Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Jesus Christus, der Sohn Gottes, hat mit seinem Kreuzestod und seinem Auferstehungssieg ein umfassendes Erlösungswerk vollbracht. Er hat für alle Menschen den vollen Preis bezahlt. Allein er hat die Kluft zwischen Gott und Mensch überwunden, ihm ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde (Mt 28,18). Doch Gott konnte die Welt nicht ohne die Mitwirkung der Menschheit retten. Sein Kommen in die Welt war abhängig von ihrer Zustimmung. Und diese Einverständniserklärung hat stellvertretend für die ganze Menschheit die Jungfrau Maria gegeben, als sie vom hl. Erzengel Gabriel nach ihrer Bereitschaft gefragt wurde, Mutter des verheißenen Messias zu werden.

Diesem Ja-Wort Mariens ist der Leitartikel von Dr. Richard Kocher gewidmet. Er arbeitet die Vollkommenheit ihrer Bereitschaft heraus, die sie mit ihrem „Fiat“ zum Ausdruck gebracht hat: „Mir geschehe nach deinem Wort!“ Die schlichten Worte „Siehe, die Magd des Herrn“ besitzen eine globale Dimension, welche wie das Erlösungswerk selbst die ganze Menschheitsgeschichte umfasst.

Das Geheimnis der Unbefleckten Empfängnis muss im Licht dieses entscheidenden Augenblicks der gesamten Geschichte gesehen werden. Gott hatte die Heimholung der Schöpfung von der Entscheidung der Frau von Nazareth abhängig gemacht. Um aber das Gelingen dieses Plans zu garantieren, hat er Maria vom ersten Augenblick ihres Daseins an mit der ganzen Gnadenfülle ausgestattet, die ein Geschöpf überhaupt tragen kann. Ja, im Blick auf das Ja-Wort Mariens für die ganze Menschheit hat sie Gott ohne eigenes Verdienst von der Erbsünde bewahrt und mit unaussprechlicher Vollkommenheit ausgestattet.

So wurde Maria der Weg, auf dem Gott in die Welt gekommen ist. Diesem Gedanken widmete der hl. Papst Johannes Paul II. sein Schreiben vom 15. August 1993 zum 700. Jahrestag von Loreto, wo das Haus von Nazareth verehrt wird. „Maria ist der ‚königliche Weg‘, auf dem Christus uns entgegengekommen ist und auf dem jetzt wir ihm entgegengehen können.“ Dieses Wort des hl. Bernhard von Clairvaux wendet Johannes Paul II. auf unsere Zeit an und schreibt: „Maria war, historisch betrachtet, die Morgenröte, die dem Aufgang der Sonne der Gerechtigkeit – Christi, unseres Gottes – voranging; sie erfüllt weiterhin, wann immer man ein neues Kommen des Herrn in der Gnade erwartet, diese mystische Rolle im Leben der Kirche.“ Mit ihrem Ja-Wort im „Heiligen Haus von Nazareth“ aber habe Maria nicht nur die „Zustimmung“ zum Kommen des Erlösers gegeben, sondern objektiv gesehen jedem von uns ihr Ja-Wort gegeben und jeden von uns bereits als Mutter empfangen.

Wie sehr brauchen wir heute diese unsere Mutter! Sie habe ihn auf den Weg der Kreuzesnachfolge geführt und ihm „eine neue Dimension der Heiligkeit des Leidens“ erschlossen, so bezeugt Erzbischof Fulton John Sheen (1895-1979). Und im Licht Fatimas und der russischen Ikone der Gottesmutter von Kasan erweist sich Maria als geheimnisvoller Schlüssel zur Wiederherstellung der sichtbaren Einheit von Ost- und Westkirche. Möge Maria, der „königliche Weg“, mit ihrem gehorsamen „Fiat“ auch unseren „Synodalen Weg“ erleuchten und uns zu Hilfe kommen.

Liebe Leser, das Titelbild zeigt die sog. „Ringpfostenmadonna“, das Gnadenbild von Werl im Erzbistum Paderborn, dem drittgrößten katholischen Marienwallfahrtsort in Deutschland nach Altötting und Kevelaer. Mit dem eindrucksvollen Blick der Gottesmutter und des Jesuskindes als Weltenrichter wünschen wir Ihnen einen gnadenreichen Marienmonat Mai und ein gesegnetes Pfingstfest mit reicher Ausgießung des Heiligen Geistes. Vergelt’s Gott für ihre großherzige Unterstützung unseres Apostolats!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Mit Maria entdeckte ich die Heiligkeit des Leidens“

Am Fuß des Kreuzes

In seiner Autobiografie hat Erzbischof Fulton John Sheen (1895-1979) seine außerordentliche Liebe zur Gottesmutter beschrieben.[1] Die Kirche habe Maria nie angebetet, aber sie sei sich bewusst, dass Maria von allen Geschöpfen Gott am nächsten stehe. „Ohne sie als Schlüssel ist es schwierig, die Reichtümer in der Schatzkammer des Glaubens zu finden“, so schreibt er. Was er durch Maria selbst entdeckt habe, sei eine neue Dimension der Heiligkeit des Leidens.

Von Erzbischof Fulton John Sheen

Maria trat bei meiner Geburt in mein Leben. Als ich als Säugling getauft wurde, legte meine Mutter mich auf den Altar der Gottesmutter in der St.-Mary’s-Kirche in El Paso, Illinois, und weihte mich ihr. Ein kleines Kind ist sich dieses Zeichens nicht bewusst, somit war ich mir dieser Weihe nicht bewusst – doch das Zeichen war immer da. Wie ein Stück Eisen vom Magneten angezogen wird, so fühlte ich mich zu ihr hingezogen, bevor ich sie kannte, aber nie zu ihr allein, ohne Christus. Als ich im Alter von zwölf Jahren meine erste heilige Kommunion empfing, weihte ich mich Maria bewusst. Obwohl ich mich nicht an die genauen Worte meines Gebetes erinnern kann, ähnelten sie sicher dem Motto, das ich dann für mein bischöfliches Wappen gewählt habe: Da per matrem me venire („Gewähre, dass ich durch Maria zu dir komme“). Das Gebetbuch zu meiner Erstkommunion mit einem Perlmutt-Umschlag enthielt die Lauretanische Litanei, die ich als Junge begann, jeden Abend zu beten, was ich bis heute beibehalten habe.

Die Berufung zum Priestertum war in meinen Gedanken immer vorhanden. Ich bat um ihre Fürsprache, um dieses Amtes würdig zu sein und vor großen Abstürzen bewahrt zu bleiben. Schon in der ersten Klasse schlug uns eine Ordensschwester vor, dass wir oben auf jede Seite die Initialen J. M. J. setzen sollten, um unsere Hingabe an „Jesus, Maria und Josef“ auszudrücken. Im Laufe meines Lebens habe ich Zehntausende Seiten beschrieben. Ich glaube nicht, dass ich je zum Füllfederhalter oder zum Stift gegriffen und mit dem Schreiben begonnen habe, bevor ich als Erstes dieses Siegel der Widmung auf meine Arbeit gesetzt hätte. Diese Praxis setzte sich ganz automatisch fort, als ich meine Sendungen im Fernsehen aufnahm und eine Wandtafel benutzte. Ich machte das nicht, um darauf aufmerksam zu machen. Es war bereits eine lebenslange Gewohnheit. In Tausenden Briefen wurde ich um eine Erklärung der Bedeutung gebeten.

Bei meiner Priesterweihe beschloss ich, das heilige Opfer der Eucharistie jeden Samstag der Gottesmutter aufzuopfern, um meine schwache Liebe zu ihr zu erneuern und um ihre Fürsprache zu bitten. All dies verschafft mir die Gewissheit, dass, wenn ich vor den Richterstuhl Christi treten werde, er zu mir in seiner Barmherzigkeit sagen wird: „Ich habe meine Mutter von dir sprechen gehört.“

Während meines Lebens habe ich ungefähr dreißig Pilgerfahrten zum Heiligtum Unserer Lieben Frau von Lourdes gemacht, ungefähr zehn zu ihrem Heiligtum in Fatima. Eine der ersten Pilgerreisen nach Lourdes unternahm ich, als ich an der Katholischen Universität Löwen studiert hatte. Mein Geld reichte gerade aus, um nach Lourdes zu kommen, nicht jedoch für meinen Unterhalt nach meiner Ankunft. Ich fragte meinen Bruder Tom, ob er Geld hätte, aber auch er war ein typischer Student – kein Geld. Ich sagte zu ihm: „Nun, wenn mein Glaube stark genug ist, um nach Lourdes zu fahren und dort den fünften Jahrestag meiner Priesterweihe zu feiern, dann liegt es an der Gottesmutter, das für mich zu regeln.“

Als ich in Lourdes ankam, war ich pleite. Ich ging in eines der guten Hotels – wobei man überhaupt kein Hotel in Lourdes zur Luxusklasse rechnen könnte. … Ich begann eine Novene – ein Gebet über neun Tage –, allerdings geschah bis zum Morgen des neunten Tages nichts, bis zum Nachmittag nichts und auch bis zum Abend des neunten Tages geschah nichts. Jetzt wurde es ernst. Ich hatte Vorstellungen von Gendarmen und vom Abarbeiten meiner Schuld als Tellerwäscher.

Ich beschloss, der Gottesmutter noch eine Möglichkeit zu geben. Ungefähr um zehn Uhr in der Nacht ging ich zur Grotte. Ein beleibter amerikanischer Mann tippte mir auf die Schulter: „Sind Sie ein amerikanischer Priester?“ – „Ja.“ – „Sprechen Sie Französisch?“ – „Ja.“ – „Können Sie morgen mit meiner Frau und meiner Tochter nach Paris kommen und für uns übersetzen?“ Er begleitete mich zurück ins Hotel. Dann stellte er mir die vielleicht interessanteste Frage, die ich je in meinem Leben gehört habe: „Haben Sie Ihre Hotelrechnung schon bezahlt?“ Und ich habe ihn die Rechnung bezahlen lassen. Am nächsten Tag fuhren wir nach Paris und zwanzig Jahre lang oder mehr durfte ich, wenn ich später an den Wochenenden nach New York kam, um die Konvertiten zu unterrichten, die Gastfreundschaft von Mr. und Mrs. Farrell genießen, die als Vertreter der Gottesmutter mich vor meinen Gläubigern retteten.

Nach Beendigung meiner Studienjahre unternahm ich eine weitere Pilgerreise nach Lourdes. Mich quälte die Unsicherheit, dass es mir womöglich nicht erlaubt sein würde, zu dem Marienheiligtum zurückzukehren, da ich nicht wusste, welche Aufgabe der Bischof mir übertragen würde. Ich bat die Gottesmutter, mir irgendein Zeichen zu geben, dass sie trotz aller Widrigkeiten, die dagegensprachen, nach Lourdes zurückkehren zu können, dies in die Wege leiten würde, was unmöglich erschien. Das Zeichen, um das ich sie bat, war folgendes: dass mir, nachdem ich das heilige Messopfer in der Grotte gefeiert hatte und bevor ich das äußere Tor des Heiligtums erreichen würde, ein etwa zwölfjähriges, weiß gekleidetes Mädchen eine weiße Rose überreichen sollte. Als ich noch ungefähr sechs Meter vom Tor entfernt war, sah ich niemanden. Ich erinnere mich, dass ich sagte: „Du solltest dich beeilen, viel Zeit bleibt nicht mehr.“ Als ich am Tor ankam, gab mir ein kleines zwölfjähriges, weiß gekleidetes Mädchen eine weiße Rose.

Als ich dann einer Gemeinde in Peoria zugewiesen wurde, sagte ich dem Priester der Gemeinde, dass ich im kommenden Jahr nach Europa reisen wollte, um Lourdes zu besuchen. Er erwiderte: „Ich bin jetzt seit fünfzehn Jahren Priester und war noch nicht einmal in Europa. Und Sie als Kaplan erwarten, nach dem Ende Ihres ersten Jahres dorthin zu fahren?“ – „Ja. Ich weiß zwar noch nicht, wie es dazu kommen wird – doch es wird geschehen.“ Nach einem Jahr in der Pfarrgemeinde sagte der Bischof zu mir, dass ich als Professor an die Katholische Universität von Amerika in Washington berufen worden sei und dass ich nach Europa fahren könne, um sofort mit der Vorbereitung für mein Seminar zu beginnen. Somit konnte ich in jenem Sommer das Heiligtum Unserer Lieben Frau erneut besuchen.

Wenn jemand die Meinung vertritt, dass Gebete nie erhört werden, dann soll er zum Herrn beten und ihn bitten, ihm ein Leiden zu schicken für die Rettung einer Seele. Bei der damaligen Pilgerreise nach Lourdes hatte ich für die Rückfahrt nach Paris einen Platz im Nachtzug reserviert, der Zug sollte um neun Uhr abends abfahren. Da es Liebenden schwerfällt, sich zu verabschieden, wollte ich meinen Besuch bis zur letzten Minute verlängern. Ungefähr um acht Uhr abends eilte ich zur Grotte und bat die Gottesmutter, mir eine Prüfung, ein Leiden zu schicken oder einen Splitter vom Kreuz, um eine Seele zu unterstützen. Ich ging schnell zum Hotel zurück, rannte drei Treppen hoch, zwei Stufen auf einmal, um zu meinem Zimmer zu kommen. Ich bemerkte, dass jemand hinter mir die Treppe hochrannte. Ich achtete kaum darauf, bis ich dann im dritten Stock den Flur erreichte, der zu meinem Zimmer führte. Ich drehte mich um und sah eine junge, etwa einundzwanzig Jahre alte holländische Frau. „Sind Sie mir gefolgt?“ – „Ja“, antwortete sie, „aber ich weiß nicht, warum. Ich habe Sie heute Nachmittag in der Prozession gesehen und den Entschluss gefasst, dass ich mit Ihnen reden muss.“ Auf meine Frage, ob sie eine Pilgerfahrt nach Lourdes gemacht habe, antwortete sie: „Nein, ich bin Atheistin.“ – „Sie sind keine Atheistin“, behauptete ich, „sonst wären Sie nicht hier. Es ist wahrscheinlicher, dass Sie Ihren Glauben verloren haben.“ Dann erklärte ich ihr: „Ich glaube, Sie sind eine Erhörung meines Gebetes.“ … Ich verpasste meinen Zug absichtlich und blieb noch drei Tage lang in Lourdes, bis sie gebeichtet hatte und mit der Kirche wieder versöhnt war. Dann begannen meine Schwierigkeiten. Ich brauchte drei weitere Tage, um nach Paris zurückzukommen. Ich beherrschte zwar die Sprache, doch die Kontrolleure erklärten mir, dass meine Fahrkarten unzureichend waren. Sie warfen mich an einer unwirtlichen Haltestelle aus dem Zug. Dort war es unmöglich, ein Restaurant oder einen Gasthof zu finden. Nach zweiundsiebzig Stunden und zahlreichen Unannehmlichkeiten – Schlaflosigkeit, unzureichendem Essen und unzulänglicher Nachtruhe – kam ich schließlich in Paris an. Jede Seele hat einen Preis – bei einigen ist der Preis niedrig, bei anderen ist er teuer. …

Meine Verehrung der Gottesmutter führte mich zur Entdeckung einer neuen Dimension der Heiligkeit des Leidens. … Als ich mich einer Operation am offenen Herzen unterziehen musste, wurde es mir erst allmählich während der ersten vier Monate im Krankenhaus bewusst, dass die Gottesmutter nicht nur süße, sondern auch bittere Medizin schenkt. Es war zu auffallend, um übersehen zu werden, dass ich ausgerechnet an drei Marienfeiertagen dem Tod ganz nahe war und ein großes Leiden ertragen musste.

Das erste Mal geschah es am Fest Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel am 16. Juli, als die Ärzte Tag und Nacht bei mir blieben und versuchten, den kleinen, ackernden Lebensfunken nicht ausgehen zu lassen. Dann folgte eine weitere Operation – das Einsetzen eines Herzschrittmachers – am Fest Mariä Himmelfahrt am 15. August. Zu dieser Zeit begann ich, eine Art heiliger Furcht davor zu empfinden, was wohl am 8. September geschehen würde, wenn die Kirche ihren Geburtstag feiert. Tatsächlich trat dann eine Niereninfektion auf, die mir über mehrere Wochen hinweg neue Schmerzen bescherte.

Ich dachte über dieses Zusammenfallen der kirchlichen Marienfeiertage mit meiner auferlegten Solidarität mit dem Kreuz nach und betrachtete dies als Zeichen, dass Maria eine besondere Vorliebe für mich hatte. Wenn der Herr sie, die keinen Schmerz „verdiente“, dazu berief, am Fuß des Kreuzes zu stehen, warum sollte er mich nicht dazu berufen? Wenn ich meine Liebe zu ihr als Mutter der Priester zum Ausdruck gebracht hatte, warum sollte sie in ihrer mütterlichen Liebe nicht mich ihrem Sohn ähnlicher machen, indem sie mich zwang, zum Opfer zu werden? Wenn sie diese Konformität mit ihm auf Golgatha nicht verschmähte, warum sollte sie, die ich als himmlische Mutter ansehe, weniger darum besorgt sein, das Bild ihres Sohnes meiner Seele noch unauslöschlicher einzuprägen? Wenn meine irdische Mutter mich nach der Geburt auf den Altar der Gottesmutter legte, warum sollte meine himmlische Mutter mich nicht auf sein Kreuz legen, da ich mich nun dem Ende meines Lebens nähere?

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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[1] Unerschütterlich im Glauben – Die Autobiografie von Erzbischof Fulton J. Sheen, Vorwort von Raymond Arroyo, geb., 416 S., ISBN 978-3-9479311-9-4, Euro 22,00 (D), Euro 22,70 (A); Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; E-Mail: buch @media-maria.de; www.media-maria.de

Hintergründe der Kasaner Kathedrale auf dem Roten Platz in Moskau

Zeichen der Einheit

Im Jahr 2004 gab Papst Johannes Paul II. die Ikone der Gottesmutter von Kasan, die sich elf Jahre im Vatikan befunden hatte, an die Russisch-Orthodoxe Kirche zurück. Dadurch ist die Kasaner Ikone zu einem besonderen Zeichen der Einheit zwischen Ost- und Westkirche geworden. Die Bedeutung des Weges, den die Ikone im 20. Jahrhundert zurückgelegt hat, erschließt sich aber noch tiefer, wenn man auf ihre 500-jährige Geschichte zurückblickt. Pfarrer Erich Maria Fink geht dazu auf die Hintergründe der Kasaner Kathedrale am Roten Platz in Moskau ein, welche das heutige Selbstverständnis der russischen Nation widerspiegelt.

Von Erich Maria Fink

Das Zentrum der russischen Hauptstadt ist von majestätischen Kirchen geschmückt, die an die bewegte Geschichte Russlands erinnern. Das heute wichtigste Kirchengebäude der Russisch-Orthodoxen Kirche, die Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, wurde aus Dankbarkeit für den Sieg über Napoleon Bonaparte 1812 errichtet. Die Basilius-Kathedrale mit ihren einzigartigen Zwiebeltürmen am südlichen Ende des Roten Platzes entstand zu Ehren des Sieges des russischen Heeres über die Tataren 1552 im Krieg gegen das Khanat Kasan. Und in ähnlicher Weise geht die Kasaner Kathedrale am nördlichen Ende des Roten Platzes auf die Befreiung Moskaus von der polnisch-litauischen Besatzung 1612 zurück.

Die Ikone von Kasan

Iwan IV. (1530-1584) war der erste Moskauer Großfürst, der sich zum Zaren Russlands krönen ließ. Er ist auch bekannt als Iwan der Schreckliche. Gestärkt durch eine wirtschaftliche Blüte begann er eine gezielte Expansionspolitik. So unternahm er mehrere Feldzüge gegen das islamische Khanat Kasan. Doch erst beim dritten Versuch konnte er 1552 die Tatarenhauptstadt erobern. Als 1579 ein Brand den halben Kasaner Kreml und die angrenzenden Stadtteile vernichtete, begann die muslimische Bevölkerung über den Glauben der Christen zu spotten. Gott habe damit seinen Zorn über die orthodoxe Mission der russischen Hegemonialmacht gezeigt. In dieser aufgeheizten Atmosphäre spendete Gott den Christen einen unerwarteten Trost. Die Gottesmutter erschien einem neunjährigen Mädchen namens Matrona dreimal im Traum und gab den Auftrag, unter der Asche eines abgebrannten Hauses ihre Ikone auszugraben. Maria bezeichnete auch genau die Stelle, wo dieses Bild zu finden ist. Da man den Worten des Mädchens keine Beachtung schenkte, begann seine Mutter zu graben, konnte aber nichts finden, Da machte sich Matrona selbst ans Werk und stieß auf eine völlig unversehrte Marienikone. In einer Prozession wurde das Bild in die Pfarrkirche des heiligen Nikolaus getragen. Der damalige Pfarrer Germogen bzw. Hermogenus (1530-1612) wurde später Bischof von Kasan und schließlich 1606 Patriarch von Moskau und der ganzen Rus.

Die „Zeit der Wirren“

Die Amtszeit von Patriarch Hermogenus fiel in die „Zeit der Wirren“, die sog. „Smuta“. Nach dem Ende der Rurikiden-Dynastie mit dem Tod Fjodor I. im Jahr 1598 wurde das Land von Hungersnöten und gesellschaftspolitischen Zerwürfnissen erschüttert. Schweden und Polen nutzten die Schwäche Russlands zum Vormarsch auf Moskau, bis schließlich 1610 der polnische Kronprinz Władysław als Zar installiert wurde. Einerseits erwartete man sich von der polnischen Herrschaft eine Stabilisierung der verfahrenen Situation, andererseits aber empfand man die Besatzung als gewaltige Demütigung. Zudem war die Zeit durch zermürbende Spannungen zwischen dem lateinischen Katholizismus und der russischen Orthodoxie gekennzeichnet. Patriarch Hermogenus widersetzte sich energisch der polnischen Herrschaft, verhinderte eine Krönungszeremonie Wladyslaws und sprach seinen Segen für die Anführer einer Volkserhebung gegen die polnisch-litauische Besatzung aus. Es handelte sich um Kusma Minin, einen russischen Kaufmann aus Nischnij Nowgorod, und den Fürsten Dmitrij Poscharskij. Dafür wurde der Patriarch im Tschudow-Kloster im Moskauer Kreml eingesperrt und zu Tode gehungert. Er starb am 17. Februar 1612. Im Herbst desselben Jahres aber beendete der Volksaufstand erfolgreich die polnische Besatzung. Minin hatte die Ikone von Kasan mit sich geführt und veranstaltete zum Dank für die Befreiung am 22. Oktober 1612 eine feierliche Prozession mit der Ikone der Gottesmutter. Fürst Poscharskij aber ließ auf dem Roten Platz eine Kathedrale errichten, in der die Ikone zur Verehrung ausgestellt wurde.

Tag der Einheit des Volkes

Zar Alexei I. erklärte 1649 den 22. Oktober zum Staatsfeiertag in ganz Russland, der bis 1917 jährlich begangen wurde. Das Ende der polnischen Besatzung markiert zugleich die Begründung der Zarendynastie der Romanow, die mit der Wahl von Michail Romanow 1613 begann. Im Jahr 1913, als die Romanow-Dynastie ihr 300-jähriges Jubiläum feierte, wurden die Gebeine von Patriarch Hermogenus im Tschudow-Kloster gefunden und in die benachbarte Mariä-Entschlafens-Kathedrale im Kreml überführt. Gleichzeitig wurde Hermogenus, der seit jeher als Nationalheld galt, von der Russisch-Orthodoxen Kirche als Märtyrer heiliggesprochen. Die Bolschewiken jedoch ersetzten den 22. Oktober, den Tag der Gottesmutter der Ikone von Kasan, durch den Tag der Revolution am 25. Oktober als neuen Staatsfeiertag. Nachdem die neuen Machthaber den gregorianischen anstelle des alten julianischen Kalenders nun auch für Russland übernommen hatten, wurde der neue Feiertag auf den 7. November festgesetzt. Nach der Perestroika hielt man an diesem Staatsfeiertag zunächst fest, bezeichnete ihn ab 1996 aber als „Tag der Aussöhnung und der Eintracht“. Erst 2004 wurde er abgeschafft und wieder durch das alte Fest vom 22. Oktober ersetzt. Nach dem neuen Kalender wurde es allerdings auf den 4. November gelegt und trägt nun den Namen „Tag der Einheit des Volkes“.

Schicksal der Kasaner Kathedrale

Die Kasaner Kathedrale am Roten Platz wurde von den Bolschewisten zunächst an die schismatische „Renovationskirche“ übergeben, einer orthodoxen Bewegung, welche die revolutionären Machthaber unterstützte. Ende der 1920er Jahre wurde sie aufwendig renoviert, 1936 jedoch auf Befehl Stalins abgebrochen. Zunächst wurde auf dem Platz ein kleiner Bau für die Kommunistische Internationale errichtet und bewusst an der Stelle des Altars die Toilette installiert. Später nutzte man das Gebäude als Sommercafé. 1990 wurde von der Moskauer Stadtverwaltung der Beschluss gefasst, die Kathedrale wiederaufzubauen. Am 4. November 1993 konnte sie eingeweiht werden. Sie ist eine der ersten Kirchenbauten, die nach der Zerstörung unter sowjetischer Herrschaft in Russland wiedererrichtet worden sind.

Sowjetische Initiative

Doch kann die in neuem Glanz erstrahlende Kasaner Kathedrale nicht einfach als Symbol für den religiösen Aufbruch nach dem Fall des Kommunismus betrachtet werden. Denn der eigentliche Initiator für die Wiederaufbaumaßnahme war der russische Architekt und Restaurator Pjotr Dmitrijewitsch Baranowskij (1892-1984). Er war nicht religiös eingestellt, sondern von der sozialistischen Weltanschauung geprägt. Doch als Kunstwissenschaftler hatte er eine große Hochachtung gegenüber den kulturellen Leistungen seines Volkes. Mit unglaublichem Einsatz versuchte er russlandweit, diese Güter vor der Zerstörung zu bewahren. Dafür wurde er 1933 sogar verhaftet und zu drei Jahren Lagerhaft im sibirischen Mariinsk verurteilt. Als Stalin auch die Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz beseitigen wollte, verweigerte er die Mitarbeit und drohte sogar mit Selbstmord. Den Abbruch konnte er so verhindern. Deshalb gilt auch er in Russland als Nationalheld. Doch die Kasaner Kathedrale, die unter seiner Leitung noch eigens restauriert worden war, konnte er nicht retten. Aber wie in anderen Fällen, durfte er das Gebäude vor dem Abriss 1936 detailliert dokumentieren. Auch das Tschudow-Kloster im Moskauer Kreml, das 1929 der sowjetischen Ideologie zum Opfer fiel, hatte er festgehalten und als letzter Besucher verlassen. So ergriff er auch gegen Ende seines Lebens die Initiative, die Kasaner Kathedrale als Museum wieder erstehen zu lassen. Seine Schüler hatten schon vor der Perestroika auf der Grundlage seiner Pläne alles vorbereitet und konnten so das Vorhaben Anfang der 90er Jahre unverzüglich umsetzen.

Der Weg der Ikone von Kasan

Der Nationalfeiertag am 4. November als „Tag der Einheit des Volkes“, der nun in Russland eine ganz große Rolle spielt, hängt also unmittelbar mit der Ikone von Kasan zusammen. Dass er auf die Befreiung von der polnischen Besatzung zurückgeht, könnte eine deutliche Abgrenzung gegen die katholische Kirche bedeuten. So scheint der Weg der Ikone, die in den Wirren der Revolution 1920 aus Moskau verschwunden und über Polen, England, Amerika und Fatima in die Hände des hl. Papstes Johannes Paul II. gelangt ist, eine mütterliche und versöhnende Geste der Himmelskönigin zu sein.

Zwar kann man verstehen, warum ein polnischer Papst nicht willkommen geheißen wurde, im Jahr 2004 die Ikone persönlich an die Russisch-Orthodoxe Kirche zu übergeben, doch nach ihrer Rückkehr 2005 in das Kloster von Kasan wird sie für immer das Siegel der Großherzigkeit der katholischen Kirche tragen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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Die Verkündigung des Herrn – ein pfingstliches Ereignis

Maria und der Heilige Geist

Die Heilige Schrift bildet das Fundament für die Lehre der katholischen Kirche über Maria. Pfarrer Dr. Richard Kocher, Programmdirektor des christlichen Senders „Radio Horeb“, stellt ihre besondere Beziehung zum Heiligen Geist heraus. Er geht von der Verkündigung des Herrn aus und schlägt den Bogen zum Pfingstereignis. Beide Male entstehe etwas Neues, die Menschwerdung Gottes und die Geburt der Kirche. Auf der Grundlage exegetischer Kommentare bietet Pfr. Kocher eine geistliche Erschließung der Verkündigungsszene im Sinn der Jesus-Bücher von Papst Benedikt.

Von Richard Kocher

Die theologische Bedeutung der Verkündigung des Engels an Maria, wie sie im Lukasevangelium überliefert ist (Lk 1,26-38), kann gar nicht hoch genug eingestuft werden. Sie bildet die wichtigste Grundlage für die Lehre der Kirche über Maria. Mit dem Zuruf des Engels beginnt nach Papst Benedikt XVI. „so dürfen wir sagen … im eigentlichen Sinn das Neue Testament“.[1] Der erste Schritt über die Schwelle in Gottes Zukunft ist getan. Es geht um einen Neuanfang für die ganze Schöpfung. „Der ganze geheimnisvolle Vorgang ist von vornherein herausgehoben aus einem bloß privaten Schicksal, aus einem bloß biografischen Verhältnis Marias zu Jesus und hineingestellt in die Geschichte des Glaubens und des Heiles“, so Karl Rahner.[2] Der frühere Erzbischof und Kardinal von Mailand, Carlo Maria Martini, vergleicht die Verkündigung mit der Begegnung von Mose mit Gott am brennenden Dornbusch. Dieser wollte die Erscheinung näher betrachten, hat dann aber sein Gesicht verhüllt, weil er sich fürchtete, Gott anzuschauen. „Das ist das Gefühl, das mich im Augenblick befällt, denn die Verkündigung ist wie ein brennender Dornbusch: In diesem Geheimnis ist alles enthalten."[3] Nach Leo Scheffczyk hat Lukas ein Meisterbild geschaffen, „das fast alle wesentlichen Merkmale der Marienverehrung der jahrhundertealten Entwicklung festhält“.[4] Mit der Verkündigung ist eine grundsätzliche Prägung unseres Glaubens mitgegeben worden, und zwar nach dem theologischen Prinzip, dass der Anfang mitgeht. Was am Beginn geschehen ist, ist prägend, entscheidend für das Weitere (wie es auch die Geschichte vom Sündenfall gezeigt hat).

Eine Stadt namens Nazareth

Der Name der Stadt Nazareth ist geradezu prophetisch. Er kann zu Recht von Jesaja 11,1 abgeleitet werden, wo es heißt: „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor. Ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ Trieb oder Spross heißt im Hebräischen nezer. Jesus ist der Spross aus der Wurzel Davids.

Nazareth bleibt traditionsgeschichtlich völlig im Dunkeln. Weder Josephus Flavius noch der Talmud oder der Midrasch berichten davon. Es hatte keinen guten Ruf, wie wir in Johannes 1,46 lesen können: „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ Das Alltägliche wird zur Erscheinungsform himmlischer Begnadung. Es entspricht dem Heilshandeln Gottes, das auszuwählen, was Menschen nicht berücksichtigen würden.

Die Anrede des Engels

Die Anrede des Engels an Maria ist dreigeteilt: Gruß, eigentliche Anrede und Segenszuspruch. Die Ankündigung der Geburt Jesu ist strukturell an die entsprechende Johannesgeschichte (vgl. Lk 1,5-25) angelehnt und überbietet diese Zug um Zug: „statt Gebetserhörung (V.13) das gnädige Handeln Gottes (V.30); statt ‚groß vor dem Herrn‘ (V.15) ‚groß‘ im absoluten Sinne (V.32); statt Wegbereiter ‚im Geist und in der Kraft des Elija‘ (V.17) der ‚Sohn des Höchsten‘ auf dem Thron Davids (V.32); statt ‚geisterfüllt vom Mutterschoß an‘ (V.15) geistgezeugt (V.35); statt Zweifel im Fall des Zacharias (V.18) das gläubige ‚mir geschehe‘ Marias (V.38)“.[5] „Einer genialen Vereinfachung in der Form … entspricht die gewaltige Steigerung der Aussage."[6]

Man könnte noch ergänzen: Zacharias wird mit Stummheit geschlagen, Maria wegen ihres Glaubens seliggepriesen (vgl. Lk 1, 45). Ferner fällt der Kontrast zwischen dem Tempel und der kleinen Stadt Nazareth, dem Priester und der Jungfrau auf. Während der Engel bei Zacharias erscheint (vgl. Lk 1,11), tritt er bei Maria wie ein Mensch in ein Zimmer ein. Nach dem Glauben Israels wohnen die Engel im Tempel. Der Engel Gabriel gewährt Zacharias dort gewissermaßen Audienz und verkündet diesem ohne Gruß eine Botschaft. Bei Maria ist es umgekehrt. Der Engel tritt bei ihr ein und Maria empfängt ihn. Manche Ausleger sehen hier bereits einen Hinweis, dass Maria die Herrin der Engel ist.

Der Gruß

Es fällt auf, dass anders als bei Abraham (vgl. Gen 17) und bei der Mutter Simsons (vgl. Ri 13) der Engel Maria im Auftrag Gottes feierlich begrüßt. Der hier verwendete griechische Gruß chaire (χαῖρε) – freue dich (im Hebräischen heißt er schalom – Friede) klang im griechischen Alltag wie ein Heilsgruß. Im Zusammenhang mit der gehobenen Anrede und dem Segensspruch wird man ihn auch so zu verstehen haben: als eine Aufforderung zur Freude. Dass die Aufforderung zur Freude an die Tochter Zion bei den Propheten (vgl. Zef 3,14; Joel 2,21.23; Sach 9,9) mitschwingt, ist plausibel, denn Großes hat der Herr an ihr getan. Nach Laurentin wird chaire in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes nie als Grußformel verwendet, sondern als Ausdruck der endzeitlichen Freude; es wäre wohl zu banal, wenn der Engel Gottes in dieser entscheidenden Stunde der Menschheit nur „Guten Tag“ sagen würde.[7] Man darf nach Papst Benedikt die eigentliche Bedeutung des Wortes chaire heraushören, die Aufforderung zur Freude, die sich als die eigentliche Gabe des Heiligen Geistes erweist. Die ganze christliche Verkündigung ist darin enthalten, denn diese ist Evangelium (Frohe Botschaft).

Die eigentliche Anrede

Das nächste Wort kecharitomenä (κεχαριτωμένη) – Begnadete klingt ähnlich wie der Gruß chaire. Es ist im Griechischen ein Wortspiel, das man am besten so wiedergibt: Heil dir, der Heil widerfahren ist. Das Bedeutsame an der Begrüßung ist, dass „Begnadete“ den Namen ersetzt und wie ein Titel verwendet wird. Somit wird das Wesen von Maria als Begnadete zum Ausdruck gebracht. Die Übersetzung mit „Hochbegnadete“ versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Das griechische Wort hierfür steht im Partizip Perfekt und ist ein Passivum Divinum (Göttliches Passiv). Das Perfekt meint einen vorangegangenen Akt, eine in der Vergangenheit abgeschlossene Handlung. Das Partizip weist auf die Beständigkeit, auf die Dauer hin und das Passivum Divinum darauf, dass Gott der eigentlich Handelnde ist. Sinngemäß übersetzt könnte man so formulieren: Maria ist in der Vergangenheit begnadet worden (Perfekt), dieser Vorgang dauert aber noch an (Partizip) und ist von Gott bewirkt worden (Passivum Divinum). Die Vergangenheitsform der Anrede an Maria macht deutlich, dass es sich um eine vorausgehende Begnadigung handelt – diese hat nicht erst durch die Verkündigung des Engels an Maria stattgefunden. Damit sind wir inhaltlich nahe bei der Unbefleckten Empfängnis der Gottesmutter Maria.

Der Segenszuspruch

Das Wort des Engels „Der Herr mit dir“ ist im Alten Testament ein Segensspruch und in der Formulierung des Plurals („Der Herr mit uns“) seit frühchristlicher Zeit Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Auch hier zeigt sich die Verbindung zur Theologie des Alten Testamentes, denn das Mit-Sein Gottes ist die Hauptaussage alttestamentlicher Bundestheologie. Die Bundesformel lautet: Ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk. Gruß und Anrede sind getragen vom Anwesen Gottes bei der Gegrüßten und Angeredeten. Dieses bedeutet nicht nur Schutz, sondern weist auch eine Aufgabe zu. Der Bund Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel findet in Maria seine Überhöhung und Erfüllung.

Überschattung durch den Heiligen Geist

„Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1,35). Hier liegt das Erzählinteresse der Perikope. Es gibt keine alttestamentliche Parallele für dieses Einwirken Gottes. Beide Verben „über dich kommen“ und „überschatten“ haben keine sexuelle Komponente, erklären aber, wie die göttliche Kraft die männliche Zeugung ersetzt. Der Geist Gottes kommt wie eine Wolke oder ein Nebel. Die Wolke ist Zeichen der Fruchtbarkeit, weil sie Regen mit sich bringt. Maria wird vom Geist Gottes eingehüllt, von seiner Lebenskraft umfangen und erfüllt.

Auch die Anwesenheit Gottes über dem Tempel oder dem Zelt wird im Alten Testament als Wolke beschrieben. Damit ist klar, dass Maria das heilige Zelt ist, über dem Gottes verborgene Gegenwart wirksam wird. Die Wolke verbirgt das Wohnen Gottes in einem Haus (Tempel) und zeigt es zugleich an. Es bleibt somit alles im Bereich jüdischer Frömmigkeit und Formulierungen und übersteigt es trotzdem.

Die Heiligkeit Jesu wird bis in die Ursprünge seines Wesens in Gott verankert. Es geschieht neue Schöpfung. Das Kind ist in seinem Ursprung ganz gottgewirkt und dadurch heilig, es hat Heiligen Geist nicht nur vom Mutterschoß an, sondern Gottes Geist zeugt es. Er bestimmt sein innerstes Wesen. Jesus ist als Messias nicht nur Geistträger, sondern ein Geistgewirkter.[8] Er hat als Sohn Anteil an der Lebensfülle Gottes.

Die Kraft Gottes schlechthin ist der Heilige Geist. Kraft ist ein Synonym für ihn, besonders bei Lukas. Der Höchste bewirkt die vaterlose Empfängnis durch die Kraft des Heiligen Geistes. Das „aus ihr Geborene“, so die wörtliche Übersetzung, ist der Sohn Gottes. Wir haben es somit mit der Offenbarung der Dreifaltigkeit zu tun. Maria ist die Tochter des Vaters, die Braut des Geistes und die Mutter des Sohnes. Mehr kann von einem Geschöpf nicht gesagt werden. Bei den zentralsten Geheimnissen unseres Glaubens, der Dreifaltigkeit Gottes und der Menschwerdung des Sohnes Gottes, spielt Maria eine wichtige Rolle; deshalb ist sie keine Nebenfigur der Heilsgeschichte.

Die Dienstbereitschaft Mariens

„Das Ja-Wort Mariens ist der gläubigen Bedenkung von jeher als Höhepunkt alles religiösen Verhaltens vor Gott wichtig gewesen. Da es in höchster Weise passive Verfügbarkeit und aktive Bereitschaft in einem zeigt: Tiefste Leere und höchste Fülle zugleich“, so Schürmann.[9] Es ist für immer und jeden Menschen der Höhepunkt alles religiösen Verhaltens vor Gott. Gottes Wille soll geschehen, wie wir im Vaterunser beten. Das Verb steht im Optativ und besagt daher ein Ja von ganzem Herzen.

Gerhard Lohfink schreibt über das rückhaltlose Ja zur Botschaft des Engels: „Man muss sich klar machen, was das Wort ‚Siehe, ich bin die Magd des Herrn‘ bedeutet. Es hat ein außerordentliches Gewicht. Es meint, dass Maria nichts für sich selbst will und selbst nichts sein will. Der Wille Gottes bedeutet ihr alles. Die Szene Lukas 1,26-38 ist kontrastiv vor dem Hintergrund dessen zu lesen, wie wir selbst allzu oft mit dem Willen Gottes umgehen, sobald er an uns herantritt. … Und erst vor dieser Gespaltenheit des eigenen Lebens kann klar werden, was es heißt, wenn Lukas von Maria sagt, sie habe ein reines, uneingeschränktes ‚Ja‘ gesprochen und sich vor Gott zur ‚Magd‘ gemacht. Maria vermählt sich mit dem Willen Gottes, selbst wenn ihr dieser Wille dunkel bleibt, selbst dann, wenn er zum Schwert wird, das ihre Seele durchdringt (Lk 2,35). Hans Urs von Balthasar sagt von Maria zur Recht: Wenn ihr ‚Ja‘ nur ein zurückhaltendes, geteiltes und deswegen halbes ‚Ja‘ gewesen wäre, hätte der Logos in ihr nicht Mensch werden können. Und ein reines, ungeteiltes ‚Ja‘ setzt Freiheit von der Erbsünde voraus. Die Kirchenväter haben es schon früh so gesehen. Sie sagen es meist in Bildern, aber sie meinen genau dies: Dass nur die reine, vollkommene, ungeteilte Zustimmung Marias dem Logos eine Wohnstatt bereiten konnte."[10]

Und Heinrich Spaemann betont: „Im Neuen Testament ist die Verkündigungsgeschichte der einzige Dialog einer vollkommenen Konsonanz von offenbarendem Gott und gläubigem Menschen, ohne irgendein vorgängiges Ringen des göttlichen Lichtes mit der Verdunkelung eines Herzens mit Zweifel, Trauer oder Missverstehen. Theologisch gesehen ist sie die österlichste aller Geschichten."[11]

Der Ausklang ist völlig undramatisch. Der Engel geht so still wie er eingetreten ist: „Weg ging er“ (Lk 1,38). Ebenso wie bei Zacharias: „Weg ging er“ (Lk 1,23) – in sein Haus. Um seinen Plan durchzuführen, wählt Gott das menschlich Begrenzte und Vernachlässigte aus: ein Mädchen von 14 bis 16 Jahren. Schwachheit ist aber nicht Schwäche, da Maria innere Kraft und offenen Glauben besitzt. In keiner alttestamentlichen Parallelgeschichte findet man eine so ausformulierte Zustimmung.

Verkündigung des Herrn und Pfingsten

Was Gott bei der Verkündigung beginnt, findet nach der Vollendung des Erdenlebens Jesu seine Fortsetzung in seiner Gemeinde, in der Kirche. Der Ausdruck vom Herabkommen des Heiligen Geistes auf Maria ist mit genau den gleichen Worten in der Apostelgeschichte bei der Herabkunft des Heiligen Geistes auf die Apostel und Maria ausgedrückt: „Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird“ (Apg 1,8). Theologisch ist dies bedeutsam, weil beide Male etwas Neues entsteht. Einmal ist es der Beginn des Lebens Jesu und das andere Mal die Entstehung der Kirche. Bei beidem ist Maria mit dabei. Es ist miteinander untrennbar verbunden und hat eine marianische Prägung. „Die Gegenwart der Mutter in der betenden Gemeinde kurz vor dem Pfingstereignis ist ein Zeichen dafür, dass sich ihre Messiasmutterschaft nun der Kirche zuwendet."[12]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Marienbild bei Lukas aus den Fäden des Alten Testaments gewoben ist. Die zahlreichen alttestamentlichen Motive verdeutlichen den heilsgeschichtlichen Rang. Es ist ein pfingstlicher und trinitarischer Text, in dem die ganze Theologie des Neuen Testamentes enthalten ist. Denn Erwählung ist im Sinn der Gottesknechtstheologie zu deuten als Erwählung für die Welt und um der Welt willen. Die Geburt aus der Jungfrau verweist auf die Gottessohnschaft. Bei dieser geht es um einen Sinn, der über Israel hinausweist, nämlich um die Erlösung der Menschheit. Maria ist der neue Tempel, der heilige Rest, dem Gott die Verheißungen erfüllt in einem neuen Gottesvolk.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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[1] Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth: Prolog – Die Kindheitsgeschichten, Freiburg-Basel-Wien 2012, 38.
[2] Karl Rahner SJ: Maria, Mutter des Herrn. Theologische Betrachtungen, Freiburg 1956, 53.
[3] Carlo Maria Martini, Radbert Kohlhaas: Seht die Frau. Lebenswege mit Maria, Freiburg 1988, 103.
[4] Leo Scheffczyk: Das biblische Zeugnis von Maria. Maria in der Heilsgeschichte, Wien 1979, 34.
[5] Josef Ernst: Regensburger Neues Testament. Das Evangelium nach Lukas, Regensburg 1993, 58.
[6] Heinz Schürmann: Das Lukasevangelium. Kommentar zu Kap. 1,1-9,50, Freiburg 1969, 40.
[7] Vgl. René Laurentin: Les évangiles de l‘enfance du Christ, 67f.
[8] Vgl. Schürmann, 52-56.
[9] Schürmann, 58.
[10] Gerhard Lohfink, Ludwig Weimer: Maria – nicht ohne Israel: Eine neue Sicht der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis, Freiburg 2012, 302f.
[11] Heinrich Spaemann: Maria, 5. Es handelt sich um ein maschinengetipptes Manuskript, das nicht veröffentlicht worden ist.
[12] Scheffczyk, 12.

Vorbehaltlos tat Josef, was Gott „ihm befohlen hatte“

Werkzeug der göttlichen Vorsehung

Der sel. Papst Pius IX. hatte den hl. Josef mit dem Dekret „Quemadmodum Deus“ vom 8. Dezember 1870 zum Schutzpatron der katholischen Kirche erklärt. Anlässlich des 150-jährigen Jubiläums dieser Proklamation rief Papst Franziskus ein Jahr des hl. Josef aus, das bis zum 8. Dezember 2021 dauern wird. Josef stand nicht im Rampenlicht, sondern erfüllte den Auftrag Gottes in schweigendem Gehorsam. Wir Christen würden immer mehr zu Randfiguren der Gesellschaft, so Erzbischof Dr. Karl Braun, umso vertrauensvoller sollten wir auf den hl. Josef blicken.

Von Erzbischof em. Karl Braun

Es ist still geworden um den hl. Josef, den Bräutigam Marias und Pflegevater des Gottessohnes. Sein Fest ist kein staatlich geschützter Feiertag mehr. Seine Statue und sein Bild sucht man in vielen Kirchen vergeblich. Sein Name ist als Taufname heute wenig begehrt. Die Lilie der Jungfräulichkeit in seinen Händen entspricht nicht dem egozentrierten Luststreben unserer Tage. Als Mensch der Selbstentäußerung tut St. Josef sich schwer gegenüber der Forderung nach autonomer Selbstbestimmung. Als Mann der Stille, des Schweigens und schlichter Pflichterfüllung ist er im Zeitalter der Manager, des Fortschritts und des Erfolges nicht „in“. Und da der Trend der Zeit auch an uns Katholiken nicht spurlos vorübergeht, könnten auch wir versucht sein, einen der größten Heiligen des Neuen Bundes in den Hintergrund zu stellen – so als wäre Josef nicht viel mehr wert als Esel und Ochse bei der Weihnachtskrippe.

Sicher, Josef war kein spektakulärer Heiliger. Er gehörte nicht zu den Großen seiner Zeit. Er war einer von den kleinen und einfachen Leuten Und doch steht Josef mit an der Spitze der Heiligen. Gott musste sein besonderes Wohlgefallen an ihm gehabt haben, weil er ihn zum Haupt der Hl. Familie bestellte. Was die Hl. Schrift von Josef erzählt, ist zwar wenig, aber doch von Bedeutung (Mt 1,16.18-21.24a): Josef war „gerecht“. Er tat, was Gott „ihm befohlen hatte“. Kann man Größeres von einem Menschen sagen? Die Schrift misst die Werte der menschlichen Existenz nicht mit unserem Maß. Hier wird das, was in den Augen der Welt klein erscheint, groß – groß vor Gott, dem Jesus dankt: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, aber den Kleinen offenbart hast“ (Mt 11,25).

Josef ist der Heilige des stillen, treuen Dienstes. Selbstlos und geduldig stellt er sich – wie Abraham, dessen Glaubensgröße Paulus im Römerbrief preist (Röm 4,13-22) – Gott zur Verfügung. Er gehorcht, ohne viel zu fragen. Er glaubt und vertraut, ohne zu verstehen. Er verwirklicht den Ruf Gottes im Alltag eines bescheidenen Handwerkerlebens in Nazareth. In diesem seinem schlichten Dasein für Gott und die Menschen kann der hl. Josef uns Wegweiser sein. Und das gerade, wenn wir uns mühen, dem Anruf Gottes in unseren Tagen gerecht zu werden. Auch Josef lebte in einer Zeit des Umbruchs; er stand an der Wende vom Alten zum Neuen Bund und bestand diese. Josefs Schweigen, sein verinnerlichtes Hören, die erleuchteten Augen seines Herzens (vgl. 2 Kor 4,6) lassen uns an jene denken, die selbstverständlich, schlicht und treu, ohne große Worte und aufsehenerregende Taten die Nachfolge des Herrn verwirklichen.

Wie der hl. Josef werden auch sie zumeist unterschätzt. Und doch haben sie eine große Aufgabe gerade auch bei der Erneuerung der Kirche. Sie sind wie ein unsichtbares Kraftwerk, das die äußere Aktivität der Kirche speist; sie sind wie tiefreichende Wurzeln, aus denen die Erneuerung lebt. Ida Friederike Görres nennt diese „Stillen im Lande“ die „eigentlichen Träger der Kirche“. Sie spüren: Es braucht im Gottesvolk jene, die nach außen hervortreten, Sichtbares planen, aufbauen und organisieren. Aber sie sind davon überzeugt, dass mit äußerer Aktivität nicht alles getan ist, dass nicht alles machbar ist. Der Glaube dieser „Kleinen“ an die übernatürliche Dimension und Größe der Kirche ist auch stärker als die Enttäuschung über alles Versagen und alle Unzulänglichkeiten des Gottesvolkes.

Wir Bischöfe und Priester gehören zwar einerseits schon „von Berufs wegen“ nicht zu den „Stillen im Lande“ – wir stehen mehr denn je im Rampenlicht einer sensationslüsternen Öffentlichkeit, wir müssen reden, diskutieren, argumentieren, Tag für Tag auf neue Fragen, Probleme und Nöte antworten –, aber andererseits sind wir dann doch oft nur mehr Randfiguren in unserer Gesellschaft, ähnlich dem hl. Josef. Ihn hat Pater Alfred Delp als „Mann am Rande, im Schatten“ bezeichnet. Gerade als solcher will er uns Bischöfen und Priestern zur Seite stehen. Und so dürfen wir beten:

„Heiliger Josef, Vorbild unseres Glaubens, lehre uns, selbstlos dem Plan Gottes zu dienen. Lehre uns alle deine Bereitschaft für den Willen Gottes … deinen heroischen Gehorsam für das Werk der Erlösung. Lehre uns, in einem reinen Glauben ohne Vorbehalt uns hinzuschenken, ohne zu fordern, dass die Früchte unseres Einsatzes für uns sichtbar werden. Hilf uns, mit frohem Herzen die Stunde Gottes zu erwarten und uns als lebendige, freie und treue Werkzeuge Seiner göttlichen Vorsehung mit ganzem Herzen und ganzer Seele hinzugeben“ (P. Philip Boyce O.Carm).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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„Die Macht der kleinen Herde“ (Teil 1)

Weg aus der Krise: Ja zum Paradox!

Lorenz Rösch (geb. 1965) ist Priester der Diözese Rottenburg-Stuttgart und derzeit übergangsweise als Pfarrvikar in Bad Mergentheim im Einsatz. Mit einer Artikelreihe vertieft er das Titel-Thema „Die Macht der kleinen Herde“, das wir für die Januarausgabe dieses Jahres gewählt hatten. Zunächst stellt er einen Beitrag des frühen Joseph Ratzinger aus dem Jahr 1960 vor. Der Aufsatz trägt den Titel „Die christliche Brüderlichkeit“ und zeichnet ein höchst aktuelles Bild vom Auftrag der Kirche in unserer Zeit – und das bedeutet von ihrem Weg in die Zukunft. Die Überlegungen nehmen die Lehre des II. Vatikanischen Konzils, wie sie in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ (1964) enthalten sind, vorweg und haben prophetischen Charakter. Gerade für den derzeitigen „Synodalen Weg“ in Deutschland können die Impulse Ratzingers richtungsweisend sein. Von da aus schlägt Pfarrer Rösch den Bogen zu Pater Alex Lefrank SJ (geb. 1932), der als geistlicher Begleiter und Buchautor eine große Ausstrahlung besitzt. Ohne Zweifel lohnt es sich, seiner Vision von Kirche nachzugehen. Rösch leitet daraus den Appell ab: „Ohn-Macht der Kirche: Ja zum Paradox!“

Von Lorenz Rösch

„Die Macht der kleinen Herde“ – ein paradoxes Wort, unter das das Januarheft mit dem Artikel von Erzbischof em. Dr. Karl Braun gestellt war. Warum sollte das so sein, dass gerade eine kleiner und ärmer gewordene Kirche neuen Einfluss entfalten und anziehend wirken kann, wie das Joseph Ratzinger in dem zitierten Radiovortrag von 1970 skizziert hat? Die dort gegebene Antwort lautet sinngemäß: Sie wird wieder entschieden auf den Glauben zentriert sein und spürbar aus ihm leben; genau das werden Menschen spüren und suchen. Ein Zitat des hl. John Henry Newman beleuchtete sozusagen die Innenseite der Paradoxie mit einem Vergleich zu den Sakramenten: Als Christen sind wir das armselige materielle Element, das der erhöhte Christus mit seinem machtvollen Leben füllt. Dabei bleibt jedoch die Frage offen, inwiefern die Welt von dieser geheimen Macht berührt und verändert wird.

Erwähltsein in Stellvertretung für die ganze Menschheit

Weiteres Licht in das Paradox bringt ein anderer Beitrag des frühen Ratzinger: „Die christliche Brüderlichkeit“ (München 1960).[1] Im Anschluss an Karl Barth und Hans Urs von Balthasar zeigt er: Die Mission Jesu und die Gründung der Kirche zielen auf das Heil der einen Menschheit. „Aber diese Heilung des Ganzen vollzieht sich nach Gottes Ratschluss in der dialektischen Entgegensetzung von Wenigen und Vielen, wobei die Wenigen der Ansatzpunkt sind, durch den Gott die Vielen rettet“ (102). Es geht um Erwählung in Stellvertretung der nicht-erwählten Anderen, verbunden mit einer Sendung zu deren Gunsten.

Dies, so stellt der Autor heraus, ist „das Grundgesetz von Jesu eigenem Leben“ und ebenso „das Grundgesetz, unter dem jede Christus-Jüngerschaft steht. Die Jünger Jesu werden nach den Worten des Herrn immer ,Wenige‘ bleiben und als solche der Masse – den ,Vielen‘ – gegenüberstehen, wie Jesus, der Eine, den Vielen, also der ganzen Menschheit gegenübersteht. (…) Die Jünger Jesu sind wenige. Aber so wie Jesus der eine ,für die Vielen‘ war, so ist und bleibt es auch ihr Auftrag, nicht gegen, sondern ,für die Vielen‘ zu sein“ (112f.). Ihre Verpflichtung für – und somit ihren Einfluss auf – das Ganze verwirklicht diese „kleine Herde“ demnach vor allem durch das missionarische Zeugnis, durch die selbstlos dienende Liebe und – zuhöchst – durch das Leiden für und um die anderen (vgl. 101ff.).

In diesem universalen Horizont wird umso nachvollziehbarer, dass es – paradoxerweise – nicht ohne eine „Aussonderung“ aus den Nicht-Jüngern und eine Abgrenzung zwischen Kirche und Nicht-Kirche geht. Dabei plädierte Joseph Ratzinger dafür, die Grenze realistisch zu verorten: Träger eines solchen Anspruchs kann nur eine Kirche sein, die sich in fassbaren, erlebbaren „Brudergemeinden“ konkretisiert, wie sie sich in den Paulusbriefen widerspiegeln.

Brudergemeinden aufgrund von Eucharistie und Gemeinschaft

Das bedeutet, sich an dieser Stelle nicht von der aufklärerischen Idee einer grenzenlosen Brüderlichkeit leiten zu lassen (was folgenloser, „leerer Schwärmerei“ gleichkäme – 96), aber auch nicht einfach das Taufregister oder die formelle Kirchenmitgliedschaft als Kriterium zu nehmen. Die These lautet: „Die Brudergemeinde der Christen besteht (…) aus denen und nur aus denen, die wenigstens mit einer gewissen Regelmäßigkeit sich als Teilhaber (!) an der Eucharistiefeier einfinden“, denn nur unter diesen „kann auf eine tatsächliche Verwirklichung bewusster Bruderschaft mit einigem Recht gehofft werden“ (100).

Um „die Erfahrung der Brüderschaft aller gläubigen Glieder einer Pfarrgemeinde“ (95) zu ermöglichen, wird neben der gottesdienstlichen Zusammenkunft als weiteres wichtiges Mittel benannt, was Ende der 50er Jahre schon räumlich noch schwierig war: „wieder zeitgemäße Formen außerkirchlichen Gemeinschaftslebens zu entwickeln, die (…) den unmittelbaren brüderlichen Kontakt ermöglichen“ (94).

Heißt das Prinzip also, möglichst „unter seinesgleichen“ zu bleiben? Keineswegs, bedeutet doch die Ebene der Territorialgemeinde bereits in sich Grenzüberschreitung: sie führt unterschiedlichste Menschen zusammen. Das brüderliche „Band“ zwischen ihnen ist einzig im Glauben an Christus begründet, über natürliche Verwandtschaft und über gesellschaftliche Stände und Schranken hinweg (vgl. 95). Allerdings zeigt sich heute, wo überall Gemeindehäuser oder -räume zur Verfügung stehen, dass der „Kontakt“ sich doch schnell milieu-spezifisch verengt und schließlich versiegt, wo nicht bewusst Sorge darauf verwendet wird, dass er als „brüderlicher“ Kontakt stattfindet, d.h. unter dem Vorzeichen des Glaubens.

Hohe Verpflichtung gegenüber den Fern- und Außenstehenden

Was die „Außengrenze“ auch gegenüber einem bedeutenden Teil der Getauften betrifft, kann es nicht um das gute Gefühl gehen, eine elitäre „Kirche der Reinen“ zu sein, oder auf jemand herabzuschauen: „Das heißt übrigens ganz und gar nicht, man dürfe jene Getauften abschreiben, denen der lebendige Glaube und so die unmittelbare Teilhabe an der christlichen Brüderschaft verlorengegangen ist. Es bedeutet im Gegenteil, dass man sich von einer gefährlichen Illusion freimachen muss, die einen nur allzu leicht daran hindern kann, das wahre Ausmaß der Verpflichtung gegenüber denjenigen zu erkennen, deren Bruder man sein könnte, aber leider nur allzu wenig ist. Und freilich gilt, dass die Stellung dieser Namens-christen (…) zur christlichen Gemeinde doch eine andere ist als die der gänzlich Außenstehenden“ (100). Es geht um die Verpflichtung, gerade ihnen das Wort Gottes so nahezubringen, dass es ihnen möglich wird, doch noch, oder wieder neu, ihren Platz in der Brudergemeinde einzunehmen – oder aber sich bewusst davon abzusetzen.

In dieser Sicht, so Joseph Ratzinger abschließend, zeigt sich auch „erst das wahre Maß der Katholizität der Kirche. Ihrer äußeren Zahl nach wird sie nie vollends ,katholisch‘, das heißt allumfassend sein, sondern letztlich kleine Herde bleiben, mehr sogar, als die Statistik ahnen lässt, indem sie viele als Brüder nennt, die in Wahrheit bloß (…) Namens- und Scheinchristen (…) sind. Aber in ihrem Leiden und Lieben steht sie immerfort für ,die Vielen‘, für alle“ (113f.).

Vergegenwärtigung des Christus-Ereignisses durch die Kirche

Gut 55 Jahre später hat der Jesuit Alex Lefrank (geb. 1932) ausdrücklich an diese Linien angeknüpft – und so deren Aktualität bestätigt – mit seinem Buch „Kirche ist paradox. Orientierungen für den fälligen Wandel“ (Würzburg 2016).[2] Für die titelgebende Aussage bezieht er sich auf das Konzil, das die Kirche als „Sakrament“ beschreibt (Lumen Gentium 1); dies bedeutet ja: „Ihre Wirklichkeit geht wesentlich über das hinaus, was erscheint“ (20); sie macht etwas gegenwärtig und wirksam, was nicht von dieser Welt ist und auch ihre Zukunftsmöglichkeiten völlig übersteigt. Dieses „etwas“ ist das Christus-Ereignis bzw. das Ostergeheimnis: „Es hat die Welt aufgerissen über sich hinaus“; Kirche ist das Tor, durch das diese Wirklichkeit bleibend „in die Welt hineinragt“ (16). Sinn und Auftrag der Kirche ist es, dieses Ereignis „für die Menschen aller Zeiten und Regionen gegenwärtig zu halten“ (15).

Die Stellvertretungsaufgabe der Kirche ist nach Lefrank (vgl. 83ff.) so zu verstehen: Sie glaubt auch stellvertretend für die Nicht-Christen, die sich von Gottes Geist zum Hoffen und Lieben bewegen lassen und somit bereits implizit glauben, bis ihnen in Christus die Grundlage und das Inbild der Liebe aufgeht. Sie glaubt und liebt als Leib Christi stellvertretend für die, deren Biografie nicht so gewesen ist, dass in ihnen die selbstlose Liebe erwachen konnte. Sie lebt stellvertretend und exemplarisch aus dem Ostergeheimnis und auf es zu auch für alle, die nicht formell zu ihr gehören, aber ihr auf unterschiedliche Weise zugeordnet sind (nach Lumen Gentium 13). Dieses Selbstverständnis ruft nach einer veränderten Zielsetzung: weg von der Quantität – „möglichst schnell viele in die Kirche als Institution zu holen“ (90) – hin zur Qualität: „Glaubwürdiges Zeugnis für Christus und seine Liebe zu geben“ (90).

Das Sakrament Kirche braucht eine erkennbare Außenseite

Hier lenkt der Autor den Blick auf ein anderes, ein regionales Paradox: Das II. Vatikanische Konzil gilt zwar gerade in der deutschen Kirche als der Referenzpunkt, aber gerade hier hat man den Impuls des Konzis noch nicht so aufgenommen, dass es zum Übergang in eine neue Epoche, eine neue Gestalt von Kirche gekommen wäre. Vielmehr erweisen sich hier beide großen „Lager, auch das sogenannte progressive, eher als konservativ: Sie sind in ihren Postulaten von zu Ende gegangenen oder gehenden Gestalten von Kirche bestimmt und wollen diese durch Restauration von früheren Formen wiederherstellen oder durch Anpassung an gesellschaftliche Plausibilitäten weiterführen“ (7).

Nach dem neutestamentlichen Zeugnis hingegen hat die Kirche das Christus-Ereignis „so gegenwärtig zu machen, dass sich die Menschen für oder gegen ihn entscheiden können und müssen. (…) Kirche hat also nicht dann und wann eine Krise, wenn sie den Vorstellungen der Menschen nicht entspricht. Diese Rede von Krise ist zu sehr von der Vorstellung einer in der Gesellschaft etablierten Kirche geprägt. Kirche ist wirklich in der Krise, wenn sie Krise, Scheidung, nicht herbeiführt. (…) Das dürfte die Krise sein, in der die deutsche Kirche eigentlich steckt: Sie hat in ihrer Pastoral zu lange an einem Modell festgehalten, das die Menschen nicht zur Entscheidung für Christus führt“ (18).

Der Verabsolutierung des Leitsatzes „Die Kirche muss für alle da sein“ (aus Menschenfreundlichkeit, aber auch unter Verweis auf die sonst drohende „Elitekirche“ oder Ghettoisierung) hält Lefrank entgegen: Es braucht den Mut zur „Abgrenzung gegenüber der Welt, die sich nicht für [Christus] entschieden hat – nicht um gegen die Welt zu sein, sondern um ihr mit der neuen Identität in Christus gegenüberzutreten“ (19).

Die Schwachstelle und ihre Therapie

Um die Schwachstelle der deutschen Kirchentheorie und -praxis klarer identifizieren zu können, benennt Lefrank zunächst vier Dimensionen von Kirche (vgl. 33ff.):

1.) Geheimnis: als „Leib Christi“ in dieser Welt, belebt durch seinen Heiligen Geist, gebildet aus vielen einzelnen, die je nach der Lebendigkeit ihrer Christus-Verbundenheit das Leben des Leibes mittragen;

2.) Gemeinschaft aus dem Glauben: der „Leib Christi“, sofern er als Glaubens-Kommunikations-Gemeinschaft(en) Gestalt annimmt;

3.) Institution: mit hierarchischer Struktur und rechtlicher Verfasstheit;

4.) Sendung: fortgesetzte Dynamik der Ausbreitung und der Sammlung.

Dabei sind die zweite, dritte und vierte Dimension „als Dienst und Verwirklichung der ersten Dimension“ zu leben, die „die innerste und wesentlichste“ (41) ist und doch (paradoxerweise) nur durch die anderen ein Stück weit greifbar wird.

Das II. Vatikanum hat die Überbetonung der Institution überwunden und die Dimensionen von Geheimnis und Sendung neu zur Geltung gebracht, so der Autor. Die Reformdiskussion in Deutschland ist aber – unter veränderten Vorzeichen – immer noch auf die Institution fixiert, nämlich „als religiöse und soziale ,Service-Institution‘. (…) Als solche habe sie sich an den Bedürfnissen und Nöten der Menschen zu orientieren. Diese Sicht von Kirche ist zwar nicht völlig falsch, sie übersieht aber, dass Gott selbst sich der entscheidenden Nöte der Menschen schon angenommen und ihnen in Jesus Christus bereits Abhilfe angeboten hat. Dieses Angebot den Menschen nahezubringen ist der spezifische Service der Kirche, den sonst niemand leisten kann“ (39). Es geht ja um eine Abhilfe, die nicht von dieser Welt ist und über diese Welt hinausführt.

Doch dazu – so die Diagnose von Alex Lefrank – ist die deutsche Kirche zu wenig in der Lage, denn die Dimension der Glaubensgemeinschaft ist bei ihr „unterbelichtet“: „Den Gläubigen werden keine Gelegenheiten geboten und abverlangt, ihren Glauben ins persönliche Wort, ins Bekenntnis zu bringen“ (38). Sie ist kein Raum, in dem Menschen zum Zeugnis befähigt werden. Darum heißt die Therapie: Die in der Pastoral Tätigen müssten sich viel stärker von der im NT benannten Aufgabe leiten lassen, „die Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes zu rüsten“ (Eph 4,12). Dieser Dienst besteht primär nicht wieder in der Übernahme von (Ehren-)Ämtern innerhalb der Kirche, sondern im Mittragen ihrer Sendung durch ihr verantwortetes Lebenszeugnis. Denn: Glaube „ist Leben. Nur indem er Menschen umgestaltet und ihr Leben prägt, wird er von ihnen auf andere überspringen. Nur durch Zeugnis wird neues Leben gezeugt“ (44).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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[1] Im weiteren Text beziehen sich die in Klammern gesetzten Seitenangaben auf die im Kösel-Verlag erschienene Buch-Ausgabe.
[2] Alex Lefrank bezieht sich in seinem Buch auf den Kirchen-Artikel von Joseph Ratzinger im LThK, 2. Aufl. 1961, in den wesentliche Erkenntnisse aus „Die christliche Brüderlichkeit“ eingeflossen sind. – Wieder beziehen sich im Folg. die Seitenangaben auf das im Echter-Verlag hrsg. Buch. Kursivschreibung in den Zitaten entspricht stets der Vorlage. 

Zu Besuch in Klöstern Israels und Palästinas

Eine neue Publikation über das Heilige Land vermittelt außergewöhnliche Eindrücke von der Wiege des Christentums: Berichte von archaischen Mönchen und pittoresken Klöstern, Blicke hinter sonst verschlossene Pforten, mit zahlreichen, herrlichen Fotos, die zum Träumen anregen. „Väter des Heiligen Landes“ ist ein Buch für alle, die nach gelebtem Glauben und Abenteuer dürsten.[1]

Von M. Ragsch/N. Mauge/S. Reith

Es gab spannende Begegnungen in uralten Gemäuern, ergreifende Erkenntnisse in einer Landschaft, die schon Jesus kannte und liebte – und viele Überraschungen:

Michael Ragsch hat in Israel und Palästina berühmte und weniger bekannte Klöster besucht und einige „Väter des Heiligen Landes“ kennengelernt. Er traf einen griechischen Mönch, dem Muslime ein Wunder zutrauen. In Bethlehem sprach er mit einem armenischen Vater, der als Kind eine bemerkenswerte Vision hatte. Er war auf dem Berg der Versuchung bei Jericho, wo ein greiser Mönch ganz allein die Stellung hält. Michael Ragsch hat die einzige Kirche im Pulverfass Hebron aufgesucht und eine Nacht im Felsenkloster Mar Saba verbracht. Er war in der Höhle, die den Weisen aus dem Morgenland als Versteck gedient haben soll, war auf dem Berg Karmel in Haifa, in Kafarnaum am See Genezareth – und auf dem Dach der Grabeskirche von Jerusalem. Michael Ragsch aus Wattenscheid arbeitet als Journalist und Moderator. Ins Heilige Land zieht es ihn immer wieder. Er hat bereits drei Bücher über die Region geschrieben:

„Sterne von Bethlehem. Die verlassenen Kinder einer heiligen Stadt“ – „An Seinem See. Geschichten vom See Genezareth“ – und „Am Heiligen Grab. Die Christen Jerusalems“.

Nadir Mauge arbeitet als Filmemacher und Fotograf, nicht nur in seiner Heimatstadt Bethlehem. Seine Spezialität sind Schwarz-Weiß-Bilder, die er klassisch auf Film aufnimmt und selbst entwickelt. Er kann aber auch mit Farbe umgehen, wie er in diesem Buch beweist.

Sebastian Reith aus Schwerte ist im Hauptberuf Sportjournalist. Mit Michael Ragsch hat er schon für das Buch „Am Heiligen Grab“ zusammengearbeitet.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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[1] M. Ragsch/N. Mauge/S. Reith: Väter des Heiligen Landes, Be+Be 2021, ISBN 978-3-903602-09-0, 316 S., Euro 29.90; Tel. 0043 (0) 2258 8703-400; bestellung@bebeverlag.at – www.klosterladen-heiligenkreuz.at

Deutscher Widerspruch zum „Nein“ aus Rom

Schrift und Tradition statt Betroffenheit

Wie pastoral ist es, wenn Bischöfe gegen eine lehramtliche Klarstellung aus Rom polemisieren? Und wie akademisch, wenn Theologen dasselbe ohne Argumente tun? Wenn Bischöfe beginnen, andere Verbindungen als die Ehe bzw. das Eheversprechen zu segnen, mögen sie definieren, welche und unter welchen Bedingungen. Alles andere wäre eine Zumutung für Gläubige und Seelsorger. Ein Kommentar von Stephan Baier, zuerst erschienen in der Tagespost[1]

Von Stephan Baier

Was er Betroffenen jetzt sagen solle, fragt ein Pfarrer, nachdem sein Bischof öffentlich erklärte, wie traurig er über das „Nein“ der Glaubenskongregation sei und warum er mit einer Segnung homosexueller Partnerschaften kein Problem habe. Soll der römisch-katholische Pfarrer Rom folgen oder seinem Bischof, dem er bei der Weihe Gehorsam versprach? Wohlgemerkt: Personen segnet die Kirche ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung. Hier geht es darum, auf welcher Partnerschaft Gottes Segen ruht.

Priestern den Gewissenskonflikt abnehmen

Gewiss werden hier und dort nun solche Paare beim Pfarrer anklopfen und um die feierliche, rituelle Segnung ihres Lebens- oder Lebensabschnitts-Bundes bitten. Wenn Bischöfe – wie in Deutschland und Österreich vielfach geschehen – sich öffentlich dafür aussprechen, sollten sie konsequenterweise ihren Priestern den Gewissenskonflikt abnehmen und allen Seelsorgern anbieten, bei entsprechenden Anfragen ihre bischöfliche Handynummer zur Terminvereinbarung weiterzureichen.

Vielleicht könnten jene Oberhirten, die sich enttäuscht bis verstört über das vom Papst approbierte Nein äußerten, in ihrem Amtsblatt klarstellen, welche Formen des Konkubinats sie noch zu segnen wünschen. Es gibt ja nicht nur homo-, sondern auch heterosexuelle Formen nichtehelichen Zusammenlebens, die irgendwie an Treue, Liebe und Verantwortung orientiert sind. Sollen die diskriminiert werden? In der „Lebenswirklichkeit“ finden wir Poly- und Bigamisten; Polyamorie liegt voll im Trend.

Wenn Bischöfe beginnen, andere Verbindungen als die Ehe bzw. das Eheversprechen zu segnen, mögen sie definieren, welche und unter welchen Bedingungen. Alles andere wäre eine Zumutung für Gläubige und Seelsorger. Schön wäre zudem, wenn es so etwas wie eine theologische Begründung gäbe. Auch im Zeitalter von Betroffenheit und Empörung sollte sich das bischöfliche Lehramt (der Begriff sei gestattet) nicht selbst davon dispensieren, eigene Meinungen theologisch zu argumentieren. Danach sucht man leider auch in der Stellungnahme der mehr als 200 Theologinnen und Theologen deutscher Zunge vergebens. Erstaunlich, angesichts der Vorwürfe, die diese teilweise hochkarätige Akademikerschar gegen die Glaubenskongregation erhebt: Der römischen Note mangle es „an theologischer Tiefe, an hermeneutischem Verständnis sowie an argumentativer Stringenz“, heißt es in dem Theologen-Papier. Eine theologische Argumentation mit Verweis auf Schrift und Tradition sucht man darin vergebens.

Christlicher Glaube beruht auf der Selbstmitteilung Gottes

Wenn Theologen der Meinung sind, die Kirche könne andere als eheliche Verbindungen segnen, wären wir schlichten Gläubigen dankbar, dafür eine theologische Beweisführung offeriert zu bekommen. Das Christentum – daran muss man wohl nicht erinnern – ist nun einmal nicht einfach „Religion“, schon gar nicht im Sinn Feuerbachs. Lehramt und Lehrende schnitzen sich nicht einfach einen Gott nach ihrem Abbild und Gleichnis, nach ihren Wünschen und Ängsten. Christlicher Glaube beruht auf der Selbstmitteilung Gottes. Will das Christentum Offenbarungsreligion bleiben, muss sich jede Lehre auf die Waagschalen von Schrift und Tradition legen lassen. Wer also mehr als Meinung und Betroffenheit zu bieten hat, wer außer dem trüben Blick auf Lebenswirklichkeiten und einem subjektiven Eindruck vom Stand der Wissenschaften (welchen eigentlich?) theologische Argumente für die Segnung homosexueller Partnerschaften hat, der ergreife das Wort.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
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[1] Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur (Würzburg), Ausgabe vom 1. April 2021, S. 8, www.die-tagespost.de

Wenn katholische Gelehrte dem Papst in den Rücken fallen

Der Kampf um das Naturrecht

Am 22. September 2011 hielt Papst Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag eine historische Rede. Als Papst aus Deutschland ging er auf die Grundlagen der staatlichen Rechtsordnung ein. Dabei mahnte er eine Neubesinnung auf das Naturrecht an. Heuer werden es 10 Jahre und die Diskussion um diese politische Ansprache reißt nicht ab. Kritik gab es auch vonseiten katholischer Theologen. Dazu erschien 2012 der Sammelband „Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag“, herausgegeben vom Bochumer Dogmatikprofessor Dr. Georg Essen. Pater Engelbert Recktenwald FSSP (geb. 1960) hat sich mit der zum Teil harschen Kritik am Ansatz Benedikts XVI. auseinandergesetzt. Er nahm vor allem die Beiträge des Tübinger Dozenten Dr. Christoph Hübenthal und des Wiener Professors Dr. Rudolf Langthaler unter die Lupe. Bei beiden vermisst er eine adäquate Kant-Interpretation, was ihnen auch den Zugang zu der von Benedikt vorgeschlagenen Wiederentdeckung der „Ökologie des Menschen“ verschließe.

Von Engelbert Recktenwald FSSP

In seiner Rede vor dem Bundestag machte sich Papst Benedikt „Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats“. Wer wollte bestreiten, dass dies ein Anliegen ist, das alle Parlamentarier unabhängig von ihrer Parteilinie eint?

Recht – nur ein Produkt der Staatsgesetze?

Der Papst erinnerte an Zeiten, in denen Macht von Recht getrennt wurde und „der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde“. Dass der Staat zum Unrechtsstaat werden kann, liegt daran, dass Recht sich nicht darin erschöpft, einfach nur ein Produkt der Staatsgesetze zu sein, wie der Rechtspositivismus meint. Vielmehr gibt es ein Recht, das den Gesetzen vorausliegt und einen Maßstab darstellt, an denen sie selber gemessen werden. Gesetze können ja auch ungerecht sein. Es gibt ein Recht, dem sie dienen sollen. Das ist im weitesten Sinne das, was man „Naturrecht“ nennt.

Und nun stellt der Papst die Frage: „Wie erkennt man, was recht ist?“ Als wichtigste Voraussetzung nennt er ein „hörendes Herz“. Dieser Ausdruck ist biblisch. Er findet sich in der Berufungsgeschichte des Königs Salomon. Der Papst hatte sie als Auftakt seiner Überlegungen gewählt. Bevor Salomon den Thron besteigt, stellt Gott ihm eine Bitte frei. Salomon entscheidet sich für die Weisheit, um ein gerechter König zu werden: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9).

Anspruch des Gewissens und der Natur des Menschen

Papst Benedikt deutet nun dieses hörende Herz als die Vernunft, die für die „Sprache des Seins“ geöffnet ist. Mit dem biblischen Ausdruck des „Herzens“, so darf man diesen Gedanken ergänzen, ist angedeutet, dass es sich um eine Frage der Gesinnung handelt. Der Politiker soll so gesinnt sein, dass es ihm, wie Benedikt ausführt, um Gerechtigkeit und Frieden geht, nicht um Erfolg oder materiellen Gewinn. Er muss ein Gewissen haben.

Und dieses Herz muss „hören“ können. Es soll erkennen, „was recht ist“. Dazu bedarf es nicht nur eines Gewissens in uns, sondern auch einer sorgfältigen Beachtung der Wirklichkeit um uns, nämlich der Natur „in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung“. Dabei verwendet der Papst das Wort „Natur“ sowohl im Sinne der ökologischen Bewegung als auch zur Bezeichnung dessen, was zum menschlichen Wesen gehört: Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit, sondern hat auch eine Natur, auf die er achten muss.

Christoph Hübenthal verkennt die Bedeutung der „gemeinen sittlichen Menschenvernunft“ in der Ethik Kants

Nun gibt es Theologen, die offensichtlich meinen, dass Politiker, die solcherart ihrer Verantwortung gerecht werden wollen, nicht eines hörenden Herzens, sondern eines zehnsemestrigen Studiums der Kantischen Philosophie bedürfen. Zu ihnen gehört der Theologe Christoph Hübenthal, einer von zehn Beiträgern zum Band „Verfassung ohne Grund? Die Rede des Papstes im Bundestag“ (Herder 2012). Nachdem in seiner Darstellung aus dem Naturrecht die Karikatur einer von außen auferlegten Ordnung geworden ist, die der Mensch einfach zu vollziehen habe (S. 115), setzt er dem seine Idee der Deduktion (Ableitung) einer normativen Ordnung allein aus dem menschlichen Freiheitsvollzug entgegen. Die Versuche einer solchen Deduktion haben seit Kant ihre große Tradition und durchaus ihren Reiz. Aber ganz abgesehen davon, dass sie in der Philosophie umstritten sind, haben sie für das Thema des Papstes nur eine nachgeordnete Bedeutung. Die Kompetenz zur Erkenntnis dessen, „was recht ist“, besitzen Menschen unabhängig von der philosophischen Spekulation über den Geltungsgrund des Sittengesetzes. Das sah auch Kant selber so. Bei ihm erscheint die gemeine sittliche Menschenvernunft als Prüfstein für die philosophische Doktrin: Sie „bestätigt die Richtigkeit der Deduktion“ (GMS), ihr ist klar, was reine Sittlichkeit ist, während nur Philosophen „die Entscheidung dieser Frage zweifelhaft machen können“ (KpV). Zurecht schreibt deshalb Dieter Henrich: „Kant hat es anerkannt, dass seine Ethik der ,gemeinen sittlichen Menschenvernunft‘ gerecht werden muss. Ein anderes Kriterium für die Angemessenheit einer Theorie der Sittlichkeit lässt sich auch gar nicht denken“ (Ethik der Autonomie, in: Henrich: Selbstverhältnisse, Stuttgart 1982, S. 24). Auch Herbert Schnädelbach sieht klar, dass Kant die Kenntnis des moralisch Gebotenen im vorphilosophischen Wissen verortet: „Die praktische Philosophie kann dieses Wissen nicht erzeugen, aber sie hat es zu klären, zu sichern und gegen den ethischen Skeptizismus zu verteidigen“ (Kant: Eine Einführung, Stuttgart 2018, S. 94).

Zusammenspiel zwischen hörendem Herz und kompetenter Sachkenntnis

Das heißt: Um moralisch zu sein, brauche ich keine Philosophie. Um zu erkennen, dass staatliche Gesetze Betrug verhindern, Morde ahnden und die Umwelt schützen sollen, brauche ich nur ein intaktes Gewissen. Je konkreter und detaillierter allerdings eine komplexe Gesetzesmaterie etwa in Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Umweltschutzes oder der Bioethik geregelt werden soll, umso weniger genügt der gemeine Menschenverstand und umso nötiger sind Sachkenntnis und die Fähigkeit, Wert und Gewicht der einer Abwägung unterliegenden Güter, Rechte und Aspekte einzuschätzen. Es ist das Zusammenspiel zwischen hörendem Herz und kompetenter Sachkenntnis im gemeinsamen Blick auf die Wirklichkeit, was die Erkenntnis dessen, was recht ist, ermöglicht. Die Philosophie dient der Schulung jener Einschätzungsfähigkeit nach ethischen Prinzipien und der nachträglichen reflexiven Erhellung dessen, was in der moralischen Erkenntnis der gemeinen Vernunft geschieht und als ihr Ermöglichungsgrund vorausgesetzt ist. Ihr gegenüber hat sie ihrerseits eine gewisse Kontrollfunktion. Ob man die moralische Einsicht eine Intuition nennt, ist Geschmacksfrage. Wichtig ist nur, dass mit „Intuition“ in diesem Zusammenhang kein irrationales Bauchgefühl gemeint ist, sondern der Vollzug praktischer Vernunft, der der philosophischen Reflexion im Sinne einer Aufhellung und Selbstvergewisserung zugänglich ist. Hübenthals Furcht vor „einer methodisch unkontrollierbaren Intuition“ (114) ist nicht nur unbegründet, sondern täuscht darüber hinweg, dass keine philosophische Reflexion diese Intuition jemals ersetzen kann, sondern sie vielmehr immer notwendigerweise voraussetzt. Philosophie ist kein Vehikel zur Besserwisserei gegenüber der Intuition des gewöhnlichen, gesunden Gewissens, sondern hat im Gegenteil nach Kant gerade die Aufgabe, das gemeine Vernunfturteil gegen das Vernünfteln und Bezweifeln zu verteidigen (GMS).

Rudolf Langthaler verkennt die Bedeutung der „Naturzwecke“ bei Kant

Während man der Kritik Hübenthals noch Fairness bescheinigen kann, indem sie das grundsätzliche Anliegen einer Zurückweisung des Rechtspositivismus anerkennt, wird es bei einem anderen Kritiker peinlich: Rudolf Langthaler, seinerzeit Philosophieprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Wien, ist offensichtlich bemüht, dem Papst eine modernitätsfeindliche Verkennung der Aufklärung anzuhängen. Nun erwähnt Benedikt in seiner Rede die Aufklärung ausschließlich im positiven Sinn, weil sie die Idee des Naturrechts mit dem Christentum gemeinsam hat. Deshalb bemüht Langthaler eine andere Rede Ratzingers, die seinem Kritikbedürfnis offensichtlich mehr entgegenkommt. Die Strategie seiner Kritik an dieser Rede vom 1. April 2005 läuft darauf hinaus, die Moderne auf die Aufklärung zu reduzieren, die Aufklärung auf Kant und Kant auf seinen Formalismus, um auf diese Weise die päpstliche Inanspruchnahme normativer Wertgehalte in der empirischen Wirklichkeit als Zurückweisung des kantischen Formalismus und damit als Rückfall in vormoderne, unaufgeklärte Denkmodelle zu brandmarken. Mit „Formalismus“ ist die Auffassung gemeint, dass die moralische Vernunft ihre normativen Gehalte nicht aus der empirischen Wirklichkeit, sondern aus sich selbst empfängt.

Während dieser Formalismus in der Philosophie großenteils als gescheitert gilt, hält Langthaler wacker an ihm fest: Ein „teleologischer Naturbegriff“ kommt für ihn als normativer Maßstab für des Menschen Freiheit nicht in Frage (S. 163), denn „nichts anderes als die Vernunft selbst [könne] das adäquate Maß für das von ,Natur aus Rechte‘“ sein. Auf Benedikts Konzept, „Natur und Vernunft“ als Rechtsquellen anzusetzen, reagiert er mit Unverständnis. Statt das von Benedikt erwähnte „Zueinander“ dieser beiden Größen wohlwollend auszubuchstabieren, wirft er ihm einen naturalistischen Rückfall vor. Man kann Benedikts Ausführungen zustimmen, auch wenn man sich darüber im Klaren ist, dass selbstverständlich die Natur auf andere Weise Rechtsquelle ist als die Vernunft: diese nämlich als Quelle der Verbindlichkeit, jene zumindest als Quelle der Erkenntnis dessen, was recht ist, also genau dessen, was der Papst zum Thema seiner Rede gemacht hat. Um es konkreter zu formulieren: Die Pflicht, die Würde des Menschen zu achten, ist begründet in seiner Vernunft, durch welche er ein moralfähiges Freiheitswesen ist. Diese Achtung konkretisiert sich aber in Handlungen, unter anderem in solchen, die seinen leiblichen und seelischen Bedürfnissen gerecht werden. Diese Bedürfnisse gehören zur menschlichen Natur. Dass ein Kind Hunger hat, ist ein hinreichender Grund, ihm zu essen zu geben, wie Spaemann es einmal auf den Punkt gebracht hat. Nur dann könnte man dieser Auffassung den naturalistischen Fehlschluss vorwerfen, wenn es sich bei einem hungernden Menschen um eine wertneutrale Tatsache handelte, man also genau jenen positivistischen Naturbegriff zugrunde legen würde, den Benedikt als normativ steril gerade überwinden will. Dass Kant selber mit einem normativen Naturbegriff arbeitet, ist die Überzeugung keines Geringeren als des Kant-Spezialisten Julius Ebbinghaus, wenn er in Kants Naturgesetzformel des Kategorischen Imperativs („Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“) eine objektive Zweckmäßigkeit im Sinne einer teleologisch interpretierten Natur am Werk sieht als Ermöglichungsgrund der Ableitung des Inhalts moralischer Pflichten (Ebbinghaus: Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: Kant: Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hg. von Gerold Prauss, Köln 1973, S. 276). Und ein Blick in Kants Metaphysik der Sitten hätte Langthaler davon überzeugen können, dass Kant tatsächlich so verfährt und Naturzwecke, die für menschliches Handeln normativ leitend sind, in Anschlag bringt, und zwar ausgerechnet dort, wo Langthaler es am wenigsten mag, in der Sexualethik. Kant gründet auf jene Naturzwecke das Eherecht „nach Rechtsgesetzen der reinen Vernunft“.

Benedikt ist ein glaubwürdigerer Verteidiger aufklärerischer Vernunftansprüche

Doch Benedikt hat gegen Langthaler nicht nur Kant, sondern auch Spaemann auf seiner Seite, den Langthaler gegen ihn auszuspielen versucht. Warum stützt er sich ausschließlich auf einen Aufsatz aus dem Jahr 1973 (Die Aktualität des Naturrechts)? Man merkt die Absicht und ist verstimmt. In anderen Veröffentlichungen, z.B. in Sind „natürlich“ und „unnatürlich“ moralisch relevante Begriffe? (in: Venanz Schubert: Was lehrt uns die Natur? Die Natur in den Künsten und Wissenschaften, St. Ottilien 1989, S. 253-279) und in Die Bedeutung des Natürlichen im Recht (in: Spaemann: Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 137-145) vertritt Spaemann exakt die Position Benedikts, etwa wenn er meint, „dass die Ersetzung des Begriffs der Natur und des Natürlichen durch den der Vernunft und des Vernünftigen und die Reduktion des Begriffs der Natur auf den der ,Natur der Sache‘ den Begriff des Vernünftigen leer werden lässt und dass der Verzicht auf einen Begriff der Natur des Menschen den Gedanken des Naturrechts gegenüber der Kritik des Rechtspositivismus wehrlos macht“ (S. 140f.).

Man kann durchaus Verständnis dafür haben, dass ein Philosoph von Kants Ideen so fasziniert ist, dass er ihnen mit ganzem Herzen anhängt. Befremdlich dagegen wirkt, wie verständnislos Langthaler moderne Ideen einer die anthropozentrische Perspektive erweiternden Umweltethik behandelt. Oberlehrerhaft kritisiert er den Papst auf eine Weise, die so tut, als ob jede Abweichung von seiner – Langthalers – Position nur ein Beweis für die Unfähigkeit wäre, Kant zu verstehen. Er tut so, als ob seine Kant-Interpretation der unumstrittene Referenzpunkt einer modernitätstauglichen Ethik sei und es nie eine materiale Wertethik gegeben habe, nie die Kritik eines Horkheimer an Kants Formalismus, nie die Verantwortungsethik eines Hans Jonas, der die Natur wieder in ihre Eigenrechte einsetzen will, nie das Aufkommen einer ökologischen Ethik. Man kann das alles ausblenden und dann den Anschein erwecken, Papst Benedikt sei nicht auf der Höhe der Zeit. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Durch sein breiter aufgestelltes Problembewusstsein ist Ratzinger ein glaubwürdigerer Verteidiger aufklärerischer Vernunftansprüche als sein Ankläger.

Spannender Schulterschluss mit dem Anliegen von Herbert Marcuse

Benedikt spricht von der „Würde der Er-de“. Das ist gewiss eine Provokation. Die Reaktion auf sie offenbart den eigenen intellektuellen Charakter. Befangenheit im eigenen Tunnelblick mag in ihr nur „rückwärtsgewandte Denkart“ erkennen. Georg Paul Hefty hielt sie in der FAZ für einen intellektuell belebenden Zug. Tatsächlich kann man in ihr z.B. einen spannenden Schulterschluss mit dem Anliegen eines Herbert Marcuse sehen, der schon 1972 in „Counterrevolution and Revolt“ für die Befreiung der Natur von einer sie vergewaltigenden Herrschaft plädierte. Diese Vergewaltigung besteht in einer ausbeutenden Funktionalisierung aller subhumanen Lebewesen, die ihre Rechtfertigung in einer Philosophie findet, die der Natur in Kantischer Manier jeden Eigenwert und jeden Selbstzweck abspricht. Deren Wiederentdeckung ließ sich die ökologische Bewegung von der „Transzendentalpolizei“ (Ulrich Ruschig: Die Befreiung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Freiheit bei Herbert Marcuse, Köln 2020, S. 16) aus Königsberg nicht verbieten. Ebenso wenig sollten sich Naturrechtler die von Benedikt angemahnte Wiederentdeckung der „Ökologie des Menschen“ von der Wiener Transzendentalpolizei verbieten lassen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Entwicklung „neuer“ Menschenrechte (2)

Verfügung über den eigenen Körper

Nach dem französischen Rechtswissenschaftler Grégor Puppinck (geb. 1974) verbirgt sich hinter der Entwicklung „neuer“ Menschenrechte ein verfälschtes Menschenbild. In den vergangenen 70 Jahren sei der „vom christlichen Humanismus ererbte Sinn des Daseins“ aus dem Blick geraten und durch einen Individualismus ersetzt worden, der ein absolutes Herrschaftsrecht des Geistes über den Leib proklamiere. Die Verfügung über den eigenen Körper als Matrix neuer Rechte aber bedeute keine Befreiung der Person, sondern letztlich Unterdrückung. Nachfolgend Teil 2 einer Artikelserie.[1]

Von Grégor Puppinck

Wir sind in eine neue Epoche eingetreten, die weit jenseits der Menschenrechte von 1948 liegt. Was ist geschehen? Welcher Logik ist die Entwicklung der Menschenrechte gefolgt? Wer die Transformation der Menschenrechte versteht, versteht die Entwicklung des Menschen in den vergangenen siebzig Jahren und kann sich auch von der Zukunft ein Bild machen, denn die Menschenrechte sind ein Spiegelbild der Vorstellung, die sich die Gesellschaft vom Menschen macht. (S. 82)

Im westlichen Kulturkreis hat sich der Ursprungsort der Menschenwürde verlagert: er liegt nicht mehr in der harmonischen Einheit von Geist und Leib, sondern in der alleinigen Herrschaft des individuellen Geistes. Dementsprechend erfordert die Achtung dieser Würde die Achtung des freien individuellen Willens, in dem der Geist seinen Ausdruck findet. Daraus folgt, dass jede Verfügung über sich selbst als gut zu betrachten ist, solange sie nur frei gewollt ist. (S. 84)

Das Recht, über den eigenen Körper zu verfügen, ist eines der wichtigsten Rechte, die aus der Privatautonomie hervorgegangen sind; nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ist sie ein „integraler Bestandteil“ dieser Autonomie und dient dazu, unter der bloßen Voraussetzung, dass sie freiwillig sind, individuelle Handlungsweisen zu rechtfertigen, die der althergebrachten ontologischen Menschenwürde zuwiderlaufen, wie z.B. gewisse gewalttätige oder „widernatürliche“ Sexualpraktiken, die Folter mit Einwilligung des Opfers (Sadomasochismus), die Sterilisation, den Wechsel des Geschlechts, die Abtreibung oder den Selbstmord.

Das Recht zur Verfügung über den eigenen Körper ist das Gegenteil des Prinzips der Unverfügbarkeit des menschlichen Körpers, das die als Respekt vor der Einheit aus Geist und Körper verstandene Menschenwürde garantieren soll. Dieses Prinzip zwang jedermann dazu, in sich selbst die Würde der menschlichen Natur zu respektieren und kam insbesondere in der Verpflichtung zur Achtung der guten Sitten zum Ausdruck. Beispielsweise führte auch die ausdrückliche Zustimmung einer Person zu ihrem eigenen Tod, ihrer Prostitution, zum Verkauf eines ihrer Organe, oder zur Verwirklichung einer „widernatürlichen“ Handlung wie der Sterilisation oder der homosexuellen Unzucht nicht dazu, den Urheber solcher Handlungen von seiner strafrechtlichen Verantwortung freizusprechen.

Das Recht, über den eigenen Körper zu verfügen, verdrängt zusehends das Prinzip der Unverfügbarkeit und schafft Raum für die Zulassung von Handlungsweisen, die vordem aus Respekt vor der Würde der fleischgewordenen menschlichen Natur verboten waren. Dieses Recht ist von großer Bedeutung, denn es besiegelt den Dualismus Körper/Geist, indem es in das Gesetz eine Dichotomie zwischen dem Willen des Individuums, der allein Träger von Rechten ist, und seinem Körper, der das Objekt dieser Rechte darstellt, hineinträgt, und somit den Primat des Willens nicht nur über den Körper, sondern sogar gegen den Körper behauptet. Es handelt sich um ein Recht, den Leib zu unterdrücken.

Warum erklärt man ein solches Recht, wenn jedermann schon von Natur aus seinen Körper nach seinem Willen einsetzen und somit über ihn verfügen kann, ohne dass man eines besonderen Rechtes bedürfte, zu arbeiten, sich zu ernähren, oder sich auszuruhen, d.h. im Einklang mit der Natur zu handeln? Die Besonderheit des Rechts zur Verfügung über den eigenen Körper liegt in diesem konfliktträchtigen Dualismus, der die Harmonie im Inneren einer Person zugunsten der Behauptung einer individuellen Verfügungsmacht über den Körper zerstört. Durch das Recht zur Verfügung über den eigenen Körper wird der individuelle Wille umso mehr erhöht, je mehr er den eigenen Körper unterdrückt und knechtet.

Diese Verfügungsmacht über den eigenen Körper wird beispielsweise dadurch ausgeübt, dass man ihm notwendige Pflege oder medizinische Behandlung vorenthält, ihn sterilisiert, oder auch durch Euthanasie oder Beihilfe zum Selbstmord. Vor kurzem noch waren diese Praktiken ebenso wie die Schönheitschirurgie aus Respekt vor der Einheit Körper/Geist verboten. Heute ist vom Grundsatz der Unverfügbarkeit des menschlichen Leibes fast nichts mehr übrig. In Europa hat das Verbot der Vermarktung des menschlichen Körpers nur noch theoretischen Charakter. Prostitution, Pornographie, Leihmutterschaft, der Verkauf und die Ausbeutung des Körpers und seiner Organe sind zu einer Industrie herangewachsen; selbst die Euthanasie ist heute in der Schweiz ein business. Diese Entwicklung wäre nicht möglich gewesen, hätte es nicht in der europäischen Kultur eine massive Wiederkehr jenes Dualismus gegeben, der den Geist gegen den Leib stellt. So ist die Trennung des Geistes vom Leib und die daraus folgende Versklavung des Leibes eine notwendige Vorbedingung für seine Vermarktung, seine Ausbeutung, und seine Reduktion zu einer Sache. (S. 114-116)

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Grégor Patrick Puppinck: Der denaturierte Mensch und seine Rechte, Be+Be-Verlag. 2021, Hardcover, 274 S., ISBN 978-3-903602-07-6, Euro 21,90; Tel.: 0043 (0) 2258 8703-400; E-Mail: bestellung@bebeverlag.at – www.klosterladen-heiligenkreuz.at

Sebastian Kneipp – Vorbild wahrer christlicher Nächstenliebe

Der Priesterarzt

Die Diplom-Pädagogin Gunda Maria Eggerking, die sich seit vielen Jahren mit theologischen und spirituellen Themen beschäftigt, hat nun ein Buch über Pfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897) veröffentlicht.[1] Darin hat sie unzählige alte Quellen verarbeitet, welche das Bild dieses „gottbegnadeten Priesterarztes“ vervollständigen. Sie lässt vor allem Zeitzeugen und Fachleute zu Wort kommen, welche die ursprünglichen Anliegen der „Kneippschen Gesundheits- und Heillehre“ zum Vorschein bringen. Nachfolgend ein Auszug aus ihrem Schlussresümee.

Von Gunda Maria Eggerking

Vorbild für unsere Zeit und für kommende Generationen

Die Mahnung „ ‚Halte das Bild des Würdigen fest…‘ gilt auch für das Bild des Pfarrers Sebastian Kneipp, der ganz aus dem Geist praktischer, werktätiger Nächstenliebe lebte und handelte und ungezählten Menschen Gesundheit und eine vertiefte Einstellung zum Leben schenkte. Er gehört zu den großen Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts, die es verdienen, Vorbilder für unsere Zeit und für kommende Generationen zu sein.“ Diese Worte, die Dr. Eberhard Schomburg 1963 schreibt, entsprechen auch meinen Intentionen für dieses Buch. (S. 7)

Karl Pörnbacher: Er suchte die ganzheitliche Heilung des Menschen

Sebastian Kneipp hatte als Persönlichkeit einen großen Einfluss auf die Heilerfolge seiner Kurgäste. Karl Pörnbacher schreibt: „Zur Heilung suchte er die gesamte körperliche und seelische Verfassung des Menschen zu verbessern und nicht nur bestimmte Symptome zu kurieren. Überdies übte er selbst eine geradezu suggestive Wirkung auf die Patienten aus, die zusammen mit seinen knappen, bestimmten Anweisungen bei diesen oft zur Überzeugung führte, dass bei genauer Befolgung der Vorschriften sicher mit einer Heilung zu rechnen sei. Allerdings verwahrte er sich geradezu schroff dagegen, dass ihn manche als Wunderheiler oder gottbegnadeten Wundertäter ansahen.“

Eberhard Schomburg: Das Leben ist uns als Leihgabe des Schöpfers aufgegeben

Auch Dr. Eberhard Schomburg betont diese suggestive Kraft: „In reichem Maße besaß Kneipp Beobachtungsgabe und Sinn für das zunächst Notwendige, zugleich aber auch Phantasie in der Abwandlung der sich anbietenden Hilfen, unzerstörbaren Optimismus und suggestive Kraft, die auf Selbstsicherheit ebenso wie auf Erkenntnis der eigenen Grenzen beruhte, vor oder über allem eine tiefe schlichte Frömmigkeit und Herzensgüte, dazu die Fähigkeit, fremdes Leid wie eigenes mitfühlen zu können.“

Doch er macht auch deutlich, aus welchen Quellen Pfarrer Kneipps Handlungen gespeist wurden: „Sebastian Kneipps Vermächtnis? Es ist immateriell und erschließt sich nur dem, der wie Sebastian Kneipp das Leben als Leihgabe des Schöpfers begreift, das uns nicht gegeben, sondern aufgegeben ist. Diesen Ruf zu hören, wollte Kneipp uns lehren. Sicher mag es gewagt erscheinen, Kneipp einem anderen Großen seines Jahrhunderts zu konfrontieren, dem ungleich feinsinnigeren und von einer ganz anderen Geistigkeit beseelten Adalbert Stifter. Wir wissen nicht, ob Kneipp je die verklärten Werke Stifters gelesen hat. Sehr wahrscheinlich wird das nicht der Fall gewesen sein. Kongenial aber ist der tatkräftige und zugleich kindlich fromme und gläubige Dorfpfarrer dem empfindungsreichen und ebenfalls tief religiösen Dichter aus dem Böhmerwald in dem, was Stifter das ‚sanfte Gesetz‘ nennt. In ihm fasst er die wesentlichen Eigenschaften zusammen, die der Mensch erringen muss, wenn er zum Heil des anderen, zu dessen Gesundung an Seele und Geist beitragen will: Barmherzigkeit und Liebe, Gerechtigkeit und Einfachheit, Verstehen und Verständnis. Dieses sanfte Gesetz hat Kneipp uns vorgelebt, nicht in Lebensabgewandtheit und beschaulicher Kontemplation, sondern in freudiger Tatbereitschaft und Hingabe an die selbstgewählte Pflicht. So bleibt das Vorbild, das er uns allen durch sein tätiges, frommes, schlichtes und doch so reich erfülltes Leben gegeben hat, sein größtes Vermächtnis.“

Josef Dolhofer: Zur natürlich-physischen kam die geistig-seelische Komponente

Josef Dolhofer drückt es so aus: „Sebastian Kneipps Lehre setzt sich nicht bloß aus einer natürlich-physischen und gesundheitlichen, sondern auch aus einer geistig-seelischen, besser gesagt, religiösen Komponente zusammen.“

Diese Tatsache darf nie vergessen werden und ich möchte es an dieser Stelle noch einmal wiederholen: Sebastian Kneipp war in erster Linie Priester und alles, was er tat, entsprang seinem christlichen Verständnis, dem eines barmherzigen Samariters, in den sich sein heilkundliches Verständnis, das ähnlich dem eines Arztes war, gehüllt hatte. Deshalb nannten ihn diejenigen, die etwas davon verstanden, auch „Priesterarzt“. Dazu gehörten Dr. Alfred Baumgarten, Max Bonifaz Reile und Dr. Albert Schalle.

Albert Schalle: Er war ein idealer Priester und ein gottbegnadeter Arzt

Von Dr. Albert Schalle stammen die folgenden Ausführungen: „Seine rein menschlichen Eigenschaften sind über jedes Lob erhaben und allbekannt. Kneipp war eine edle, selbstlose, grundehrliche Natur. Die absolute Unbestechlichkeit und Selbstlosigkeit sind besonders markante und sympathische Züge im Charakter Kneipps. So starb er, der Millionen hätte verdienen können, als einfacher Landpfarrer.

Ein idealer Priester, ein gottbegnadeter Arzt, ein edler Mensch und einer der größten Wohltäter der Menschheit: das war Kneipp und so wird sein Bild im Herzen des Volkes eingetragen bleiben. Sein Name wird in Äonen nicht untergehen!

Sebastian Kneipp war von großer Menschenliebe und Selbstlosigkeit. Aus reinster Nächstenliebe, um Gotteslohn, nahm er die unendlichen Mühen und Lasten, nahm er auch allen Undank und alle Gehässigkeiten auf sich, die sein Beruf als Priesterarzt ihm brachten. Vom frühen Morgen bis in die Nacht widmete er jede freie Minute den Kranken. Nichts verwendete er von den reichen Zuwendungen, die ihm zuflossen, für sich. Arm, wie er geboren und gelebt, ist er gestorben. So steht Sebastian Kneipp mit seinen ausgezeichneten, seltenen Eigenschaften des Geistes und des Herzens und wegen seines selbstlosen, unvergleichlichen Wirkens für die notleidende und kranke Welt als Mensch und Arzt in einer Würde und Größe vor uns, die jeden in seinen Bann zwingt, und der auch der erbittertste Gegner seine Bewunderung und Hochachtung nicht versagen kann.

Wir Ärzte, die wir, den Absichten des ewigen Meisters entsprechend, die Pflege und Weiterentwicklung seiner Heilmethode uns zur Lebensaufgabe gemacht haben, wollen aufs Neue geloben, in unerschütterlicher Treue und Anhänglichkeit die genialen Lehren Sebastian Kneipps hochzuhalten, für deren wissenschaftlichen Ausbau und die wissenschaftliche Anerkennung seines Heilverfahrens alle Kräfte einsetzen. Sein Erbe sei uns heilig! Alle Anstrengungen und Enttäuschungen, alle Anfeindungen, die der schwere Beruf des Arztes und erst recht eines Vertreters der Sache Kneipps mit sich bringt, missachtend, sei uns das herrliche Vorbild unseres gottbegnadeten Priesterarztes Sebastian Kneipp Ansporn und Leitstern für ein unverdrossenes und unermüdliches Arbeiten und Wirken in seinem Geiste, zum Wohle der leidenden Menschheit! […]

Kaum ein geeigneteres Vorbild kann der selbstsüchtigen, materialistischen Welt gerade in unserer Zeit [1937] vor Augen geführt werden als die verehrungswürdige Persönlichkeit Sebastian Kneipps, dieses selbstlosen Apostels der Nächstenliebe, der in dem Dienste Gottes und seiner Mitmenschen sein Bestes, sein Leben opferte, getreu dem schönen Sinnbilde, welches der berühmte Amsterdamer Arzt Nicolaus von der Tulp (gest. 1673) sich selbst und dem ärztlichen Stande erwählte, dem Sinnbilde der brennenden Kerze, welche anderen leuchtet, indem sie sich selbst verzehrt.“

Heilkunst im Geist der Selbstverleugnung und vollkommenen Hingabe

Im Kapitel „Sebastian Kneipp als Arzt“ schreibt Dr. Albert Schalle: „Eines der sinnigsten Werke der christlichen Kunst ist das bekannte Bild von G. Marx: Christus als Arzt. Auf dem Rand des Totenbettes sitzend, erfasst der Heiland die erstarrte Hand des Töchterleins des Jairus, einen Blick voll Güte und Mitleid auf die Tote richtend, die sein göttlicher Wille zu neuem Leben erwecken wird. Wir wissen, dass Christus nicht nur Seelenhirte, Erlöser der sündigen Menschenseele war, dass er auch für die leiblichen Nöte der Menschen, für die Krankheiten und Gebrechen aller Art, jederzeit hilfsbereit und wundertätig wirkte, dass er auch ein Arzt in des Wortes höchster Vollendung war. In seinem göttlichen Meister hatte Sebastian Kneipp als Priester und Arzt das höchste, idealste Vorbild, dem nachzustreben und nachzuleben ihm Lebenszweck, wahre Lebensaufgabe war.

Gar mannigfach sind die Wechselbeziehungen zwischen Priestertum und Ärztestand auch heute [1937] noch. Abgesehen vom rein medizinischen, hygienischen Gesichtspunkt, haben beide Berufsarten in kultureller Hinsicht ungemein viel gemeinsame, ja naturnotwendige Berührungspunkte und Interessensphären. Der berühmte Art Hufeland (1762-1836) – dessen ‚Makrobiotik‘ auch heute noch viel gelesen wird – schreibt in seinen ‚Aphorismen‘: ‚Der Trieb, den Leidenden zu helfen, war die erste Quelle der Priesterheilkunst, und noch jetzt muss er es bleiben, wenn die Kunst rein und edel und für die Menschheit wahrhaft beglückend sein soll. Leben für andere, nicht für sich, ist der Beruf des Arztes. Nicht allein Ruhe, Vorteile, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens, sondern Gesundheit und Leben selbst, ja, was mehr als dies alles ist, Ruhm und Ehren muss er dem höchsten Zwecke, Rettung des Lebens und der Gesundheit anderer, aufopfern.

Die Heilkunst ist demnach eine der erhabensten und göttlichsten, indem ihre Verpflichtungen mit den ersten und heiligsten Gesetzen der Religion und Menschenliebe zusammenfließen und ihre Ausübung durchaus Selbstverleugnung und Erhebung der Seele über die gemeinen Rücksichten des Lebens erfordert und darin übt!‘

Gelten nicht diese schönen Worte ebenso für den verantwortungsvollen, schweren Beruf des Arztes wie für den des Priesters! Goethe bezeichnet als Ergebnis einer Abhandlung des Naturphilosophen Windisch-mann: ‚Über etwas, das der Heilkunde nottut‘, das Resultat, dass man eigentlich ein Priester sein müsse, um sich als vollkommen tüchtiger Arzt zu bewähren. Sebastian Kneipp war ein mustergültiger Priester, er war aber auch ein Arzt von Gottes Gnaden, ein geborener Arzt. Das bestätigen alle Ärzte ausnahmslos, die in nähere Berührung mit Prälat Kneipp kamen und einen richtigen Einblick in sein Wollen und Schaffen erhalten konnten; das ersehen wir aus der ganzen Art seines Wesens und seines einzigartigen Wirkens.“

Möge Sebastian Kneipp, der kein Heiliger war, sondern, wie wir gesehen haben, ein Mensch mit Fehlern wie jeder andere auch, der aber dennoch ein so großartiges Werk dank seiner inneren Hingabe an Christus vollbracht hat, auch heute wieder seine Anerkennung als gottbegnadeter Priesterarzt finden, der er in den Augen derjenigen, die ihn kannten, wirklich war! Ganz im Sinne der Mahnung, die ich an den Anfang meines Buches gestellt habe:

„Haltet das Bild des Würdigen fest!“ (S. 192-197)

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Gunda Maria Eggerking: Der Priesterarzt. Sebastian Kneipp – Vorbild wahrer christlicher Nächstenliebe, Fe-Medienverlag 2021, HC, 232 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7171-1332-4, Euro 9,95 – www.fe-medien.de

„Wer das Joch trägt, den trägt es“

Christus schaut dich an

Das „Würzburger Kreuz“ aus dem 14. Jahrhundert ist ein einzigartiger Ausdruck der liebenden Zuwendung des gekreuzigten und auferstandenen Herrn zu uns Menschen. Mit seinen Wundmalen neigt sich Christus dem Betrachter zu und schaut ihn mit sehnsuchtsvollem Blick an. Die angenagelten Hände haben sich vom Kreuz gelöst und scheinen einen geheimnisvollen Jemand zu umarmen. Dr. Peter Dyckhoff fasst in seinem Beitrag die Bedeutung dieses Kreuzes zusammen, das er als einen persönlichen Schatz und als geistliche Kraftquelle entdeckt hat. Seine Betrachtungen entfaltet er auch in einem Buch mit dem Titel „Umarmung Christi“.[1] Die Publikation stellt eine Theologie des Kreuzes dar, jedoch in einer Sprache, die das Herz jedes Menschen erreichen und für die unendliche Liebe des Erlösers öffnen kann.

Von Peter Dyckhoff

Manche Orte, die wir besucht haben, bleiben uns in lebendiger Erinnerung und wir spüren eine Sehnsucht, dorthin zurückzukehren. Wir sollten – wenn es eben möglich ist – dieser inneren Sehnsucht folgen und immer wieder an diesem Ort verweilen, an dem uns Leben, Kraft und Ruhe zuströmt. Im Laufe der Jahrhunderte haben viele Menschen sich an immer gleichen Orten versammelt und dort vor einem Heiligtum ihre Sorgen und Nöte vorgebracht, gebetet, gedankt, geweint oder gefleht. Sie empfingen Segen und sehr oft Erhörung und Heilung.

Ein Ort, der mich immer wieder anzieht, ist Würzburg. Bin ich in Würzburg, besuche ich die um 1060 erbaute Wallfahrtskirche, das Neumünster, ein doppelstöckiger Kirchenbau direkt neben dem Würzburger Dom. Unter dem Kirchenraum befindet sich die Kiliansgruft, die ab dem 15. Jahrhundert von vielen Gläubigen besucht wird, um den hl. Kilian zu ehren und zu ihm zu beten. Aber nicht dieses Heiligengrab ist es, das mich im Neumünster so besonders anzieht, sondern ein Kreuz, das im Kuppelraum der Oberkirche hängt. Schaut man zum ersten Mal auf Christus, der an diesem großen Kreuz hängt, beginnt man zu staunen und sich zu fragen, was es mit der sonderbaren Haltung des Gekreuzigten auf sich hat. Christus hat die Hände und Arme vom Kreuz genommen und hält sie wie zur Umarmung dem Betrachter entgegen – die Nägel, die ihn durchbohrten, noch in seinen Händen.

Jedes Mal, wenn ich dieses Kruzifix besuche – es stammt aus der Zeit um 1350 –, setze ich mich unter das Kreuz, schließe die Augen und bete lange das Ruhegebet. Oftmals höre ich zwischendurch – doch eher an der Oberfläche –, wie Besucher des Neumünster vorüberziehen, aus einem Kirchenführer vorlesen oder Belangloses reden, doch selten unter dem Kreuz stehen bleiben. Diejenigen, die einen Moment verweilen, fragen oft erstaunt: „Was ist denn das?“ Das habe ich mich früher, als ich das erste Mal diese Kirche besuchte, auch gefragt, bis ich über das Kreuz mehr erfuhr, vor allem aber seine mystische Bedeutung kennenlernte.

Eine alte Legende erzählt von einem besonderen Kreuz, an dem Jesus mit angenagelten Händen und Füßen hängt. Diesem Kreuz gegenüber zeigten die Gläubigen eine große Verehrung. Pilger beteten inständig und lange unter dem Kruzifix und spürten, dass heilende Kräfte und viel Segen vom leidenden Christus ausgehen. Da ihre Anliegen zum Teil erhört wurden und jeder, der vor dem Kreuz betete, viel Gnadenkraft empfing, um anstehende Probleme zu lösen, brachten sie aus Dank dem Gekreuzigten wertvolle Geschenke. Diese sogenannten Weihe- oder Votivgaben bestanden aus silbernem und goldenem Schmuck, aus Ketten mit kostbaren Anhängern, kunstvoll gefassten Edelsteinen, aus Broschen und Ringen. Das Kreuz und der Corpus waren übervoll damit behangen.

Eines Tages war unter den Wallfahrern auch ein Söldner mit schlechten Absichten. Als gegen Abend der Pilgerstrom abnahm, versteckte er sich im Dunkel der Kirche und ließ sich einschließen. In der Nacht, als er sicher war, allein zu sein, stieg er auf den Altar, über dem das Kreuz hing. Als er gerade im Begriff war, die Silber- und Goldbehänge von der Dornenkrone Jesu abzunehmen, lösten sich die angenagelten Hände des Gekreuzigten und Jesus umfing mit seinen Händen und Armen den Dieb – liebevoll umarmend.

So ist Gott. Bis zum Äußersten kommt er in seinem Sohn Jesus Christus auch dem verzeihend, versöhnend und liebend entgegen, der ihn berauben will. Die alles wandelnde Macht Gottes ist die Ohnmacht der sich verschenkenden Liebe. Wie die ersten Menschen im Paradiesgarten sich einfach das nahmen, was ihnen nicht zustand, so versucht auch der Söldner, die Votivgaben an sich zu reißen – regiert vom „Fürsten dieser Welt“. In diesem Augenblick umfängt ihn eine unendlich große Liebe, weitaus größer, als die der Dieb dem kostbaren Schmuck gegenüber zeigt. Sein Haben- und Besitzenwollen, das man wohl kaum mit dem Wort Liebe bezeichnen kann, obwohl Liebe vom Göttlichen bis zum Dinghaften reicht, wird als Erstes von Jesus Christus angenommen, der sich, um uns zu wandeln und zu retten, im Sterben und im Tod am Kreuz ganz für uns hingegeben hat.

Indem Jesus den Söldner liebend umfängt und ihn an sein Herz drückt, zeigt er uns die Wahrheit des Wortes, dass man nur etwas ändert, wenn man es annimmt. Am und im Herzen Jesu ist der Ort der Begegnung mit dem Himmel. Jesus nimmt den Dieb und seine alles beherrschende Liebe zum Geld ohne Vorbehalt liebend an. So wird der Dieb festgehalten von der absoluten, alles umfassenden Liebe Jesu und ist gefesselt von seiner unendlichen Barmherzigkeit. Die göttliche Wahrheit nimmt ein Menschenherz an, weil sie den Menschen in seiner Mitte, in seiner Ganzheit, erreichen möchte, um ihn für Gott wieder zu gewinnen. In der Gesinnung und im Herzen des Söldners findet Wandlung statt. Die überwältigende und wandelnde Liebe Gottes hat ihn ergriffen und ihm sein bisheriges, von dunklen Kräften bestimmtes Leben ins Bewusstsein gebracht. Spontan nimmt er Abstand von seinem Vorhaben und lässt sich fallen in die Liebe Gottes.

Oft überfordert uns das Leben und wir kommen mit dieser Welt nicht mehr zurecht – mit dem Leid, den Kriegen, Krankheiten und Ungerechtigkeiten. Wir blicken in Abgründe von Schuld und Bosheit der Menschen. Dies ist die eine Seite unseres Lebens. Doch gibt es noch eine andere, eine licht- und hoffnungsvollere, denn tief verborgen im Innersten der Welt und der Menschheitsgeschichte schlägt liebend das Herz Jesu für uns. Es ist bereit, Dunkles in Licht, Liebloses in Liebe, Böses in Gutes und Unheil in Heil zu verwandeln.

Im Betrachten des Würzburger Kreuzes wird deutlich, wie Gott in Jesus Christus aus dieser Welt entfernt wurde und immer wieder neu entfernt wird durch Ignoranz und Sünde – bis ans Kreuz, bis in den Tod am Kreuz. Doch Christus hat das Kreuz und den Tod überwunden und zieht als Auferstandener in der sich verschenkenden Liebe alle an sich. Durch sie ist Christus immer bei uns und bereit, uns in jeder Situation zu helfen. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen dem Christentum und allen anderen Religionen, in denen die Menschen in ihrer Bedrängnis und Not an die Macht eines entfernten Gottes verwiesen werden. Der Christ jedoch wird an die Ohnmacht der gekreuzigten Liebe verwiesen, an die Hingabe Gottes in der Gestalt Jesu Christi. Der Würzburger Christus macht uns auf ganz besondere und berührende Weise das Herabsteigen des Gottessohnes zu den Menschen deutlich: Jesus wird nicht nur Mensch, um uns zu zeigen, wie Gott ist, und um uns zu ihm zurückzuführen, sondern er entäußert sich auch aus Liebe zu den Menschen bis zum Äußersten, bis zum Tod am Kreuz. Das Würzburger Kruzifix geht – sichtbar für uns alle – einen wesentlichen Schritt weiter: Es zeigt den Herrn, noch am Kreuz hängend, der das Kreuz und den Tod überwunden hat. Davon sprechen seine geöffneten Augen und das überlange kostbare, golddurchwebte Lendentuch, besonders aber die vom Kreuzesbalken abgenommenen Arme, mit denen er jemanden liebevoll umschließt und an sein Herz drückt. Diese Umarmung gilt uns allen, einem jeden von uns, wenn wir bereit sind, uns von Gott in Jesus Christus berühren zu lassen.

Beim langen Betrachten des Würzburger Christus wird spürbar: Hinter all dem Leiden in der Welt, hinter dem Schweigen, Erdulden und mit sich Geschehen-Lassen steht eine unendliche Stärke des göttlichen Herzens. Nur diese Stärke, die aus der Liebe und der Hingabe kommt, ist in der Lage zu verwandeln und zu retten. Allein das uns liebevoll Entgegenkommen des Du Gottes kann uns über die Todesgrenze hinaus retten und uns wieder ins wahrhafte Leben führen. Nur das Leben, das sich aus Liebe für uns verzehrt und aufopfert, trägt uns durch alle Schicksale und durch den Tod in die für uns bestimmte Ewigkeit. Die hingebende Liebe Gottes, die bis in die tiefsten verschatteten Tiefen eines menschlichen Herzens geht, entreißt uns dem Abgrund. Diese Offenbarungswirklichkeit, die uns auf so wunderbare Weise der Würzburger Christus vermittelt, erschließt uns den Sinn für das Mysterium göttlichen Tuns.

Wie gehen wir mit der uns geschenkten Kraft der Liebe um? Liebe, die von einem anderen Menschen nicht erwidert wird, ist in dieser Welt etwas sehr Schlimmes und äußerst Schmerzhaftes. Ein Kind, das lieben und geliebt sein möchte, und das einfach unbeachtet stehen gelassen oder gar misshandelt oder missbraucht wird, zerreißt uns das Herz. Doch seine Liebe, die von Menschen nicht erwidert wird, schreit auf zu Gott und findet zu der Zeit, die Gott bestimmt hat, Erhörung und unendlich große Gegenliebe. Gott wird noch in Ewigkeit zu den Menschen sagen, die weder die menschliche noch die göttliche Liebe erwidert haben: „Seht, dieses Herz, das die Menschen so sehr geliebt hat.“

Jesus lässt nichts aus und hält nichts für sich zurück, wenn es um unsere Rettung aus Lüge, Verlorenheit und Verlassenheit geht und er uns hinüber holen möchte in die Wahrheit, das Leben und die Liebe. In der Feier des Geheimnisses von Tod und Auferstehung werden wir in das Mysterium hineingenommen und erfahren, wie die gekreuzigte und sich verschenkende Liebe Jesu Christi uns jeglichem Abgrund und jeglicher Sünde entreißt.

Folgen wir der Weisung Jesu Christi, der unser Weg, die Wahrheit und das Leben ist, und üben wir uns in der Hingabe an ihn – vornehmlich im Gebet –, werden wir eine Wandlung zu dem erfahren, wie Gott uns von Natur aus gedacht und gemacht hat.

Aus dieser zutiefst inneren Erfahrung der Hingabe entsteht lebendiger Glaube an die Existenz eines liebenden Gottes und die Auferstehung seines eingeborenen Sohnes von den Toten. Hinter all dem Schweren, das mir vielleicht begegnet ist oder das ich augenblicklich zu tragen habe, leuchtet die Gewissheit auf, dass Gott mich aus Liebe ins Leben gerufen und etwas unendlich Liebevolles mit mir vor hat. Er hat mir die Sehnsucht nach ewigem Leben eingepflanzt und verleiht mir die Kraft, nicht nur das Böse zu überwinden, sondern auch den Tod anzunehmen, um ihn durch, in und mit Christus zu besiegen. Wer ich auch bin und was immer ich auch getan habe: Gott verweigert mir die Erfüllung dieser Sehnsucht nicht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Umarmung Christi, fe-Verlag 2021, HC, Fotos und Leseband, 128 S., ISBN 978-3-86357-300-3, Euro 12,00, Tel. 07563 608 998 0, E-Mail: info@fe-medien.de – Website: www.fe-medien.de

„Kirche in Not“ steht christlicher Minderheit bei

Zehn Jahre Krieg in Syrien: Das Martyrium geht weiter

Der Krieg in Syrien ist eine der größten humanitären Katastrophen der Gegenwart. Er dauert jetzt über zehn Jahre an. Seitdem sind laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte knapp 400.000 Menschen ums Leben gekommen. Fast 12 Millionen Menschen wurden vertrieben. Mehr als 13 Millionen Menschen in Syrien sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Besonders tragisch: Rund eine Million Kinder wurden durch den Krieg zu Vollwaisen.

Von Tobias Lehner

Die syrischen Christen hat der Krieg mit am härtesten getroffen. Von den rund 1,5 Millionen Christen, die vor dem Krieg im Land lebten, ist nur noch ein Drittel übrig. Sie haben keine politischen Fürsprecher. Der Terror des „Islamischen Staates“ hat sie mit unbarmherziger Grausamkeit getroffen. Auch nach militärischen Erfolgen gegen den IS bestimmen Elend, Armut und Gefahr das Leben der Christen und ihrer Nachbarn. Die Sanktionen des Westens machen alles noch schlimmer, erklären langjährige Projektpartner dem weltweiten päpstlichen Hilfswerk „Kirche in Not“ (ACN).

„Menschen sind dem Hungertod nahe“

Was die Sanktionen konkret bedeuten, schildert Schwester Lucia Ferreira aus Qarah nahe der Grenze zum Libanon: „Alles wird teurer. Die Menschen sind kurz vor dem Hungertod, einige sind bereits gestorben.“ Ein großes Problem sei die Rohstoffknappheit: „Die Leute stehen Schlange, um Benzin oder Heizöl zu kaufen und gehen oft leer aus.“ Auch die Stromversorgung sei nach wie vor stark eingeschränkt, so Sr. Lucia. „Manchmal haben wir zwölf Stunden lang keinen Strom – und wenn er kommt, dann oft nur für eine halbe Stunde.“

Schon alltägliche Dinge wie Lebensmittel und Medikamente sind schwer zu bekommen oder unerschwinglich. Noch schwieriger seien größere Investitionen, zum Beispiel Renovierungen zerstörter Häuser oder der Wiederaufbau von Betrieben. Die Menschen hätten keine Möglichkeit, Kredite aufzunehmen, erklärt der melkitische griechisch-katholische Erzbischof von Aleppo, Jean-Clement Jeanbart: „Die Sanktionen haben keine andere Folge, als die Menschen weiter in Leid und Elend zu stürzen.“ Ihr eigentliches Ziel hätten die Sanktion verfehlt: „Sie werden weiterhin keine Auswirkungen auf die Regierung haben. Sie ist von den Folgen wenig betroffen.“

„Kirche in Not“ fordert Lockerungen der Sanktionen

Kirche in Not erlebt tagtäglich, wie die Sanktionen die Hilfe für Syrien erschweren. Deshalb tritt das Hilfswerk für Erleichterungen ein. „Obwohl die Sanktionen Ausnahmen bei der Geldüberweisung für humanitäre Hilfe vorsehen, funktioniert das einfach nicht“, erklärt der Geschäftsführende Präsident von Kirche in Not (ACN) International, Dr. Thomas Heine-Geldern.

Die Frage der Geldüberweisung sei zentral, weil viele Hilfsorganisationen nicht die logistischen Kapazitäten hätten, Hilfsgüter direkt nach Syrien zu bringen, so Heine-Geldern. „Deshalb senden wir Geld, damit unsere Partner Lebensmittel, medizinische Güter und Kleidung vor Ort kaufen können.“

Auch die Einfuhr humanitärer Güter sei extrem schwierig, schildert der Präsident von Kirche in Not: „Unsere Partner sehen sich oft unüberwindbaren, mehrsprachigen Verfahren ausgesetzt, um eine Genehmigung zu bekommen.“ Besonders schwierig sei die Einfuhr von Gütern, die auch für andere als für humanitäre Zwecke eingesetzt werden könnten. Aufgrund einer sehr weiten Auslegung der Bestimmungen falle selbst dringend benötigtes Milchpulver für unterernährte Babys und Kinder in diese Kategorie, erklärt Heine-Geldern.

„Es ist unsere Pflicht, der leidenden Zivilbevölkerung in Syrien zu helfen. In ihrem Namen bitte ich die Vereinigten Staaten und die EU, den bestehenden internationalen Rechtsrahmen umzusetzen, der humanitäre Ausnahmen von dem Embargo zulässt“, fordert der Kirche-in-Not-Präsident. Die jüngste Geberkonferenz für Syrien Ende März hat zwar weitere dringend benötigte humanitäre Hilfen auf den Weg gebracht, am Sanktionsregime aber nichts gelockert. Ein struktureller Wiederaufbau bleibt dadurch ausgebremst.

1000 Hilfsprojekte für Syriens Christen

Doch die Hilfen von Kirche in Not für die christliche Minderheit in Syrien gehen trotz aller Schwierigkeiten weiter. In den vergangenen zehn Jahren hat Kirche in Not dank der Großherzigkeit der Wohltäter fast 42 Millionen Euro in knapp 1000 Projekte in Syrien investieren können.

Bei diesen humanitären und pastoralen Projekten arbeitet das Hilfswerk Hand in Hand mit den lokalen katholischen und orthodoxen Kirchen, die vielfach Anlaufstellen für die notleidende Bevölkerung sind. Der größte Teil der Hilfen von Kirche in Not floss in Projekte wie zum Beispiel Lebensmittelpakete, Medikamentenhilfen, Kleiderausgaben, Hygienekits oder Zuschüsse für Heizung- und Stromkosten.

Eines der wichtigsten Projekte von Kirche in Not in Syrien ist die Aktion „Ein Tropfen Milch“ in Aleppo. Mehr als 3000 Kinder von der Geburt bis zum Alter von zehn Jahren werden dabei mit lebensnotwendigem Milchpulver versorgt. Ähnliche Projekte gibt es auch in Tartus und Homs.

Aufgrund des Krieges sind nach wie vor ein Drittel der syrischen Schulen geschlossen. Hinzu kommt, dass viele Eltern ihre Kinder nicht in den Unterricht schicken können, weil ihnen die Mittel für Schulgebühren oder Transportkosten fehlen. Deshalb finanziert Kirche in Not Stipendien für christliche Schüler und Studenten. Im Schuljahr 2019/20 konnten dadurch fast 7500 Schüler und Studenten aus Aleppo ihre Ausbildung fortsetzen; in Damaskus hat Kirche in Not für das laufende Studienjahr 550 Stipendien bewilligt.

Auch die Corona-Krise hat Syrien nicht verschont und die humanitäre Situation weiter verschärft. Deshalb hat Kirche in Not Nothilfen für über 23.000 Familien bereitgestellt, die aufgrund der Einschränkungen und der fehlenden sozialen Absicherung ihre Lebensgrundlage verloren haben.

Den Wiederaufbau kriegszerstörter Schulen, Gemeindezenten, Kirchen und Klöster hat Kirche in Not bislang mit fast vier Millionen Euro unterstützt. Zu den größten Projekten gehörten die Instandsetzung der melkitischen griechisch-katholischen Kathedrale „Maria Königin des Friedens“ in Homs und der maronitischen St.-Elias-Kathedrale in Aleppo, die im Frühjahr 2020 eingeweiht werden konnte.

Außerdem hat Kirche in Not die Renovierung von über 1000 Wohnhäusern finanziert. In Städten wie Homs, Aleppo oder der mehrheitlich von Christen bewohnten Ortschaft Maalula nordöstlich von Damaskus konnten zahlreiche Familien so in ihre Heimat zurückkehren.

Auch geistliche Nähe gezeigt

Neben der humanitären Hilfe war die Förderung der Seelsorge der zweite Schwerpunkt der Hilfe von Kirche in Not in Syrien. Insgesamt 182 Projekte wurden in dem Bereich unterstützt, so zum Beispiel kirchliche Sommercamps für traumatisierte Jugendliche und Familien. Auch Mess-Stipendien für den Lebensunterhalt von Priestern, Zuschüsse für die Aus- und Weiterbildung von kirchlichen Mitarbeitern oder seelsorgerische Angebote über die Medien hat Kirche in Not finanziert.

Die größte geistliche Aktion war die ökumenische Gebetskampagne „Tröstet mein Volk“ mit speziellen Gottesdiensten für Menschen in Trauer.

Zu diesem Anlass hatte Papst Franziskus im Sommer 2019 die Ikone „Unsere Liebe Frau von den Schmerzen, Trösterin der Syrer“ gesegnet. Diese zog anschließend durch 34 syrische Diözesen. Der Papst hatte die Aktion von Kirche in Not beim sonntäglichen Angelus auf dem Petersplatz gewürdigt und zum Gebet für Syrien aufgerufen. Gebet und Hilfe können Syriens Christen bitter brauchen: Ihr Martyrium geht auch nach zehn Jahren Krieg weiter.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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