die geschichtlichen Grundlagen der Kirchenspaltung“ ein und behandelte dann die „Frage der Wiedervereinigung zwischen Ost und West“ sowie die „Frage der katholisch-protestantischen Ökumene“. Nachfolgend dieser zweite Teil.
Von Joseph Ratzinger
Prognosen für die Zukunft des Ökumenismus – die Frage ist nur halb beantwortet, solange nicht auch zu den Einheitschancen zwischen katholischer Kirche und reformatorischen Gemeinschaften etwas gesagt ist. Freilich ist angesichts der ungeheueren Vielschichtigkeit des Weltprotestantismus dieses Problem viel schwieriger zu beantworten als die Frage Katholizismus-Orthodoxie, die sozusagen von einem gemeinsamen und durchgängig bestehenden Muster her einheitlich angegangen werden kann. Eines sollte jedenfalls deutlich sein: Eine Einigung zwischen Katholiken und Orthodoxen behindert nicht die Einheit mit den Reformationskirchen, sondern erleichtert sie. Sie steht freilich einer Lösung entgegen, die das Heil im Verzicht auf das altkirchliche Dogma und auf die Struktur der alten Kirche sucht, wie dies im Vorschlag der Ökumenischen Institute der deutschen Universitätsfakultäten der Sache nach vorgesehen war.[1] Aber daß dies garnicht zur Einheit führt, sondern ihren endgültigen Verzicht einschlösse, wurde uns ja schon vorhin sichtbar. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Positionen und Situationen zwischen den einzelnen reformatorischen Gemeinschaften beschränke ich mich hier auf die von Luther bestimmten Kirchen, wobei dann doch das typische Muster für das Ganze erkennbar werden dürfte. Die Suche nach Kircheneinheit muß von der Logik der Sache her an die gemeinschaftlich-kirchliche Gestalt anknüpfen, so sehr sie gerade das achten und schätzen wird, was an Quellen einer ganz persönlichen Frömmigkeit, an seelischer Kraft und Tiefe für den Einzelnen vorgegeben ist. Aber wenn nicht von einer Vereinigung zwischen Einzelnen und mit Einzelnen die Rede ist, sondern Kirchengemeinschaft gesucht wird, dann sind Bekenntnis und Glaube der Kirche angefordert, in der der Einzelne mitlebt und zu seiner persönlichen Begegnung mit Gott geöffnet wird. Das heißt: der Bezugspunkt solchen Mühens müssen die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche sein und Privattheologien unmittelbar nur in dem Maß, in dem sie auf solch Gemeinschaftliches hinführen.[2] Die Forschungen der letzten Jahre konvergieren da-hin, daß die Confessio Augustana als grundlegende luthersche Bekenntnisschrift nicht nur aus diplomatischen Gründen so abgefaßt wurde, daß sie reichsrechtlich als katholisches Bekenntnis auslegbar sein sollte; sie wurde auch mit innerer Überzeugung als Suche nach evangelischer Katholizität konzipiert – als ein Mühen darum das brodelnde Gebilde der frühen reformatorischen Bewegung in einer Weise zu filtern, die es zu katholischer Reform gestalten konnte.[3] Demgemäß sind Bemühungen in Gang, ei-ne katholische Anerkennung der Confessio Augustana, oder richtiger: eine Anerkennung der CA als katholisch zu erreichen und damit die Katholizität der Kirchen Augsburgischen Bekenntnisses festzustellen, die eine korporative Vereinigung in der Unterschiedenheit möglich macht.[4] Freilich wäre eine solche Anerkennung der CA durch die katholische Kirche wieder weit mehr als ein bloß theoretisch-theologischer Akt, der unter Historikern und Kirchenpolitikern ausgehandelt wird. Er würde vielmehr eine konkrete geistliche Entscheidung und insofern ein wirklich neuer geschichtlicher Schritt auf beiden Seiten sein. Er würde bedeuten, daß die katholische Kirche in den hier gegebenen Ansätzen eine eigene Form der Verwirklichung des gemeinsamen Glaubens mit der ihr zukommenden Eigenständigkeit annähme. Er würde umgekehrt von reformatorischer Seite her bedeuten, diesen vielfältiger Auslegung fähigen Text in der Richtung zu leben und zu verstehen, die zuerst ja auch gemeint war: in der Einheit mit dem altkirchlichen Dogma und mit seiner kirchlichen Grundform. Er würde also insgesamt bedeuten, daß die offene Frage nach der Mitte der Reformation in einem geistlichen Entscheid in Richtung einer katholisch gelebten CA gelöst und das Erbe von damals unter dieser Hermeneutik gelebt und angenommen würde.
Die Frage nach den praktischen Möglichkeiten einer solchen Entscheidung, also die Prognose aus der Diagnose, ist hier noch viel schwieriger als vorhin im Zueinander von katholischer Kirche und Orthodoxie. Auch dies ist eine Frage, der man besser durch Tun als durch Spekulieren entspricht. Welches Tun? Nun, ganz allgemein wiederum durch eine Richtung des Denkens und des Handelns, die den anderen in seiner Suche nach dem wesentlich Christlichen achtet; eine Einstellung, für die Einheit ein vordringliches Gut ist, das Opfer verlangt, während Trennung gerechtfertigt werden muß in jedem einzelnen Fall. Aber entsprechend der vorigen Diagnose können wir das geforderte Tun noch deutlicher definieren. Es bedeutet, daß der Katholik nicht auf die Auflösung der Bekenntnisse und auf die Zersetzung des Kirchlichen im evangelischen Raum setzt, sondern ganz umgekehrt auf die Stärkung des Bekenntnisses und der ekklesialen Wirklichkeit hofft. Natürlich gibt es auch einen Konfessionalismus, der trennt und der überwunden werden muß: Überall da, wo das Nicht-Gemeinsame, das Anti, als das eigentlich Konstitutive gelebt und so auf das Gegeneinander gepocht wird, müssen wir von Konfessionalisus im abträglichen Sinn sprechen, auf welcher Seite solches auch geschehe. Diesem Konfessionalismus der Trennung werden wir eine Hermeneutik der Einung entgegenstellen, die das Bekenntnis auf das Einende hin liest. Unser Interesse, das heißt das Interesse der Ökumene, kann unter dieser Voraussetzung gerade nicht sein, daß das Bekenntnis verschwindet, sondern daß es aus der Abdrängung ins Unverbindliche herausrückt zur vollen Bedeutung verbindlichen gemeinschaftlichen Glaubens in der Kirche. Denn nur wo dies geschieht, ist verbindliche Gemeinschaft auch untereinander möglich, nur so erhält eine Ökumene des Glaubens den nötigen Halt.
Die Frage nach den Prognosen des Ökumenismus ist letztlich eine Frage nach den Kräften, die heute in der Christenheit wirksam sind und als zukunftsprägend angesehen werden dürfen. Zweierlei steht der Verwirklichung kirchlicher Einheit entgegen: auf der einen Seite ein konfessioneller Chauvinismus, der sich letztlich nicht an der Wahrheit, sondern an der Gewohnheit orientiert und in der Fixierung auf das Eigene vor allem gerade auch auf dem besteht, was gegen die anderen gerichtet ist. Auf der anderen Seite eine glaubensmäßige Gleichgültigkeit, die in der Wahrheitsfrage ein Hindernis sieht, Einheit an der Zweckmäßigkeit mißt und sie so zu einem Bündnis im Äußerlichen macht, das fortwährend den Keim neuer Spaltungen in sich trägt. Für die Einheit steht ein Christentum des Glaubens und der Treue, das den Glauben als einen gültigen, inhaltlichen Entscheid lebt, aber gerade darum auf der Suche nach der Einheit ist, sich selbst auf sie hin fortwährend reinigen und vertiefen läßt und damit auch dem anderen hilft, in einem gleichen Weg der Reinigung und Vertiefung die gemeinsame Mitte zu erkennen und sich in ihr finden. Es ist klar, daß die beiden ersten Haltungen dem Menschen unmittelbar viel näher liegen als die dritte, die ihn zugleich aufs höchste fordert und aufs äußerste entmächtigt, von ihm unerschöpfliche Geduld und die Bereitschaft zu immer neuer Reinigung und Vertiefung verlangt. Aber Christentum beruht ja insgesamt auf dem Sieg des Unwahrscheinlichen, auf dem Abenteuer des Heiligen Geistes, der den Menschen über sich hinausführt und ihn gerade so zu sich selber bringt. Weil wir auf diese Kraft des Heiligen Geistes vertrauen, darum hoffen wir auf die Einheit der Kirche und stellen uns dem Ökumenismus des Glaubens zur Verfügung.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter. Ein Memorandum der Arbeitsgemeinschaft ökumenischer Universitätsinstitute (München-Mainz 1973); Text des Memorandums S. 11-25. Eine Reihe von Stellungnahmen dazu in Catholica 27 (1973), siehe bes. den Beitrag von K. Lehmann S. 248-262; vgl. auch H. Schütte: Amt, Ordination und Sukzession (Düsseldorf 1974).
[2] In diesem Zusammenhang müßte natürlich vor allem die Frage geklärt werden, welche Bedeutung der Theologie Luthers im Verhältnis zu den Bekenntnisschriften zukommt. So lange darüber nicht eine einigermaßen allgemein anerkannte Aussage gefunden ist, bleibt auch alles andere unsicher.
[3] Vgl. V. Pfnür: Einig in der Rechtfertigungslehre? Die Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana (1530) und die Stellungnahme der katholischen Kontroverstheologie zwischen 1530 und 1535 (Wiesbaden 1970).
[4] Ein konkretes Programm in dieser Richtung findet man ausgearbeitet in der Zeitschrift Bausteine 1975, Heft 58 S. 9-20 und Heft 59 S. 3-22. Grundsätzlich zur Frage V. Pfnür: Anerkennung der Confessio Augustana durch die katholische Kirche?, in: Internat. kath. Zeitschr. 4 (1975) 298-307. Die Einwendungen von P. Hacker und Th. Beer gegen Pfnürs Beitrag (in ders. Zeitschrift 1976) beruhen auf dem problematischen historischen und prinzipiellen („rechtlichen“) Verhältnis der CA zum Werk Luthers und zum übrigen Werk Melanchthons (bes. der Apologie der Augsburgischen Konfession). Insofern kann die Frage in der Tat nicht durch eine historisch favorable Auslegung der CA gelöst werden, sondern nur durch einen über die Kompetenz des Historikers hinausgehenden spirituellen und ekklesialen Entscheid.
Die „Confessio Augustana“ und der Dialog mit den Protestanten
Für eine aufrichtige Ökumene
Am 25. Juni 1530 wurde auf dem Reichstag zu Augsburg vor Kaiser Karl V. die sog. „Confessio Augustana“, das „Augsburger Bekenntnis“, vorgetragen. Bis heute bilden die 28 Artikel dieser Bekenntnisschrift eine wichtige Glaubensgrundlage für die kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation hervorgegangen sind. 2030 jährt sich das Ereignis zum 500. Mal. Der Lutherische Weltbund wird auf seiner Generalversammlung im Jahr 2023 mit der Vorbereitung des Jubiläums beginnen. Papst Franziskus sieht darin eine Chance für die Ökumene. Es wäre ein guter Anlass für einen inhaltlichen Dialog zwischen Katholiken und Protestanten, der beide Seiten auf eine gemeinsame Grundlage zurückführen könnte. Pfarrer Erich Maria Fink geht auf die ökumenischen Perspektiven ein, die das Jubiläum im Blick auf eine gemeinsame Beschäftigung mit der Bekenntnisschrift bietet.
Von Erich Maria Fink
1530 wurde auf dem Reichstag in Augsburg ein letzter Versuch unternommen, der durch Martin Luther ausgelösten Glaubens- und Kirchenspaltung Einhalt zu gebieten. Im Namen der lutherischen Reichsstände verlas Christian Beyer am 25. Juni vor Kaiser Karl V. deren Bekenntnisschrift, die sog. „Confessio Augustana“. Der Kaiser beauftragte daraufhin zwanzig papsttreue Theologen, eine Erwiderung auszuarbeiten. Am 3. August 1530 wurde diese sog. „Confutatio Augustana“, die im Wesentlichen von Johannes Eck verfasst worden war, auf dem Reichstag vorgetragen, den Anhängern der lutherischen Lehre aber nicht ausgehändigt. Darauf antwortete Philipp Melanchthon unter Einfluss Martin Luthers mit einer dreihundertseitigen Verteidigungsschrift, der Apologie der Confessio Augustana. Sie durfte jedoch dem Kaiser nicht mehr vorgelegt werden und so scheiterten letztlich die Bemühungen, zu vermitteln und die Einheit der Kirche zu retten.
Sehnsucht nach Einheit
Hinter dem Bedürfnis nach Einheit unter den getrennten Christen, das in der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhundert seinen Ausdruck gefunden hat, sieht die Kirche ein machtvolles Wirken des Heiligen Geistes. Alle Päpste seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) haben die Verpflichtung zum ökumenischen Dialog bekräftigt. Die internationale Gebetswoche für die Einheit der Christen, die 1909 von dem amerikanischen Anglikaner Paul Wattson und dem Episkopalianer Spencer Jones ins Leben gerufen worden war, fand bereits durch Papst Pius X. (1903-1914) Unterstützung und wurde 1916 von Papst Benedikt XV. (1914-1922) auf die ganze katholische Kirche ausgeweitet. Papst Benedikt XVI. bezeichnete die Gebetswoche als „prophetische Idee“. Denn sie hebe den entscheidenden Ausgangspunkt in der Ökumene hervor. Es sei die Überzeugung, dass die Wiederherstellung der Einheit nur durch das Wirken des Heiligen Geistes erfolgen könne und als Geschenk von Gott her erwartet werden müsse. Sie könne nicht menschlich gemacht werden, sondern müsse sich unter der Führung von oben als geistlicher Prozess entwickeln. Im Mittelpunkt der Ökumene stehe der gemeinsame Glaube an die Erlösung durch Jesus Christus. Gegenseitige Abgrenzung durch ein gesteigertes Hervorheben der Unterschiede nannte er schon als Professor einen schädlichen Konfessionalismus.
Scheinlösungen
Im Land der Reformation sind die ökumenischen Beziehungen zu einem festen Bestandteil des kirchlichen Lebens geworden. Voller Ungeduld gegenüber den lehramtlichen Hürden möchten Gläubige und Hirten in Deutschland endlich konkrete Schritte gehen und insbesondere Abendmahlsgemeinschaft pflegen. Im September 2019 hatte der Ökumenische Arbeitskreis (ÖAK) ein Papier mit dem Titel „Gemeinsam am Tisch des Herrn“ veröffentlicht, das eine „wechselseitige Teilnahme“ an den Feiern von evangelischem Abendmahl und katholischer Eucharistie vorschlägt. Der wissenschaftliche Leiter des Arbeitskreises von evangelischer Seite, der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin, warf in einem Interview am 3. Februar 2021 dem Vatikan zu diesem Thema „Gesprächsverweigerung“ vor. Kurt Kardinal Koch, der Präsident des Päpstlichen Einheitsrates, schaltete sich mit einem Offenen Brief ein in die Debatte, in dem er die Position der katholischen Kirche sehr deutlich erklärt. Für Kardinal Koch wäre Interkommunion zum jetzigen Zeitpunkt eine Scheinlösung, welche den Weg zur Einheit letztlich behindern würde. „Hinsichtlich des Verständnisses von Kirche, Eucharistie und Weiheamt“ bestehe noch enormer Klärungsbedarf. „Vor allem die Gemeinschaft in der Eucharistie ist in katholischer Sicht nur möglich, wenn der gemeinsame eucharistische Glaube bekannt werden kann“, so Koch.
Und so sah sich die katholische Kirche auch nicht in der Lage, grünes Licht für eine gegenseitige Einladung zum Abendmahl bzw. zur Eucharistie auf dem 3. Ökumenischen Kirchentag vom 13. bis 16. Mai 2021 zu geben.
Der Grundunterschied
Im Dialog mit den Protestanten legt Kardinal Koch den Finger immer wieder auf den wunden Punkt, mit dem alle anderen Streitfragen zusammenhängen. Aus der Erbsündenlehre Martin Luthers ergibt sich eine Verhältnisbestimmung von Gott und Welt, welche das gesamte Erlösungs- und Kirchenverständnis aus dem Lot bringt. Nach Luther nämlich ist der Mensch hier auf Erden so nachhaltig von der Sünde geprägt, dass ihm während seiner irdischen Pilgerschaft trotz Taufe und Eucharistie eine wirkliche Teilhabe am göttlichen Leben verwehrt ist. Diese werde dem Menschen, so Luther, erst nach der Auferstehung des Leibes am Ende der Welt geschenkt, und zwar unter der Voraussetzung, dass er in diesem Leben den Glaubensakt vollzogen und die Vergebung in Jesus Christus angenommen hat. Aus diesem Grund macht es für Luther auch keinen Sinn, im Priestertum und in den Sakramenten der Kirche eine reale Vermittlung von göttlichem Leben an den Empfänger zu sehen. Kardinal Koch hat in seinem jüngsten Vortrag auf einem Ökumene-Kongress in Ungarn am 8. Juni 2021 auf dieses Dilemma aufmerksam gemacht und es anhand der Begriffe Immanenz, Transzendenz und Transparenz erörtert. Die ganzen ökumenischen Gespräche über Kirche, Amt und Eucharistie kämen nicht voran, solange diese theologische Schieflage nicht zurechtgerückt werde. Reformatorisches Denken tendiere zu der Annahme einer radikal von Gott geschiedenen Welt. Selbst die Menschwerdung Gottes habe diese Trennung nicht durchbrochen. Letztlich müsse aufrichtig anerkannt werden, dass diese Lehre tatsächlich kirchtrennend sei und überwunden werden müsse, wie dies ansatzweise durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 bereits geschehen ist.
Das Augsburger Bekenntnis
Der weltweite Aufbruch freikirchlicher Gemeinschaften gründet nicht in einer umfassenden Reflexion dieses theologischen Ansatzes Luthers. Evangelikale kennen die Zusammenhänge größtenteils nicht. Doch betrachten sie die eher praktisch ausgerichteten Artikel des Augsburger Bekenntnisses als bindende Richtlinie für ihre Verkündigung. Im Verweis auf Bibelzitate werden somit die Priesterweihe, die Sakramente der Eucharistie und Buße, die Heiligenverehrung, der Rosenkranz und das Gebet für die Verstorbenen kategorisch abgelehnt, als handle es sich dabei um den größten Verrat an Jesus, dem einzigen Mittler des Heils. Gleichzeitig aber hat die evangelikale Bewegung die lutherischen Grundlagen längst überwunden. In all ihrem religiösen Tun ist sie ganz auf das heiligende Wirken der Gnade im Menschen ausgerichtet, weil dies eben dem Evangelium entspricht.
Gerade auch aus diesem Grund sehe ich es als große Aufgabe und als Chance des bevorstehenden 500-Jahr-Jubiläums, sich mit dem Augsburger Bekenntnis zu beschäftigen und die Widersprüche aufzuarbeiten. Wie in der alten Kirche muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. Dabei sind auch andere Dokumente in die Betrachtung miteinzubeziehen wie die katholische Antwort in der Confutatio, die Verteidigung von Melanchton und die Beschlüsse des Trienter Konzils.
Meines Erachtens sollte die katholische Kirche vorangehen und die öffentliche Diskussion darüber von sich aus anstoßen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
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„Sich selbst vom Herrn reformieren lassen!“ (Papst Franziskus)
Am Ende bleibt die Kirche des Glaubens
Pfr. Dr. Richard Kocher, Programmdirektor des christlichen Senders „Radio Horeb“, zitiert in seinem Geleitwort zum Programmheft für August 2021 weitere Auszüge aus dem Aufsatz von Joseph Ratzinger „Wir wird die Kirche im Jahre 2000 aussehen?“ aus dessen Buch „Glaube und Zukunft“ (1970). Ratzinger hat eine Prognose über die Zukunft der Kirche abgegeben, die in verblüffender Weise Wirklichkeit geworden ist bzw. auf dem Weg dazu ist. Eine gekürzte Wiedergabe.
Von Richard Kocher
Nicht zukunftsfähig ist für Ratzinger, sich dem jeweiligen Augenblick anzupassen, den bequemen Weg zu wählen und nur andere zu kritisieren.
Weiter führt Ratzinger in seinem Artikel aus: „Gehen wir einen Schritt weiter. Aus der Krise von heute wird auch dieses Mal eine Kirche morgen hervorgehen, die viel verloren hat. Sie wird klein werden, weithin ganz von vorne anfangen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkonjunktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihre Privilegien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker gegenüber bisher als Freiwilligkeitsgemeinschaft darstellen, die nur durch Entscheidung zugänglich wird. Sie wird als kleine Gemeinschaft sehr viel stärker die Initiative ihrer einzelnen Glieder beanspruchen. Sie wird auch gewiss neue Formen des Amtes kennen und bewährte Christen, die im Beruf stehen, zu Priestern weihen: In vielen kleineren Gemeinden bzw. in zusammengehörigen sozialen Gruppen wird die normale Seelsorge auf diese Weise erfüllt werden. Daneben wird der hauptamtliche Priester wie bisher unentbehrlich sein. […] Sie wird in Glaube und Gebet wieder ihre eigentliche Mitte erkennen und die Sakramente wieder als Gottesdienst, nicht als Problem liturgischer Gestaltung erfahren. Es wird eine verinnerlichte Kirche sein, die nicht auf ihr politisches Mandat pocht und mit der Linken so wenig flirtet wie mit der Rechten. Sie wird es mühsam haben. Denn der Vorgang der Kristallisation und der Klärung wird ihr auch manche gute Kräfte kosten. Er wird sie arm machen, zu einer Kirche der Kleinen sie werden lassen. […]
Man kann vorhersagen, dass dies alles Zeit brauchen wird. Der Prozess wird lang und mühsam sein. […] Aber nach der Prüfung dieser Trennungen wird aus einer verinnerlichten und vereinfachten Kirche eine große Kraft strömen. Denn die Menschen einer ganz und gar geplanten Welt werden unsagbar einsam sein. Sie werden, wenn ihnen Gott ganz entschwunden ist, ihre volle, schreckliche Armut erfahren. Und sie werden dann die kleine Gemeinschaft der Glaubenden als etwas ganz Neues entdecken. Als eine Hoffnung, die sie angeht, als eine Antwort, nach der sie im Verborgenen immer gefragt haben. So scheint mir gewiss zu sein, dass für die Kirche sehr schwere Zeiten bevorstehen. Ihre eigentliche Krise hat noch kaum begonnen. Man muss mit erheblichen Erschütterungen rechnen. Aber ich bin auch ganz sicher darüber, was am Ende bleiben wird: Nicht die Kirche des politischen Kultes […], sondern die Kirche des Glaubens.
Wage zu träumen! Mit Zuversicht aus der Krise
Papst Franziskus hat ein interessantes Gespräch mit Austen Ivereigh geführt, das unter dem Titel „Wage zu träumen! Mit Zuversicht aus der Krise"[1] im letzten Jahr veröffentlicht worden ist. Besonders wendet er sich gegen eine abgeschottete Geisteshaltung, die für ihn ein Haupthindernis in unserem Herzen darstellt, ja sogar eine Versuchung des bösen Geistes.
„Anstatt sich in die große Aufgabe der Verkündigung in Gemeinschaft mit dem Leib zu stürzen, ziehen sie sich in ‚ihre‘ eigene Gruppe von Puristen zurück, den Hütern der Wahrheit. Für das von einer abgeschotteten Geisteshaltung belagerte Ich mangelt es nie an Gründen, auf dem Balkon zu bleiben, während unten das Leben vorbeizieht. So wird die Saat der Spaltung gesät. An die Stelle einer menschenfreundlichen Offenheit dem anderen gegenüber tritt die vermeintliche Überlegenheit der eigenen Ideen. […] Unter dem Banner der Restauration oder der Reform werden lange Reden gehalten und endlose Artikel geschrieben, es werden doktrinäre Klarstellungen geboten und Manifeste verfasst, die wenig mehr sind als die fixen Ideen von kleinen Gruppen. […] Diejenigen, die behaupten, dass es zu viel ‚Verwirrung‘ in der Kirche gibt und dass nur dieser oder jener Gruppe von Priestern vertraut werden darf, säen Spaltung im Leib. Auch das ist geistliche Wirklichkeit. Das gilt auch für diejenigen, die sagen, dass, bis die Kirche als Beweis für ihr Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter Frauen zu Priestern weiht, der örtliche Bischof oder die Pfarrei nicht auf ihre Mitarbeit zählen kann. Äußerlich erscheinen die Gründe kohärent und prinzipienfest, aber sie verschleiern den Geist der abgeschotteten Geisteshaltung, der sich weigert, innerhalb Seiner Kirche als Jünger Christi zu handeln.“
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Papst Franziskus: Wage zu träumen. Mit Zuversicht aus der Krise, HC mit Schutzumschlag, 192 S., Euro 20,00 (D), Euro 20,60 (A), ISBN: 978-3-466-37272-0 – in jeder Buchhandlung.
„Die Macht der kleinen Herde“ (4)
Erneuerung von Gott her
Im vierten Teil seiner Artikelserie „Die Macht der Kleinen Herde“ stellt Pfarrer Lorenz Rösch ein inzwischen weltweit bekanntes Beispiel gelungener Gemeinde-Erneuerung vor. Es handelt sich um die Pfarrei Saint Benedict in Ostkanada, die Father James Mallon 2010 als neuer Pfarrer übernahm. Mit Unterstützung seines Bischofs versuchte er, neue Wege missionarischen Aufbruchs einzuschlagen. Seine Erfahrungen sollte er auf Wunsch des Bischofs schriftlich festhalten. Father James konnte damals nicht ahnen, dass sein seelsorgliches Experiment zu einer weltweiten Erneuerungsbewegung werden würde. Sie nennt sich nach dem Titel seines Buches „Divine Renovation“ und stellt ein Netzwerk dar, das Pfarreien auf der ganzen Welt miteinander verbindet und in ihrem Bemühen um Erneuerung unterstützt. Pfr. Rösch sieht hier das zentrale päpstliche Anliegen beispielhaft umgesetzt, „… alles zu verwandeln, damit … jede kirchliche Struktur … mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient"[1]
Von Lorenz Rösch
„Divine Renovation“, also „Erneuerung von Gott her“: so benannte Pfarrer James Mallon die neue Dynamik, die sich innerhalb weniger Jahre in der Pfarrei St. Benedict in Halifax an der kanadischen Atlantikküste entfaltet hat. Im Jahr 2014 veröffentlichte Father Mallon sein gleichnamiges Buch[2] – ein Jahr nach Erscheinen des ersten „Rebuilt“-Buches. Auch hier geht es um einen entschlossenen Wandel der Kirchenkultur, der zu einem ungeahnten Wachstum der Gemeinde geführt hat. Entschlossenheit – so zeigt Father Mallon an anderer Stelle auf – ist speziell in der Hinsicht nötig, dass man als Pfarrer und Pfarrleitung bewusst nicht versucht, zuerst alle zu überzeugen oder im langwierigen verkopften Dialog mit allen einen Weg zu finden, den dann letztlich alle irgendwie gut finden, für den aber niemand brennt. Entschlossenheit, stattdessen eine Vision zu vermitteln und die – zunächst eher wenigen – Leute für sie zu gewinnen, die sich bereits nach einer ähnlichen Veränderung sehnen und auch bereit sind, dabei den Anfang zu machen … in der Hoffnung, dass nach und nach auch bei der – erfahrungsgemäß recht großen – Gruppe derer eine Sympathie wachsen kann, die eher abwartend veranlagt sind. Auch wenn es letztlich nur wenige sind, die sich jeder Veränderung verweigern, wenn sie nicht ihre Idee war: Es braucht Entschlossenheit und Klugheit, fundierte Überzeugungen und inspirierende Beispiele. James Mallon vermittelt dies alles.
Zweierlei schmerzliche Erfahrungen ruft der Autor eingangs in Erinnerung. Da sind die alternden gläubigen Eltern, die ihre Kinder mit aller Liebe und Überzeugung an eine kirchliche Glaubenspraxis herangeführt haben und jetzt erleben müssen, dass diese Kinder mit dem Übergang ins Erwachsenenalter das alles hinter sich lassen konnten, ohne dass es ihnen zu fehlen scheint. Dabei quält sie nicht selten die Frage: Was haben wir falsch gemacht? Da ist zum anderen die persönliche und mit anderen Priestern der „Johannes-Paul-II.-Generation“ geteilte Erfahrung, nach der Weihe mit viel Enthusiasmus den Dienst am Volk Gottes angegangen zu sein und dann nur zur Aufrechterhaltung eines Gewohnheits-Christentums gebraucht zu werden. Ihre priesterliche Berufung war oft erst nach einem persönlichen Bekehrungsmoment wachgeworden und sie wollten genau auf solche Weise Priester sein, dass das ihnen anvertraute Stück Kirche zu einem Raum der verändernden Begegnung mit Jesus Christus würde. Sollte das, was sie zutiefst antreibt, in dieser Kirche nicht gefragt sein? Das Ergebnis ist nicht selten innere oder auch äußere Resignation. Als schmerzlicher Hintergrund kommt für beide Personengruppen hinzu die beschämende Thematik des Kindesmissbrauchs, mit dem gravierenden Verlust an Vertrauen und auch an Einrichtungen und Ressourcen.
Trotz allem und gerade jetzt: zurück zum Grundauftrag
Doch auch (und erst recht) auf diesem Hintergrund kann es nach James Mallon keine andere Antwort geben als diese: Wir haben es als Kirche mit einer veränderten vorherrschenden Kultur zu tun, die uns einerseits längst unmerklich prägt, innerhalb derer wir andererseits immer noch mit den Methoden einer vergangenen Kultur unser Glück versuchen. Die vergangene Kultur erlaubte es anscheinend, dass Menschen ohne Erstverkündigung und ohne verbindliche gemeinschaftliche Wege der Christwerdung allmählich ins Christsein hineinwuchsen. Heute ist es unabdingbar, das gemeindliche Kirchesein wieder um diese Eckpfeiler herum zu konstruieren. Damit kommt sozusagen notgedrungen der Grundauftrag Jesu wieder in den Blick, an dem die Identität der Kirche hängt: „Macht zu Jüngern“ (Mt 28, 19). „Wir müssen unsere Identität wiederentdecken und den Mittelpunkt des Auftrags unseres Herrn an seine Kirche ins Zentrum von allem, was wir tun, stellen, so dass es im Herzen jeder Pfarrgemeinde eine Gemeinde von wachsenden, reifenden Gläubigen gibt, die einen lebenslangen Weg regelmäßigen Lernens gehen wollen und die dabei ihnen von Gott gegebenen Talente entdecken. Menschen, die bereit sind zu dienen und schließlich zu Aposteln zu werden."[3]
Laienapostolat und Klerikalismusfalle
Auf den Begriff des Apostolats, speziell des Laienapostolats, kommt der Autor in seinen 15-seitigen scharfsichtigen Ausführungen zum Thema „Klerikalismus“ eingehender zu sprechen. Er schließt dabei an die von Papst Franziskus 2013 in Brasilien benannte Versuchung an, Laien zu klerikalisieren,[4] das heißt, im Blick auf Laien in der Schiene eines Denkens zu bleiben, das einen anerkannten amtlichen „Status“ als Voraussetzung sieht, um „etwas zu sein“. Hier konkret: um von Christus gesandt zu sein; sich selbst bzw. jemanden befugt oder bevollmächtigt zu wissen für das, was doch originäre Taufberufung ist: ein „missionarischer Jünger"[5] / eine „missionarische Jüngerin“ zu sein. Mit diesem ungewohnten Gedanken ist also durchaus ein Aspekt des umfassenden Phänomens erfasst, das Mallon so definiert: „Klerikalismus ist nichts anderes als die Vereinnahmung dessen, was eigentlich jedem Getauften zukommt, durch die Kaste der Kleriker."[6] Dabei handelt es sich nach Franziskus „in der Mehrzahl der Fälle um eine sündige Komplizenschaft“, weil es für so erzogene Laien auch bequemer ist, sich hinter Leuten mit „besonderer“ Berufung zu verstecken und sich auf die Pflege einer Religiosität nach eigenem Maß zu beschränken.
Ebenso kann es für Laien auch bequemer sein, sich in einem amtlichen Status einzurichten, der kircheninterne Dienste beinhaltet und den Weltauftrag ausblendet. Franziskus: „Auch wenn eine größere Teilnahme vieler an den Laiendiensten zu beobachten ist, wirkt sich dieser Einsatz nicht im Eindringen christlicher Werte in die soziale, politische und wirtschaftliche Welt aus. Er beschränkt sich vielmals auf innerkirchliche Aufgaben ohne ein wirkliches Engagement für die Anwendung des Evangeliums zur Verwandlung der Gesellschaft."[7] Mallon zeigt auf, dass innerhalb von 15 Jahren nach dem Konzil nicht nur das Wort, sondern auch die Idee von Laienapostolat verschwunden ist und sich stattdessen alles um die Ausgestaltung und Ausweitung von „Laiendiensten“ dreht, mit denen man das Konzil umzusetzen beansprucht, in Wirklichkeit aber eher die kirchliche Selbstbezüglichkeit noch verstärkt und eine bewahrende Kirche pflegt, statt den Fokus nach außen zu richten. Andererseits drängt er darauf, dass auch im Innenbereich – auf der Ebene konkreter Weggemeinschaft in Kleingruppen und mittelgroßen Kreisen – Laienchristen die Fähigkeit entwickeln, einander Seelsorger zu sein und nicht für jedes persönliche Anliegen meinen, den Pfarrer zu brauchen.[8] So behält dieser den nötigen Freiraum, um alles auf den Grundauftrag der Kirche hin zu orientieren.
Erlösendes Evangelium
Eine andere, von Papst Franziskus benannte Versuchung ist die des (Neo-)Pelagianismus: Das Heil wird mehr von der eigenen Leistung als von der Gnade Gottes erwartet, oder anders gesagt: Gnade ist das, was man durch sein „Kein schlechter Mensch sein“ doch irgendwie verdient hat. Mallon zeigt einleuchtend, wie sehr diese Art von (Un-)Glaubenshaltung das gängige katholische Bewusstsein prägt und sich als erstes wandeln muss, wenn es zu dem nötigen Kulturwandel kommen soll. Denn eine „Freude über die Erlösung“ kann sich erst einstellen, wo man diese als unverdientes Geschenk erfährt. Die pelagianische Grundhaltung zeigt sich in einer „Kultur des Minimalismus“:[9] gerade so viel für Gott (oder für das eigene Gefühl, in Ordnung zu sein) tun, dass es reicht. So fehlt auch jede Motivation, zur Evangelisierung anderer beizutragen: Man weiß ja selber nicht um den Mehrwert, den lebendigen Gott zu kennen. Verwandt mit diesem Minimalismus ist auch ein Verständnis der Sakramente, das nur mehr nach deren Gültigkeit, nicht aber nach den Voraussetzungen für deren Wirksamkeit fragt.[10] typo3/#_ftn10Diesem Notstand kann die Pastoral nach Mallon nur begegnen, indem sie – neben der Katechese und als Bestandteil davon – der auf Umkehr zielenden Zusage der christlichen Kernbotschaft einen festen Platz einräumt, wie dies Papst Franziskus eindringlich fordert.[11]
Unter der Überschrift „Das Fundament legen“ geht James Mallon im Mittelteil seines Buches auf 10 Schlüsselfelder ein, in denen sich der gemeindliche Kulturwandel konkret zeigen muss. Er nennt sie zugleich auch „die zehn Werte (…), die zu einer gesunden und wachsenden Gemeinde gehören“;[12] Werte deswegen, weil alles davon abhängt, dass man sich Rechenschaft gibt, welchen Stellen-Wert man diesen an sich wichtigen Feldern faktisch vor Ort zugesteht. Es geht um: 1. Der Vorrang des Wochenendes; 2. Gastfreundschaft; 3. Aufbauende Musik; 4. [Nahrhafte] Predigten; 5. Echte Gemeinschaft; 6. Klare Erwartungen; 7. Verantwortlichkeiten, die den Fähigkeiten entsprechen; 8. Bildung kleinerer Gemeinschaften; 9. Erfahrung des Heiligen Geistes; 10. Eine [aktiv] einladende Kirche werden.
Gastfreundschaft und Erwartungen – ein Widerspruch?
Hilfreiches und Herausforderndes liest man z.B. zum Thema Gemeinschaft: „Wenn man sich vor 50 Jahren gut benahm und richtig glaubte, dann gehörte man dazu."[13] Doch diese hergebrachte Ordnung hat sich mittlerweile umgekehrt: Nur wo man erst einmal wohltuende Gemeinschaft erleben kann und dadurch ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln kann, wird man bereit sein, sich mit dem Glauben auseinanderzusetzen, der diese Leute bewegt, und schließlich womöglich auch das eigene Verhalten und den Lebensstil verändern. Sonntagsgottesdienste können und sollen ein Stück weit solche Gemeinschaft atmen, aber primär wird diese Erfahrung in St. Benedict über Alpha-Kurse und kontinuierliche Kleingruppen vermittelt.
Mit Bezug auf die „Kleine Herde“ scheint vor allem das Thema „Klare Erwartungen“ von Bedeutung. Ein irritierender Gedanke: Nicht das zu hohe Maß an Erwartungen treibt Menschen aus der Kirche, sondern im Gegenteil das Fehlen von Erwartungen! Das gilt zumindest für die getauften Katholiken, die in Freikirchen eine neue geistliche Heimat finden. Leider korrespondiert das Fehlen von Erwartungen an Einzelne meist mit dem Fehlen von Erwartungen, die die tragenden Mitglieder an ihre Art von Gemeindeleben haben – Erwartungen, die dann erklärtermaßen auch Interessierte an diese Gemeinde haben dürfen. Pfarrer Mallon zitiert als Beispiel die „Erwartungsbroschüre“ von St. Benedict, die beides nacheinander auflistet.[14] Die Erwartungen an die Pfarrmitglieder sind in folgende fünf Stichworte gefasst: Beten – Wachsen – Dienen – Aufeinander zugehen – Geben. Bei allem Anspruch wird der Wegcharakter betont: „Wir sind ein Krankenhaus für Sünder, kein Hotel für Heilige. Wir bitten Sie ganz einfach, mit uns zu gehen und offen zu sein für das, wozu Gott Sie ruft."[15]
Die fünf Erwartungen haben – kaum zufällig – viel gemeinsam mit einer anderen Fünferreihe: den „fünf Systemen“ eines gesunden kirchlichen Organismus‘. Diese sind so bedeutend und so verbreitet, dass ihnen eine eigene Darstellung gewidmet sein wird. Es lässt sich jedoch bereits erahnen, dass gesunde Gemeinde und gesunde persönliche Entwicklung als Christ innerlich verknüpft sind.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
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[1] Papst Franziskus: Evangelii Gaudium (EG), Nr. 27: „Ich träume von einer missionarischen [Grund-]Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln…“
[2] Deutsche Ausgabe: Divine Renovation. Wenn Gott sein Haus saniert. Von einer bewahrenden zu einer missionarischen Kirchengemeinde, Grünkraut 2017 (D&D Medien). Auch hier kam es innerhalb kurzer Zeit zu einer Reihe ergänzender Bücher, auch auf Deutsch: James Mallon: Divine Renovation Handbuch: für die Umwandlung Ihrer Pfarrei, Grünkraut 2018; Ron Huntley/James Mallon: Wie Sie Ihre Pfarrei freisetzen: Jünger gewinnen und Leiter ausbilden mit Alpha, Grünkraut 2019; Simon Lobo CC: Als Lehrling bei Divine Renovation: Wie ich lernte, eine Pfarrei zu leiten, die Menschen in Jüngerschaft führt, Grünkraut 2019.
[3] Divine Renovation, 38.
[4] Franziskus: Ansprache an die Bischöfe des CELAM-Koordinations-Komitees, Nr. 4.3 (www. vatican.va/content/francesco/de/speeches/2013/july/documents/papa-francesco_ 20130728_gmg-celam-rio.html); ähnlich (speziell im Blick auf Frauen) in QA Nr. 100.
[5] Vgl. Franziskus: EG, Nr. 120.
[6] Divine Renovation, 97.
[7] Franzskus: EG, 102.
[8] Vgl. Divine Renovation, 218ff., im Rahmen der Ausführungen zu „Die Bildung kleiner Gemeinschaften“.
[9] Ebd., 92.
[10] Vgl. ebd., 256ff., wo der Autor die „ex opere operato“-Theologie kritisch beleuchtet.
[11] Vgl. Franziskus: EG, Nr. 164f.; auch Nr. 63 mit der Problemanzeige: „Vielerorts besteht (…) eine Sakramentalisierung ohne andere Formen der Evangelisierung.“ Der Papst benutzt gern das neutestamentliche griechische Wort „Kerygma“ (die auf einen Satz verdichtete Botschaft eines Herolds). Anknüpfend an die Etappen der Eingliederung von Erwachsenen in die Kirche verwendet man auch, wie oben im Text, den Ausdruck „Erstverkündigung“.
[12] Divine Renovation, 339. Man beachte Parallelen und Unterschiede zur Liste von „Rebuilt“.
[13] Ebd., 178.
[14] Ebd., 201-205.
[15] Ebd., 201.
Entwicklung „neuer“ Menschenrechte (5)
Gibt es das „Recht“, aktive Sterbehilfe zu leisten?
Im fünften Teil seiner Artikelserie „Entwicklung ‚neuer‘ Menschenrechte“ geht Grégor Puppinck auf die Euthanasie ein (Der denaturierte Mensch und seine Rechte, BeBe-Verlag 2021, ISBN 978-3-903602-07-6). Es geht nicht um die aktuelle Frage des assistierten Suizids mit ihrer eigenen Problematik, sondern um die aktive Sterbehilfe, also die vorsätzliche Herbeiführung des Todes einer dritten Person, mit oder ohne deren Wissen. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Euthanasiepraxis, welche die Welt in Schrecken versetzt hatte, wurde in Europa jede Form aktiver Sterbehilfe verboten. Puppinck fragt sich, wie es plötzlich zu einem solchen Sinneswandel kommen konnte, dass die Tötung von Menschen gar geboten wird.
Von Grégor Puppinck
Die Forderung nach einem Recht, Sterbehilfe zu leisten, ist ebenfalls ein Ausdruck des Willens nach einer vernunftgemäßen Kontrolle des Lebens. Die Sterbehilfe unterscheidet sich vom assistierten Suizid dadurch, dass hier freiwillig einem Dritten der Tod gegeben wird, sei es mit oder ohne seine Zustimmung.
In der Nachkriegszeit wurden mehrere offizielle Texte mit dem Ziel beschlossen, die Euthanasie auf nationaler und internationaler Ebene zu ächten, von denen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)[1] und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verankerte Verbot, „jemanden vorsätzlich zu töten“, wohl das wichtigste ist. Bei den Nürnberger Prozessen wurden seinerzeit auch die Ärzte verurteilt, die Tausende behinderte Personen durch den schrittweisen Entzug von Wasser und Nahrung euthanasiert hatten.[2] In Frankreich verabschiedete die Académie des sciences morales et politiques am 14. November 1949 eine Erklärung, mit der „formell alle Methoden, die darauf abzielen, den Tod von Personen zu bewirken, die man für abstoßend, missgebildet, fehlerhaft oder unheilbar hält“, verurteilt wurden, wobei man zur Erläuterung ausführte, dass „die Euthanasie und, allgemeiner gesagt, alle Methoden, die aus Mitleid den ‚ruhigen und sanften‘ Tod eines todgeweihten Patienten bewirken, ebenfalls ausgeschlossen werden müssen“, weil ansonsten der Arzt sich selbst „eine Art souveräner Herrschaft über Leben und Tod“ anmaßen würde.[3] Zu den Unterzeichnern dieser sehr eindeutigen Erklärung zählte unter anderen René Cassin, einer der wichtigsten Redaktoren der AEMR.
Trotz der üblen Erinnerungen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, wurde die Forderung nach einem Recht auf Sterbehilfe weiterhin erhoben, so dass es notwendig war, das Verbot seither immer wieder in Erinnerung zu rufen. So hat etwa die Parlamentarische Versammlung des Europarats 1976 erklärt, dass der Arzt „selbst in solchen Fällen, die ihm aussichtslos erscheinen, nicht das Recht hat, den natürlichen Eintritt des Todes zu beschleunigen“.[4] Diese Empfehlung wiederholte sie 1999[5] und dann noch einmal 2012, wobei sie bekräftigte, dass „die Euthanasie, im Sinn der vorsätzlichen Tötung einer abhängigen Person in ihrem vermeintlichen Interesse, sei es durch Handeln oder Unterlassen, stets verboten sein muss."[6]
Trotzdem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), beginnend mit der Rechtssache Vincent Lambert,[7] es zugelassen, dass Ärzte den Tod einer Person herbeiführen, indem sie die Wasserzufuhr unterbinden. Gewiss, der medizinische Fortschritt ermöglicht es, dass schwerkranke oder behinderte Personen sehr lange am Leben erhalten werden können. Dies war auch bei Vincent Lambert der Fall, der querschnittsgelähmt war und über eine Sonde ernährt wurde. Ohne diese Unterstützung wäre er, so wie viele andere Personen, längst gestorben. In einem anderen Fall hat der Gerichtshof es sogar zugelassen, dass ein Säugling gegen den Willen seiner Eltern mit der Begründung dem Tod preisgegeben wurde, dass eine Fortsetzung seines Lebens ihn nur sinnlosem Leid ausgesetzt hätte.[8]
Wie kann dieser tiefgreifende Wandel in der Einstellung zum Wert des Lebens erklärt werden? Es reicht nicht aus, zu sagen, dass die Euthanasie durch den medizinischen Fortschritt notwendig geworden ist. Gewiss, in wirtschaftlicher Hinsicht ist sie nützlich, um Behandlungskosten einzusparen. Aber wie kann man ihre moralische Notwendigkeit behaupten?
Nur eine Rückkehr zur materialistischen Auffassung vom Leben kann dies erklären, also zur Idee, dass das Leben nicht an sich heilig sei, dass es sich dabei nur um einen biologischen Prozess handle, der das Bewusstsein tragen solle, welches allein den Wert des Menschen ausmache. Die Euthanasie ist in ihrer Problematik damit der Abtreibung näher als dem assistierten Suizid, da im Gegensatz zum Letzteren die beiden ersteren Praktiken die Macht beanspruchen, dem Leben anderer Menschen ohne deren Zustimmung mit der Begründung ein Ende setzen zu dürfen, dass diese nicht mehr, oder noch nicht, als wirkliche Menschen anzusehen seien. Der EGMR hat denn auch seine Rechtsprechung zur Abtreibung herangezogen, um damit die Zulässigkeit der Euthanasie zu begründen: in dem Bereich „der das Lebensende betrifft, ist es ebenso wie in jenem, der den Beginn des Lebens betrifft, angemessen, den Staaten einen Ermessensspielraum zuzugestehen“,[9] um festzulegen, wie weit der Schutz des Rechts auf Leben reichen soll.
Es ist also nicht mehr das „Leben“ als solches, das geschützt wird, sondern das Leben als Träger eines menschlichen Geistes, dem allein die Menschenwürde zuerkannt wird. So hat der EGMR akzeptiert, dass Herr Lambert durch vorsätzlichen Flüssigkeitsentzug euthanasiert werden konnte, nachdem er „eine tiefgreifende und irreversible Veränderung seiner kognitiven Funktionen und Beziehungsfähigkeit“ festgestellt[10] und somit seinem Leben den menschlichen Charakter abgesprochen hatte: wenn er biologisch noch am Leben sei, dann sei er doch in seiner Individualität bereits gestorben.
Von einem materialistischen Standpunkt betrachtet, wird durch Euthanasie und Abtreibung nicht die Person getötet, sondern nur ein Körper, was moralisch gut ist, weil die Fortsetzung eines solchen Lebens absurd und der Evolution entgegengesetzt wäre, und zudem noch der Gesellschaft eine unnötige Last aufbürden würde.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
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[1] Art. 2 EMRK.
[2] Trials of the War Criminals before the Nuremberg Military Tribunals under Control Council Law No 10, Nuremberg, October 1946 – April 1949, Volume V, Washington DC, Government Printing Office, 1950.
[3] Revue des Travaux de l’Académie des Sciences morales et politiques, procès-verbaux, 1949/2, 258.
[4] Parlamentarische Versammlung (PV) des Europarats: Empfehlung 779 (1976), Rechte der Kranken und Sterbenden, § 7.
[5] PV: Empfehlung 1418 (1999), Schutz der Menschenrechte und der Würde der Todkranken und Sterbenden.
[6] PV: Empfehlung 1859 (2012), Schutz der Menschenrechte und Personenwürde unter Berücksichtigung der Wünsche des Patienten.
[7] EGMR: Vincent Lambert und andere gegen Frankreich [GC], 46043/14, 5. Juni 2015.
[8] EGMR: Charles Gard und andere gegen Vereinigtes Königreich, 39793/17, 27. Juni 2017.
[9] EGMR: Vincent Lambert und andere gegen Frankreich [GC], 46043/14, 5. Juni 2015, § 148.
[10] Ibid., § 44.
Afrikanische Länder im Fadenkreuz des Terrors
Das Evangelium – einzige Quelle der Hoffnung
Afrika gehört aktuell zu den Sorgenregionen des weltweiten päpstlichen Hilfswerks „Kirche in Not“. Besonders die Länder der Sahel-Region werden von dschihadistischen Kämpfern überrannt. Wie der aktuelle Bericht „Religionsfreiheit weltweit 2021“ von „Kirche in Not“ darstellt, soll die Region zum Ausgangspunkt eines „transnationalen Kalifats“ werden – einem islamistischen Herrschaftsbereich von Mali bis Mosambik in der Subsahara-Region, über die Komoren im Indischen Ozean bis zum Süden der Philippinen im Südchinesischen Meer. Auch andere afrikanische Länder, wie zum Beispiel Mosambik im Südosten des Kontinents, stehen im Fadenkreuz des Terrors. Millionen Menschen sind auf der Flucht, ganze Landstriche entvölkert. Hilfsorganisationen mussten aus Sicherheitsgründen ihre Mitarbeiter abziehen. Nicht so die Kirche: Priester, Ordensleute und Katecheten bleiben vor Ort und stemmen die Versorgung und die Begleitung der schwer traumatisierten Menschen. „Kirche in Not“ unterstützt sie dabei – und wird so Zeuge von Geschichten der Hoffnung inmitten von Terror und Leid. Wir dokumentieren zwei dieser Geschichten.
Von Tobias Lehner
Nigeria: Sophia hat wieder eine Stimme
Jenen Tag im November 2018 wird die jetzt 21-jährige Sophia [Name von der Redaktion geändert] nie vergessen. Die junge Frau lebte damals auf einem Bauernhof im Nordosten Nigerias. Sophia, ihre jüngere Schwester und die Eltern arbeiteten im Freien, als junge Männer den Bauernhof umstellten. Auf Motorrädern waren sie gekommen. Vom Vater verlangten sie die Herausgabe der Mädchen, sonst müsse er sterben. Was sich danach abspielte, ist schwer in Worte zu fassen. Nach der Weigerung des Vaters, seine Töchter auszuliefern, hielt Sophia seinen Kopf in ihren Händen. Die Angreifer hatten ihn enthauptet. Sophia fiel in Ohnmacht. „Seither hat sie immer wieder Flashbacks [traumatische Rückerinnerungen; Anm. d. Red.]. Sie lebt in der ständigen Angst, getötet zu werden“, berichtet Joseph Bature Fidelis „Kirche in Not“. Der Priester hat auch einen Abschluss in Klinischer Psychologie und betreut die junge Frau.
Mit der grausamen Ermordung ihres Vaters war das Martyrium von Sophia nicht zu Ende. Nach einer längeren Zeit der Bewusstlosigkeit wachte sie im Dschungel auf. Die jungen Männer hatten sie in ein Lager der Terrorgruppe Boko Haram verschleppt. Den Horror, den Sophia dort erlebte, beschreibt der Priester und Therapeut nicht näher. Nur so viel: „Sie wurde dort wiederholt gefoltert und auf jede erdenkliche Weise missbraucht.“
Ihr gelang schließlich die Flucht. Verwundet, erschöpft und voller Schmerzen traf sie auf einen Mann. Er half ihr, sich in Sicherheit zu bringen. Sophia konnte sich jedoch beim besten Willen nicht erinnern, wo ihr Elternhaus lag. Stunden dauerte es, bis sich die Fragmente in ihrem Gedächtnis zusammenfügten und sie zu ihrer Familie gebracht werden konnte.
Viele Frauen sind schwer traumatisiert
„Damals konnte Sophia weder sprechen noch erklären, was geschehen war“, erzählt Joseph Bature Fidelis. Ihre Mutter hatte sie zu ihm gebracht. „Sie sah Geister und Menschen ohne Kopf. Sie halluzinierte und hatte bedrängende Gedanken.“ Sophia ist eines der vielen Opfer von Boko Haram, das im Traumahilfezentrum der Diözese Maiduguri Hilfe erhält. „Kirche in Not“ unterstützt die Initiative, um den an ihrer Seele verwundeten Menschen Heilung zu ermöglichen. Joseph Bature Fidelis arbeitet dort.
Schicksale wie das von Sophia gibt es im Nordosten Nigerias viele. „Durch Boko Haram haben viele Menschen ihr Leben verloren. Viele wurden vertrieben und leben in Lagern“, so der Priester. Genau dort setzt die Diözese Maiduguri an. Sie hat einen psychologischen Hilfsdienst aufgebaut: Ärzte und Psychologen schulen sogenannte Laien-Berater, die in verschiedenen Flüchtlingslagern psychologische Ersthilfe, Gruppenberatung und psychosoziale Unterstützung leisten. In besonders schweren Fällen werden traumatisierte Menschen in eine neuropsychiatrische Klinik überwiesen.
Sophia geht es heute viel besser. Sie erhielt Medikamente und eine Therapie. Die Halluzinationen verschwanden. Sie isst wieder besser, schläft normal. Sie hat große Fortschritte auf dem Weg in ein einigermaßen normales Leben gemacht. Derzeit arbeitet sie als Näherin. In das Traumahilfezentrum kommt sie regelmäßig zur Nachsorge. Sie hat große Zukunftspläne: „Sie hat gefragt, ob sie ihre Ausbildung fortsetzen kann, da sie nur einen einfachen Schulabschluss hatte. Und jetzt hat sie sich für Aufnahmeprüfungen angemeldet, um später an der Hochschule studieren zu können“, berichtet Joseph Bature Fidelis. Boko Haram soll nicht das letzte Wort haben.
Mosambik: Radios bringen Hoffnung
Eine Stimme des Trostes – das brauchen auch die Menschen in der Provinz Cabo Delgado im Norden Mosambiks. Sie gehen seit Jahren durch die Hölle: Seit 2017 haben dschihadistische Truppen Schätzungen zufolge mehr als 2500 Menschen getötet und eine Dreiviertelmillion vertrieben. Berichte über niedergebrannte Dörfer, Massaker und Entführungen gehören mittlerweile zum Alltag. Aufgrund der gefährlichen Lage ist es selbst für Hilfsorganisation schwierig, in die Region zu gelangen. Oft ist die Kirche die einzige Anlaufstelle für die Menschen. Ordensfrauen, Priester und Katecheten kümmern sich darum, dass Binnenflüchtlinge untergebracht und versorgt werden – wenn auch unter prekären Umständen. Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ hat dafür Soforthilfen bereitgestellt und unterstützt die Arbeit der Seelsorger und Ordensleute in der Region.
Neben der Hilfe suchen viele der leidgeprüften Bewohner auch einen Halt und Trost im Glauben. „Evangelisierung in der Krise“ heißt ein Seelsorgeprojekt der Diözese Pemba, das „Kirche in Not“ ebenfalls fördert. Hauptmittel der Verkündigung ist das Medium, das zurzeit in der Region am besten funktioniert: das Radio. Internet und Mobilfunknetz brechen viel zu oft zusammen und sind nicht flächendeckend verfügbar. Darum bietet das Radio eine Möglichkeit, die isolierte Bevölkerung zu erreichen.
Kirchlicher Radiosender ist einzige Quelle des Trostes
Das war schon vor der Krise so: Viele Dörfer sind abgelegen, in der Regenzeit sind die Straßen unpassierbar. Auch hier griff die katholische Diözese schon auf das Radio zurück, um die heilige Messe auszustrahlen, Katechese und Beratung anzubieten oder die Menschen mit christlicher Musik zu trösten. Der bewaffnete Konflikt hat die Lage noch schlimmer gemacht. Die Terroristen zerstörten auch einen der katholischen Radiosender in der Region. Nun ist „Radio Sem Fronteiras“ (Radio ohne Grenzen) als einziges katholisches Medium übriggeblieben. Das Einzugsgebiet und die Zahl der Hörer hat sich erheblich vergrößert. „Kirche in Not“ hat geholfen, das Sendersignal und damit die Reichweite zu verstärken. Auch konnte „Radio Sem Fronteiras“ dank der Hilfe neue Programme ins Leben rufen und Kooperationen mit anderen Sendern schließen, sodass nun auch über andere Stationen christliche Inhalte ausgestrahlt werden können. Radio-Direktor Latifo Fonseca bedankt sich bei allen Spendern, die das ermöglichen: „Ich sende jedem einzelnen von ihnen meinen Segen. Sie helfen jeden Tag, die Mission Jesu Christi an Orten weiterzuführen, an denen es viel Leid gibt.“
Die Lage im Norden Mosambiks ist so schlimm, dass viele Gemeinden nicht einmal ein Radiogerät oder gar Strom haben. „Kirche in Not“ hat deshalb Radiogeräte finanziert, die mit Solarenergie aufgeladen werden können. Jedes Gerät wurde einem Gemeindeleiter – meistens ein Katechet – übergeben. So sollen möglichst viele Christen das hören können, was in diesen Zeiten des Terrors die wohl einzige Quelle der Hoffnung ist: das Evangelium.
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Fatima im Licht der Barmherzigkeit Gottes
Gott will die Sünder retten
Die Theologin und Autorin Anna Roth hatte zum 100-jährigen Jubiläum von Fatima ein Buch herausgebracht, das den Titel trägt: „Maria & Fatima im Licht der Barmherzigkeit Gottes“. Es geht also darum, die Botschaft von Fatima im Licht der Barmherzigkeit Gottes zu verstehen. Doch ist Fatima nicht eine Drohbotschaft mit Höllenwarnung? Sind diese Gegensätze zwischen barmherziger Liebe Gottes einerseits und Höllenqualen andererseits aufknotbar?
Von Anna Roth
Gott schenkt Freiheit
Schauen wir auf den Gekreuzigten. Für uns ist Jesus am Kreuz gestorben. Um die Menschheit zu erlösen, hat er sein Blut vergossen. Hier liegt ein erster Schlüssel zur Fatima-Botschaft. Es geht um die Rettung der Seelen. Er ist für alle gestorben. Es werden aber nicht alle sein. Warum? Weil Gott die Liebe ist. Weil Gott Freiheit schenkt.
Der hl. Franz von Sales hat sich intensiv mit der Willensfreiheit des Menschen auseinandergesetzt. Er bemerkt: „Eine Person, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes, muss frei sein. Denn erst die Freiheit gibt der Schöpfung einen Sinn. Auch der christliche Gehorsam erweist sich nur im Vollzug der Freiheit. Die tiefsten Akte des Menschen wie: Glaube – Liebe – Anbetung – Kreuz-Annahme sind nur möglich im Vollzug der Freiheit."[1]
Eine wirksame Hilfe, unsere von Gott geschenkte Freiheit nicht zu missbrauchen, bietet das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Wir denken an den Gesetzeslehrer, der Jesus auf die Probe stellen wollte, indem er ihn fragte: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,36-39).
Rettung der Seelen
Das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe schenkt uns den zweiten Schlüssel zur Sinnfrage der Botschaft. Welche Aufträge erteilt Maria in Fatima den Kindern? Was sagt sie konkret? Zunächst sind es ganz einfache Aufgaben. So bittet sie um das tägliche Rosenkranzgebet und um das Engelgebet sowie um Opferbereitschaft. Mit der Erscheinung des Engels beginnt Fatima. Folgende Gebete sollen die Kinder täglich sprechen:
„Mein Gott, ich glaube an Dich, ich bete Dich an, ich hoffe auf Dich und ich liebe Dich. Ich bitte Dich um Verzeihung für jene, die an Dich nicht glauben, Dich nicht anbeten, auf Dich nicht hoffen und Dich nicht lieben.“
„Heiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, in tiefer Ehrfurcht bete ich Dich an und opfere Dir auf den kostbaren Leib und das Blut, gegenwärtig in allen Tabernakeln der Erde, zur Wiedergutmachung für alle Schmähungen, Sakrilegien und Gleichgültigkeiten, durch die Er selbst beleidigt wird. Durch die unendlichen Verdienste Seines Heiligsten Herzens und des Unbefleckten Herzens Marias bitte ich Dich um die Bekehrung der armen Sünder.“
Das Engelgebet bildet den Rahmen der Fatima-Botschaft. Alle wesentlichen Punkte sind involviert. Maria bittet die Kinder, nach jedem Rosenkranzgesätz zu beten: „O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die Deiner Barmherzigkeit besonders bedürfen."[2] Das ist ein starkes Gebet im Dienst der Gottes- und Nächstenliebe.
Gott zwingt nicht. Er schenkt Freiheit. Und so fragt Maria höflich die Kinder: „Wollt ihr euch Gott anbieten, um alle Leiden zu ertragen, die Er euch schicken wird, zur Sühne für alle Sünden, durch die Er beleidigt wird und als Bitte für die Bekehrung der Sünder?“ Ja – die Kinder wollen es. Sie reagieren euphorisch. Die drei Kinder – Lucia, Jacinta und Francisco – waren bereit, dem Willen Gottes gehorsam zu folgen. Christlicher Gehorsam ist eine Antwort der Freiheit des menschlichen Willens auf den Ruf Gottes. Und diese Freiheit ist eine Frucht der Liebe, denn Gott ist die Liebe.
Papst Benedikt XVI. zeigt auf, was Liebe bewirkt: „Liebe wächst durch Liebe."[3] Die Kinder erfüllen die Aufgaben Marias. Ihre Persönlichkeitsentwicklung bezeugt die Aussage, dass Liebe durch Liebe wächst. Sie gehen den Weg bis zum Ende.
Fatima hat sich zu einer großen Wallfahrtsstätte mit jährlich über neun Millionen Pilgern entwickelt. Die Botschaft ist aktueller denn je. Die Bitte Marias, für die Bekehrung der Sünder zu beten, betrifft uns alle. Sie behält ihre Gültigkeit bis zur Wiederkunft Christi.
Gottvertrauen
Gottvertrauen ist der dritte Schlüssel. Das Problem ist, dass viele Menschen keine Hoffnung auf Rettung haben. Sie glauben, Gott könnte ihnen nicht verzeihen. Doch Gott will jede Seele retten. Deshalb ergeht der Auftrag von Fatima in die Welt, an alle Christen, für die Bekehrung der Sünder zu beten. Wir tragen Mitverantwortung.
Maria betont es in Fatima ausdrücklich: „Viele Seelen kommen in die Hölle, weil sich niemand für sie aufopfert und weil niemand für sie betet."[4] Unsere Gebete und Opfer können die Menschheit zur Umkehr verhelfen.
Jesus schenkt Hoffnung. Er sagt zur hl. Sr. Faustyna Kowalska aus Polen: „Die größten Sünder würden zu großer Heiligkeit gelangen, wollten sie nur meiner Barmherzigkeit vertrauen."[5]
Franz von Sales bemerkt sehr passend: „Gott macht immer den ersten Schritt“, d.h.: Das Erste, wodurch Er uns zuvorkommt, geschieht durch Ihn, in uns – ohne uns. Alles andere geschieht durch Ihn auch in uns – aber nicht ohne uns. „Der menschliche Wille hat eben auch die Freiheit, sich der Gnade Gottes entgegenzustellen – auch dann, wenn Gott mit seiner Gnade uns zuvorkommt. Es geht im Prinzip immer um das Zusammenspiel von Gnade und menschlicher Willensfreiheit."[6]
Die Barmherzigkeit Gottes
Maria erscheint in Fatima, weil Gott die Sünder retten will. Es geht um die Barmherzigkeit. Sie schenkt uns den vierten Schlüssel zur Fatima-Botschaft.
Schauen wir auf die hl. Sr. Faustyna. In ihrem Tagebuch spricht sie über die Begegnungen mit Jesus. Er teilt ihr mit: „Keine Seele soll Angst haben, sich mir zu nähern, auch wenn ihre Sünden rot wie Scharlach wären. Meine Barmherzigkeit ist so groß, dass sie in der ganzen Ewigkeit durch keinen Verstand, weder von Menschen noch von Engeln, ergründet werden kann."[7]
Fatima ist jetzt. Benedikt XVI. hat diese Aussage bei seinem Besuch in Fatima am 13. Mai 2010 bestätigt. Er sagte: „Wer glaubt, dass die prophetische Mission Fatimas beendet sei, der irrt sich. Hier an diesem Ort wird jener Plan Gottes wieder lebendig, der die Menschheit seit frühesten Zeiten mit der Frage konfrontiert: Wo ist dein Bruder Abel?"[8]
Es liegt an uns. Wir haben die Zusage der Gottesmutter. Wenn wir die Fatima-Botschaft umsetzen, wird Gott die Sünder retten.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2021
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[1] Jahrbuch für salesianische Studien, Bd. 22, Eichstätt 1989.
[2] Sr. Lucia spricht über Fatima, 7. Aufl., Fatima 2001.
[3] Benedikt XVI.: Deus caritas est, Freiburg 2006.
[4] Sr. Lucia spricht über Fatima.
[5] Sr. Maria Faustyna Kowalska: Tagebuch, 2. Aufl., Hauteville 1991.
[6] Jahrbuch für salesianische Studien, Bd. 22.
[7] Tagebuch.
[8] Auszug aus der Predigt von Papst Benedikt XVI. in Fatima am 13. Mai 2010, in: Fatima ruft, 3/ 2010.
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