Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Die Zukunftsvision des Papstes für die Kirche ist ein „synodaler Weg“. Doch was bedeutet das für Papst Franziskus? Er wünscht sich eine „synodale Kirche“, in der die unterschiedlichen Berufungen, Stände und Begabungen aufeinander hören und füreinander da sind. Er geht vom griechischen Wort „Synode“ aus, was wörtlich übersetzt nichts anderes bedeutet als „miteinander auf dem Weg sein“. Genau darin sieht Franziskus eine der tiefsten Wesensmerkmale von Kirche, wie sie Jesus Christus gestiftet hat. In der Welt von heute könne die Kirche ihre Sendung nur dann verwirklichen, wenn sie zu einem synodalen Weg finde, wenn sie ihre Synodalität mehr und mehr praktiziere. Alles ziele darauf ab, durch das synodale Vorgehen zu entdecken, wohin der Heilige Geist die Kirche führen möchte, gemeinsam zu erkennen, wie dem modernen Menschen das Evangelium verkündet werden könne. 

Alle bisherigen Bischofssynoden nützte Papst Franziskus dazu, um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Schon auf der Familiensynode 2015 hielt er zum Thema „Synodalität“ programmatische Ansprachen. Bei der Jugendsynode 2018 betonte er unentwegt, dass die Verantwortlichen der Kirche zunächst den Jugendlichen zuhören und sie verstehen lernen sollten, bevor sie fertige Antworten präsentierten. Und die bevorstehende 16. ordentliche Bischofssynode im Oktober 2023 möchte er nun ganz diesem Thema widmen. Er stellte sie unter das Thema „Für eine synodale Kirche – Gemeinschaft, Teilhabe und Mission“.

Doch damit nicht genug: Franziskus überraschte jetzt die Weltkirche mit dem Auftrag an alle Bischöfe, die Synode bereits am Sonntag, den 17. Oktober 2021, auf Diözesanebene feierlich zu eröffnen. Damit soll ein zweijähriger „synodaler Weg“ beginnen, der am Ende in die große Bischofsversammlung mit dem Papst in Rom einmündet. Ziel ist die Entwicklung einer synodalen Kultur, die Einübung synodaler Prozesse auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens. Es geht also weniger um die Erarbeitung neuer kirchlicher Dokumente oder pastoraler Konzepte zur Evangelisation, sondern mehr um die Art und Weise, wie Kirche-Sein konkret miteinander gelebt und gestaltet werden kann.

Als sich die Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz als Antwort auf den Missbrauchsskandal im März 2019 in Lingen auf einen „Synodalen Weg“ verständigte, knüpfte sie sowohl an die Würzburger Synode von 1971 bis 1975 als auch an die jüngsten Impulse des Papstes an. In der Zwischenzeit aber hat Franziskus wiederholt die falschen Weichenstellungen auf dem Synodalen Weg der Kirche in Deutschland angemahnt, sei es mit dem Brief „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ oder mit dem jüngsten Dokument über die Unmöglichkeit der Segnung von homosexuellen Paaren.

Verfechter der derzeitigen Linie des Synodalen Weges in Deutschland versuchen, die Initiative des Papstes „für eine synodale Kirche“ nun so zu deuten, als mache er sich das deutsche Experiment für die ganze Weltkirche zu Eigen. Doch dies entspricht offenkundig nicht den Tatsachen. Eher möchte er mit der Entscheidung, weltweit einen synodalen Weg anzustoßen, den Synodalen Weg in Deutschland einfangen und einem möglichen Scheitern durch eine rechtzeitige Richtungsänderung zuvorkommen.

Liebe Leser, das Anliegen von Papst Franziskus wollen wir aus tiefstem Herzen mittragen, vor allem aber auch durch unser Gebet unterstützen. Für Ihre großherzigen Spenden sagen wir Ihnen ein aufrichtiges Vergelt’s Gott und erbitten für sie alle auf die Fürsprache Mariens, dem Stern der Evangelisierung, Gottes reichsten Segen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Weg der Kirche des dritten Jahrtausends

Was bedeutet „Synodalität“?

Bereits am 17. Oktober 2015 hat Papst Franziskus eine umfassende Konzeption für eine „synodale Kirche“ vorgelegt. Dazu bot ihm die 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode einen passenden Anlass. Mit dem Motu proprio „Apostolica sollicitudo“ – „Mit apostolischer Sorge“ vom 15. September 1965 hatte der hl. Papst Paul VI. das Instrument der Synode geschaffen, um Bischöfe aus aller Welt in die Ausübung seines Petrusamtes einzubeziehen. Die Jubiläumsfeier legte Papst Franziskus bewusst auf den 17. Oktober, um sie mit den Teilnehmern der 14. ordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode begehen zu können. Diese fand vom 4. bis 25. Oktober 2015 zum Thema „Berufung und Sendung der Familie in Kirche und Welt von heute“ statt. In der Vorbereitung und Durchführung dieser Synode versuchte Franziskus schon damals, nicht nur die Bischöfe, sondern das ganze Volk Gottes einzubinden.

Von Papst Franziskus

Kostbares Vermächtnis des Konzils

Vom Anfang meines Dienstes als Bischof von Rom an hatte ich vor, die Synode aufzuwerten, die eines der kostbarsten Vermächtnisse der letzten Konzilssitzung ist.[1] Nach Absicht des seligen Pauls VI. sollte die Bischofssynode das Bild des ökumenischen Konzils aufgreifen und dessen Geist und Methode widerspiegeln.[2] Der Papst selbst stellte in Aussicht, der Organismus der Synode werde „im Verlauf der Zeit eine immer noch vollkommenere Form erlangen können“.[3] Dem stimmte der heilige Johannes Paul II. zwanzig Jahre später zu, als er sagte: „Vielleicht kann dieses Instrument noch verbessert werden. Vielleicht könnte sich die kollegiale pastorale Verantwortung in der Synode noch voller ausdrücken."[4] Schließlich approbierte Benedikt XVI. im Jahre 2006 einige Änderungen der Synodenordnung, auch im Licht der Vorschriften des Codex des Kanonischen Rechtes und des Rechtscodex der Ostkirchen, die inzwischen promulgiert worden waren.[5]

Auf diesem Weg müssen wir weitergehen. Die Welt, in der wir leben und die in all ihrer Widersprüchlichkeit zu lieben und ihr zu dienen wir berufen sind, verlangt von der Kirche eine Steigerung ihres Zusammenwirkens in allen Bereichen ihrer Sendung. Genau dieser Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.

Übernatürlicher Glaubenssinn des ganzen Volkes

Was der Herr von uns verlangt, ist in gewisser Weise schon im Wort „Synode“ enthalten. Gemeinsam voranzugehen – Laien, Hirten und der Bischof von Rom –, ist ein Konzept, das sich leicht in Worte fassen lässt, aber nicht so leicht umzusetzen ist.

Nachdem das Zweite Vatikanische Konzil betont hat, dass das Volk Gottes aus allen Getauften gebildet und zu „einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum"[6] zusammengerufen ist, verkündet es: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren. Und diese ihre besondere Eigenschaft macht sie durch den übernatürlichen Glaubenssinn des ganzen Volkes dann kund, wenn sie ,von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert."[7] Das ist das berühmte „unfehlbar in credendo“.

Im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium habe ich das noch einmal unterstrichen: „Das Volk Gottes ist heilig in Entsprechung zu dieser Salbung, die es „in credendo“ unfehlbar macht“:[8] Und ich habe hinzugefügt: „Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre."[9] Der sensus fidei [der Glaubenssinn] verbietet, starr zwischen Ecclesia docens [der lehrenden Kirche] und Ecclesia discens [der lernenden Kirche] zu unterscheiden, weil auch die Herde einen eigenen „Spürsinn“ besitzt, um neue Wege zu erkennen, die der Herr für die Kirche erschließt.[10]

Eine Kirche des Zuhörens

Diese Überzeugung war es, die mich geleitet hat, als ich wünschte, dass das Volk Gottes bei der Vorbereitung auf den zweifachen Synodentermin konsultiert würde – wie es gewöhnlich mit allen Lineamenta [Vorbereitungsdokumenten] geschieht und geschah. Selbstverständlich könnte eine Befragung dieser Art in keiner Weise genügen, um den sensus fidei zu hören. Aber wie wäre es möglich gewesen, über die Familie zu sprechen, ohne Familien zu Rate zu ziehen und ihre Freuden und Hoffnungen, ihre Leiden und ihre Ängste[11] anzuhören? Durch die Antworten auf die zwei Fragebögen, die an die Teilkirchen verschickt wurden, hatten wir die Möglichkeit, wenigstens einige von ihnen zu hören in Bezug auf Fragen, die sie ganz direkt betreffen und über die sie so viel zu sagen haben.

Eine synodale Kirche ist eine Kirche des Zuhörens, in dem Bewusstsein, dass das Zuhören „mehr ist als Hören“.[12] Es ist ein wechselseitiges Anhören, bei dem jeder etwas zu lernen hat: das gläubige Volk, das Bischofskollegium, der Bischof von Rom – jeder im Hinhören auf die anderen und alle im Hinhören auf den Heiligen Geist, den „Geist der Wahrheit“ (Joh 14,17), um zu erkennen, was er „den Kirchen sagt“ (vgl. Offb 2,7).

Die Bischöfe als authentische Hüter, Ausleger und Zeugen des Glaubens

Die Bischofssynode ist der Sammelpunkt dieser Dynamik des Zuhörens, das auf allen Ebenen des Lebens der Kirche gepflegt wird. Der synodale Weg beginnt im Hinhören auf das Volk, das „auch teilnimmt am prophetischen Amt Christi“,[13] gemäß einem Prinzip, das der Kirche des ersten Jahrtausends wichtig war: „Quod omnes tangit ab omnibus tractari debet“ – „Was alle angeht, muss von allen besprochen werden.“ Der Weg der Synode setzt sich fort im Hinhören auf die Hirten. Durch die Synodenväter handeln die Bischöfe als authentische Hüter, Ausleger und Zeugen des Glaubens der ganzen Kirche, wobei sie verstehen müssen, diesen von den oft wechselhaften Strömungen der öffentlichen Meinung zu unterscheiden. Am Vorabend der Synode des vergangenen Jahres habe ich gesagt: „Vom Heiligen Geist erbitten wir für die Synodenväter vor allem die Gabe des Hinhörens: des Hörens auf Gott, so dass wir mit Ihm den Schrei des Volkes hören; des Hinhörens auf das Volk, so dass wir dort den Willen wahrnehmen, zu dem Gott uns ruft."[14]

Und schließlich gipfelt der synodale Weg im Hören auf den Bischof von Rom, der berufen ist, als „Hirte und Lehrer aller Christen"[15] zu sprechen: nicht von seinen persönlichen Überzeugungen ausgehend, sondern als oberster Zeuge der fides totius Ecclesiae [des Glaubens der gesamten Kirche], als „Garant des Gehorsams und der Übereinstimmung der Kirche mit dem Willen Gottes, mit dem Evangelium Christi und mit der Überlieferung der Kirche“.[16]

Die zentrale Aufgabe des Petrusnachfolgers

Die Tatsache, dass die Synode immer cum Petro et sub Petro handelt – also nicht nur cum Petro, sondern auch sub Petro – ist keine Begrenzung der Freiheit, sondern eine Garantie für die Einheit. Der Papst ist nämlich nach dem Willen des Herrn „das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen“.[17] Damit verbindet sich das Konzept der „hierarchischen Gemeinschaft“, das vom Zweiten Vatikanischen Konzil angewandt wurde: Die Bischöfe sind mit dem Bischof von Rom durch das Band der bischöflichen Gemeinschaft verbunden (cum Petro) und sind ihm als dem Haupt des Kollegiums zugleich hierarchisch unterstellt (sub Petro).[18]

Die Synodalität als konstitutive Dimension der Kirche bietet uns den geeignetsten Interpretationsrahmen für das Verständnis des hierarchischen Dienstes selbst. Wenn wir begreifen, dass „Kirche und Synode Synonyme sind“, wie der heilige Johannes Chrysostomos sagt[19] – denn die Kirche ist nichts anderes als das „gemeinsame Vorangehen“ der Herde Gottes auf den Pfaden der Geschichte zur Begegnung mit Christus, dem Herrn –, dann begreifen wir auch, dass in ihrem Innern niemand über die anderen „erhöht“ werden kann. Im Gegenteil, in der Kirche ist es notwendig, dass jemand sich „erniedrigt“, um sich unterwegs in den Dienst der Brüder und Schwestern zu stellen.

Jesus hat die Kirche gegründet und an ihre Spitze das Apostelkollegium gestellt, in dem der Apostel Petrus der „Fels“ ist (vgl. Mt 16,18), derjenige, der die Brüder und Schwestern im Glauben „stärken“ soll (vgl. Lk 22,32). Doch in dieser Kirche befindet sich der Gipfel wie bei einer auf den Kopf gestellten Pyramide unterhalb der Basis. Darum werden diejenigen, welche die Autorität ausüben, „ministri“ – „Diener“ genannt, denn im ursprünglichen Sinn des Wortes „minister“ sind sie die Kleinsten von allen. Im Dienst am Volk Gottes wird jeder Bischof für den ihm anvertrauten Teil der Herde zum vicarius Christi,[20] zum Stellvertreter jenes Jesus, der sich beim Letzten Abendmahl niedergekniet hat, um den Aposteln die Füße zu waschen (vgl. Joh 13,1-15). Und in gleicher Sichtweise ist der Nachfolger Petri nichts anderes als der „servus servorum Dei – der „Diener der Diener Gottes“.[21]

Vergessen wir das nie! Für die Jünger Jesu ist gestern, heute und immer die einzige Autorität die Autorität des Dienstes, die einzige Macht die Macht des Kreuzes, getreu den Worten des Meisters: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein“ (Mt 20,25-27). Bei euch soll es nicht so sein: Mit diesen Worten stoßen wir zum Kern des Geheimnisses der Kirche vor – „bei euch soll es nicht so sein“ – und empfangen das Licht, das notwendig ist, um den hierarchischen Dienst zu verstehen.

Verwirklichung der Synodalität von den Teilkirchen bis zur Universalkirche

In einer synodalen Kirche ist die Bischofssynode nur der sichtbarste Ausdruck einer Dynamik der Gemeinschaft, die alle kirchlichen Entscheidungen inspiriert.

Die erste Ebene einer Praxis der Synodalität wird in den Teilkirchen verwirklicht. Nachdem der Codex des Kanonischen Rechtes die gute Einrichtung der Diözesansynode erwähnt hat, in der Priester und Laien dazu aufgerufen sind, zum Wohl der gesamten kirchlichen Gemeinschaft mit dem Bischof zusammenzuarbeiten,[22] widmet er sich ausgiebig den Einrichtungen, die gewöhnlich als „Gemeinschaftsorganismen“ der Teilkirche bezeichnet werden: dem Pries-terrat, dem Konsultorenkollegium, dem Kathedralkapitel und dem Pastoralrat.[23] Nur in dem Maß, in dem diese Organismen mit der „Basis“ verbunden bleiben und vom Volk, von den Problemen des Alltags ausgehen, kann eine synodale Kirche allmählich Gestalt annehmen: Diese Instrumente, die sich manchmal mühselig dahinschleppen, müssen als Gelegenheit zum Zuhören und zum Teilen erschlossen werden.

Die zweite Ebene ist die der Kirchenprovinzen und der kirchlichen Regionen, der Partikularkonzilien und in besonderer Weise die der Bischofskonferenzen.[24] Wir müssen nachdenken, um durch diese Organismen die Zwischeninstanzen der Kollegialität noch mehr zur Geltung zu bringen, eventuell durch Integration und Aktualisierung einiger Aspekte der alten Kirchenordnung. Der Wunsch des Konzils, diese Organismen könnten zu einer Stärkung der Mentalität bischöflicher Kollegialität beitragen, hat sich noch nicht völlig erfüllt. Wir sind auf halbem Wege, auf einem Teil des Weges. Wie ich bereits betont habe, ist es in einer synodalen Kirche „nicht angebracht, dass der Papst die örtlichen Bischöfe in der Bewertung aller Problemkreise ersetzt, die in ihren Gebieten auftauchen. In diesem Sinn spüre ich die Notwendigkeit, in einer heilsamen ,Dezentralisierung‘ voranzuschreiten“.[25]

Die letzte Ebene ist die der Universalkirche. Hier wird die Bischofssynode, indem sie das gesamte katholische Episkopat vertritt, zum Ausdruck der bischöflichen Kollegialität innerhalb einer ganz und gar synodalen Kirche[26] – zwei verschiedene Worte: „bischöfliche Kollegialität“ und „eine ganz und gar synodale Kirche“. Die Bischofssynode drückt die affektive Kollegialität aus, die bei einigen Gelegenheiten zu einer „effektiven“ werden kann, welche die Bischöfe untereinander und mit dem Papst verbindet in der Sorge für das Volk Gottes.[27]

Entscheidende Auswirkungen auf die Ökumene

Das Engagement, eine synodale Kirche aufzubauen – eine Aufgabe, zu der wir alle berufen sind, jeder in der Rolle, die der Herr ihm anvertraut –, ist reich an Auswirkungen auf die Ökumene. Darum habe ich kürzlich, als ich zu einer Delegation des Patriarchats von Konstantinopel sprach, meine Überzeugung bekräftigt, dass „die sorgfältige Untersuchung, wie im Leben der Kirche das Prinzip der Synodalität und der Dienst dessen, der den Vorsitz hat, zum Ausdruck kommen, […] einen wichtigen Beitrag zum Fortschritt der Beziehungen zwischen unseren Kirchen darstellen [wird]“.[28]

Ich bin überzeugt, dass in einer synodalen Kirche auch die Ausübung des petrinischen Primats besser geklärt werden kann. Der Papst steht nicht allein über der Kirche, sondern er steht in ihr als Getaufter unter den Getauften, im Bischofskollegium als Bischof unter den Bischöfen und ist – als Nachfolger des Apostels Petrus – zugleich berufen, die Kirche von Rom zu leiten, die in der Liebe allen Kirchen vorsteht.[29]

Während ich erneut die Notwendigkeit und die Dringlichkeit betone, an „eine Neuausrichtung des Papsttums"[30] zu denken, wiederhole ich gerne die Worte meines Vorgängers, Papst Johannes Paul II.: „Als Bischof von Rom weiß ich sehr wohl […] dass die volle und sichtbare Gemeinschaft aller Gemeinschaften, in denen kraft der Treue Gottes sein Geist wohnt, der brennende Wunsch Christi ist. Ich bin überzeugt, diesbezüglich eine besondere Verantwortung zu haben, vor allem wenn ich die ökumenische Sehnsucht der meisten christlichen Gemeinschaften feststelle und die an mich gerichtete Bitte vernehme, eine Form der Primatsausübung zu finden, die zwar keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, sich aber einer neuen Situation öffnet."[31]

Zeichen für das Zusammenleben der ganzen Menschheit

Unser Blick weitet sich auch auf die ganze Menschheit aus. Eine synodale Kirche ist wie ein „für die Völker aufgestelltes Zeichen“ (vgl. Jes 11,12) in einer Welt, die – obwohl sie Beteiligung, Solidarität und Transparenz in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten fordert – oft das Schicksal ganzer Völker den gierigen Händen begrenzter Machtgruppierungen überlässt. Als Kirche, die mit den Menschen „gemeinsam vorangeht“ und an den Mühen der Geschichte teilhat, hegen wir den Traum, dass die Wiederentdeckung der unverletzlichen Würde der Völker und des Dienstcharakters der Autorität auch der Zivilgesellschaft helfen kann, sich in Gerechtigkeit und Brüderlichkeit aufzubauen und so eine schönere und menschenwürdigere Welt zu schaffen für die Generationen, die nach uns kommen.[32]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Papst Franziskus: Brief an den Generalsekretär der Bischofssynode, Kardinal Lorenzo Baldisseri, anlässlich der Erhebung des Untersekretärs, Mons. Fabio Fabene zur Bischofswürde (1. April 2014).
[2] Vgl. Ansprache zu Beginn der Arbeiten der I. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (30. September 1967).
[3] Motu proprio Apostolica sollicitudo (15. September 1965), Einleitung.
[4] Ansprache zum Abschluss der VI. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (29. Oktober 1983), in: L’Osservatore Romano (dt.), Jg. 13, Nr. 45 (11. November 1983), S. 5.
[5] Vgl. AAS 98 (2006), 755-779.
[6] Dogmatische Konstitution Lumen gentium (21. November 1964), 107
[7] Ebd., 12.
[8] Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. November 2013), 119.
[9] Ebd., 120.
[10] Vgl. Papst Franziskus: Ansprache an die Bischöfe des Koordinationskomitees des C.E.L.A.M. anlässlich ihrer Generalversammlung (Rio de Janeiro, 28. Juli 2013), 5,4; Ders.: Ansprache bei der Begegnung mit dem Klerus, Personen gottgeweihten Lebens und Mitgliedern der Pastoralräte (Assisi, 4. Oktober 2013), 2.
[11] Vgl. Zweites Vatikan. Konzil, Pastorale Konstitution Gaudium et spes, (7. Dezember 1965), 1.
[12] Evangelii gaudium, 171.
[13] Lumen gentium, 12.
[14] Ansprache bei der Gebetsvigil in Vorbereitung auf die Bischofssynode über die Familie (4. Oktober 2014).
[15] Erstes Vatikanisches Konzil, Dogm. Konst. Pastor aeternus (18. Juli 1870), Kap. IV: Denz. 3074; vgl. auch Codex Iuris Canonici, Can. 749, §1.
[16] Papst Franziskus: Ansprache zum Abschluss der III. Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (18. Oktober 2014).
[17] Lumen gentium, 23; vgl auch Erstes Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Pastor aeternus (18. Juli 1870), Prolog: Denz. 3051.
[18] Lumen gentium, 22; Dekret Christus Dominus (28. Oktober 1965), 4.
[19] Explicatio in Ps. 149: PG 55, 493.
[20] Vgl. Lumen gentium, 27.
[21] Vgl. Papst Franziskus: Ansprache zum Abschluss der III. Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode (18. Oktober 2014).
[22] Vgl. Codex Iuris Canonici, Can. 460-468.
[23] Vgl. ebd., Can. 495-514.
[24] Vgl. ebd., Can. 431-459.
[25] Evangelii gaudium, 16; vgl. ebd. 32.
[26] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret Christus Dominus, 5; Codex Iuris Canonici, Can. 342-348.
[27] Vgl. Johannes Paul II.: Nachsynodales Apostolisches Schreiben Pastores gregis (16. Oktober 2003), 8.
[28] Ansprache an die ökumenische Delegation des Patriarchats von Konstantinopel (27. Juni 2015).
[29] Vgl. Ignatius von Antiochien: Ep. Ad Romanos, Präambel: PG 5, 686.
[30] Evangelii gaudium, 32.
[31] Ut unum sint, 95.
[32] Evangelii gaudium, 186-192; Laudato si’, 156-162.

Die Synode ist kein Parlament

In seiner Eröffnungsansprache zur Bischofssynode über die Familie sagte Papst Franziskus am 5. Oktober 2015:

Die Synode ist die Kirche, die nachdenkt über ihre Treue zum Glaubensgut, das für sie kein Museum ist, das zu besichtigen und auch nicht nur zu bewahren ist, sondern eine lebendige Quelle, aus der die Kirche ihren Durst stillt, um den Durst des Lebensgutes zu stillen und es zu erleuchten.

Die Synode ist kein Parlament, wo man sich auf Verhandlungen, auf die Aushandlung von Absprachen oder Kompromissen stützt, um einen Konsens oder eine gemeinsame Vereinbarung zu erreichen. Die einzige Methode der Synode ist dagegen, sich mit apostolischem Mut, evangeliumsgemäßer Demut und vertrauensvollem Gebet dem Heiligen Geist zu öffnen, damit er es sei, der uns führt, erleuchtet und uns nicht unsere persönlichen Ansichten vor Augen stellt, sondern den Glauben an Gott, die Treue zum Lehramt, das Wohl der Kirche und die „salus animarum“ (das Heil der Seelen). 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Joseph Ratzingers Blick auf das Morgen

Die Zukunft der Kirche

Pfarrer Dr. Richard Kocher, Programmdirektor des christlichen Senders „Radio Horeb“, zitiert aus einem Aufsatz von Joseph Ratzinger aus dem Jahr 1970. Es war also die Zeit, in der der spätere Papst Benedikt XVI. an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg Dogmatik und Dogmengeschichte lehrte. In seinem Buch „Glaube und Zukunft“ stellte Professor Ratzinger die Frage: „Wie wird die Kirche im Jahre 2000 aussehen?“

Von Richard Kocher

In seinem Buch „Glaube und Zukunft“ hat Joseph Ratzinger 1970 mit visionärer Kraft den Artikel „Wie wird die Kirche im Jahre 2000 aussehen?“ verfasst. Auch wenn der Theologe kein Futurologe oder Wahrsager ist, so kann er doch durch die Besinnung auf die Geschichte – bei ihm näherhin auf die Zeit der Aufklärung und die Periode des sogenannten „Modernismus“ um die Jahrhundertwende – wagen, eine Prognose des Kommenden zu stellen.

Beispielhaft hierfür ist für ihn in einer Zeit des Umbruchs der große Theologe Johann Michael Sailer (1751-1832). Vielen Reformvorschlägen würde eine entschlossene Abwendung von der Geschichte als „Rumpelkammer des Gestrigen“ zu Grunde liegen. Eine „Gartenschere der konstruierenden Vernunft“ taugt aber nicht als einziges Gartengerät. Mit dem Aufräumen allein ist es nicht getan. Hier ein Auszug aus dem Schlussteil von Ratzingers Artikel:

„Und damit sind wir erst beim Eigentlichen: Nur wer sich selber gibt, schafft Zukunft. Wer bloß belehren will, wer nur andere verändern möchte, bleibt unfruchtbar. […] Damit sind wir bei unserem Heute und bei dem Blick auf morgen angelangt. Die Zukunft der Kirche wird auch heute nur aus der Kraft derer kommen, die tiefe Wurzeln haben und aus der reinen Fülle ihres Glaubens leben. Sie wird nicht von denen kommen, die nur Rezepte machen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur dem jeweiligen Augenblick sich anpassen. Sie wird nicht von denen kommen, die nur andere kritisieren, aber sich selbst als unfehlbaren Maßstab annehmen.

Sie wird also auch nicht von denen kommen, die nur den bequemeren Weg wählen. Die der Passion des Glaubens ausweichen und alles das für falsch und überholt, für Tyrannis und Gesetzlichkeit erklären, was den Menschen fordert, ihm wehe tut, ihn nötigt, sich selbst preiszugeben.

Sagen wir es positiv: Die Zukunft der Kirche wird auch dieses Mal, wie immer, von den Heiligen neu geprägt werden. Von Menschen also, die mehr wahrnehmen als die Phrasen, die gerade modern sind. Von Menschen, die deshalb mehr sehen können als andere, weil ihr Leben weitere Räume umfasst. Selbstlosigkeit, die den Menschen frei macht, wird nur erreicht in der Geduld der täglichen kleinen Verzichte auf sich selbst. In dieser täglichen Passion, die den Menschen erst erfahren lässt, wie vielfach sein eigenes Ich ihn bindet, in dieser täglichen Passion und nur in ihr wird der Mensch Stück um Stück geöffnet.

Er sieht nur soviel, soviel er gelebt und gelitten hat. Wenn wir heute Gott kaum noch wahrnehmen können, dann deshalb, weil es uns so leicht gemacht wird, vor uns selbst auszuweichen, vor der Tiefe unserer Existenz zu fliehen in die Betäubung irgendeiner Bequemlichkeit. So bleibt unser Tiefstes unerschlossen. Wenn es wahr ist, dass man nur mit dem Herzen gut sieht, wie blind sind wir dann doch alle!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Eröffnung der Bischofssynode am 17. Oktober 2021 auf Diözesanebene

Für eine synodale Kirche

Die nächste ordentliche Bischofssynode findet zwar erst im Oktober 2023 statt, doch auf Anordnung des Papstes soll sie bereits am 17. Oktober 2021 auf Diözesanebene eröffnet werden. Damit unterstreicht Papst Franziskus, dass die zweijährige Vorbereitung in den Ortskirchen als substantieller Teil der römischen Bischofssynode zu verstehen ist. Pfarrer Erich Maria Fink sieht in diesem Schritt einen Interpretationsschlüssel für das derzeitige Pontifikat und versucht, die Akzente, die von Papst Franziskus gesetzt werden, kirchengeschichtlich einzuordnen. Er geht vor allem der Frage nach, welche Signale der Papst mit seiner Initiative angesichts der aktuellen Ereignisse in der Kirche aussenden möchte.

Von Erich Maria Fink

Die sog. „Synodalität“ der Kirche ist Papst Franziskus ein Herzensanliegen. Schon 2015 nannte er die Einrichtung der Bischofssynode, die Papst Paul VI. 1965 offiziell ins Leben gerufen hatte, „eines der kostbarsten Vermächtnisse“ der letzten Sitzung des Zweiten Vatikanischen Konzils (Ansprache bei der 50-Jahr-Feier am 17. Oktober 2015). Schon jetzt kann man das Engagement des Papstes „für eine synodale Kirche“, mit dem er diese Frucht des Konzils weiterentwickeln möchte, als „eines der kostbarsten Vermächtnisse“ des derzeitigen Pontifikats bezeichnen.

Das Anliegen, der Kirche in Zukunft ein synodaleres Gesicht zu verleihen, entspreche zutiefst dem Willen Gottes, so Papst Franziskus. Und er sieht darin sogar einen Auftrag für das gesamte Millennium: „Genau dieser Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.“ Der Papst ist sich bewusst, dass der Kirche auf diesem Weg ein langer geschichtlicher Prozess bevorsteht. Sie muss sich langsam vorantasten und nach und nach Formen finden, wie unter den heutigen Umständen das ganze Volk Gottes in die Entwicklung der Weltkirche einbezogen werden kann. Dabei will sich Papst Franziskus nicht mehr länger mit Konzepten zufrieden geben, sondern entschlossen anpacken und konkrete Schritte wagen.

So überraschte er die Weltkirche mit der Bekanntgabe des Ablaufs der nächsten Weltbischofssynode. Diese 16. ordentliche Bischofssynode umfasse nicht nur die Versammlung und die Beratungen der Bischöfe im Oktober 2023 in Rom, sondern einen synodalen Prozess der gesamten Weltkirche, der sich über zwei Jahre in drei Etappen hinziehen werde. Es gehe um eine diözesane, eine kontinentale und schließlich eine weltkirchliche Phase, die alle als integrale Bestandteile der Synode zu verstehen seien. Befragungen und Beratungen im Vorfeld sind nichts Neues, sie wurden bislang jedoch immer nur als Vorbereitungsphase gesehen.

Gegenüber der Initiative des Papstes gibt es viele Vorbehalte: die weltweiten Konsultationen würden eine Einbeziehung des gesamten Gottesvolkes nur vorgaukeln und nicht wirklich die Wünsche der Gläubigen zur Geltung bringen, der Prozess bedeute einen enormen Kräfteverschleiß, der für das wahre Heil der Menschen nutzlos sei, er stifte letztlich nur Verwirrung und setze keine geistliche Erneuerung in Gang. Angesichts der Versuche in Deutschland, mit Hilfe eines „Synodalen Weges“ den Missbrauchsskandal aufzuarbeiten, sind die Sorgen durchaus berechtigt. Doch Papst Franziskus hat die Weichen von vornherein anders gestellt. Wenn man zudem den Zeitpunkt bedenkt, gibt es kaum einen Zweifel daran, dass Rom mit seinem weltweiten synodalen Weg nationalen Entgleisungen zuvorkommen und diese auffangen will.

Ich persönlich denke, dass Papst Franziskus mit seinem Eintreten für eine synodale Kirche tatsächlich ein prophetisches, heilsgeschichtliches Zeichen setzt. Auch teile ich seine Meinung, dass es zur Synodalität keine Alternative gibt. Dem Papst ist klar, dass die bevorstehende Synode ein Experiment darstellt, das nicht in allem ideal verlaufen kann. Aber um des großen Zieles willen, geht er das Wagnis ein. Mir kommt dabei das Wort Jesu in den Sinn: „Und doch hat die Weisheit durch ihre Taten Recht bekommen“ (Mt 11,19). Zur Zeit Jesu konnte es weder Johannes der Täufer noch er selbst den Leuten recht machen. Und bis heute meinen sie, sogar Gott müsste nach ihrer Pfeife tanzen. Doch am Ende wird sich das Wirken Gottes als der wahre Weg erweisen. Ich glaube, dass die Geschichte dem Einsatz von Papst Franziskus Recht geben wird.

Aufbruch im Vertrauen auf den Heiligen Geist

Für Papst Franziskus ist das wichtigste Kennzeichen des synodalen Prozesses die Offenheit für das Wirken des Heiligen Geistes. „Bei der Synode spricht der Heilige Geist durch die Zunge all derer, die sich von Gott führen lassen, der stets überrascht; von Gott, der den Kleinen offenbart, was er den Klugen und Weisen verbirgt; von Gott, der das Gesetz und den Sabbat für den Menschen gemacht hat und nicht umgekehrt; von Gott, der die 99 Schafe verlässt, um das eine verlorene Schaf zu suchen; von Gott, der stets größer ist als unsere Logik und unsere Berechnungen“, so Papst Franziskus bei der Eröffnung der Familien-Synode 2015. Gerade das Aufeinander-Hören von Gläubigen, Hirten und Papst schaffe „Raum für das Wirken des Heiligen Geistes“. Doch unabdingbare Voraussetzung dafür sei, dass sich die Teilnehmer der Synode „durch apostolischen Mut, evangeliumsgemäße Demut und vertrauensvolles Gebet auszeichnen“. Und er betont: „Ohne das Hören auf Gott werden all unsere Worte nur ,Worte‘ sein, die nicht sättigen und nichts nützen. Wenn wir uns nicht in all unseren Entscheidungen vom Heiligen Geist leiten lassen, dann werden sie nur ,Beiwerk‘ sein, das das Evangelium bedeckt und versteckt, anstatt es hervorzuheben.“

Das Thema der bevorstehenden Bischofssynode lautet: „Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Partizipation und Mission“. Einerseits also ist die Synodalität selbst Inhalt der Beratungen. Das Selbstverständnis der Kirche als einer synodalen Weggemeinschaft soll im Bewusstsein aller verankert werden. Insbesondere soll geklärt werden, was dabei Gemeinschaft und Teilhabe bedeuten. Andererseits will der Papst, dass diese Klärung bereits auf synodale Weise geschieht, dass Synodalität praktisch eingeübt wird, dass ein Gefühl für synodale Prozesse entwickelt und die Kirche zu einem synodalen Leben befähigt wird.

Auftrag an die Diözesanbischöfe in der ganzen Welt

In den synodalen Prozess der kommenden zwei Jahre bindet Papst Franziskus zwar auch Orden, internationale Laienbewegungen und Theologische Fakultäten ein, an erster Stelle aber alle Bistümer. Jeder Diözesanbischof ist dazu aufgerufen, bis Oktober 2021 „einen diözesanen Verantwortlichen (ein Team) für die synodale Konsultation zu ernennen, der Ansprechpartner und Verbindung zur Bischofskonferenz sein und die Konsultation in der Teilkirche in allen Schritten begleiten soll“. Ebenso muss jede Bischofskonferenz einen Verantwortlichen ernennen, „der Referent und Verbindung sowohl zu den diözesanen Verantwortlichen als auch zum Generalsekretariat der Synode sein soll“.

 Am 9. und 10. Oktober 2021 wird Papst Franziskus in Rom die Synode mit „Begegnung, Reflexion, Gebet und Eucharistiefeier“ eröffnen.  Am 17. Oktober 2021 müssen alle Bischöfe in ihren Bistümern eine Eröffnungsfeier vornehmen. Von Oktober 2021 bis April 2022 finden sodann die Beratungen auf Diözesanebene statt. Grundlage bilden Fragebögen, die der Vatikan vorgibt. Die Ergebnisse werden von den Bischofskonferenzen „in einer Zeit der Unterscheidung“ gebündelt und an das Generalsekretariat gesandt. In Form eines ersten Instrumentum Laboris werden sie dann zur Beratung auf kontinentaler Ebene vom September 2022 bis März 2023 zur Verfügung gestellt. Dabei sind die Hirten aufgefordert, „auf das zu hören, was der Heilige Geist in den ihnen anvertrauten Ortskirchen erweckt hat“.

Weichenstellungen von Papst Franziskus

Die wichtigste Weichenstellung betrifft den Inhalt. Alles zielt auf den Missionsauftrag der Kirche ab. Was schon im Thema seinen Ausdruck findet, lautet im Synodendokument: „Tatsächlich führt uns die Synodalität zurück zum Wesen der Kirche selbst, zu ihrer konstitutiven Realität und zum Ausgerichtetsein auf die Evangelisierung. Es ist eine Weise des Kircheseins und eine Prophetie für die Welt von heute.“ Dies hatte Papst Franziskus auch in seinem besorgten „Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ hervorgehoben, ähnlich wie in der Instruktion der Kongregation für den Klerus mit dem Titel „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“.

Papst Franziskus rechtfertigt den synodalen Prozess immer wieder mit dem Verweis auf die Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche die Salbung von dem Heiligen haben (vgl. 1 Joh 2,20.27), kann im Glauben nicht irren“ (Lumen gentium, Nr. 12). Gleichzeitig aber hebt er die Verantwortung des Petrusnachfolgers in aller Deutlichkeit und Ausführlichkeit hervor: Nur cum Petro et sub Petro, also mit dem Papst und unter seiner Leitung, könne der synodale Prozess gelingen. Dies sei „keine Begrenzung der Freiheit, sondern eine Garantie für die Einheit. Der Papst ist nämlich nach dem Willen des Herrn ,das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen‘ (Lumen gentium, Nr. 23).“

Ausblick

Immer wieder beklagt Papst Franziskus einen falschen Klerikalismus, der nicht dem Evangelium entspricht und überwunden werden muss: „Bei euch soll es nicht so sein!“ (Mt 20,25-27). Franziskus sieht die Lösung nicht in der Aufhebung des Zölibats, nicht im Frauenpriestertum, nicht in der Gemeindeleitung durch Laien, sondern in der Überwindung der Ichbezogenheit, in der Bereitschaft zum Dienen. Einen Schlüssel sieht er in der synodalen Ausübung des priesterlichen Amtes. Missbrauch entspringt dem Nachgeben gegenüber egoistischen oder sogar narzisstischen Neigungen. Nicht die Aufweichung der Sexualmoral ist die Lösung, sondern eine spirituelle Formung der Persönlichkeit im Geist selbstloser Hingabe. Eine synodale Kirche streitet nicht um Macht, sondern dient gemeinsam allen.

Das gilt auch für den Petrusdienst. Papst Franziskus sieht die Herausforderung, welche der weit in die Geschichte zurückgehende Jurisdiktionsprimat des Bischofs von Rom für andere Konfessionen darstellt. So hält er auch in der Ökumene die radikale Option für eine synodale Ausübung des obersten Hirtenamtes als „servus servorum Dei – Diener der Diener Gottes“ für den einzigen Ausweg, um im Bemühen um Einheit voranzukommen.

Ähnliches gilt für die Unfehlbarkeit des Papstes, wie sie 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil dogmatisiert worden ist. Im synodalen Stil, der nicht von oben herab befiehlt und nicht ohne Konsultationen entscheidet, sieht Franziskus auch ein Licht für die Welt, eine Inspiration für die Demokratie und für den Aufbau einer geschwisterlichen Menschheitsfamilie.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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„Die Macht der kleinen Herde“ (3)

Mut zum heilsamen Unterschied

Kann und darf man es in der katholischen Kirche wagen, „plötzlich“ den eigenen Daseinszweck und Auftrag konsequent zum Kriterium zu machen? Dürfen Pfarrer und Gemeindeleitungen die getauften Kirchenmitglieder allesamt – also nicht nur in Form von Angeboten für besonders Interessierte – mit einem Anspruch belästigen, der womöglich nochmals viele veranlasst, sich abzuwenden? Bedeutet dies nicht, einer Versuchung nachzugeben, die sich durch die Kirchengeschichte zieht, nämlich sich auf den „heiligen Rest“ der vermeintlich Reinen und Vollkommenen zurückzuziehen und zur unbedeutenden Sekte zu werden? Solche besorgten Fragen bekamen in den letzten Jahren durch die Erfahrungen in zwei Pfarreien in Nordamerika eine doppelte Antwort: Ja, es stimmt, die Abwanderung von Menschen und das Sterben von gemeindlichem Leben können sich beschleunigen. Aber zugleich: Nein, das führt nicht ins Aus oder Abseits, vielmehr kann hier der Pfingst-Geist eine neue Dynamik wecken und Mitglieder wie Nichtmitglieder erleben lassen, dass Kirche für das Leben „einen Unterschied macht“. Die Rede ist im Folgenden von der US-amerikanischen Pfarrei Nativity.

Von Lorenz Rösch

„Rebuilt“, also „wiederaufgebaut“, lautet der Titel des Erfahrungsberichts, den Pfarrer Michael White und dessen Laienmitarbeiter Tom Corcoran im Jahr 2013 veröffentlichten.[1] Durch die deutsche Buchausgabe sowie durch Seminare und Studienaufenthalte haben die Erfahrungen und Neuansätze aus der Nativity-Pfarrei bei Baltimore an der amerikanischen Ostküste mittlerweile auch in den deutschen Sprachraum hinein Kreise gezogen.

Die beiden Autoren erzählen diese „Geschichte einer katholischen Pfarrgemeinde“ – oder genauer: ihre Geschichte mit dieser Pfarrgemeinde, die in den späten 1990er Jahren beginnt – nicht nur beschreibend, in der Hoffnung, andere dadurch indirekt zu ermutigen. Vielmehr wird die Erzählung Kapitel für Kapitel zur Anleitung, die eigene Situation zu reflektieren und Schritte echter Aufbauarbeit anzugehen. Dabei beleuchten sie auch die schmerzliche erste Wegstrecke von „Versuch und Irrtum“, die sie erst dahin geführt hat, das Problem zu benennen (Teil I) und die Richtung nach vorn herauszufinden (Teil II), bevor sie dann sehr anschaulich die verschiedenen Elemente ihrer Aufbau-Strategie vermitteln (Teil III).

Schlüsselerkenntnisse

Mehrere Schlüsselerkenntnisse bekommen dabei besonderes Gewicht. Da ist zunächst die Erfahrung, dass man als Pfarrer oder pastoraler Mitarbeiter mit viel Einsatz etwas auf die Beine stellen kann, das zwar für den Moment erfolgreich ist in dem Sinne, dass die Leute kommen, aber das nichts in Bewegung bringt, sondern nur passive Erwartungshaltungen noch verstärkt. Als „Hauptamtlicher“ verausgabt man sich und fragt sich immer stärker, wozu. Daran knüpft sich die Erkenntnis, dass wir Menschen heute bis ins Religiöse hinein von der Konsumkultur geprägt sind. Das Zusammenspiel zwischen Kirchenvolk und kirchlichem Personal funktioniert nach dem Muster von Nachfrage und Angebot; wo aber die Kirche beginnt, sich dieser Logik zu entziehen, werden Konflikte unausweichlich.

Da ist weiter die Erfahrung, dass es speziell für Katholiken ein langer Weg sein kann sich einzugestehen, dass andere (oft nicht-katholische) Gemeinden florieren, und das offensichtlich nicht, weil sie den Menschen ein billiges Evangelium anböten oder sie mit psychologischen Tricks einfingen, sondern genau weil sie das Evangelium deutlich zur Sprache bringen und auch das gemeindliche Leben und Handeln in hohem Maß am Evangelium abgeschaut ist. Dazu gehört es, die eigene Sterilität nicht mehr vorschnell zu spiritualisieren („Erfolg ist keiner der Namen Gottes“) und das langsame Dahinsterben als Zeichen einer ernsten Krankheit zu identifizieren, die allerdings nicht schicksalhaft, sondern heilbar ist.

Zur Schlüsselerkenntnis wird es für White und Corcoran schließlich vor allem, die Perspektive von Menschen einzunehmen, die zu den „Verlorenen“ gehören – also eigentlich die ersten Adressaten des Heils Gottes in Jesus Christus! Anders als es manche gemeindlichen Leitbilder vollmundig erklären, wird solchen Menschen in vielen Gemeinden auf vielfältige Weise zu verstehen gegeben, dass sie nicht dazugehören. Ihnen begegnet eine „Kirchenwelt“ mit eigenen Spielregeln, in der sie nicht eingeplant sind, die eigentlich an sich selbst genug hat und die diese anderen bestenfalls als Objekte caritativer Zuwendung wahrnimmt. Wenn die beiden Autoren den Beharrungswillen im Milieu des Konsum-Christentums teilweise überscharf zeichnen, ist das sicherlich ein Reflex der eigenen schmerzlichen Erfahrungen, aber letztlich vor allem ein Reflex dieses Perspektivwechsels: Wie erleben „verlorengegangene Menschen“ diese Art von Kirchenwelt? Zeugt das nicht von einer dramatischen Verlorenheit im Raum der Kirche selbst?

Was ist unsere Mission?

Davon ausgehend ist nun neu zu fragen: Was ist denn eigentlich der Sinn und Zweck, den Christus seiner Kirche mit auf den Weg gegeben hat? Was soll sie sein und leisten? Die Antwort liegt zunächst in der Erkenntnis, dass Jesus die Kirche als „Gemeinschaft von Jünger/innen“ gedacht hat, wobei Jüngerschaft den Willen zu lernen und zu wachsen voraussetzt. Inhalt des Lernens ist letztlich dieses eine: Jesu Hauptgebot der Liebe. So gelangen die beiden Autoren zu der Formulierung: „Der Sinn und Zweck [der Pfarrei] Nativity ist, die kirchlichen Menschen herauszufordern und die verloren gegangenen Menschen zu suchen, um allen zu helfen, eine Gemeinschaft von lernenden Jünger/innen zu werden…, die in der Liebe zu Gott wachsen und andere lieben, wie Jesus es uns gelehrt hat."[2]

In diesem Statement klingt eine zweite Maßgabe Jesu bereits mit an: Jünger zu sein vollzieht sich nach dem Muster, Jünger zu machen, sprich: wieder andere für die Jüngerschaft zu gewinnen und zu ihrer Formung beizutragen. „Das ,Geschäft‘ der Kirche ist Jüngerschaft, weil wir unseren Glauben leben und in unserem Glauben wachsen, indem wir ihn teilen."[3]

Nachdem so die grundlegende „Mission“ von Kirche und Pfarrei benannt ist, gilt es konkret zu werden, und daran fehlt es keineswegs. Schritt 1: Das eigene Missionsfeld in den Blick nehmen und definieren – die Menge der entkirchlichten Menschen im Gemeindegebiet. Schritt 2: Den Haupt-Typus eines „Verlorenen“ beschreiben, dem hier unsere (und Gottes) Suche gilt. Schritt 3: Eine auf diesen Typus ausgerichtete Einladungsstrategie entwerfen, an der die Mitglieder der Gottesdienstgemeinde sich orientieren können für ihre alltäglichen Beziehungen und Begegnungen. Und natürlich gilt es, dieses zentrale Anliegen unermüdlich präsent zu halten, mit Gesichtern und Ereignissen zu füllen und gemeinsam ins Gebet zu nehmen.

Schlüsselfelder

Im Teil III werden Schlüsselfelder („Baustellen“) beleuchtet, in denen die missionarische Ausrichtung einer Gemeindearbeit sich bewähren muss: Ins „Wochenend-Erlebnis“ investieren; in diesem Rahmen profilierte Kinder- und Jugendangebote entwickeln;[4] griffige, lebensrelevante Predigten, die Themen setzen und auf ein bestimmtes Verhalten zielen (bevorzugt in Predigtreihen);[5] ein Kleingruppensystem aufbauen (Haupt-Orte von Jüngerschaft und Seelsorge); finanzielles Mittragen vorleben und einfordern (wird akut bei Wegfall der Kirchensteuer); alle animieren, den Konsum-Modus aufzugeben und sich – wenn auch noch so begrenzt – einzubringen; Initiativen von Dienst an den Menschen, die ein Stück „Wiederherstellung der Schöpfung“ bedeuten; gute Mitarbeiterschaft erbeten und auswählen; auf gute Weise – dienend – Leiterschaft ausüben (unter Hervorhebung der nicht austauschbaren Rolle des Priesters).

„Sie sind nicht allein!“

Pfarrer Michael White und Tom Corcoran schicken zwar voraus, dass nicht alles überall passend sein und funktionieren wird. Dennoch wollen sie zur Nachahmung animieren. Jedes Strategie-Kapitel schließt mit dem Abschnitt: „Sie schaffen das! Schritte zur Umsetzung in Ihrer Pfarrgemeinde“. Auch das letzte Kapitel greift diese Ermutigung auf: Die vermittelte Vision will und kann Gestalt annehmen! Die, die sich davon ergreifen lassen, mögen zwar vorerst wenige sein. Aber: „Sie sind nicht allein!“

Dies wird nicht nur dem Pfarrer zugerufen, dessen Herz sich nach Veränderung sehnt, nicht nur dem Diakon oder der Pastoralverantwortlichen, sondern auch den in Katechese, Jugendarbeit oder Verwaltung Tätigen. Sogar dann, „wenn Sie ein Pfarrmitglied sind, das sich Sorgen um seine Pfarre und den Pfarrer macht, der mit vielen Forderungen konfrontiert ist, schaffen Sie das“.[6] Denn: „Gott sehnt sich noch mehr nach Veränderung als Sie. Und vielleicht hat er Sie genau dorthin gesetzt, wo Sie jetzt sind, ,für eine Zeit wie diese‘. Darüber hinaus beruft er andere, die dieselbe Leidenschaft teilen, um die Lebendigkeit einer Bewegung zu garantieren, deren Zeit gekommen ist."[7]

Das kurzweilig geschriebene Buch ist zugleich Herausforderung und konkrete Anleitung. Die beschriebenen Verhältnisse entsprechen zwar nicht in allem den unsrigen; die Sprache (oder die Übersetzung) mag manchmal ins Stolpern bringen. Doch es lohnt sich, diese „Geschichte“ zu lesen und auch wieder zu lesen.[8] Vielleicht liegt die Herausforderung – gerade für deutschsprachige Hörgewohnheiten – zuerst darin, wieder zu der Überzeugung zu finden, dass Kirche heilsrelevant ist: dass wir uns nicht mit der Aussicht begnügen können, die Liebe Gottes in Christus werde ja doch in irgendeiner Weise zuletzt alle erreichen. Erst die Überzeugung, dass es für jeden Einzelnen einen Unterschied macht, mit Christus zu leben und ihm auch sakramental anzugehören, kann uns mobilisieren: Mut zu einer Kirche, die unterscheidbar ist, weil und damit sie so für möglichst viele den entscheidenden Unterschied macht! 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Deutsche Ausgabe: REBUILT – Die Geschichte einer katholischen Pfarrgemeinde: Gläubige aufrütteln – Verlorengegangene erreichen – Kirche eine Bedeutung geben, 3. verbesserte Aufl. Graz 2018. Herausgeber ist die „Initiative Pastoralinnovation“, Vertrieb über D&D Medien, Grünkraut – https://www.ddmedien.com/ –; in Österreich: Buchhandlung Gratia, Graz – http://www.gratia.at
[2] S. 80 (Hervorhebungen in kursiv: L.R.).
[3] S. 82 unter Verweis auf Mt 4,19 und Mt 28,18-19.
[4] Vgl. hierzu auch: Christopher Wesley: Jugend REBUILT – Durch Jugend- und Firmpastoral die Pfarrgemeinde erneuern: Jungen Menschen Raum geben. Erwachsene zu Mentor/innen machen. Durch die Firmung neuen Geist wecken, Graz 2017.
[5] Vgl. hierzu auch: M. White/T. Corcoran: REBUILT – Wie Sie der Botschaft Flügel verleihen: Erfolgreich kommunizieren, relevant und wirkungsvoll predigen, offensiv digitale Medien nutzen, Grünkraut 2020.
[6] S. 255.
[7] S. 256 unter Verwendung eines Ausdrucks aus Ester 4,14.
[8] Weitere Einblicke kann man erhalten auf der Website www.rebuiltparish.com

Kirche im Dienst eines staatlichen Patriotismus am Beispiel Englands

Nationalstolz wurde zur Ersatzreligion

Studiendirektor Jakob Knab (geb. 1951) hat einen besonderen Einblick in die gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Situation Großbritanniens. In München hatte er zunächst Theologie studiert, anschließend im schottischen Edinburgh Sprachwissenschaft und schließlich in Oxford (Christ Church) Religionsphilosophie. Diese Fachrichtungen verband er später als Lehrer für Englisch und Katholische Religionslehre. Sehr sensibel reagiert er auf Strömungen, welche die Kirche in den Dienst nationaler Ambitionen nehmen. Die Gestalt des hl. Märtyrerbischofs John Fisher ist ihm ein herausragendes Vorbild für die kundige und redliche Auseinandersetzung mit Abspaltungstendenzen wie der reformatorischen Bewegung Martin Luthers. Die Seligsprechung von John Henry Kardinal Newman durch Papst Benedikt XVI. während dessen Staatsbesuchs im Vereinigten Königreich am 19. September 2012 stellt für ihn ein Signal für die Bemühungen um eine tragfähige Ökumene zwischen der anglikanischen und römisch-katholischen Kirche dar. Umso mehr freut er sich über die Heiligsprechung Newmans durch Papst Franziskus am 13. Oktober 2019 in Rom.

Von Jakob Knab

Eine Kommission (Commission on Religion and Belief in Public Life) kam 2015 in ihrer Untersuchung zu dem ernüchternden Schluss, dass Großbritannien kein christliches Land („Britain is no longer a Christian country“) mehr sei. Hier geht eine Tradition, die im Jahr 597 begann, als Papst Gregor der Große den Benediktiner Augustinus nach England sandte, unspektakulär zu Ende. Dieser Mönch aus Rom wurde auch zum ersten Erzbischof von Canterbury geweiht. Diese Bande wurde zerrissen, als 1534 mit dem Suprematsakt (Act of Supremacy) der König zum Oberhaupt der Kirche von England erhoben wurde. Der Papst von Rom wurde von der Propaganda als Tyrann und als Fremder, der dem englischen Volk feindlich gesinnt sei, sowie als Antichrist, der die Freiheit und Unabhängigkeit des englischen Volkes bedrohe, dargestellt. In einem vulgären Verständnis von Geschichte ist heute noch davon die Rede, dass König Heinrich VIII. das englische Volk aus der römischen Unterdrückung befreit habe. Über Jahrhunderte hinweg wurden antikatholische Vorurteile genährt, um den englischen Nationalstolz zu stützen. Der Protestantismus der neu geschaffenen Kirche von England war die Grundlage, die die Erfindung des Mythos von Großbritannien ermöglichte. Nationalstolz wurde zur Ersatzreligion.

Man bekommt Einblick in eine nationale Psyche, wenn man die großen Erzählungen anschaut und betrachtet, die ein Volk über sich und seine Geschichte auswählt. Die Tudors (118 Jahre an der Herrschaft) und nicht die Plantagenets (331 Jahre auf dem Königsthron) gelten heute als das bedeutendste Königsgeschlecht in der Geschichte Englands. Das bleibende Vermächtnis jener Tudor-Dynastie ist die Kirche von England. Seit 1534 muss der König als „Seine Majestät“ angesprochen werden, zuvor genügte die Anrede „Königliche Hoheit“. So gesehen war die Gründung der Kirche von England wesentlich für den Anspruch Englands, in herrlicher Isolation („splendid isolation“) vom katholischen Rest Europas eigene Machtansprüche zu entfalten. In England gingen nationale Identität und protestantische Staatskirche konform.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Blütezeit des britischen Empire, hatte der Dichter („Dover Beach“) und Kulturkritiker Matthew Arnold (1822-1888) mit Bewunderung und Distanz davon gesprochen, dass der Geistliche John Henry Newman dabei sei, mit seinen Predigten in der Universitätskirche von Oxford jene Institution zu verändern und zu erneuern, die für die gebildeten Schichten die nationalste und natürlichste Institution in der Welt („for us the most national and natural institution in the world“) war, die Kirche von England. Kultur und Kirche, Natur und Nation gingen Hand in Hand. Doch Newman und seine Weggefährten vom Oxford Movement machten in ihren Traktaten und Predigten Front gegen die Ideologie des Erastianismus. Dieser Ansatz vertritt die souveräne Herrschaft des Staates in kirchlichen Angelegenheiten. Newman indes befürchtete, dass diese Idee des absoluten Staates die Grundlagen der geoffenbarten Religion zerstören würde.

Viele Jahrzehnte später, im Jahr 2008, hielt ein Nachfolger Newmans als Pfarrer an der Universitätskirche von Oxford eine Predigt zum Thema „Newman und ich – Tag und Nacht“ („Newman and me – chalk and cheese“). Hier ein Auszug: „Newman war ein alter Konservativer; ich bin ein Liberaler, der vorwärts drängt. Er hatte eine hohe Meinung von der Kirche; meine Bewunderung der Kirche hält sich in Grenzen, ich hege einen tief sitzenden Argwohn gegenüber der Kirche.“ Derartige Kanzelreden verursachen Schmerzen. Denn England ist ja das Mutterland des hl. Thomas Becket, der hl. John Fisher und Thomas Morus sowie des hl. John Henry Newman. Der Mahner und Kulturkritiker Theodor Haecker schrieb im Nachtrag seiner Schrift „Satire und Polemik“ (1921): „Wer möchte bestreiten wollen, dass es ein Akt der Vorsehung ist, dass der größte, edelste und erfolgreichste Apologet des Katholizismus der neueren Zeiten gerade ein Engländer gewesen ist? Es ist ein Akt der Vorsehung und eine Gabe der göttlichen Liebe, mächtigen Völkern aus ihrer Mitte heraus Führer und Lehrer wie Newman zu berufen, es ist aber ebenso sehr eine gewaltige Verantwortung, die damit einem solchen Volke aufgebürdet ist.“

„Geschichtsbetrachtung verdient ja nur dann ihren Namen“, so Reinhold Schneiders gewaltiger Anspruch, „wenn sie von dem unverrückbaren Standort des Glaubens aus Gerechtigkeit übt.“ Im Kriegsjahr 1940 hatte er sein Buch „Macht und Gnade“ veröffentlicht; ein Jahr später erhielt er deswegen Publikationsverbot. Wer heute diese Sammlung von Essays liest und bedenkt, der wird auch staunen über Schneiders entschiedene Urteile über die englische Geschichte. Hier einige Überschriften: „Heinrich VIII. und Englands Durchbruch zur Macht“, „Erzbischof Thomas Cranmer“ sowie „Zum Gedächtnis der Gnadenpilger“.

Heinrich VIII. (1509-1547) – der „Verteidiger des Glaubens“ bricht mit Rom

„Heinrich VIII. brach mit Rom, das heißt, er zerriss eine Bindung, die tausend Jahre bestanden hatte“ – so beklagt Schneider diesen Riss. Er bedauert, dass „der Bruch nicht verheilt ist und wohl auch niemals verheilen wird.“ König Heinrich VIII. hatte gegen Luther noch eine Streitschrift (Assertio Septem Sacramentorum, 1521) verfasst, von Papst Leo X. war er dafür als defensor fidei, als Verteidiger des Glaubens, geehrt worden; 1524 übertrug Papst Clemens VII. diesen Ehrentitel auf alle Nachfolger des englischen Monarchen. Der König jedoch war – so Reinhold Schneider - von der „verzehrenden Leidenschaft zu Anna Boleyn überwältigt“, als er seine Gattin Katharina von Aragon verließ und den Bruch mit Rom herbeiführte. Im Urteil dieses katholischen Schriftstellers war Heinrich VIII. „schuldig in einem Maße, wie es nur wenige geworden sind.“

Der mächtige Lordkanzler Thomas Kardinal Wolsey wurde 1529 verhaftet, da er nicht den Auftrag des Königs erfüllte, die Scheidung von dessen rechtmäßiger Ehefrau Katharina von Aragon zu erwirken. Gestärkt in ihrem Glauben an die Ehe als einen heiligen und unauflöslichen Bund wurde Katharina von ihrem Beichtvater John Fisher, dem Bischof von Rochester. Nach Wolseys Sturz erlangte der rücksichtslose Aufsteiger Thomas Cromwell die Gunst des Königs. Unter seiner Leitung stimmte das Parlament im November 1534 für die Suprematsakte: anstelle des Papstes in Rom war nun der König das Oberhaupt der Englischen Kirche. Damit wurde auch die Scheidung Heinrichs VIII. von Katharina ermöglicht. Am 25. Januar 1533, just am Festtag Pauli Bekehrung, hatte der König die attraktive Hofdame Anne Boleyn heimlich geheiratet. Drei Jahre später ließ er sie enthaupten. Cromwell erhielt vom König die Gewalt über die Kirche; dessen gnadenloses Vorgehen führte ab 1536 zur Zerstörung von über 800 Klöstern in England und Wales. Doch Ende Juli 1540 ließ der König seinen treuesten Gefolgsmann Cromwell im Tower hinrichten.

Gegen diese gewaltsame Auflösung der Klöster hatten sich im Oktober 1536 im Norden Englands papsttreue Gläubige auf den Pilgerweg gemacht („Pilgrimage of Grace“). Diese katholischen Aufständischen scharten sich zusammen unter Bannern, auf denen Christi fünf Wunden, Kreuz und Kelch abgebildet waren. Im März 1537 wurden 216 Pilger getötet, darunter 38 Mönche und 16 Priester. Bereits Anfang Mai 1935 waren der Kartäuserprior John Houghton und seine drei Gefährten in Tyburn (London) hingerichtet worden, weil sie sich weigerten, König Heinrich als Oberhaupt der Kirche in England anzuerkennen. Die weithin bekannten Märtyrer dieser Zeit sind die katholischen Humanisten John Fisher und Thomas Morus. Auch Lordkanzler Thomas More hatte den Eid auf die Suprematsakte verweigert, auch für ihn war der König nicht das Oberhaupt der Kirche in England. Im Jahr 1935, 400 Jahre nach ihrer Hinrichtung, wurden Thomas More und John Fisher von Papst Pius XI. heiliggesprochen.

In der katholischen Frömmigkeit gilt das Purpurrot, das Kardinäle tragen, als Zeichen der Bereitschaft, für Christus sein eigenes Blut zu vergießen. Jedoch nur wenige wissen, dass in der langen Geschichte dieses Kollegiums nur ein einziges Mitglied den Märtyrertod erlitt. Dieser Mann war John Fisher. Er war ein Freund des Humanisten Erasmus, seit 1504 der Kanzler der Universität in Cambridge und auch der Bischof von Rochester. Schon im Mai 1521 predigte er an St. Paul’s Cross in London gegen die drohende Spaltung der Kirche, ausgelöst durch Martin Luther. „Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Luther der Geist Gottes nicht gegeben wurde, da sich seine Lehre gegen die Wahrheit richtet, die uns dieser Heilige Geist gelehrt hat. Denn Luther kappt die Verbindung zur Tradition der Apostel und lehnt die Allgemeinen Konzilien ab. Er missachtet die Lehre der heiligen Kirchenväter und Lehrer im Glauben, und er tut alles, um die Glaubensvollzüge und Riten der Kirche, namentlich die sieben Sakramente, zu untergraben. Er verwirft die menschliche Willensfreiheit und gleichzeitig behauptet er, alles geschehe aus Notwendigkeit. Dies alles steht im Gegensatz zur Lehre der Kirche Christi. Daher ist es offenkundig, dass er von einem anderen, schrecklichen Geist geleitet wird, d.h. vom Geist des Irrtums, und nicht vom Geist der Wahrheit.“

Als Jahre später König Heinrich VIII. die Scheidung von seiner ersten Ehefrau Katharina verlangte, verteidigte John Fisher das Sakrament der Ehe. Der englische König geriet in Zorn, als er von Fisher mit König Herodes und als Anne Boleyn mit Salome verglichen wurde. Da die polemischen Randbemerkungen in der Übersetzung des Neuen Testamentes (1526) des militanten Protestanten William Tyndale (1484 bis 1536) Fishers Widerwillen erregten, setzte er sich ein Jahr später vergeblich für ein kirchliches Vorhaben ein, die Heilige Schrift ins Englische zu übertragen. Im März 1533 wurde Anne Boleyns Günstling Thomas Cranmer zum Erzbischof von Canterbury geweiht; nur eine Woche später wurde John Fisher verhaftet. Im Mai 1535, schon als Gefangener im Tower von London, wurde er von Papst Paul III. zum Kardinal ernannt. Als einziger Bischof hatte er die Standfestigkeit, keinen Eid auf Heinrich VIII. als Oberhaupt der Kirche in England zu leisten. Am 22. Juni 1535 wurde er im Tower von London enthauptet, wenige Tage vor Thomas Morus. John Fisher gehörte zu den herausragenden Gottesgelehrten seiner Zeit. Seine Streitschrift gegen Luther Assertionis Lutheranae Confutatio (1523) diente als Steinbruch für Theologen von Johannes Eck über Erasmus bis zu Robert Bellarmin. Auch die Konzilsväter von Trient suchten in Fishers Erkenntnissen Orientierung.

Im Jahr 1539, nach der gewaltsamen Auflösung von über 800 Klöstern, ließ der König in den „Six Articles“ die überlieferte katholische Glaubenslehre verkünden, darunter die Lehre von der Transsubstantiation – die Verwandlung von Brot und Wein in Christi Leib und Blut –; die Ohrenbeichte sowie das Verbot der Eheschließung für Geistliche. Wie immer zeigte sich Thomas Cranmer, der Erzbischof von Canterbury, gefügig, denn er durfte weiterhin eine heimliche Ehe mit Margarete Osiander aus Nürnberg führen. „Cranmer hatte fast alles getan“, so urteilt über ihn Reinhold Schneider, „was der König von ihm verlangte: er verband den Herrscher mit Anna Boleyn und erklärte drei Jahre darauf, als diese schon im Tower ihren Tod erwartete, die Ehe für ungültig; er musste die Auflösung der Klöster hinnehmen; er erlebte es, dass Thomas Cromwell, der ‚Hammer der Mönche‘, enthauptet wurde.“ Man möchte ergänzen: Die englischen Reformatoren Thomas Cranmer und Hugh Latimer waren von Cromwell angestachelt worden, um ein Todesurteil gegen den papsttreuen Mönch John Forest zu erwirken. Cranmer, Latimer und Cromwell waren zugegen, als das Leben des Franziskaners John Forest am 22. Mai 1538 auf dem Scheiterhaufen endete. Erzbischof Cranmer war auch ein „stummer Hund“ (Jes 56,10), als im Jahr 1538 der Schrein des Heiligen Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury zerstört wurde. Im 12. Jahrhundert hatte dieser Erzbischof die Autorität und Freiheit der Kirche gegen König Heinrich II., der die Plantagenets an die Macht gebracht hatte, verteidigt. Dafür wurde dieser „aufrührerische Priester“ in seiner Kathedrale ermordet.

König Heinrich VIII. aus der Tudor-Dynastie war ein grausamer, launischer und selbstsüchtiger Tyrann. Zwei Jahre nach John Fishers Enthauptung richtete der englische Kardinal Reginald Pole, der mittlerweile im sicheren Italien lebte, die prophetische Schrift De Unitate (1537) an den König. Der Kardinal klagte ihn an, dass er mit seiner erzwungenen Scheidung von Katharina sich auch von der Kirche, der Braut Christi, getrennt habe. Pole stellte dem König auch die Frage, wer den Märtyrerbischof John Fisher an Heiligkeit, an Gelehrsamkeit, an Weisheit und Seeleneifer übertreffe. Poles Mutter Margaret war eine Adlige aus der Dynastie Plantagenet. Mitte November 1538 wurde sie in den Tower von London gesperrt. Nach langer Haft wurde sie Ende Mai 1541 zum Schafott gebracht. Sie weigerte sich, ihr Haupt für den Henker zu beugen, da sie sich nie einer Tyrannei beugen würde. Der Henkersknecht hackte ihre Schulter und ihren Kopf buchstäblich in Stücke. 1886 wurde sie von Papst Leo XIII. selig gesprochen.

Die Zahl der Opfer von König Heinrich VIII. ist gewaltig. Tausende von Untertanen fanden einen gewaltsamen Tod. Dennoch ist nicht er, sondern seine Tochter Mary aus seiner ersten Ehe mit Katharina von Aragon die negative Projektionsfläche im kollektiven Gedächtnis. Jeder Schuljunge hat schon von der „Bloody Mary“ gehört.

Mary Tudor (1553-1558) – Englands erste Königin versucht die Rückkehr

Im Jahr 1554, am Fest des spanischen Nationalheiligen „Santiago“ (des hl. Apostels Jakobus des Älteren), schlossen Königin Mary Tudor und Philipp von Spanien in der Kathedrale von Winchester den Bund fürs Leben. Die Ehe wurde gesegnet von jenem Bischof Stephen Gardiner, der mit seinem Gutachten Si sedis illa (1535) die Hinrichtung des heiligmäßigen Bischofs John Fisher gerechtfertigt hatte. Auf seinem Sterbebett aber legte der ehemalige Lordkanzler Gardiner dieses Bekenntnis ab: Erravi cum Petro, sed non flevi cum Petro – Mit Petrus irrte ich, aber ich weinte nicht mit Petrus.

Wer heute in der Universitätsstadt Oxford eine „guided tour“ bucht, wird zunächst an das Martyrs’ Memorial geführt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war es auf Initiative von Charles Golightly, kurzzeitig Kaplan von John Henry Newman, zum Gedenken an die Bischöfe Thomas Cranmer, Nicholas Ridley und Hugh Latimer errichtet worden. In der Regierungszeit von Mary Tudor waren sie in Oxford auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Thomas Cranmer und Hugh Latimer, die Täter bei der Hinrichtung von John Forest, wurden nun selbst zu Opfern der Gewalt. Die Gedenktafel in Oxford spricht davon, dass Cranmer, Ridley und Latimer Zeugnis ablegten für „geheiligte Wahrheiten“ gegenüber den „Irrtümern der Kirche von Rom“.

Reinhold Schneider deutet den 21. März 1556, als das Todesurteil gegen Cranmer verkündet und vollstreckt wurde, mit diesen Worten: „Und erst in dieser Stunde stand Thomas Cranmer, der sein Leben lang ein Diener der Gewalt gewesen, als Verantwortlicher einsam vor Gott.“ Einen Tag nach Cranmers gewaltsamem Tod wurde Kardinal Reginald Pole zum Priester geweiht und dann zum neuen Erzbischof von Canterbury ernannt. Jahrhunderte später, am 21. März 2013, wurde Justin Welby als neuer Erzbischof inthronisiert. Dieses in anglikanischer Perspektive ikonenhafte Datum wurde mit Bedacht gewählt, um an das Erbe des Gründerbischofs Cranmer anzuknüpfen.

284 Protestanten wurden unter Mary Tudor getötet. Opfer dieser Säuberung wurden auch die deutschen Gelehrten Martin Bucer und Paul Fagius, die 1549 – unter König Edward VI. (1547 bis 1553) –  von Erzbischof Cranmer einen Ruf an die Universität in Cambridge erhalten hatten. Der Hebraist Fagius aus Isny im Allgäu starb bereits im Jahr seiner Ankunft, der Reformator Bucer aus Straßburg zwei Jahre später. Im Februar 1557 wurden die Gebeine und Bücher der beiden Weggefährten auf dem Marktplatz von Cambridge verbrannt. Eine Gedenktafel in der Kirche Great St. Mary’s in Cambridge erinnert an Martin Bucer. Mary Tudor, Englands erste Königin, starb am Morgen des 17. November 1558, am Abend desselben Tages starb auch Erzbischof Reginald Pole.

Elizabeth I. (1558-1603) – gewaltsam setzt sie die endgültige Trennung durch

Als die Tochter von Heinrich VIII. und Anne Boleyn den Thron bestiegen hatte, verfügte sie umgehend, dass beim Gottesdienst die Hostie nicht mehr erhoben werden dürfe. Mit dieser staatlichen Anordnung wurde die katholische Lehre von der Wandlung der Gestalten zurückgedrängt. Die zunehmend protestantische Ausrichtung der Kirche von England führte im Jahr 1569 zum Aufstand im Norden. Darüber urteilt Reinhold Schneider: „Die Gnadenpilger kehrten wieder; im Jahre 1569, als die Königin Elisabeth die große Krise ihrer Regierung erlebte, wurde das Wundenbanner im Norden wieder entrollt; achthundert Männer erlitten auf Gebot der Königin, die gewiss nicht milder war als ihre vielgeschmähte Halbschwester Maria, den Tod.“ Allein in der Stadt York wurden 28 papsttreue Priester aufgehängt. Papst Pius V. wollte die Aufständischen unterstützen und exkommunizierte Königin Elisabeth. Ab April 1576 wurde der Anspruch der Königin als Oberhaupt der Kirche von England verschärft durchgesetzt, gleichzeitig wurde der Kult um die „Gloriana“ gefördert. Strafen gegen widerständische Katholiken (Rekusanten) dienten dieser konfessionellen Gleichschaltung. William Cecil, der engste Berater der Königin, errichtete einen Polizeistaat. Nie wieder wurde in England so grausam gefoltert wie im „Golden Age“ von Königin Elisabeth. Nur noch Kundige verbinden mit den Namen Francis („spymaster“) Walsingham, Richard („torturer“) Topcliffe sowie Thomas („rackmaster“) Norton die finsteren Abgründe der Gewaltherrschaft unter Königin Elisabeth.

Im Frühsommer 1580 begann von Rom aus eine jesuitische Mission. Auf dem Weg nach England verbrachte der Jesuit Edmund Campion acht Tage in Mailand bei Erzbischof Carlo Borromeo. In dessen Privatkapelle hing neben einem Gemälde des hl. Ambrosius von Mailand auch ein Bild des englischen Märtyrers John Fisher. Bevor am 27. Juni 1581 der Sonntagsgottesdienst in der Universitätskirche St. Mary the Virgin in Oxford begann, wurde Campions Schrift Decem rationes, wo er den katholischen Glauben verteidigte, heimlich ausgelegt. Wochen später wurde der Jesuit verhaftet. Bei einem der Verhöre war sogar Königin Elizabeth anwesend; denn als junger anglikanischer Gelehrter in Oxford hatte er in ihrer Gunst gestanden. Als das Todesurteil verkündet wurde, sprach Campion diese prophetischen Worte: „Indem ihr uns verurteilt, brecht ihr auch den Stab über all Eure Ahnen, über all die altehrwürdigen Bischöfe und Könige, über all das, was einst die Ehre Englands war.“ Am 1. Dezember 1581 wurde er in Tyburn (London) – zusammen mit den jesuitischen Gefährten Alexander Briant und Ralph Sherwin – gehängt, gestreckt und gevierteilt. Als sein lebloser Körper in Stücke geschlagen wurde, trafen Blutspritzer einen protestantischen Zuschauer namens Henry Walpole. Dieser spürte, dass er sich zur katholischen Kirche bekehren müsse. Als Priester und Jesuit wurde er am 7. April 1595 in York hingerichtet. In den Jahren von 1577 bis 1603 wurden 123 Priester getötet.

Maria Stuart, die im Februar 1587 enthauptet wurde, ist das prominenteste Opfer von Königin Elizabeth. Dieser Justizmord war für Philipp II. Anlass und Grund, das protestantische England im Sommer 1588 anzugreifen. Mit dem Sieg – dank „protestantischer Winde“ –  über die spanische Armada ein Jahr später war ihre Herrschaft gefestigt. Im Jahr darauf schickte die Königin eine Flotte von Kriegsschiffen unter dem Befehl von Admiral Francis Drake an die iberische Küste, um Spanien anzugreifen. Wem überhaupt ist der Fachbegriff „Counter Armada or the Drake – Norris Expedition“ noch geläufig? Im kollektiven Gedächtnis freilich gilt die elisabethanische Ära als „Golden Age“.

Als Papst Paul VI. im Oktober 1970 Großbritannien besuchte, wurden 40 Märtyrer aus England und Wales zur Ehre der Altäre erhoben. Er sprach von der Hoffnung, dass das Blut dieser Märtyrer die großen Wunden heilen möge, die durch die Spaltung im 16. Jahrhundert geschlagen wurden. Und als Papst Benedikt XVI. im September 2010 Großbritannien besuchte, kamen am Vortag der Seligsprechung von Kardinal John Henry Newman die Gläubigen im Hyde Park London zum Abendgebet zusammen. In seiner Ansprache gedachte der Papst auch der Blutzeugen des 16. Jahrhunderts: „In Tyburn, nicht weit von hier entfernt, sind viele Brüder und Schwestern für den Glauben gestorben; das Zeugnis ihrer Treue bis zum Ende war wirksamer als die mitreißenden Worte, die so viele von ihnen gebrauchten, bevor sie alles dem Herrn hingaben.“ Er sprach auch vom Zeugnis für Christus im 21. Jahrhundert: „In der heutigen Zeit wird man als Preis für die Treue zum Evangelium nicht mehr gehängt, gestreckt und gevierteilt, sondern man wird häufig abgelehnt, lächerlich gemacht oder verspottet.“ 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Kirche in Not veröffentlicht neuen Bericht „Religionsfreiheit weltweit 2021“

Religionsfreiheit – ein bedrohtes Menschenrecht

Kirche in Not fördert jedes Jahr mehr als 5.000 pastorale Projekte in über 140 Ländern, wo Christen bedrängt oder in Not sind. Der Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ soll ihnen eine Stimme geben. Darüber hinaus erlebt Kirche in Not im Kontakt mit den Partnern vor Ort: Den Religionsgemeinschaften kommt eine zentrale Stellung zu, wenn in Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt politisch oder diplomatisch „nichts mehr geht“. Nicht das Verschwinden von Religion, sondern die Verteidigung des Rechts auf Religionsfreiheit ist ein Schlüssel, um diese Konflikte zu entschärfen. Keine Freiheit ohne religiöse Freiheit, kein Frieden ohne religiösen Frieden!

Von Florian Ripka

12. Mai 2019: Im Dorf Dablo im Norden von Burkina Faso beginnt die Sonntagsmesse. Plötzlich stürmen Bewaffnete den Gottesdienst und eröffnen das Feuer. Fünf Gottesdienstbesucher werden getötet. Auch der 38-jährige Gemeindepriester Simeon Yampa, der sich schützend vor seine Messdiener stellt, stirbt im Kugelhagel. Die Terroristen drohen den überlebenden Gottesdienstbesuchern wiederzukommen. Sollten sich nicht alle Frauen verschleiern, würden auch sie getötet.

Eine Momentaufnahme religiöser Gewalt, nachzulesen im neuen Bericht „Religionsfreiheit weltweit 2021“ des katholischen Hilfswerks Kirche in Not (international: Aid to the Church in Need – ACN). Als einzige katholische Institution dokumentiert die päpstliche Stiftung die Lage der Religionsfreiheit für alle 196 Länder der Erde – und für alle Religionen.

Alle Religionen leiden unter Verfolgung und Diskriminierung

Als weltweit größte Religionsgemeinschaft leiden die Christen am meisten unter religiöser Gewalt, Diskriminierung und Verfolgung. Aber auch Muslime, Hindus, Buddhisten und andere religiöse Gruppen leiden unter Verstößen gegen die Religionsfreiheit. Was in China mit den mehrheitlich muslimischen Uiguren und in Myanmar mit den Rohingya geschieht, haben westliche Regierungen zu Recht als Völkermord bezeichnet.

Weltweit ist die Religionsfreiheit gefährdet wie nie zuvor: In nahezu einem Drittel der 196 untersuchten Länder stellt die Studie von Kirche in Not Verstöße fest. Zu den Staaten mit den massivsten Übergriffen gehören einige der bevölkerungsreichsten Nationen der Welt: China, Indien, Pakistan und Nigeria. 26 Länder stuft der Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ in die Kategorie rot ein – dort sterben Menschen für ihren Glauben. Darunter sind arabische Länder wie Saudi-Arabien und Iran, afrikanische Staaten wie Mali, Niger oder Tschad oder asiatische Nationen wie China, Indien, Pakistan und Myanmar. In 36 Ländern stellt der Bericht religiöse Diskriminierung fest. Dort kommt es in erster Linie zu Angriffen auf Gotteshäuser, staatliche Bedrohung oder Attacken auf Religionsgemeinschaften durch kriminelle Banden.

Zunahme dschihadistischer Gewalt in Afrika

Mit Sorge blickt Kirche in Not auf Afrika. Besonders in den Ländern südlich der Sahara breiten sich dschihadistische Gruppen rasant aus. Muslime und Christen werden in dieser Region gleichermaßen Opfer der Gewalt. Mit der zunehmenden Radikalisierung geraten Christen jedoch immer mehr ins Visier der Terroristen. Dadurch wird die jahrhundertealte soziale und religiöse Harmonie in der Region zerstört.

Die dschihadistische Radikalisierung betrifft aber nicht nur den afrikanischen Kontinent. Die Studie von Kirche in Not deckt den Aufstieg transnationaler islamistischer Netzwerke auf, die von der Subsahara-Region zu den Komoren im Indischen Ozean bis zu den Philippinen im Südchinesischen Meer reichen. Ihr Ziel ist es, ein „transnationales Kalifat“ zu errichten.

Ethno-religiöse Ideologien Asiens gehen gegen Minderheiten vor

Das asiatische Festland ist eine der bevölkerungsreichsten Regionen der Welt. Dort gibt es aber auch die schlimmsten „Weltrekorde“ bei der Verletzung der Religionsfreiheit. Das Hauptproblem ist vor allem der ethno-religiöse Nationalismus als eine Art Gegenbewegung zur Globalisierung.

Indien ist das extremste Beispiel. Es ist die größte Demokratie der Welt, aber auch das Land mit der weltgrößten Bewegung eines religiösen Nationalismus. Die hindu-nationalistische Regierungspartei BJP hat ihre nationalistische Agenda verstärkt. Im Fokus von Attacken steht die christliche und muslimische Minderheit. Auch in weiteren mehrheitlich buddhistischen oder hinduistischen Ländern Asiens wie etwa Myanmar oder Sri Lanka ist ein religiös gefärbter Nationalismus das Hauptmotiv religiöser Diskriminierung und Verfolgung.

Ein weiterer zentraler Faktor, der die Religionsfreiheit beeinflusst, sind autoritär und totalitär agierende Regierungen. Mehrere asiatische Länder werden immer noch marxistisch regiert. Dazu gehören Nordkorea, das auf eine totale Vernichtung aller Glaubensgemeinschaften zielt, und China. Dort dienen Massenüberwachung, ein soziales Bewertungssystem sowie brutale Razzien gegen religiöse und ethnische Gruppen dazu, die kommunistische Vormachtstellung zu zementieren.

„Höfliche Verfolgung“ in westlichen Ländern

Mit Blick auf die Situation der Religionsfreiheit in den westlichen Ländern greift die Studie den von Papst Franziskus zugespitzt formulierten Begriff „höfliche Verfolgung“ auf. Damit beschreibt der Papst den Anstieg neuer gesetzlich verankerter „Rechte“ oder kultureller Normen, die darauf abzielen, die Religionen „zum Schweigen zu bringen und auf die Verborgenheit des Gewissens jedes Einzelnen zu beschränken oder sie ins Randdasein des geschlossenen Raums der Kirchen, Synagogen oder Moscheen zu verbannen.“ Diese neuen Normen führen dazu, dass die Rechte der Einzelnen auf Gewissens- und Religionsfreiheit in einen Konflikt geraten mit der Verpflichtung, sich an die staatlichen Gesetze zu halten. Beispiele sind die Pflicht zur Mitwirkung an Abtreibungen oder Sterbehilfe für das Personal in Kliniken, Arztpraxen oder Apotheken in einzelnen Ländern.

Corona-Pandemie hat auch Auswirkungen auf Religionsfreiheit

Auch Corona hatte und hat Auswirkungen auf die Religionsfreiheit. Mancherorts fielen die Einschränkungen für den religiösen Bereich im Gegensatz zu anderen, säkularen Aktivitäten unverhältnismäßig streng aus. In einigen Staaten, wie z.B. in Pakistan oder Indien, wurden religiöse Minderheiten bei humanitären Hilfen während der Pandemie benachteiligt. Besonders in den sozialen Netzwerken wurde die Pandemie als Vorwand genutzt, um religiöse Gruppen mit dem Vorwurf zu stigmatisieren, sie hätten die Pandemie verursacht oder verbreitet.

Doch es gibt auch positive Entwicklungen in Sachen Religionsfreiheit: Eine davon ist die von Papst Franziskus initiierte Annäherung von Christen und Muslimen. Ein Meilenstein ist das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“, das der Pontifex mit dem sunnitischen Großimam Ahmad al-Tayyib im Februar 2019 unterzeichnet hat. Die Papstreise in den Irak im März 2021 führte zu einer Vertiefung des interreligiösen Dialogs. Nach dem Treffen mit dem schiitischen Groß-Ayatollah Ali as-Sistani bekräftigte dieser, „dass christliche Bürger wie alle Iraker in Frieden und Sicherheit und mit ihren vollen verfassungsmäßigen Rechten leben sollten“. Das ist ein ermutigendes Signal. Denn trotz aller Rückschläge führt an der Zusammenarbeit der Religionen kein Weg vorbei – gerade dort, wo Unterdrückung, Krieg und Verfolgung herrschen.

Weitere Informationen: www.religionsfreiheit-weltweit.de 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Wallfahrt einer Delegation der Paneuropa-Union nach Altötting

Neuaufbruch Europas im Zeichen Mariens

Trotz der pandemiebedingten Beschränkungen pilgerte am 1. Mai 2021 eine Delegation der 1922 gegründeten ältesten europäischen Einigungsbewegung, der Paneuropa-Union, an den europaweit ausstrahlenden Wallfahrtsort Altötting, um dort Maria als Schutzfrau Europas zu ehren. Nachstehend ein Beitrag des Präsidenten der Paneuropa-Union Deutschland, des langjährigen bayerischen Europaabgeordneten Dr. h.c. Bernd Posselt, zum „Neuaufbruch der Europäischen Idee im Zeichen der Muttergottes“.

Von Bernd Posselt

Die europäische Einigung und die Muttergottes sind schon rein optisch miteinander verbunden – durch die Farbe Blau sowie durch den Kranz aus zwölf Sternen. Der Mai, in dem alles neu sprießt und den Menschen Hoffnung gibt, ist sowohl der Marien- als auch der Europa-Monat. Schon der Gründer der Pan-europa-Union in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, Graf Richard Coudenhove-Kalergi aus Böhmen, wollte nicht nur einen friedenssichernden europäischen Zusammenschluss, der den Zweiten Weltkrieg verhindert, sondern auch einen Europa-Feiertag im Mai.

Da man nicht auf ihn hörte, wurde unser Kontinent vom blutigsten Völkerringen der Menschheitsgeschichte zutiefst erschüttert, das am 9. Mai 1945 endete. Während die östliche Hälfte Europas hinter Stacheldrähten und Minenfeldern verschwand, sammelte sich die westliche im Geist der Überwindung so genannter Erbfeindschaften und der europäischen Idee. Am 5. Mai 1949 wurde der von Coudenhove initiierte Europarat in Straßburg gegründet, am 9. Mai 1950 erklang in Paris der Ruf des französischen Staatsmannes Robert Schuman nach Aufbau einer Kohle- und Stahlgemeinschaft. Jahrhundertelang hatten Europas Völker um diese kriegswichtigen Rohstoffe gekämpft und sie genutzt, um einander zu unterdrücken.

Der Lothringer Schuman, dessen Seligsprechung offenbar bald bevorsteht, wollte den Teufelskreis durchbrechen, indem er Kohle und Stahl in einen gemeinsamen Topf einbrachte, der von Siegern und Besiegten partnerschaftlich verwaltet wurde. Seine Idee war von Anfang an nicht rein wirtschaftlich, sondern vom glühenden Wunsch nach Frieden beseelt.

Seine wichtigsten Partner waren Konrad Adenauer in der Bundesrepublik Deutschland und Alcide de Gasperi in Italien, die er schon in seiner Jugend bei gemeinsamen Wallfahrten zur Muttergottes nach Maria Laach kennengelernt hatte. Nun sollte die Saat aufgehen, weil diese drei katholischen Männer die Regierungschefs ihrer Staaten waren. Sie verband zudem ein weiteres: Sie waren Männer der Grenze. Adenauer als Rheinländer, de Gasperi als Welschtiroler und Schuman als Lothringer.

Ihre Heimaten waren jahrhundertelang blutig und militärisch umstritten gewesen, Grenzen wurden gewaltsam hin- und hergeschoben. Durch den Fortschritt der Europäischen Union seit den achtziger und neunziger Jahren verschwanden sie fast ganz, bis jetzt die Pandemie und ihre Folgen wieder alte Wunden aufgerissen haben – durch einseitige Grenzschließungen sowie durch Rückfälle in den Nationalismus und durch neuen National-Egoismus. Deshalb ist es wichtig, dieses Europa ganz im Sinne der Muttergottes zu erneuern, die bei der Hochzeit von Kana eine klare Devise ausgab: „Tut, was er euch sagt!“

Für uns Paneuropäer ist Altötting – im Netzwerk „Shrines of Europe“, das ich im Straßburger Europaparlament vorstellen durfte, verknüpft mit den größten Marienwallfahrtsorten Europas – eine der Hauptstädte des europäischen Geistes. Hier wurde der letzte Herrscher aus der Familie, die das christliche Abendland aufgebaut hat, nämlich der Karolinger, begraben; hier begegnen sich grenzüberschreitend Pilger aus allen Nationen; hier verneigt sich Bayern vor der „Patrona Bavariae“, die auch die Schutzfrau Europas ist. Hier kommen jeden Sommer junge und ältere Menschen zum Internationalen Forum der Gemeinschaft Emmanuel zusammen, hier findet auch die Paneuropa-Bewegung regelmäßig einen ihrer Mittelpunkte.

Diesen 1. Mai hielt Bischof Stefan Oster von Passau trotz der Corona-Beschränkungen in der Basilika einen eindrucksvollen Eröffnungsgottesdienst für die Pilgersaison. Papst Franziskus nahm Altötting als einzigen deutschen Wallfahrtsort in das Programm der Gebets-Offensive für das Ende der Corona-Pandemie auf.

Der Geist der Nächstenliebe ist es, der untrennbar zur Seele Europas gehört. Deshalb sei daran erinnert, dass der 1. Mai stets auch Joseph dem Arbeiter gewidmet ist, den die Kirche derzeit auf Initiative des Heiligen Vaters ein volles Jahr lang feiert. Man spricht viel vom „European Way of Life“, vom europäischen Lebensmodell. Dieses hat – ganz in der Tradition des hl. Joseph wie des hl. Bruders Konrad von Altötting – seine Wurzeln in der sozialen Dimension des Christentums. Aus diesem Denken heraus verkündete Papst Leo XIII. vor 130 Jahren die erste große Sozialenzyklika „Rerum novarum“, die zu den wichtigsten Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft gehört, in der nicht der Mensch für die Wirtschaft, sondern die Wirtschaft für den Menschen da sein soll.

Die Grundbegriffe dieser Lehre, die nach dem Willen von Johannes Paul II. das Europa der Zukunft prägen soll, lauten: Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Die Personalität schlägt sich in der Unantastbarkeit der Menschenwürde nieder, die Subsidiarität in der sachgerechten Kompetenzaufteilung zwischen den verschiedenen Ebenen, die Solidarität in der aktiven Hilfe für unverschuldet in Not Geratene und der Gemeinwohlgedanke in der Verantwortung für die große Gemeinschaft der Europäer wie auch der ganzen Menschheitsfamilie.

Europa und die Europäische Union sind weder das Paradies auf Erden noch ein Teufelswerk. Sie sind die richtige Antwort auf Nationalismus und Hass zwischen den Völkern. Wie alles Menschliche hat diese Gemeinschaft ihre Fehler, ist aber für die Zukunft unseres Kontinents unverzichtbar. Der große katholische Philosoph Rocco Buttiglione, mit dem ich in seiner Zeit als italienischer Europaminister einmal auch Altötting besuchen durfte, pflegte auf die skeptische Aussage „Wir wollen ja Europa, aber nicht dieses“ mit dem klugen Satz zu kontern: „Wir werden kein anderes Europa bekommen, und deshalb müssen wir als Christen um dieses eine kämpfen.“ 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Die Rolle der Religion in Europa

Am 22. Mai 2021 empfing Papst Franziskus die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einem etwa halbstündigen Gespräch. Aus ihren anschließenden Statement bei Radio Vatikan.

Von Ursula von der Leyen

Das Christentum ist tief eingewoben in Europa. In der Tat – Sie haben die christlichen Wurzeln beschrieben – und man spürt jeden Tag in unserem täglichen Handeln den Ursprung der christlichen Werte, wenn es um das große Thema des Friedens geht, wenn es um die Würde des Menschen – z.B. in der Rechtsstaatlichkeit – geht, aber auch wenn es um Solidarität geht und, in älteren Formulierungen würde ich dann noch sagen, Barmherzigkeit. Da merkt man die Wurzeln des Christentums und wie tief es eingewoben ist in unseren Alltag. Aber auch die Bewahrung der Schöpfung, z.B. wenn man über das Thema Klimawandel redet. Und insofern spielt in unseren alltäglichen Themen das Christentum eine große Rolle mit den Werten, auf denen es basiert. Aber es gibt noch eine zweite Komponente: In Zeiten der Polarisierung, des Populismus, des Nationalismus ist die große einende Kraft der Religion, die für den Zusammenhalt spricht, die für die Versöhnung spricht, von immenser Bedeutung. Und wenn man sich vor Augen führt, dass es das Einende ist, das uns die Kraft gibt, den Alltag und vor allem die Aufgaben zu bewältigen, dann versteht man, welch große Rolle Religion spielt. 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Marsch für das Leben am 18. September 2021

Kommen Sie nach Berlin!

Der diesjährige Marsch für das Leben findet am 18. September 2021 sowohl vor Ort als auch über Live-Stream statt. Veranstalter ist wieder der Bundesverband Lebensrecht, der sich unerschrocken für das Recht auf Leben, und zwar für alle Menschen von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, einsetzt. Eine Woche vor der Bundestagswahl hat dieses Zeugnis eine besondere Bedeutung, zumal sich einige politische Parteien unter anderem die Forderung nach einem Recht auf Abtreibung bis zur Geburt auf ihre Fahnen geschrieben haben. Die „Grünen“ fügen in ihrem Parteiprogramm hinzu: „Um die Versorgung für Frauen dauerhaft zu gewährleisten, braucht es eine Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von selbstbestimmten Abbrüchen sowie eine generelle Kostenübernahme.“ Ein Interview mit Alexandra Linder, der Vorsitzenden des Bundesverbands Lebensrecht.

Kirche-heute-Interview mit Alexandra Linder

Frau Linder, Sie sind seit vielen Jahren im Lebensrechtsbereich engagiert. Hat der diesjährige Marsch für das Leben eine besondere Zielsetzung? Was sind Ihre zentralen Forderungen?

Alexandra Linder: Die Zielsetzung des Marsches für das Leben ist grundsätzlich, für die Würde jedes Menschen und für die daraus abzuleitenden Grundrechte einzutreten. Es ist eine positive, eine pro-life-Veranstaltung, ohne den seit 2002 immer enthaltenen Traueraspekt um die verstorbenen Kinder und die schädlichen Folgen für Mütter, Familien und unsere Gesellschaft zu vernachlässigen. Deshalb hat der Marsch auch in der Mitte eine Gruppe, die diesen Traueraspekt durch das Tragen von Kreuzen und ein eigenes Banner symbolisiert.

Dieses Jahr steht der assistierte Suizid mit im Zentrum, der nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von Februar 2020 gesetzlich neu geregelt werden muss. Hierfür würde eigentlich ein zentraler Satz genügen, nämlich, dass die begleitete Selbsttötung verboten ist, auch wenn das Gericht anderes fordert und behauptet wird, dahinter könne man nicht zurück. Die Gesetze macht das Parlament.

Die Abtreibungsregelung wird wichtig, weil es besonders intensive ideologische Bestrebungen gibt, die vorgeburtliche Kinds-tötung als normale Gesundheitsleistung zu etablieren, die Gewissensfreiheit von medizinischem Personal und entsprechenden Einrichtungen abzuschaffen und letztendlich auch die sachliche Aufklärungsarbeit der Lebensrechtsbewegung zu verbieten. Wir sind – neben der katholischen Kirche, einigen Protestanten und vielen Freikirchen – fast die einzigen in Deutschland, die die Menschenwürde, vor allem auch das Personsein der Kinder vor der Geburt, seit über 40 Jahren konsequent verteidigen und die wissenschaftliche Wahrheit verbreiten. Diese Kinder sind keine Zellhaufen, kein Gebärmutterinhalt, keine Fruchtblase, wie es bei gut verdienenden Abtreibungseinrichtungen oder bei Pro Familia wider besseren Wissens behauptet wird, sondern vollständige Menschen.

Ohne unsere Arbeit wären vorgeburtliche Kinder ideologisch entmenschlicht und hätten keine Rechte mehr, wie es in einigen Staaten der Fall ist. Wir hätten vielleicht schon eine Euthanasie-Regelung, jeder wäre automatisch Organspender, Embryonen wären frei verfügbar. In Deutschland ist vieles noch nicht so schlimm wie in anderen Staaten. Unser Ziel ist, dass es nicht nur so bleibt, sondern sich weiter in Richtung Kultur des Lebens verbessert. Dafür können wir übrigens jede Hilfe, Mitwirkung, Unterstützung brauchen.

Aktuell gibt es starke Bestrebungen, Embryonen für alle Zwecke verfügbar zu machen – Herstellung, Tötung, genetische Veränderungen – und für jeden Erwachsenen die Herstellung von Kindern zu ermöglichen, inklusive der in Deutschland bisher noch verbotenen Eizellspende und Leihmutterschaft. So werden Frauen ausgebeutet und zu Gebärmaschinen degradiert. Die Kinder sind dann „gewünschte Kinder“ von „Wunscheltern“. Dieses Vokabular wird tatsächlich so verwendet.

Es gibt also wie immer viel zu tun …

Welche Signale wollen Sie im Blick auf die Bundestagswahl aussenden?

Die sogenannten bioethischen Themen sind einigen Millionen Wählerinnen und Wählern ein großes Anliegen und für sie auch wahlentscheidend. Parteien, die legale Abtreibung, die Verzweckung von Embryonen, die begleitete Selbsttötung oder Ausbeutung von Frauen fordern, sind für sie nicht wählbar. Hier könnten Parteien mit einer wirklich humanen, menschenwürdigen Haltung und Programmatik viele Neu- oder Wiederwähler gewinnen.

Welche Rolle spielt die Pandemie für die diesjährige Veranstaltung? Ist die Teilnehmerzahl beschränkt?

Um einen Überblick zu haben, bitten wir auch dieses Jahr um eine Anmeldung, sie ist aber nicht zwingend erforderlich. Der Vorteil für die Anmelder ist, dass sie aktuell zum Marsch und den Veranstaltungen um den Marsch informiert werden. Bisher ist regulatorisch keine Beschränkung vorgesehen. Also planen wir wie immer.

Wie ist der Ablauf geplant? Was steht auf dem Programm?

Wir beginnen mit einer etwa einstündigen Kundgebung mit Reden und Musik, rund um den Versammlungsplatz stellen sich die im BVL organisierten Lebensrechtsvereine mit Ständen vor, laden zu Informationen und Gesprächen ein. Danach folgt die Demonstration durch die Stadt, die etwa zwei Stunden dauert. Nach der Veranstaltung bieten wir immer einen ökumenischen Gottesdienst an, der von vielen Marschteilnehmern besucht wird.

Welche Redner werden auftreten? Zu welchen Themen werden sie sprechen?

Wir werden eine gute, fundierte und lebendige Mischung aus jungen Lebensrechtlern, Menschen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten und prominenten Persönlichkeiten haben. Traditionell sind wir ein wenig eine Überraschungsveranstaltung und verraten nicht alles vorher… Ein Highlight kann ich preisgeben: Zum Thema 30 Jahre Wiedervereinigung und Lebensrecht wird Helmut Matthies sprechen, einer der prominentesten pro-life-Vertreter der evangelischen Kirche.

Rund um den Marsch wird es weitere interessante Veranstaltungen geben, wie z.B. unsere Fachtagung am 17.09. zum Thema Fortpflanzungsmedizin und einen Jugendkongress der Jugend für das Leben Deutschland am gesamten Wochenende. Die Fahrt nach Berlin lohnt sich! Übrigens gibt es auch Sonderbusse und -fahrten für Gruppen aus verschiedenen Regionen, die auf unseren Internetseiten immer aktualisiert werden.

Weltweit gibt es einen massiven Kampf um die völlige Freigabe der Abtreibung bis zur Geburt. Was ist von uns Christen über den „Marsch für das Leben“ hinaus gefordert? Wie können wir der „Kultur des Lebens“ am besten dienen?

Indem wir uns überall dort einmischen, wo Debatten geführt werden, wo ideologische, einseitige Artikel erscheinen, wo im Hinblick auf das Menschsein bestimmter Gruppen von Menschen gelogen wird. Eine sachliche Stellungnahme, Leserbriefe und Anregungen werden sehr aufmerksam registriert.

Laden Sie uns zu Vorträgen ein, wir haben für alle bioethischen Themen Experten – gute Anlässe sind zum Beispiel die Woche für das Leben, Fortbildungen für Mitarbeiter, Jahrestagungen von Vereinen und Organisationen. Spannende Diskussionen sind bei unseren Themen immer garantiert. Bewerben Sie unsere Veranstaltungen. Spenden Sie für unsere Arbeit, die natürlich auch einige bezahlte Mitarbeiter braucht, von den Vorständen – das gilt auch für unsere Mitgliedsvereine – aber ehrenamtlich geleistet wird. Werden Sie Beraterin oder Patin für Schwangere, wir haben mehrere Stellen in unseren Reihen, die Beratung und Hilfe für Frauen im Schwangerschaftskonflikt anbieten, konsequent, rund um die Uhr und ohne Beratungsschein. Legen Sie die Hilfeflyer dieser Beratungsstellen aus.

Machen Sie bei Veranstaltungen mit. Treten Sie einem unserer Vereine bei. Momentan vertrete ich etwa 30.000 direkte Mitglieder und Förderer unserer Mitgliedsvereine. Das ist schon eine solide Situation für unser Auftreten als Lobbyverband, übrigens einer der wenigen, der keine eigenen und keine finanziellen Interessen verfolgt. Noch besser ist die Position, wenn ich im Namen von 100.000 Personen auftreten kann.

Schalten Sie sich ein, wenn jemand in Ihrer Umgebung in einem Schwangerschaftskonflikt ist, suizidal ist, schwerkrank oder einsam ist. Reden und auf politischer und gesellschaftlicher Ebene für die Menschenwürde kämpfen ist das eine. Glaubwürdig sind wir aber nur, wenn wir das auch in praktischer Hilfe und Unterstützung ausleben.

Wir danken Ihnen ganz herzlich für das Gespräch. 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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Entwicklung „neuer“ Menschenrechte (4)

Gibt es das „Recht“, ungeborene Kinder abzutreiben?

Im vierten Teil der Artikelserie „Entwicklung ‚neuer‘ Menschenrechte“ geht es um die Frage der Abtreibung. In seinem äußerst aufschlussreichen Beitrag zeigt Grégor Puppinck detailliert die Schlüsselrolle dieser Frage für die Durchsetzung eines völlig neuen antichristlichen Menschenbildes auf. Der Kampf für das angebliche „Menschenrecht auf Abtreibung“ wird deshalb so erbittert geführt, weil sich darauf eine neue Definition des Menschen, der Person und des Rechts auf Leben aufbauen lässt. Schon jetzt werden von internationalen Gerichtshöfen und Nationalparlamenten Gesetze und Beschlüsse verabschiedet, die vollkommen ungeschminkt die eigentlichen Ziele der dahinterstehenden Ideologie formulieren. In einer Entschließung der französischen Nationalversammlung vom Jahr 2014 wird die Praxis der Abtreibung nicht nur als „Grundrecht“ und als „universelles Recht“ bezeichnet, sondern als „unabdingbare Voraussetzung für die wirkliche Gleichstellung von Männern und Frauen und für den Aufbau einer fortschrittlichen Gesellschaft“. Und ein Votum des Europäischen Gerichtshofs nennt Puppinck in seiner „Unverblümtheit schockierend“, in dem die sechs Richter zu einem wichtigen Abtreibungsfall erklären, dass ein staatlicher Schutz letztlich nur jenen Individuen zukomme, „die aktiv am normalen täglichen Leben einer demokratisch verfassten Gesellschaft teilnehmen“.

Von Grégor Puppinck

Während der Redaktionsarbeiten an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) gab es eine lebhafte Debatte über die Bestimmung des Zeitpunktes, an dem das Recht auf Leben einsetzt. Der Ausschuss für den Status der Frau unter dem Vorsitz von Frau Begtrup empfahl, Ausnahmen für die Achtung des Rechts auf Leben vorzusehen, um „die Geburt von Kindern, die geistig behindert sind oder deren Eltern an Geisteskrankheiten leiden, zu verhindern“.[1] Der Vertreter Chiles wies auf die Ähnlichkeit dieser Vorschläge mit der Gesetzeslage Nazi-Deutschlands hin. Charles Malik, ein christlich-orthodoxer Libanese, schlug im Gegensatz dazu vor, „das Recht auf Leben und physische Unversehrtheit jeder Person ab dem Zeitpunkt der Empfängnis und unabhängig von ihrem geistigen oder körperlichen Gesundheitszustand“ zu garantieren.[2] Einmal mehr standen sich hier die zwei unterschiedlichen Auffassungen über den Menschen und seine Würde gegenüber. Mit dem Einwand, dass im Fall der Gefährdung des Lebens der Mutter mehrere Staaten die Abtreibung des Kindes erlaubten, setzte sich der Vertreter Chinas, unterstützt von der Sowjetunion und dem Vereinigten Königreich, dagegen ein, dass der Schutz des Lebens ausdrücklich mit der Empfängnis beginnen solle. Letztendlich blieb der Text in dieser Frage stumm.[3] Es war damit zugestanden, dass die Allgemeine Erklärung dahingehend verstanden werden kann, dass der Schutz des Lebens mit der Empfängnis einsetzt, oder eben nicht, je nach der Vorliebe jedes Staates.[4] So wurde entschieden, dem menschlichen Leben vor der Geburt keinen ausdrücklichen internationalen Schutz zuteilwerden zu lassen.

Zu bemerken ist, dass genau im selben Moment der Weltärztebund die Initiative ergriff, den Hippokratischen Eid 1948 durch die Hinzufügung eines Genfer Gelöbnisses auf den neuesten Stand zu bringen, das dem Geist der Charta von San Francisco entsprechen sollte. In diesem Text versprechen die Ärzte, „dem menschlichen Leben vom Zeitpunkt der Empfängnis an die höchste Achtung entgegenzubringen“ und „nicht zuzulassen, dass Erwägungen von Glaube, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meinen Patienten treten“. – Seither hat diese Frage nie aufgehört, für lebhafte Debatten zu sorgen, wobei die Befürworter der Geburtenkontrolle unermüdlich versuchen, die universelle Anerkennung eines „Rechts auf Abtreibung“ durchzusetzen.

Glaubt man dem Europarat, so sind die Archive der vorbereitenden Arbeiten für die Europäische Menschenrechtskonvention inexistent, insoweit sie das Recht auf Leben betreffen; es ist demnach nicht möglich, zu eruieren, ob und wie die Frage der Abtreibung diskutiert wurde.[5] Nichtsdestoweniger ist festzustellen, dass kein einziger von jenen Staaten, die an der Ausarbeitung des Textes beteiligt waren, damals die Abtreibung gestattete, und die damals vorherrschende christdemokratische Kultur ihr entschieden entgegengesetzt war. Noch 1979 fand sich eine Mehrheit in der parlamentarischen Versammlung des Europarats, um „das Recht jedes Kindes auf Leben ab dem Zeitpunkt der Empfängnis"[6] zu verteidigen, und noch einige Jahre später hielt im selben Gremium eine Mehrheit fest, „dass sich ab dem Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle das menschliche Leben als Kontinuum entwickelt“.[7]

Im Laufe seiner Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellt, dass die Konvention weder ein Recht, ein Kind abzutreiben,[8] noch eines, selbst abgetrieben zu werden,[9] und nicht einmal eines, an einer (dort) straffreien Abtreibung im Ausland mitzuwirken,[10] enthalte. Ebenfalls hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Verbot der Abtreibung keine Konventionsverletzung darstellt.[11] Zuletzt hat er auch festgehalten, dass Artikel 8 der Konvention, der das Recht auf Achtung des Privatlebens garantiert, „nicht in dem Sinn interpretiert werden kann, dass er ein Recht auf Abtreibung enthalte“.[12] Somit existiert kein Recht auf Abtreibung aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Existenz eines solchen gegen den Menschen vor seiner Geburt gerichteten Rechts über Leben und Tod würde voraussetzen, seinen Status als Mensch schlechterdings zu leugnen – und hierfür hat sich im Gerichtshof (bisher noch) keine Mehrheit gefunden. Dieser ist bislang dem zweideutigen Ansatz der AEMR gefolgt, dem zufolge die Staaten „legitimerweise die Entscheidung treffen können, das ungeborene Kind als eine Person zu betrachten und sein Leben zu schützen“,[13] wie sie auch die entgegengesetzte Entscheidung treffen können. Indem er sich zum Status des Menschen vor der Geburt nicht äußert, vermeidet es der Gerichtshof, zugunsten seines Rechts auf Leben Stellung zu beziehen und überlässt es damit jedem Staat, die Abtreibung zu verbieten oder zu erlauben. Diese Position mag ausgewogen erscheinen, aber tatsächlich bewirkt sie viel eher die Tolerierung der Abtreibung als den Schutz des menschlichen Lebens vor der Geburt. Tatsächlich hat der Gerichtshof nie auch nur ein einziges ungeborenes Kind unter den vielen Millionen, die der Abtreibung zum Opfer gefallen sind, geschützt; stattdessen hat er Irland, Polen und Portugal wegen ihres restriktiven Abtreibungsrechts verurteilt.

Indem er – einmal mehr – dem Blickwinkel des Rechts der Mutter auf Privatleben vor jenem des Rechts des Kindes auf Leben den Vorzug gibt, ist es dem Gerichtshof gelungen, die Abtreibung in die Logik der Menschenrechte einzuschleusen. Davon ausgehend, dass die Konvention weder dem ungeborenen Kind ein Recht auf Leben, noch der Mutter ein Recht auf Abtreibung garantiert, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Zugang zur Abtreibung unter dem Aspekt der „physischen und psychischen Integrität der Person"[14] in den Bereich des Privatlebens der Frau fällt. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass die Bedingungen für den Zugang zur Abtreibung den Vorgaben der Konvention entsprechen müssen, sobald ein Staat – und sei es auch nur ausnahmsweise – die Abtreibung gestattet. Da dies in Irland und Polen nach Meinung des Gerichtshofs zu restriktiv geregelt war,[15] hat er diese beiden Länder wegen eines zu restriktiven Abtreibungsrechts gemaßregelt, obwohl seinen eigenen Feststellungen zufolge die Konvention ein Recht auf Abtreibung gar nicht enthält![16] Dem Gerichtshof gelingt der Spagat: einerseits räumt er ein, dass es grundsätzlich kein Recht auf Abtreibung gibt, andererseits zwingt er die Staaten trotzdem dazu, das Abtreibungsrecht zu liberalisieren.

Wenn man ein wenig an der glatten Oberfläche einer Entscheidung kratzt, treten rasch die juristischen Mechanismen zutage, die zugunsten der Abtreibung ins Werk gesetzt werden. Hinzu kommt im irischen Fall das Doppelspiel einer Regierung, die offenbar auf ihre eigene Verurteilung hinarbeitete, um sodann im Namen Straßburgs eine Reform durchzusetzen, die sie selbst nicht in Angriff zu nehmen wagte. Dies zeigt sich beispielsweise an ihrer Zurückweisung eines Vorschlags der polnischen Regierung, dem vom Europarat ausgeübten Druck gemeinsam entgegenzuwirken. Das European Centre for Law and Justice (ECLJ)[17] hat in den beiden Rechtssachen A., B. und C. gegen Irland und P.S. gegen Polen vor dem Gerichtshof interveniert, um angesichts des Aktivismus der mächtigen Abtreibungslobby[18] den Grundsatz, dass es kein Recht auf Abtreibung gibt, zu verteidigen. Diese Position bleibt jedoch umstritten und wird heftig angegriffen. Seither hat der Gerichtshof entschieden, dass in vitro tiefgefrorene Embryonen zwar keine „Sachen“ sind, ihre „Eltern“ aber dennoch, dank ihres „Rechts auf individuelle Selbstbestimmung“,[19] beschließen dürfen, sie zu vernichten. Von in vitro zu in vivo ist es aber nur ein kleiner Schritt.

Die Debatte wird auch im Rahmen der Vereinten Nationen ausgetragen, wo der Menschenrechtsausschuss derzeit beabsichtigt, das im internationalen Recht garantierte Recht auf Leben einer Neuinterpretation zu unterziehen, der zufolge gerade aus dem Recht auf Leben eine generelle Pflicht aller Staaten herzuleiten wäre, die Abtreibung, die Euthanasie und den assistierten Suizid zu legalisieren.[20] Die UN-Bürokratie geht mit der Anerkennung eines „Rechts auf Abtreibung“ noch viel weiter als der EGMR: sie behauptet in einer langen Reihe von Rechtsgutachten und mehr oder weniger verbindlichen Entscheidungen, das internationale Recht verpflichte die Staaten, Abtreibung zumindest im Fall von Vergewaltigung, Inzest, einer Behinderung des Kindes oder einer Gefahr für die Mutter zu legalisieren. Während die Kinderrechtskonvention anerkennt, dass „das Kind wegen seiner mangelnden körperlichen und geistigen Reife besonderen Schutzes und besonderer Fürsorge, insbesondere eines angemessenen rechtlichen Schutzes vor und nach der Geburt, bedarf“, nimmt paradoxerweise ausgerechnet jener Ausschuss, der die Einhaltung dieser Konvention überwachen soll, die radikalsten Positionen im Sinne eines Rechts auf Abtreibung ein.[21] Er wird darin vom Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau unterstützt, der den Regierungen empfiehlt, „die Gesetze, die Abtreibung unter Strafe stellen, zu ändern und die Strafdrohungen gegen Frauen, die abtreiben, abzuschaffen“.[22]

Subjektivierung des Menschlichen

Um zu derartigen Entscheidungen gelangen zu können, musste der EGMR zu einer neuen Form der Subjektivierung schreiten: er unterzieht den Menschen selbst, also das Subjekt und den Nutznießer der Menschenrechte, einer subjektivistischen und relativistischen Neudefinition, indem er ihn allein mit dem individuellen Bewusstsein gleichsetzt. Der Mensch der Menschenrechte ist nicht mehr das biologische menschliche Wesen, das vom Embryo bis zum Greisenalter ein Kontinuum bleibt, sondern er ist, einmal mehr, das Bewusstsein, dass er von sich selbst hat: der Geist.

Für den Gerichtshof ist ein Angehöriger der „Spezies Mensch“ nicht notwendigerweise eine „Person“, der der Schutz der Konvention gilt. Dies betrifft vor allem das Kind im Mutterleib, von dem der Gerichtshof sagt, dass er nicht „in abstrakter Weise die Frage beantworten“ könne, „ob das ungeborene Kind eine ‚Person‘ sei“,[23] während er zugleich seine Zugehörigkeit zur „menschlichen Spezies“ anerkennt-[24] Das Kind gehört demnach wohl im biologischen Sinn zur menschlichen Spezies, aber eben noch nicht zur Menschheit. Der Gerichtshof macht sich hier die Unterscheidung zwischen dem biologischen und dem persönlichen Leben[25] eines Menschen zu eigen, der zufolge das Leben eines Menschen ohne Bewusstsein nur ein biologisches Leben, aber eben kein persönliches Leben sei, wobei nur letzteres als schutzwürdig betrachtet wird.

Zugleich weigert sich der Gerichtshof aber, zu bestimmen, wann dieser Übergang vom biologischen zum persönlichen Leben eigentlich stattfinden soll – und mithin, ab welchem Zeitpunkt das Recht auf Leben zu schützen ist. Als Vorwand dient ihm ein vermeintliches „Fehlen eines europaweiten Konsenses hinsichtlich der wissenschaftlichen und juristischen Definition des Beginns des Lebens“,[26] selbst wenn es sich um ein Kind handelt, das im achten Schwangerschaftsmonat in utero getötet wird[27] – als ob dies eine Frage wäre, die Wissenschaft und Recht beantworten könnten. Das eigentliche Problem ist für den Gerichtshof nicht so sehr der „Beginn des Lebens“, von dem jedermann weiß, dass er beim Zeitpunkt der Zeugung anzusetzen ist, sondern der Beginn des Person-Seins. Tatsächlich bezeugt die Unfähigkeit des Gerichtshofs, den Zeitpunkt zu bestimmen, ab dem sich genügend Geist im Körper befindet, um daraus eine des Schutzes würdige Person zu machen, seine dualistische und atheistische Sicht auf den Menschen. Nach dieser Sicht würde das Kind nur nach und nach zum Menschen werden, in dem Maß, in dem der Geist aus seinem Körper hervortritt, während in der christlichen Sicht die Seele bereits im Zeitpunkt der Zeugung von Gott eingehaucht wird. Die „Schwelle“, ab der ein Kind als Mensch gilt, wird somit von den Erwachsenen festgelegt, die sein Mensch-Sein anerkennen: das Kind ist ein Mensch, wenn ich mich selbst in ihm wiedererkenne. Die Setzung dieser Schwelle ist willkürlich. Wieviel Geist braucht es, um einen Menschen zu machen – und was ist der Geist bezogen auf ein Lebewesen, dem die Sprache noch fehlt (infans)?

Da man nicht in der Lage sei, den „Beginn des Lebens“ zu erkennen, sei dieser, so der Gerichtshof, nur ein „Begriff“, über den es in verschiedenen Mitgliedstaaten eine „Vielzahl von Ansichten“ geben könne.[28] Der Beginn des menschlichen Lebens, d.h. die Frage, woran es sich bestimmt, ob jemand ein Mensch ist oder nicht, wird damit zu etwas Relativem und Subjektivem. Es ist ein unglaublicher Tiefpunkt für einen Menschenrechtsgerichtshof, dass er vorgibt, nicht zu wissen, was ein „Mensch“ ist.

In der Tat scheint es bei näherem Hinsehen so, als ob der Mensch an sich gar nicht existierte. Das Lebewesen wird von den Menschenrechten nur in seiner Funktion als Träger des Geistes geschützt. So meint der EGMR, dass „es die Potenzialität dieses Lebewesens“ (d.h. des ungeborenen Kindes, Anm. des Autors) „und seine Fähigkeit, eine Person zu werden, sind, die im Namen der Menschenwürde zu schützen sind“.[29] Es ist also nicht das Leben als solches, das Schutz genießt, sondern das Leben als Träger des Geistes, der allein mit Menschenwürde bekleidet ist.

Die Definition der Person, die der Gerichtshof hier gibt, ist nicht mehr jene der Personalisten; sie ist vielmehr materialistisch und atheistisch wie jene Julian Huxleys, der im Geist das einzig wertvolle und unterscheidende Merkmal des Menschentiers sieht. Der Mensch ist demnach Person aufgrund seiner Geistbegabung: der Fötus ist es noch nicht, der Komatöse ist es nicht mehr wirklich. Noch nicht mit eigenem Bewusstsein und Willen ausgestattet, gewinnt das Kind nach der Empfängnis und während der Schwangerschaft nur proportional zum Willen an Wert, dessen Objekt es zunächst nur ist, um erst später zum Subjekt zu werden. Seine Existenz ist somit zunächst nur im Licht eines Elternschaftsprojekts von Bedeutung, das die Erwachsenen im Hinblick auf es entworfen haben, und gewinnt erst allmählich, nach Maßgabe seines eigenen Bewusstseinsniveaus, d.h. seiner Autonomie, an Eigenwert, in einem Prozess der voranschreitenden Selbstwerdung, der sich noch lange nach seiner Geburt vollzieht. Der interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich diesen Ansatz ausdrücklich zu eigen gemacht, indem er erklärte, dass „der Schutz des Rechts auf Leben nicht absolut (…), sondern vielmehr graduell und inkremental ist, abhängig vom Stand sei-ner Entwicklung“.[30] Somit wäre es also nicht mehr das Leben, das der Mensch mit den am wenigsten entwickelten Tieren gemein hat, sondern der Entwicklungsstand des aus dem organischen Leben hervorgehenden, mit dem Geist zu identifizierenden, individuellen Selbstbewusstseins, dem Wert zukommt. Diese Auffassung über das menschliche Leben führt letztlich auch zur Akzeptanz des – in Europa in medizinischen Kreisen weitgehend tolerierten – Infantizids unmittelbar nach der Geburt[31] und der sogenannten „postnatalen Abtreibung“.[32]

Diese Darstellung mag übertrieben scheinen, aber sie gibt letztlich nur das wieder, was beispielsweise aus dem von sechs Richtern veröffentlichten Sondervotum in einem wichtigen Abtreibungsfall hervorgeht.[33] Die Richter Rozakis, Tulkens, Fura, Hirvelä, Malinverni und Poalelungi, von denen die beiden erstgenannten zu jener Zeit zu den einflussreichsten Richtern des EGMR zählten, vertraten dort die Auffassung, den Menschen müsse angesichts ihrer unterschiedlichen Befähigung auch ein unterschiedlicher ontologischer und rechtlicher Status zugeordnet werden. So schrieben sie, dass „die zu schützenden Güter – nämlich die Rechte eines Fötus und die Rechte einer Person nach der Geburt – ihrer Natur nach ungleich sind: einerseits haben wir die Rechte einer Person, die bereits aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, andererseits die Rechte eines Fötus, der sich noch im Leib seiner Mutter befindet, dessen Leben noch nicht definitiv feststeht, solange der Geburtsvorgang nicht abgeschlossen ist, und der noch nicht ein Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben ist“. Gewiss, der ungleiche Status des Lebens der Mutter und des ungeborenen Kindes wird allgemein zugestanden – doch die Richter extrapolierten diese Ungleichheit, um sie sogleich auch auf bereits geborene Personen zu übertragen:

„Aus dem Blickwinkel der Menschenrechtskonvention kann man auch die Ansicht vertreten, dass die in diesem Instrument gewährten Rechte im Wesentlichen darauf abzielen, (nur) jene Individuen gegen Handlungen und Unterlassungen des Staates zu schützen, die aktiv am normalen täglichen Leben einer demokratisch verfassten Gesellschaft teilnehmen“. Anders gesagt: ein Subjekt wird zum Träger von Rechten nicht dank seiner gleichen ontologischen Würde, sondern aufgrund und im Ausmaß seiner Teilnahme am gesellschaftlichen Leben! Eine solche Behauptung ist wahrhaft schreckenerregend, da sie es zulässt, jenen einen minderen Schutz zu gewähren, die am gewöhnlichen täglichen Leben einer demokratisch verfassten Gesellschaft nicht teilnehmen wollen oder können. Und was ist eigentlich mit der „aktiven Teilnahme am gewöhnlichen alltäglichen Leben einer demokratisch verfassten Gesellschaft“ genau gemeint? Wer ist berufen, darüber zu richten? Demnach wären vom Schutz der Menschenrechte nicht nur die Schwachen und Kranken ausgenommen, sondern auch all jene, die nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen (also z.B. die Einsamen oder diejenigen, die sich in ein Kloster zurückziehen) oder diejenigen, die keine Demokraten[34] sind, um nicht zu sagen jene, die von der Gesellschaft zurückgewiesen werden. Diese Äußerungen der sechs Richter sind in ihrer Unverblümtheit schockierend; sie bieten eine Erklärung für die Rechtsprechung des Gerichtshofs, insofern diese das Wollen (die Fähigkeit, zu handeln) in Gegensatz zum Sein bringt, um Ersterem den Vorzug zu geben.

Es ist dieselbe Sicht der Dinge, die dem Gerichtshof eine Grundlage für die Akzeptanz des assistierten Suizids und der Euthanasie bietet, wenn der Geist eines Menschen in einem kranken Körper eingeschlossen, oder wenn er dem Anschein nach bereits erloschen ist. Unter (missbräuchlichem) Hinweis auf seine Rechtsprechung zur Frage der Abtreibung hat der Gerichtshof denn auch akzeptiert, dass das Leben Vincent Lamberts nicht mehr geschützt werden müsse:[35] die Abtreibung öffnet den Weg zur Euthanasie. Im einen wie im anderen Fall ist die Dehumanisierung eines Menschen die Voraussetzung für seine legale Vernichtung. Ebenfalls mit dem Hinweis auf die Legalität der Abtreibung erzwang der Gerichtshof die Freigabe der Präimplantationsdiagnostik:[36] die Abtreibung ist wahrhaftig die Matrix aller perversen Freiheiten.

Abtreibung: Herrschaft des Willens über das Sein

Warum ist die Praxis der Abtreibung so bedeutsam, so ideologisch aufgeladen, dass sie z.B. von der französischen Nationalversammlung zu einem „Grundrecht“, einem „universellen Recht“, und gar zur „unabdingbaren Voraussetzung für die wirkliche Gleichstellung von Männern und Frauen und für den Aufbau einer fortschrittlichen Gesellschaft"[37] erklärt wird? Was bei der Abtreibungsfrage auf dem Spiel steht ist keineswegs nur die Frage der Geburtenkontrolle. Vielmehr führt die Praxis der Abtreibung zu einer grundlegenden Änderung in der Beziehung der Gesellschaft zum menschlichen Leben, die zu dessen Entsakralisierung und zur Denaturierung der Fortpflanzung führt; dadurch soll der Mensch von seinem abergläubischen Respekt vor der Natur befreit werden. Die Abtreibung öffnet somit den Weg zur rationalen Beherrschung des menschlichen Lebens, das nur mehr als ein bloßer Werkstoff verstanden wird; die Menschheit erweitert ihre Fähigkeit, sich selbst zu gestalten, sie ist mehr denn je „Meister und Besitzer der Natur“ im Sinn des kartesischen Weltentwurfs. Pierre Simon, einer der maßgeblichen Architekten der Freigabe der Empfängnisverhütung und Abtreibung in Frankreich, sagte schon 1979: „Das Leben als Werkstoff, das ist das grundlegende Ziel unseres Kampfes … es ist unser Recht, damit zu tun und lassen, was wir wollen … wie mit unserem Eigentum“.[38]

Indem sie mit der Freigabe der Abtreibung die Ikone der Achtung vor dem Leben zerschlagen hat, hat die Gesellschaft sich Zugang zu neuen Freiheiten verschafft: dazu zählt die Freiheit der Wissenschaft, die zur Kontrolle über die Fortpflanzung und das Leben führt, aber auch die sexuelle Freiheit, die durch die Empfängnisverhütung gefördert, aber erst durch die Abtreibung garantiert wird. Ohne Abtreibung sind weder die wissenschaftliche noch die sexuelle Freiheit unbeschränkt. Mit der Freigabe der Abtreibung ist – schon wegen der Häufigkeit, mit der sie in Anspruch genommen wird – die ganze Gesellschaft zu einem materialistischen Weltbild verdammt, weil es uns, wenn wir uns nicht selbst verurteilen wollen, verboten ist, zu denken, dass der Mensch bereits vor seiner Geburt und unabhängig von seinem Bewusstseinszustand über eine einzigartige Identität und eine Seele verfügt. Diese Verpflichtung aller auf den Materialismus wird von mancher Seite als eine Befreiung gesehen, die erst durch die allgemeine Akzeptanz der Abtreibung abgeschlossen sein wird, wenn es jemals dazu kommt. Dies erklärt auch die Weigerung, das Leiden der Frauen, die abgetrieben haben, zur Kenntnis zu nehmen, und das Bedürfnis, die Tat zu banalisieren.

Die Abtreibung ist auch zu einem neuen Dogma geworden, demzufolge sie, indem sie die Sexualität von der Fortpflanzung und die Frau von der Sklaverei der Mutterschaft befreit, die Menschheit von ihrem sexuellen und reproduktiven Instinkt emanzipiert und über das, was von ihrer Tierhaftigkeit verbleibt, erhebt. So schreitet die Menschheit auf dem Weg der Evolution, der von der Materie zum Geist führt, voran.

Auch wird behauptet, Abtreibung sei notwendig: sie wirke sich überdurchschnittlich auf das Reproduktionsverhalten der Frauen aus den ärmsten, am wenigsten „entwickelten“ Bevölkerungsschichten aus und bekämpfe so in vorbildlicher Weise die Armut direkt an der Quelle. Längst bevor sie durch den feministischen Diskurs getragen wurde, waren bereits der Materialismus, der Atheismus,[39] der Malthusianismus und der Eugenismus um die Förderung der Abtreibung bemüht. Die kämpferischen Abtreibungsideologen wollten bereits im 18. Jahrhundert, und mehr noch an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, durch die Legalisierung der Abtreibung den Menschen und die Gesellschaft verändern.[40] Das eigentliche Ziel der Abtreibung ist in den Augen der Befürworter nicht in erster Linie die Geburtenkontrolle, sondern der vernunftgemäße Kontrollerwerb über den Sexualtrieb, die Fortpflanzung und das Leben als Vektor des Fortschritts der Menschheit. Dementsprechend zeichnen sie die Abtreibungsgegner als Götzendiener des Lebens und Feinde des Fortschrittes, die sich nicht eingestehen wollen, dass das Leben nur Materie ist, das Bewusstsein hingegen Geist, und dass nur der Geist das Proprium und einzig wahre Gut des Menschen darstellt.

So hat sich die Vorstellung, die Abtreibung sei eine Freiheit, mit der Erosion des Bewusstseins vom Wert des ungeborenen menschlichen Lebens und der gleichzeitigen Betonung des individuellen Willens in den Köpfen der Menschen durchgesetzt. Aber diese zweifache Entwicklung ist in Wirklichkeit nur eine: es handelt sich um die philosophische Grundsatzentscheidung der zunehmenden Vorherrschaft des Wollens über das Sein in einer Gesellschaft, die ihre metaphysische Intelligenz, d.h. das Verständnis von Identität und Wert des Seins an sich, eingebüßt hat. Diese Grundentscheidung führt zur Preisgabe der letzten Überbleibsel der Metaphysik, die das ungeborene menschliche Leben noch mit einer gewissen Würde ausgestattet hatten.

Die Freiheit der Abtreibung besteht in Wirklichkeit in einer Ermächtigung: das Leben wird der Macht des Willens, d.h. des Geistes, preisgegeben. In dieser Hinsicht soll die Abtreibung die Menschheit, ihre absolute Herrschaft über die Materie und das Leben, zu neuen Höhen führen. Je leichter verfügbar die Abtreibung, desto unumschränkter die Macht über das Leben, und desto höher der Entwicklungsstand der Menschheit.[41] Dies ist der Grund, weshalb die Abtreibung von der französischen Nationalversammlung als „unabdingbare Voraussetzung … einer fortschrittlichen Gesellschaft“ hingestellt werden kann.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2021
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[1] Vorschlag der Arbeitsgruppe des Ausschusses über den Status der Frau: Travaux préparatoires, E/CN. 4/SR.35, 1266.
[2] Travaux préparatoires, E/CN.4/AC.1/SR.35, 1535. Der Internationale Verband der christlichen Gewerkschaften machte ebenfalls einen Vorschlag in diesem Sinn.
[3] Travaux préparatoires, E/CN.6/SR.28, 1355.
[4] Travaux prép., E/CN.4/AC.1/SR.35, 1535.
[5] Diesen Hinweis liest man auf jener Seite der Website des EGMR, auf der die vorbereitenden Arbeiten der EMRK Artikel für Artikel dokumentiert sind.
[6] Empfehlung Nr. 874 (1979) der Parl. Versammlung des Europarats vom 4. Oktober 1979 über die Europäische Charta der Rechte des Kindes.
[7] Empfehlung 1046 (1986) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.
[8] EGMR: Jean-Jacques Amy gegen Belgien, 11684 /85, 5. Oktober 1988.
[9] EGMR: Silva Monteiro Martins Ribeiro gegen Portugal, 16471/02, 26. 0ktober 2004.
[10] EGMR: Jerzy Tokarczyk gegen Polen, 51792/99, 31. Januar 2002.
[11] Vgl z.B. EGMR: A., B. und C. gegen Irland [GC], 25579/05, 16. Dezember 2010: die Beschwerdeführerinnen haben erfolglos das Verbot der Abtreibung bekämpft.
[12] EGMR: A., B. und C. gegen Irland [GC], 25579/ 05, 16. Dezember 2010, § 214, P. und S. gegen Polen, 57375/08, 30. Oktober 2012, § 96.
[13] EGMR: A., B. und C. gg. Irland [GC], 25579/05, 16. Dezember 2010, § 222, unter Hinweis auf Vo gegen Frankreich [GC], 53924/00, 8. Juli 2004.
[14] EGMR: Tysiac gegen Polen, 5410/03, 20. März 2007, § 107.
[15] In Bezug auf beide Länder hat er entschieden, dass die Inanspruchnahme jener Ausnahmebestimmungen, die eine straffreie Abtreibung ermöglichen, so schwierig sei, dass die betroffenen Frauen deswegen einer „angstmachenden Unsicherheit ausgesetzt“ seien, was bereits für die Feststellung einer Konventionsverletzung hinreiche.
[16] EGMR: A., B. und C. gegen Irland [GC], 25579/ 05, 16. Dezember 2010; R.R. gegen Polen, 27617 /04, 26. Mai 2011.
[17] Das European Center for Law and Justice (ECLJ) ist jene Nichtregierungsorganisation, deren Direktor der Autor dieses Buches ist.
[18] Insbesondere ist hier das Center for Reproductive Rights zu nennen.
[19] EGMR: Parrillo gegen Italien, 46470/11, 27. August 2015, § 188.
[20] UN Human Rights Committee: General comment No. 36 (2018) on article 6 of the International Covenant on Civil and Political Rights, on the right to life (Advance unedited version, 30. 0ct. 2018), insb. §§ 8 und 9.
[21] Vgl. insb. die concluding observations des Ausschusses für Kinderrechte über die Umsetzung der Kinderrechtskonvention durch Palau (2001, CRC /C/15/Add.149), Kenya (2007, CRC/C/KEN/ CO/219), oder den Hl. Stuhl (2014, CRC/C/ VAT/CO/2).
[22] Vereinte Nationen: Report of the Committee on the Elimination of Discrimination against Women (1999, A/54/38/Rev.1), 6.
[23] EGMR: Vo gegen Frankreich [GC], 53924/00, 8. Juli 2004, § 85.
[24] Ibid., § 84.
[25] Bernard Schumacher: Tout être humain estil une personne?: Controverse autour de la définition de la personne dans la discussion éthique médicale contemporaine, Laval théologique et philosophique, vol. 61, no. 1, Februar 2005, 107-134.
[26] EGMR: Vo gegen Frankreich [GC], 53924/00, 8. Juli 2004, § 82.
[27] EGMR: Mehmet Sentürk und Bekir Sentürk gegen Türkei, 13423/09, 9. April 2013.
[28] Parrillo gegen Italien, 46470/11, 27. August 2015, § 180.
[29] EGMR: Vo gegen Frankreich [GC], 53924/00, 8. Juli 2004, § 84.
[30] IAGMR: Artavia Murillo u.a. gegen Costa Rica, 28. November 2012, Serie C No. 257, § 264.
[31] Claire de la Hougue und Grégor Puppinck: Enfants survivants à l’avortement et infanticide en Europe, RGDM no. 57, 2015, 111-134.
[32] Alberto Giubilini und Francesca Minerva: After-birth abortion – why should the baby live?, Journal of Medical Ethics, 2012.
[33] EGMR: A., B. und C. gegen Irland [GC], 25579/ 05, 16. Dezember 2010.
[34] Vgl. Grégor Puppinck und Claire de la Hougue: Commentaire de l’arrêt S.H. c. Autriche, European Center for Law and Justice, 2012.
[35] Grégor Puppinck und Claire de la Hougue: „L’e rayant“ arrêt Lambert – Commentaire de l’arrêt CEDH Lambert c. France, RGDM no 56, 2015.
[36] EGMR: Costa und Pavan gegen Italien, 54270/ 10, 28. August 2012.
[37] Entschließung der frz. Nationalversammlung vom 6. November 2014. Dagegen hatte Simone Veil 40 Jahre zuvor in derselben Nationalversammlung erklärt, dass die Abtreibung „immer ein Drama ist, und immer ein Drama bleiben wird“ und dass man es „um jeden Preis vermeiden“ müsse, mit dem neuen Gesetz „ein Recht auf Abtreibung zu schaffen“.
[38] Pierre Simon: De la vie avant toute chose, Paris, Ed. Mazarine, 1979, 84-85.
[39] Georges Hardy (Gabriel Giroud): La question de population et le problème sexuel. L’avortement, sa nécessité, ses procédés, ses dangers, Paris, Librairie scienti que, 1919.
[40] Margaret Sanger: The Pivot of Civilization, New York, 1922, Einleitung von H. G. Wells, Neuveröffentlichung durch Humanity Books, 2003.
[41] Dieses Machtstreben tritt im öffentlichen Diskurs über die Abtreibung sehr deutlich zutage, der sich allzu häufig auf die Behauptung beschränkt, einseitig und nach individuellem Gutdünken über das Leben eines anderen verfügen zu dürfen. Dies zeigt sich in Slogans wie „Ich kriege ein Kind wenn ich will und wann ich will“, „Mein Bauch gehört mir“, oder „Abtreibung – mein Körper, meine Entscheidung, mein Recht“, die sich allesamt zwanglos mit den Worten „Ich, Ich, Ich“ zusammenfassen lassen.

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