Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

„Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben“ (Mt 5,14). Mit diesen Worten gibt uns Jesus in der Bergpredigt den Auftrag, Zeugnis für das Evangelium abzulegen. Es ist ein Licht, das Gott in die Welt gebracht hat, eine Botschaft, die alles irdische Erkennen übersteigt.

Und darin besteht die prophetische Sendung der Kirche. Sie spricht von Gott, sie hat das Wort des Lebens zu überbringen, das sich nicht Menschen ausgedacht haben, sondern das von oben kommt, sie hat das Leben und die Geschichte im Licht der Ewigkeit zu deuten.

Als Theodor Haecker (1879-1945) die Schriften des hl. John Henry Kardinal Newman (1801-1890) entdeckte und begann, sie ins Deutsche zu übertragen, schrieb er in einem Nachwort: „Und mit solchen Lehrern kann es, wenn Gott es also gefällt, geschehen, daß Nebelwolken, die über die Sonne gezogen sind, zerreißen, und sie da steht im Morgenglanz des ewigen Lichtes: die Stadt auf dem Berg, die alle sehen müssen.“ Unter dem Einfluss Newmans ist Haecker selbst zur katholischen Kirche konvertiert und hat die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ entscheidend inspiriert. Ohne Newman und Haecker wären die von ihr verfassten Flugblätter nicht denkbar gewesen. Wir dürfen eine durchgehende Linie erkennen, aber auch eine Reihe eindrucksvoller Beispiele, wie Christen ihre prophetische Berufung verwirklicht haben.

Das Titelbild zeigt den 52. Eucharistischen Weltkongress in Budapest, der vom 5. bis 12. September 2021 mit Gästen aus 74 Ländern stattgefunden hat. Er verwandelte die ungarische Hauptstadt tatsächlich in eine „Stadt auf dem Berg“. Wegen Corona um ein Jahr verschoben war bei der Veranstaltung von der Pandemie nicht mehr viel zu spüren. Die Zahl von über 100.000 Teilnehmern am Abschlussgottesdienst mit Papst Franziskus überraschte die Beobachter aus aller Welt. Zum prophetischen Zeugnis aber wurde der Kongress nicht durch die überall geführten Diskussionen über Migrationspolitik, sondern durch das Bekenntnis zur Gegenwart des allmächtigen Gottes unter der Gestalt des gebrochenen Brotes. Hier erkennen wir, wer Gott ist, so der Papst in seiner Predigt. Die „Logik Gottes“ sei die der „demütigen Liebe“. Es war übrigens das zweite Mal, dass der Kongress in Ungarn stattgefunden hat. 1938 hatte Hitler bezeichnenderweise den deutschen Katholiken die Teilnahme verboten.

Nicht nur in Ungarn erinnerte Papst Franziskus ausdrücklich an die prophetische Sendung der Christen, sondern auch in seinem „Brief an das pilgernde Gottesvolk in Deutschland“ vom 29. Juni 2019. Der Papst unterstrich, dass die Kirche „ihre Originalität und ihre prophetische Sendung verliere“, wenn sie sich „an den Zeitgeist anpasse“. Daran knüpfte Rainer Maria Kardinal Woelki in seinem Wort über den sog. „Pastoralen Zukunftsweg“ an.

Eine bewegende Entdeckung stellt die Marienerscheinung 1685 im russischen Obwinsk dar. Sie ist von der Russisch-Orthodoxen Kirche offiziell anerkannt und in ihren Parallelen zu den Erscheinungen der Gottesmutter in der katholischen Kirche eine echte Sensation. Obwohl sie schon über 300 Jahre zurückliegt, hat sie gerade in Zeiten von Klimawandel und Corona-Pandemie eine besondere Aktualität. Die dortige Botschaft ist vielgestaltig, doch sollte sie uns zu denken geben, ob wir als Kirche angesichts der heutigen Probleme unsere prophetische Sendung erfüllen, wenn wir die Themen Sünde und Umkehr ausklammern.

Liebe Leser, in Ungarn rief der Papst die Kirche auf, „Baumeister der Hoffnung“ zu sein. Dazu wünschen wir Ihnen auf die Fürsprache der Königin des hl. Rosenkranzes Gottes reichen Segen. Für Ihre Spenden, ohne die wir unser Apostolat nicht weiterführen könnten, sagen wir Ihnen ein aufrichtiges Vergelt’s Gott!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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Die Verkündigung der Kirche darf sich nicht am Mainstream orientieren

Auftrag zum furchtlosen Bekenntnis

Die Kirche kann ihre prophetische Sendung nur erfüllen, wenn sie an der geoffenbarten Wahrheit festhält und die Botschaft Gottes furchtlos bezeugt. Das betont der Pastoraltheologe Prof. Dr. Ludwig Mödl (geb. 1938) in einer neuen Publikation mit dem Titel „KATHOLISCH aus Überzeugung. Reformen in der Kirche unter einem neuen Leitbild“.[1] Dabei stellt er fest: „Nicht Menschen haben den Glauben erfunden, sondern die wesentlichen Inhalte sind geoffenbart worden.“ Denn der Ewige habe in die Geschichte eingegriffen. Und deshalb gehöre „zur Gemeinschaft aller Glaubenden das gemeinsame Bekennen all dessen, was in der Glaubenstradition erkannt wurde und was somit die Glaubenswahrheiten ausmacht.“ In Deutschland scheine sich die katholische Kirche in manchen Bereichen selbst zu säkularisieren. Damit aber verhindere sie eine echte Reform. Wir müssten uns fragen, „ob wir uns in unseren Reformversuchen der letzten Jahrzehnte vielleicht doch allzu sehr von der Säkularisierungsthese beeinflussen ließen und so manches falsch einschätzten, sodass einige der eingeschlagenen Strategien nicht zielführend sein konnten“. Nachfolgend Auszüge aus dem Kapitel „Unsere Religion ist Bekenntnis“ (S. 95-106).

Von Ludwig Mödl

Das Erste und Wichtigste für alle, die anderen zum Glauben verhelfen oder sie im Glauben stützen wollen, heißt: „Verkünden!“ Bekannt machen mit dem, was erkannt wurde und was Offenbarung ist. So sagt das letzte Konzil zu dem, der offiziell als Repräsentant des Glaubens eingesetzt ist: Deine wichtigste Aufgabe ist es, allen die Frohe Botschaft zu verkünden (vgl. Dekret PRESBYTERORUM ORDINIS über Dienst und Leben der Priester, 4).

In Mt 10,16-42 will Jesus seinen Aposteln ein paar Grundsätze mitgeben, die nicht als Detailanweisungen, sondern als fundamentale Aussagen über die Verkündigung und die Verkünder zu deuten sind.

1. Wirken in der Öffentlichkeit

Zunächst mag uns das Wort Jesu vom Schwert und von den gegenseitigen Verfolgungen irritieren: Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). An anderer Stelle sagt er doch: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht, wie die Welt ihn gibt, gebe ich ihn euch (Joh 14,27). Die Jünger müssen also mit Ablehnung rechnen, sogar in der eigenen Familie. Und diese Ablehnung kann so stark sein, dass jemand sie, die Verkünder, und ihre Botschaft vernichten möchte. Denn die Botschaft ist für die Öffentlichkeit bestimmt, will also nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben prägen und damit auch die Verhältnisse beeinflussen. Hier aber gibt es Positionen und Interessen, welche durch die Botschaft infrage gestellt werden können. Es wird also Konflikte geben. Doch dort, wo ihnen, den Verkündern, Widerstand entgegengebracht wird, sollen sie sich nicht aufhalten lassen, sondern weiterziehen. Ohne Angst sollen sie auf den göttlichen Geist vertrauen. Er wird ihnen eingeben, was sie reden sollen. Auch sollen sie wissen: Die Wahrheit kommt allemal an den Tag. Diese Wahrheit ist jedoch nicht eingebettet in eine konfliktfreie Harmonie, die keine Auseinandersetzungen kennt – im Gegenteil. Schon das Leben Jesu zeigt, wie konfliktreich die neue Botschaft vom Himmelreich sein kann. Das ist die erste Aussage, die Jesus bei der ersten Aussendung kundgibt: Ihr betretet ein konfliktreiches Feld. Seid ohne Angst und vertraut auf die Hilfe von oben.

2. Die Verkündigung greift ins Persönliche

Eine zweite Aussage soll die Verkünder ebenfalls vor falschen Erwartungen warnen. Es klingt wiederum provokativ, wenn Jesus sagt: Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert (Mt 10,37).

Wie ist dieses irritierende Wort Jesu zu verstehen? Und was sagt es über die Verkündigung aus? Die Liebe der Eltern zu den Kindern und der Kinder zu den Eltern ist von Natur aus die Basis für alle Kontakte und damit für jedes Liebenkönnen. Für ein Kind sind im Normalfall Vater und Mutter die wichtigsten Menschen, und es herrscht eine innige Beziehung zwischen Eltern und Kind und zwischen Kind und Eltern. Will Jesus diese Beziehung mindern? Ich denke nicht. Vielmehr setzt Jesus voraus, dass diese Beziehung besteht und bestehen bleibt und für jeden Menschen etwas vom Wichtigsten im Leben ist – und sein muss. Aber dann fügt er hinzu: Noch wichtiger ist die Liebe und das Interesse für den Bereich des Göttlichen, das mit ihm selbst in die Welt gekommen ist. Im Konfliktfall ist diese religiöse Haltung noch wichtiger als die so wichtige irdische Gegebenheit. Warum ist das so?

Die Basis jeder menschlichen Liebe und damit auch der Elternliebe sowie der Kindesliebe ist die göttliche Liebe, denn von ihm, dem Ewigen, sind wir Menschen geschaffen. Er hat uns die Fähigkeit zu lieben gegeben und er hat uns zudem seine Liebe angeboten. Deshalb ist die Sorge um die göttliche Liebe noch wichtiger als die so wichtige Liebe zu den Allernächsten, denn sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir Menschen überhaupt lieben können. So belehrt Jesus die Verkünder: Seid euch bewusst, dass eure Botschaft grundlegend bedeutend ist – auch für euren persönlichen Lebensbereich. Es geht in der Religion um Beziehung, und zwar um die wichtigste Beziehung, die es überhaupt gibt, die Beziehung zum Ewigen. Und die ist wiederum geprägt von dem, was er nachfolgend sagt.

3. Das Kreuz steht im Zentrum der Verkündigung

Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert. Wer das Leben findet, wird es verlieren, wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden (Mt 10,38).

Das Wort vom Kreuz und jenes vom Lebensgewinn stehen nicht zufällig nebeneinander: Das Kreuz, das tägliche, sollen sie, die Verkünder (und wohl gleichermaßen ihre Hörer), tragen. Sie sollen nicht nach dem Leben gieren. Was kann das heißen? Das Kreuz steht als Synonym für alles Beschwerliche. Für gewöhnlich neigt ein Mensch dazu, die Negativseiten des Lebens so weit wie möglich zu meiden. Nicht selten erachtet er Zeiten, in denen er krank ist oder leiden muss oder wenn Konflikte ihn blockieren, als verlorene Zeiten. Dies alles sollte es eigentlich nicht geben! Dagegen ist wohl jeder dazu geneigt, nach dem vollen Leben zu greifen, möglicherweise danach zu gieren (immer noch mehr zu gewinnen). Und das kann heißen: Der eine strebt nach mehr Besitz – und bekommt nicht genug –, der andere sucht noch mehr Lust und Spaß – und hetzt von Event zu Event –, um dennoch im Letzten unbefriedigt zu sein. Ein Dritter sucht seine Macht zu erweitern und greift nach immer mehr Posten und Wirkmöglichkeiten. Wer so denkt, hängt krampfhaft am Erfolg und am Irdischen. Im Ansatz sind solche Bestrebungen zwar nicht schlecht, aber in der Fixierung auf „immer mehr“ führen sie in einen Abgrund. Denn leicht erliegt derjenige, der so denkt, der Gefahr, nur die positiv besetzten Bereiche als wirkliches Leben gelten zu lassen. Leid und Kreuz oder sonst Beschwerliches gelten ihm als Unwerte, die es eigentlich nicht geben sollte. Es erscheint ihm wie ein verlorenes Leben. Jesus dagegen sagt ihm: „Du hängst einer Illusion nach, denn irgendwann wird dir all das, was du als ,echtes Leben‘ erachtest, genommen. Dann hast du gar nichts mehr, ja du hast einen großen Teil deines Lebens verpasst, wenn du negative Erfahrungen und Zeiten, die auch dir nicht erspart bleiben, für verlorene Zeiten hältst, sie also als ein eigentliches ,Nicht-Leben‘ erachtest. Nimmst du sie hingegen an, dann hast du die Chance, dass auch sie zu einem wertvollen Teil deiner Biografie werden können. Dann sind Zeiten, in denen du ein Kreuz tragen musst, keine verlorenen Zeiten. Auch ein Leben unter dem Kreuz ist echtes Leben, ja kann eine erfüllte Zeit werden, wenn du eine solche ,Brachzeit‘ oder ,Leidenszeit‘ als Chance siehst, innerlich zu reifen oder den Kontakt zum Ewigen hin zu intensivieren.“ Jesus hat dies konkret werden lassen. Er hat die negativen Seiten seines Wirkens und vor allem sein Leiden am Ende seines Lebens, auch sein Sterben, aktiv gestaltet und es sogar zum Höhepunkt seines Lebens werden lassen, indem er alles in enger Verbindung mit dem Vater-Gott gelebt hat. Für ihn waren das alles Zeichen von Liebe und Hingabe. Leiden aus Liebe, sterben aus Liebe! Das ist intensivstes Leben. Uns Menschen hat er dabei eingeschlossen, indem er stellvertretend für uns gelitten hat und gestorben ist. Das drücken wir in dem Gebetssatz aus: „Durch dein Leiden und Sterben hast du die Welt erlöst.“

Das ist das Dritte, was Jesus denen gesagt hat, die er aussandte. Nehmt auch die negativen Situationen des Lebens ernst – sowie die möglichen schlechten Erfahrungen, die ihr jetzt als Verkünder machen werdet. Verkündet allen Menschen: Auch die Schattenseiten des Lebens sind wertvoll, denn sie künden von einem (nicht sichtbaren) Licht.

4. Der Lohn bleibt Geschenk

Als Viertes spricht Jesus die Frage nach dem Lohn an. In der Welt erhält normalerweise jeder den Lohn, der für eine bestimmte Leistung vorgesehen ist. Hier muss immer das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmen. Vor Gott gilt ein anderer Maßstab. Da kann die kleinste Leistung, die mit Blick auf Gott oder seinen Gesandten getan wird, die größte Wirkung haben, wie der Satz ausdrückt: Und wer einem von diesen Kleinen auch nur einen Becher frisches Wasser zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist – Amen, ich sage euch: Er wird gewiss nicht um seinen Lohn kommen (Mt 10,42). Diesen Lohn bestimmt nicht das Maß der Leistung, sondern das Maß der Liebe. Gott schenkt überreich nicht nur demjenigen, der Leistung vorweisen kann, sondern allen. Er schenkt aus grenzenlosem Erbarmen, sodass jeder, der eine tiefere Einsicht gewinnt, erkennt: Alles ist Gnade. Selbst die eigene Leistung ist nur möglich, weil die Fähigkeiten, etwas zu schaffen, Geschenk sind. Entscheidend bei allem ist die Liebe. Das ist das Vierte, was Jesus den Jüngern zu vermitteln suchte, ehe er sie auf den Weg schickte. Seid euch dessen bewusst und sagt es denen, die euch aufnehmen und beherbergen: Nicht die Leistung bestimmt den Lohn, sondern die Liebe, mit der sie erbracht wird.

Vier Hinweise gibt Jesus den Verkündern: Die Botschaft ist ernst und nicht konfliktfrei, sie greift tief ins persönliche Leben ein, gibt auch den Schattenseiten des Lebens einen Sinn. Es wird nicht nach Leistung, sondern nach dem Maß der Liebe zu Gott belohnt. Wie ist dies in unserem heutigen Kontext zu verstehen?

5. Heutige Situation des Verkündens

Diese Botschaften sind nicht harmlos. In unserer Gesellschaft gelten andere Leitlinien. Die Frage nach Gott wird ins Private gedrängt. Sie soll in der Gesellschaft und vor allem im Nachdenken über die Lebensgestaltung möglichst keine Rolle spielen. Die Gesellschaft muss funktionieren ohne den Blick auf Gott – „als ob es Gott nicht gäbe“. Der Mensch ist das Ziel und sein irdisches Glück soll ihm garantiert werden. Das sei genug! Worin dieses Glück aber besteht, das bestimmt er selbst. Was ein Mensch liebt und wen er liebt, ist ausschließlich seine Sache. Viele möchten dann die Religion als einen harmonisch-konfliktfreien Raum definieren. Jesus sieht es in den beiden ersten Anweisungen anders: Der Raum ist nicht konfliktfrei und der Verkünder ist persönlich in die Konflikte mit einbezogen. Auch die dritte eben angesprochene Leitlinie Jesu wird in unserer Gesellschaft anders gesehen: Leid und Kreuz sind zu minimieren. Jeder hat ein Recht darauf, möglichst wenig leiden zu müssen, denn Leid gilt als sinnlos. Leid ist zurückzudrängen, der Tod ist am besten zu vergessen und zu überspielen. Über Leidvolles wird der Mensch hinweggehoben – durch Unterhaltung, Aktivitäten und Spaß. Rund um die Uhr unterhalten zu werden, lässt Leiden und den Tod vergessen. Die leidvolle Realität aber kann liebend und hingebend gemeistert werden, wie wir an Jesus sehen.

Die vierte Leitlinie Jesu für die Verkünder, die Frage nach dem Lohn, gilt in unserer Gesellschaft ebenfalls anders. Bezahlt wird nach Leistung, nach geschicktem Verhandeln oder nach erworbenen Rechten. Geschenkt bekommt man nichts, außer das Geschenk bringt irgendjemand einen Gewinn. Gewinnmaximierung ist das Leitmotiv allen Wirtschaftens. Es gibt keine Gnade, schon gar kein Erbarmen. Jeder hat das Recht, von den anderen etwas zu erhalten – bei klar umgrenzten Pflichten. Leistung zählt und die Menschenrechte, die ein Mensch beanspruchen kann, zählen.

Diese zugegebenermaßen pauschal skizzierten Leitideen der gegenwärtigen Gesellschaft zeigen, wie weit sich unser öffentliches Leben von den christlichen Werten entfernt hat. Der Glaube an diese „kapitalistische Welt“ hat viele erfasst. Es ist ein Glaube, der dem Geld eine alles regulierende Rolle zuspricht und die Liebe des Einzelnen auf sich selbst und sein persönliches Umfeld zurückwirft. Dieser Aberglaube scheint auch in manche Räume der Kirche eingedrungen zu sein.

Wo Gott keine Rolle mehr spielt, wo Leid und Tod verdrängt werden und wo im Letzten alles an der Leistung und am Geld gemessen wird, da wird über kurz oder lang der Mensch zum Opfer seiner Wünsche und Begierden. Das ist die Gefahr in unserer Welt. Der christliche Glaube bietet hier eine Alternative. Der Christ richtet sich nach dem Absoluten aus – und lenkt sein inneres Streben auf den Ewigen. Er sucht in Leid und Tod einen Sinn zu finden und sie mit Blick auf den Ewigen zu meistern. Er weiß: Das Entscheidende kann ich mir niemals selbst verdienen, da ich im Letzten mit allem beschenkt bin. Diese Leitlinien Jesu können uns retten vor einer Leere, vor dem Nichts, auf das – wie ich fürchte – unsere kapitalistische Welt zusteuert.

Jesu Leitgedanken sollten die Apostel motivieren, zu den Leuten zu gehen und ihnen Jesu Botschaft und sein Kommen zu verkünden. Sie sollen auch uns motivieren, dies zu verkünden, denn wir bringen eine Botschaft, die den Kapitalismus überlebt, da sie ihn als Illusion entlarvt und im Inneren längst überwunden haben sollte. Antikapitalistisch muss unsere Verkündigung sein! Ohne Angst, auch wenn uns manche deswegen an den Rand drängen wollen. Wer an Christus glaubt, der darf überzeugt sein: Jenen gehört die Zukunft, die Jesu Wort ernst nehmen und mit Überzeugung weitergeben: Sucht aber zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben (Mt 6,33).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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[1] Ludwig Mödl: Katholisch aus Überzeugung, Media Maria 2021, geb., 176 S., Euro 16,95 (D), Euro 17,50 (A), ISBN 978-3-9479313-5-4, Bestell-Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; E-Mail: buch @media-maria.de; www.media-maria.de

Konkrete Schritte auf einem „Pastoralen Zukunftsweg“

In der Freude des Evangeliums

Seinen Hirtenbrief zur Fastenzeit 2020 stellte der Erzbischof von Köln, Rainer Maria Kardinal Woelki, unter das Thema „Die Freude am Evangelium wiedergewinnen“ und knüpfte damit an ein Wort von Papst Franziskus an. Bereits fünf Jahre zuvor hatte er einen „Pastoralen Zukunftsweg“ vorgestellt, mit dem er den großen Herausforderungen der Gegenwart begegnen möchte. In seinem Ansatz fühlte er sich durch den „Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ von Papst Franziskus sehr bestärkt und legte konkrete Schritte vor, die zur Erneuerung des kirchlichen Lebens führen sollen. Es gehe ihm um die „Originalität“ und die „prophetische Sendung“ der Kirche, an die uns Papst Franziskus in seinem Brief erinnert habe. Auszüge aus dem Hirtenbrief.

Von Rainer Maria Kardinal Woelki  

Mich berührt es tief, wie sehr Papst Franziskus an unserer Situation in Deutschland Anteil nimmt. In seinem „Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ vom Juni 2019 zeigt er sich ebenso kenntnisreich wie dankbar verbunden mit uns Katholiken in Deutschland.[1]

Primat der Evangelisierung

In dieser Situation legt er uns die „Evangelisierung“ als die „eigentliche und wesentliche Sendung der Kirche“ ans Herz, als „Leitkriterium, unter dem wir alle Schritte erkennen können, die wir als kirchliche Gemeinschaft in Gang zu setzen gerufen sind“.[2]

Auf die Traditionsabbrüche, die Herausforderungen und Fragen, die für den Glauben, das Leben und die Sendung der Kirche heute wesentlich erscheinen, antwortet der Heilige Vater mit Evangelisierung. Denn Evangelisierung bedeute – so der Papst:

• einen „Weg der Jüngerschaft“ zu gehen „in Antwort auf die Liebe zu Dem, der uns zuerst geliebt hat (vgl. 1 Joh 4,19)“;

• einen „Weg, der einen Glauben ermöglicht, der mit Freude gelebt, erfahren, gefeiert und bezeugt wird“;

• einen Weg, der „uns dazu führt, die Freude am Evangelium wiederzugewinnen, die Freude, Christen zu sein“.[3]

Und „deshalb“, so der Heilige Vater weiter, „muss unser Hauptaugenmerk sein, wie wir diese Freude mitteilen: indem wir uns öffnen und hinausgehen, um unseren Brüdern und Schwestern zu begegnen“ […] und „um mit dem Geist Christi alle Wirklichkeiten dieser Erde zu salben“.[4]

Selbstevangelisierung und Blick nach vorn

Der Heilige Vater gibt uns zwei grundlegend wichtige Hinweise, um „die Zukunft“ – trotz allem – „mit Vertrauen und Hoffnung in den Blick zu nehmen“.[5] Es sind für ihn so etwas wie die Kennzeichen einer glaubwürdigen und authentischen Kirche: die Selbstevangelisierung und der Blick nach vorn. Er schreibt:

„Die Kirche (…) beginnt damit, sich selbst zu evangelisieren. Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und gepredigter Hoffnung (…) muss die Kirche unablässig selbst vernehmen, was sie glauben muss, welches die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot der Liebe ist“. Nicht als „Taktik kirchlicher Neupositionierung“, sondern als ein Weg, „der einen Glauben ermöglicht, der mit Freude gelebt, erfahren, gefeiert und bezeugt wird“. Das geht nicht rückwärtsgewandt. Entsprechend bedeutet für den Papst „Evangelisierung nicht den Versuch, Gewohnheiten und Praktiken zurückzugewinnen, die in anderen kulturellen Zusammenhängen einen Sinn ergaben“. Ihm geht es um die „Originalität“ und die „prophetische Sendung“ der Kirche im Hier und Heute – „besonders an den Schwellen unserer Kirchentüren, auf den Straßen, in den Gefängnissen, in den Krankenhäusern, auf den Plätzen und in den Städten“.[6] Überall „muss unser Hauptaugenmerk sein“, so Papst Franziskus, „die Freude am Evangelium wiederzugewinnen“ und „diese Freude mitzuteilen“.[7] Denn da-für sind wir als Kirche da: „zur Evangelisierung und zum Zeugnis“.[8]

Konkrete Schritte auf dem Pastoralen Zukunftsweg

Anknüpfend an diese Gedanken des Heiligen Vaters möchte ich meine Einladung zu unserem Pastoralen Zukunftsweg als geistlichem Weg der Kirchenentwicklung bekräftigen und erneuern. Die „Freude am Evangelium“ ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss erfahren werden können. Aus ganzen Herzen bitte ich Sie, dass wir dafür in unseren Gemeinden, den Institutionen und an den vielen Orten des kirchlichen Lebens in unserem Bistum folgende Punkte – weiterhin oder neu – stark machen:

• die gemeinsame Gottsuche „in allem“;

• die Heilige Schrift als „lebendige Botschaft“ in unserer Mitte;

• die Christusfreundschaft als Mitte und Ziel unseres Miteinander-unterwegs-Seins;

• eine erneuerte, verlebendigte, geistlich vertiefte Feier der Eucharistie, zu der Menschen jeden Alters gern kommen;

• eine Wiederentdeckung der Anbetung des Allerheiligsten Sakramentes, der wir neu Raum, Zeit und Gestaltung geben;

• ein lebendiges Taufbewusstsein, das in die Jüngerschaft des Herrn und zum Wachstum im Glauben (Katechese) führt;

• eine breite Willkommenskultur innerhalb und außerhalb unserer Kircheninnenräume;

• ein erneuertes Miteinander und Aufeinander-Zu von Weihepriestertum, Pastoralen Diensten, Hauptberuflichen und Engagierten in der Vielfalt unserer kirchlichen Einrichtungen;

• eine aktive Einbindung möglichst vieler Getaufter an der Sendung der Kirche;

• eine dienende und ermutigende Leitungskultur auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens und die Erprobung von auf Zeit übertragener Verantwortung in Gemeinden an ein Team getaufter und gefirmter Christinnen und Christen;

• eine lebendige Verbindung von Glauben und Leben heute, von Liturgie und Begegnung untereinander, von Beten und Handeln;

• die praktische Solidarität mit der ganzen Menschheit nah oder fern, v.a. mit den Armen und Bedrängten aller Art, durch den Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung (Diakonia);

• eine Umkehr-, Aufbruchs- und Veränderungsbereitschaft, die es uns ermöglicht, auch unt. veränderten Rahmenbedingen mit einer Freude, die ansteckt, Kirche zu sein…

• … und den Primat der Evangelisierung zu leben, damit wir in allem die Grundverkündigung der Kirche (Kerygma) bezeugen: „Jesus Christus liebt dich, er hat sein Leben hingegeben, um dich zu retten, und jetzt ist er jeden Tag lebendig an deiner Seite, um dich zu erleuchten, zu stärken und zu befreien“ (EG 164);

An all diesen Punkten müssen wir weiterarbeiten, dabei fehlerfreundlich voneinander lernen und vieles neu und beständig miteinander einüben: unseren Pastoralen Zukunftsweg, unseren Weg, die große Geschichte Gottes heute zu leben – in „Gemeinschaft mit dem ganzen Leib der Kirche“.[9]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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[1] Vgl. Papst Franziskus: Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland, 29. Juni 2019.
[2] Vgl. Brief von Papst Franziskus, 15. Vgl. auch Papst Paul VI.: Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 14.
[3] Vgl. Brief von Papst Franziskus, 16.
[4] Vgl. ebd., 16 u. 17.
[5] Vgl. ebd., 15.
[6] Vgl. ebd., 15-16.
[7] Vgl. ebd., 16.
[8] Ebd., 24
[9] Ebd., 19.

John Henry Newman, Theodor Haecker und die „Weiße Rose“

Die prophetische Sendung der Christen

Studiendirektor a. D. Jakob Knab spannt den Bogen von John Henry Newman (1801-1890) bis zur „Weißen Rose“, der wohl bekanntesten Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime. In zahlreichen Veröffentlichungen hat Knab den ideengeschichtlichen Einfluss der Werke Newmans auf die Flugblätter der Gruppe aufgewiesen. Entscheidender Vermittler war Theodor Haecker (1879-1945), der eine ganze Reihe von Schriften Newmans ins Deutsche übertragen hat und als ein Mentor der „Weißen Rose“ gilt. Knab stellt nachfolgend das ergreifende Lebenszeugnis Haeckers vor, der den Weg in die katholische Kirche gefunden, aber weithin die Erfüllung des prophetischen Auftrags der Hirten vermisst hat. Die Zusammenschau, die Knab bietet, ist ein aufrüttelnder Anstoß zum unerschrockenen Bekenntnis der christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe in unserer Zeit.

Von Jakob Knab  

Theodor Haecker wurde Anfang Juni 1879 in Eberbach (Jagst) geboren. Es gibt erstaunliche Berührungspunkte, kleine Fingerzeige der göttlichen Vorsehung: Es war jener Tag, da der neu ernannte Kardinal Newman – seit Oktober 2019 der Heilige John Henry Newman – von Rom aus seine Heimreise zum Oratorium in Birmingham (England) antrat. Mitte Juni 1879 wurde Theodor Haecker vom protestantischen Pfarrer Eugen Bonhöffer (Unterregenbach) getauft. Die Bonhöffers, Vorfahren des großen und namhaften Dietrich Bonhoeffer, waren Patrizier im nahen Schwäbisch Hall. Nach dem Besuch der Elementarschule war Haecker ab 1885 in Esslingen (am Neckar) Schüler des Lyceum, des heutigen Georgii-Gymnasiums, das er ohne Zeugnis der Reife verließ, um auf Wunsch des Vaters und gegen die eigene Neigung Kaufmann zu werden. Nach Abschluss der Lehrzeit trat er 1898 in eine Firma in Antwerpen ein. Als er Ende August 1901 diese belgische Firma verließ, begann er im Wintersemester 1901 – dank der finanziellen Unterstützung seines Jugendfreundes Ferdinand Schreiber aus Esslingen – ein Studium an der preußischen Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) in Berlin. Es war ein Studentenleben „in Schwermut und Einsamkeit“. Er belegte Vorlesungen in Kulturgeschichte, Weltgeschichte, Geschichte der Philosophie, französischer und altnordischer Literatur, Altphilologie (u.a. Plato und Vergil) wie auch griechischer Kulturgeschichte. 1905 holte er die Reifeprüfung nach. In diesem Jahr zog er nach München um. Vom Wintersemester 1905/06 bis zum Wintersemester 1909/10 war Haecker Student an der Universität München. In jedem Semester besuchte er die Vorlesungen des aufstrebenden Gelehrten Max Scheler, der ab 1906 Privatdozent in München war. Dessen Nachdenken galt stets der grundlegenden Frage: Was ist der Mensch? Und wie gehören eine intuitive Schau, Emotionen und die Suche nach grundlegenden Werten zum Menschsein? Scheler veröffentlichte auch Aufsätze in der Zeitschrift Hochland, die 1903 von Carl Muth gegründet worden war.

Aufbäumen gegen die nationale Kriegsbegeisterung

Aber auch gescheite und namhafte Gelehrte sind verführbar! Im Gegensatz dazu stehen Robert Scholl, der Vater von Hans und Sophie Scholl, wie auch Theodor Haecker. Diese beiden wurden im August 1914 nicht vom deutsch-nationalen Kriegstaumel angesteckt. Von Max Schelers Schwertglauben zeugt sein Buch aus dem Kriegsjahr 1915: Der Genius des Kriegs und der Deutsche Krieg. Er erklomm den Gipfel der Kriegsverherrlichung: „Der Patriotismus Europas – er wird im Blute und Eisen dieses Krieges erst jetzt geboren."[1] Scheler hoffte auf die „Erlösung Deutschlands“ und verherrlichte den „heiligen Krieg“ gegen England. Ein Mitarbeiter von Carl Muths Hochland verklärte Schelers Worte als „leuchtende Stimme der Liebe“. Ebenso war Muth erfasst von jener reichsweiten Kriegsbegeisterung, als er über das „Kriegsunwetter“ jubelte: „Das war der Anfang: ein Schauspiel für Gott und Menschen und herrlich bis zum Jüngsten Tag!"[2] Als Muths ältester Sohn Reinhard an der Front verblutete, begann für den Vater der Weg der Umkehr. Auch Max Scheler wurde zum Kriegsgegner. Nach einem Bekehrungserlebnis wurde Max Scheler, der Sohn einer jüdischen Mutter und eines protestantischen Vaters, an Ostern 1916 in der Abtei der Benediktiner in Beuron feierlich in die katholische Kirche aufgenommen. Indes: 1922 trat Scheler wieder aus der Kirche aus und wandte sich dem Pantheismus zu.

Zurück zu Haecker: Der umfassend gebildete und ungemein belesene, so gewissenhafte und eifrige Student Theodor Haecker schaffte nie einen Studienabschluss. Als er im August 1914 die reichsweite Kriegsbegeisterung sah, da wurde er zum Satiriker. Aber bald wurden seine polemischen Angriffe auf den militaristischen Zeitgeist von der Zensur verhindert. Als Deutscher war er „in Hirn und Herz verwundet“, er hatte gegen den Krieg angeschrieben „im Zorn, im Grimm, im Groll, und doch nicht Hass."[3] Haecker war entsetzt über die Kriegspredigten: „Welch ein Gesindel spielt heute die Propheten und die Auserwählten! Während die Diener der offiziellen Kirchen Predigten für Kriegsanleihen halten und nur allzu oft die freche Machtgier der europäischen Staaten unterstützen, brechen die Dämonen ein in das Seelenreich der Menschen und richten Unheil an."[4]

Im Kriegsjahr 1915 fand der damalige Protestant Haecker lobende Worte über Papst Benedikt XV.: „Der Papst, o ja, der Papst! Er hatte wenigstens den Mut, diesen Krieg nicht mehr einen Krieg, sondern ein Gemetzel zu nennen. Aber dann! Warum steht er nicht auf und schleudert auf alle die, welche noch an ihn glauben, und noch mehr auf die, welche nicht glauben, den Bannstrahl, weil sie nicht ablassen von dem ‚Gemetzel!?“ Haecker ließ seiner Abneigung gegen Preußen freien Lauf: „Sie würden Christus, wenn er heute wiederkäme, zwar auch nicht eine Dornenkrone aufsetzen, aber eine Pickelhaube."[5]

Entdeckung Newmans – eine „Stadt auf dem Berg“

Aber Satire und Polemik konnten Haeckers innere Leere nicht füllen. Zunächst suchte Haecker nach Sinn und Orientierung beim dänischen Existenzphilosophen Søren Kierkegaard und dessen Kritik an der protestantischen Staatskirche. Wer freilich Haecker in seiner existenziellen Tiefe verstehen will, muss sich auf dessen Lebensentscheidung einlassen, auf seinen Überschritt von der ungestümen Leidenschaft eines Kierkegaard hin zur existenziellen Tiefe und Reife eines John Henry Newman. Im November 1920 schrieb Haecker an das Oratorium in Birmingham, dass er aus „Liebe zu Kardinal Newmans Geist und Werk den Entschluss gefasst habe, dessen Werk ‚Grammar of Assent‘ (Zustimmungslehre – Philosophie des Glaubens) ins Deutsche zu übertragen. Die deutsche Übersetzung erschien 1921 in München. Im „Nachwort des Übersetzers“ spricht Haecker von der „heiligen Seele des großen Kardinals“. Dessen Überzeugungskraft liegt, so Haecker, in einer „edlen Humanität und in seinen geheiligten Tugenden der Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit.“ Das Nachwort endet mit diesen anrührenden Worten: „Und mit solchen Lehrern kann es, wenn Gott es also gefällt, geschehen, daß Nebelwolken, die über die Sonne gezogen sind, zerreißen, und sie da steht im Morgenglanz des ewigen Lichtes: die Stadt auf dem Berg, die alle sehen müssen."[6]

Nach eigenem Bekunden war er „durch Zufall“ auf Werke von Kardinal John Henry Newman gestoßen. Freilich: Wenn Haecker von Zufall sprach, dann meinte er eine Fügung. Er würdigte John Henry Newman – nach Paulus, Augustinus und Thomas von Aquin – als „die letzte verehrungswürdige Einheit von Genialität und Heiligkeit“-[7] Am 5. April 1921 konvertierte Haecker zur katholischen Kirche. Einen Monat später, am 16. Mai 1921, erhielt er in der Erzbischöflichen Hauskapelle durch Kardinal Faulhaber das Sakrament der Firmung.[8] Von einem antimilitaristischen Furor getrieben hatte er Faulhaber aufgrund dessen Feldpredigten Das Schwert des Geistes (1917) als einen „Kriegspfaffen“ beschimpft. Haecker schwebte auf einer Kierkegaard‘schen Zorneswolke, er legte dann dieses Bekenntnis ab: „Ich habe aber zugeschlagen, gleichsam ohne Erbarmen, ich bin der Letzte, der das leugnet; gegen wechselnde Feinde mit wechselnden Waffen: aber immer mit uralt ehrlichen Waffen: dem Feinde zugekehrt Gesicht und Namen, aber wenn er weder Namen hatte noch Gesicht und nur ein namenloses Ungesicht war, dem die Satire erst einen Namen gab, ein leerer Schrecken, ein Gräuel, eine Finsternis, eine Mückenplage, eine Pest, eine Zeitung, ein wimmelndes Gewürm in Gräbern der Toten."[9]

Eine tiefe geistliche Begründung für seinen Übertritt gibt uns Haecker im November 1921. Er selbst sprach vom „Augenblick der Wandlung“: „Ich musste große Umwege machen, ehe ich zu mir selber kam – und dass meine Seele sich schwinge aus dem Meere der Schwermut, darein sie zu versinken drohte, zu den ewigen Sternen der Hoffnung, denn immer leuchtete ein Licht, das nicht von dieser Welt ist. Das Ganze weiß doch nur Gott, und wenn es um das Ganze geht, dann habe ich alle Schriftstellerei vergessen, dann bin ich auf den Knien und rede nicht mehr und schreibe noch weniger. Denn ich bin auf dem Wege gewesen, langsam aber hartnäckig, und mit Hilfe von oben – in alle Nacht leuchtete ein Licht, das nicht von dieser Welt ist."[10]

Bildung eines Freundeskreises in München

Aus Dankbarkeit für den großen Kardinal übersetzte Haecker nach seiner Konversion weitere große Werke Newmans. 1922 wurde das Werk aus dem Jahr 1845 An Essay on the Development of Christian Doctrine mit dem Titel „Die Entwicklung der christlichen Lehre“ in München veröffentlicht. Im Oktober dieses Jahres besuchte Haecker erstmals Carl Muth, den Herausgeber der Zeitschrift Hochland. Nach Hitlers Putschversuch im November 1923 sprach Haecker von Hitler als der „Bestie“. Dort in München hatte Haecker einen illustren Freundeskreis um sich versammelt. Dazu gehörte auch der Maler und Schriftsteller Richard Seewald. In seinen Lebenserinnerungen blickt er zurück auf den Freund: „Hochachtung, Bewunderung, gemischt mit ein wenig Angst waren die Gefühle, die Haecker den meisten einflößte. Bewunderung für die unbestechliche Geradheit seines Urteils und seine Sprachkunst, Angst, durchschaut zu werden von diesen klaren blauen Augen, die eine ungewöhnliche Kraft ausstrahlten."[11] Und voller Dankbarkeit erinnert sich Seewald, wie Haecker ihn und seinen Freunden lehrte, Newmans Bücher zu lesen. Immer wieder befasste sich Haecker mit der sog. Judenfrage. Er sprach vom „unermesslichen Licht, das Gott im Jahre eins durch die Juden der Welt geschenkt hat.“ Und gegen jeglichen nationalen Wahn hielt er fest: „Es hat seitdem kein auserwähltes Volk mehr gegeben, und es gibt auch heute keines."[12]

Im Umfeld der Bücherverbrennungen vom Mai 1933 wurde Haeckers Haus durchsucht; Haecker selbst wurde vorübergehend festgenommen. Als der heute noch namhafte Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895-1973) Haeckers Buch Der Christ und die Geschichte (1935) besprach, urteilte er so: „Vor allem durch die ihm innewohnende Sehnsucht nach universaler Gerechtigkeit erweckt Haeckers Wort Achtung."[13]

Als Gegner des Nationalsozialismus erhielt Haecker 1936 Rede- und 1938 Publikationsverbot. Wir können Haeckers Haltung und seinen Anspruch am schönsten aus einer Aufzeichnung ersehen, die in seinem Nachlass gefunden wurde: „Ich habe nicht die Macht zu verhindern, dass heute das Gesindel die Welt regiert, aber gegen eines kann ich mich Gott sei Dank doch wehren, so schwach ich auch bin, dass mir nämlich das Gesindel die Welt erklärt. Hier bin ich nicht wehrlos."[14]

Aus der Feder von Otl Aicher, dem späteren Ehemann von Inge Scholl, stammen diese Erinnerungen: „Ich lernte Theodor Haecker kennen, ich läutete in der Möhlstraße in München. Er hatte einen etwas kantigen, schwäbischen Kopf mit hellen Augen und einem wässrigen fernen Blick. Der Mund war gepresst, die kleine Nase offenbar durch eine Verletzung etwas seitlich eingedrückt. Er ging schlecht, stützte sich immer auf und sprach wenig. Er war zugemauert wie eine Festung, von der man nicht wusste, gegen wen sie gebaut worden war. Was er sagte, hatte er vorher dreimal durchdacht. So schrieb er auch. Langsam, immer denkend. Lachen konnte er nicht mehr, er lächelte nur, dann aber strahlend, nach innen."[15]

Die Erlösung der einzelnen Person ist Sinn und Ziel der Geschichte

In Haeckers Sicht war die einzelne Person und deren Erlösung Sinn und Ziel der Geschichte. Dieses Sinnziel liegt aber nicht in der Endlichkeit der weltlichen Geschichte, sondern in der Unendlichkeit Gottes: „Alle Geschichte ist Geschichte des Weges zum Heil oder des Abfalls von Gott.“ In seinem Werk Der Christ und die Geschichte (1935) gelangte Haecker zu dieser Erkenntnis: „Um der Geschichte der einzelnen heiligen Seele willen ist jede andere Geschichte; ihr müssen dienen Aufstieg und Niedergang der Reiche, Kriege und Revolutionen."[16]

Im Frühjahr 1941 hatte Inge Scholl ihren Bruder Hans auf Theodor Haeckers Buch Satire und Polemik aufmerksam gemacht. An Mutter Lina Scholls Geburtstag, der am 5. Mai 1941 in Ulm gefeiert wurde, kam Hans Scholl, der gerne im Mittelpunkt der Diskussion stand, auf dieses Buch zu sprechen; er drückte sein Missfallen aus, denn es sei „eben ganz und gar vom katholischen Standpunkt aus geschrieben“.[17] Und das sei falsch! Freilich: Ein halbes Jahr später begegnete er Theodor Haecker persönlich, als er ab Oktober 1941 Carl Muths Privatbibliothek in München-Solln ordnete; denn alle 14 Tage besuchte Haecker seinen treuen Weggefährten Carl Muth. „Theodor Haecker habe ich neulich persönlich kennengelernt“, schrieb Hans Scholl an einen Freund. „Ich muss schon sagen, er gehört zu jenen gewaltigen Erscheinungen, die das, was sie geschrieben haben, durch ihre Person noch steigern.“ Hans Scholl übernahm diese Einsichten: „Diese Zeit hat für unser Innerstes doch ihr Gutes. Man kommt immer auf festere Bahnen. Vom Wesentlichen wird uns unter gar keinen Umständen etwas genommen, und das ist ein Trost. Durch alle Nacht hindurch leuchtet ein dauerndes Licht."[18]

Vier Leseabende im Hause Muth

Mitte Januar 1942 wurde im Hause Muth ein Leseabend veranstaltet, wo Haecker Auszüge aus Predigten von John Henry Newman, die er ins Deutsche übertragen hatte, vortrug. Auch Werner Scholl, seinerzeit Soldat in der Boelcke-Kaserne in Ulm, war eigens mit dem Zug nach München gekommen. Bestimmt fühlte sich Hans Scholl direkt angesprochen, wenn der begnadete Prediger Newman vom Glaubensbekenntnis sprach und gleichzeitig auch „unsere Gefühle, Stimmungen, unsere Einbildungskraft und unser Gewissen“ im Blick behielt. Insgesamt hielt Haecker vier Lesungen vor dem Freundeskreis: im Januar 1942 (Auszüge seiner Übersetzungen von Predigten Newmans), im Juli 1942 (Auszüge aus seinem Buch Der Christ und die Geschichte), im Dezember 1942 (Auszüge aus seiner Übersetzung von Newmans Adventspredigten, Der Antichrist nach der Lehre der Väter), im Februar 1943 (Auszüge aus seinem Buch Schöpfer und Schöpfung).

Der Duktus von Newman und Haecker in den Flugblättern der „Weißen Rose“

Die ersten vier Flugblätter der „Weißen Rose“ entstanden zwischen dem 27. Juni und 12. Juli 1942. Im ersten Flugblatt der „Weißen Rose“ (Ende Juni 1942) stoßen wir auf den Aufruf: „Verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine!“ Schon im Februar 1941 hatte Theodor Haecker die Deutschen angeklagt: „Euer Ruhm ist ohne Glanz. Er leuchtet nicht. Man spricht von euch, weil ihr die besten Maschinen habt – und seid. In diesem Staunen der Welt ist kein Funke von Liebe. Und nur Liebe gibt Glanz. Ihr haltet euch für auserwählt, weil ihr die besten Maschinen, Kriegsmaschinen baut und sie am besten bedient"[19] („An die Deutschen 1941“). Und im vierten Flugblatt der „Weißen Rose“ lesen wir: „Überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den Einzigen Gott hinwiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten.“ Wie kamen Hans Scholl und mit ihm andere Studenten der Humanmedizin dazu, in ihren Flugblättern von „Propheten“ und „Heiligen“ zu sprechen, während sie andererseits Hitler als „Antichrist“ und „Dämon“ anprangerten? Haeckers Lesung vor dem Freundeskreis fand am 10. Juli 1942 statt. Zwei Tage später verschickten Scholl und Schmorell das (apokalyptische) vierte Flugblatt in einer Auflage von 100 Stück.

Eine genaue Lektüre der Flugblätter lässt erkennen, wie sehr Scholl manche von ihm verfassten Abschnitte im prophetischen Duktus seines Mentors Haecker schrieb. Schon beim ersten Blick auf die Flugblätter fallen Begriffe auf wie „Rachen des unersättlichen Dämons“, „atheistische Kriegsmaschine“, „stete Lüge“, „Sinn der Geschichte“, „Diktatur des Bösen“, „Ausgeburt der Hölle“, der „stinkende Rachen der Hölle“, „der Kampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrists“. Wenn man Haeckers Tag- und Nachtbücher liest, sieht man, wie diese Wortwahl vorgeprägt war: stets wird dort Geschichte als Kampf zwischen Heil und Unheil gedeutet. Schon im Kriegsjahr 1940 hatte der Konvertit Haecker geklagt: „Die prophetische Stimme der Kirche ist verstummt, es ist, wie wenn ihr prophetisches Amt suspendiert wäre. Gehört das auch zur Stunde des Bösen?“ Haeckers Klage: „Die Stunde des Bösen ist die Stunde, da die Wächter blind sind."[20]

Im vierten Flugblatt vom Juli 1942 hatte Hans Scholl Hitler so angegriffen: „Jedes Wort, das aus Hitlers Munde kommt, ist Lüge.“ Hans Scholl sprach vom „Kampf wider den Dämon, wider den Boten des Antichrist“. Die Gestalt des Antichristen aus der Apokalyptik verkörpert das Böse, die Menschen werden zum Abfall von der Wahrheit bewegt. Die Lügenbotschaft des Antichristen gehört zu den endzeitlichen Verwirrungen und Bedrängnissen.

Als sich an einem Sonntag im Advent 1942 Weggefährten Theodor Haeckers in München versammelt hatten, kam die Frage dabei auf die Heraufkunft des Antichrist. Haecker, darauf vorbereitet, las zunächst die paulinische Bibelstelle 2 Thess 2,1-12 vor und gab dann eine Deutung ganz im Sinne von John Henry Newman, aus dessen Übersetzung „Der Antichrist nach der Lehre der Väter“ er auch vorlas. Hans Scholl protestierte impulsiv gegen diese endzeitliche Deutung: „Der Antichrist kommt nicht erst, er ist schon da!"[21]

„Nicht das Leiden erlöst, sondern die Liebe, die Liebe Gottes“

Haecker und Scholl lehnten beide auch den preußischen Militarismus ab. Haecker sah in der Verbindung von Pflicht und Phrase die eigentliche Entmenschung des Menschen, er sprach von „preußisch infiziert und verdorben“. Im fünften Flugblatt vom Januar 1943 forderte Hans Scholl: „Ein einseitiger preußischer Militarismus darf nie mehr zur Macht gelangen.“

Auch Sophie Scholl schaute auf zu Theodor Haecker. Im September 1942 schickte sie ihrem Verlobten Fritz Hartnagel per Feldpost Haeckers Buch „Schönheit“ an die russische Front. Seine umgehende Antwort: „Für Deinen Brief und das Buch ‚Schönheit‘, von dem Du mir schon manchesmal erzählt hattest, einen herzlichen Dank.“  Hier Auszüge: „Das Wahre versteht sich im Verstande, das Gute will sich im Willen, das Schöne fühlt sich im Fühlen.“ – „Das Schöne ist liebenswert, die Liebe ist schön. Maria ist die Schönste, weil sie die höchste geschöpfliche Liebe ist, und nur von ihr gilt: tota pulchra es.“ All die Bücher, die Sophie Scholl ihrem Verlobten Fritz Hartnagel schenkte, gingen in Stalingrad verloren.

Die letzte Lesung Haeckers im Freundeskreis fand am 4. Februar 1943, also zwei Wochen vor der Verhaftung von Hans und Sophie Scholl, statt. Er griff dabei die Frage auf, wie Gott eine Welt erschaffen konnte, „in der es all das Entsetzliche an Leid und Leiden und Tränen gibt“. Haecker gelangte zu der Einsicht: „Über der Allmacht Gottes steht seine Liebe, und die überquellende Fülle Seiner Gerechtigkeit ist Seine Barmherzigkeit.“ Haeckers letzte Worte im Freundeskreis der „Weißen Rose“ lauteten: „Nicht das Leiden erlöst, sondern die Liebe, die Liebe Gottes…“ Sophie Scholl schilderte ihre Eindrücke andachtsvoll so: „Seine Worte fallen langsam wie Tropfen, die man schon vorher sich ansammeln sieht, und die in diese Erwartung hinein mit ganz besonderem Gewicht fallen. Er hat ein sehr stilles Gesicht, einen Blick, als sähe er nach innen. Es hat mich noch niemand so mit seinem Antlitz überzeugt wie er."[22]

Nachdem Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 in München verhaftet wurden, wurde auch Haeckers Wohnung durchsucht. Seine Tochter Irene kam in der Mittagspause nach Hause. An den Autos der Gestapo erkannte sie die Gefahr; die Wohnung des Vaters war voller Gestapo-Leute. Auf einem Sessel im Wohnzimmer erblickte Irene die Aufzeichnungen der Tag- und Nachtbücher. Sie ergriff dieses Bündel und verließ das Haus unter dem Vorwand, sie müsse umgehend zur Klavierstunde. Im nahen Pfarrhaus tauschte sie die Notate ihres Vaters in echte Noten um. Als Irene zurückkam, wurde ihre Tasche von einem Gestapo-Mann durchsucht. Zutage kamen Klaviernoten. Das Verfahren wegen Hochverrats wurde später eingestellt. Nach der Hinrichtung von Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst am 22. Februar 1943 versank Haecker in einem „Meer der Schwermut“; er verstummte bis Juni 1943. Eugen Turnher, sein Münchner Weggefährte, erinnert sich: „Ihn bewegte dabei nicht nur Trauer und Schmerz, sondern immer wieder die Frage, ob Einsatz und Verlust unserer Freunde in einem richtigen Verhältnis standen. Diese Frage ließ ihn nie los, er kam immer wieder auf sie zurück.“

„Weil das Herz zum Herzen spricht“

Die Familie Scholl pflegte weiterhin den Kontakt zu Haecker. Nach der Entlassung aus der „Sippenhaft“ im Juni 1944 verließ Magdalena Scholl mit ihren Töchtern Inge und Elisabeth die Stadt Ulm, um aus dem Gesichtskreis der Gestapo zu verschwinden. Im „Bruderhof“, einem Einödhof bei Ewattingen im Schwarzwald, tauchten sie bis zum Kriegsende unter. Im Juli/August 1944 verbrachte Haecker sieben Wochen auf dem „Bruderhof“. Zum Abschied schrieb Haecker ins Gästebuch der Familie Scholl: „Ich lebte unter der ehernen Sonne glorreicher Sommertage, ich sah den zunehmenden Mond und den vollen und den abnehmenden, ich sah die dunkle Nacht und den überreichen Sternenhimmel. Aber weil das Herz zum Herzen spricht, war doch das Schönste: ich durfte sieben Wochen gute Taten sehen und gute Worte hören von guten Herzen. Dafür danke ich und bitte Gott, daß er mit seiner Güte ihre Güte lohnen möge. 26. August 1944 Theodor Haecker"[23] – Mit der Formulierung „Aber weil das Herz zum Herzen spricht…“ übernahm Haecker Kardinal Newmans lateinischen Spruch: Cor ad cor loquitur. Am 22. Februar 1945, auf den Tag genau zwei Jahre nach der Enthauptung ihrer Geschwister, wurde Inge Scholl in der St. Gallus–Kirche Ewattingen (Schwarzwald) getauft. Theodor Haecker hatte ihr als Lektüre auch Newmans Predigten aus der anglikanischen Zeit ans Herz gelegt.

Nachdem die Münchner Wohnung ausgebombt wurde, übersiedelte Haecker in das Dorf Ustersbach bei Augsburg. Dort starb Haecker einige Wochen später. An seinem Todestag, an jenem 9. April 1945, wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg hingerichtet und Johann Georg Elser im KZ Dachau getötet. Während der Trauerfeier überflogen Tiefflieger die Ortschaft, sodass die winzige Trauergemeinde und Pfarrer Dr. Josef Hoh auf dem Friedhof in Deckung gehen mussten. Auf dem Sterbebildchen findet sich diese Würdigung: „Für sein großes Herz und seine schwermütige Seele war es das Furchtbarste, zwei Weltkriege überstehen zu müssen und zu wissen, dass sie Ausgeburten der Phrase und des Abfalls waren.“

In seinem Wirkungskreis München erinnert heute noch (!) nichts an Theodor Haecker. Aber in seinem Geburtsort Eberbach (an der Jagst) gibt es eine „Theodor-Haecker-Straße“ wie auch eine Gedenktafel an dem Haus, wo Haecker das Licht der Welt erblickte. Im fernen Köln gibt es eine Theodor-Haecker-Straße, in Laupheim einen Haecker-Brunnen. In seinem Sterbeort Ustersbach (bei Augsburg) gibt es eine „Theodor-Haecker-Straße“ und eine Gedenktafel an dem Haus, wo Haecker bei Kriegsende wohnte. Auf einer Bronzetafel an der Friedhofsmauer in Ustersbach findet sich diese Würdigung durch den Nobelpreisträger T. S. Eliot: „Er war ein großer Mensch, Gelehrter, Denker und Dichter zugleich.“

Und auf Haeckers Grab blüht im Sommer ein Strauch weißer Rosen…

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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[1] Max Scheler: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig 1915, 280.
[2] Carl Muth: Zum zweiten Kriegsjahrgang, in: Hochland, 13. Jg., 1915, S. 1, zitiert nach Detlef Bald/Jakob Knab (Hrsg.): Die Stärkeren im Geiste. Zum christlichen Widerstand der Weißen Rose, Essen 2012, 46ff. Nach dem Kriegsende im November 1918 stellte sich Carl Muth politisch im Sinne eines „Vernunftrepublikanismus“ auf die Seite der jungen Republik3
[3] Theodor Haecker: Vorrede zu „Satire und Polemik“ 1914-1920, Innsbruck 1922, 12.  –  Diese redliche Rückschau Haeckers auf die Phase seiner ungestümen Polemik eröffnet den besten Zugang zu Haeckers Sinnsuche und Lebensgeschichte. Sein Bekenntnis gehört zu den kostbaren und herausragenden Zeugnissen der christlichen und abendländischen Kultur.
[4] Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes, in: Satire und Polemik, 180.
[5] Der Krieg und die Führer des Geistes, 176.
[6] Theodor Haecker: Nachwort des Übersetzers, in: Philosophie des Glaubens (‚Grammar of Assent‘) von John Henry Kardinal Newman. Ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort von Theodor Haecker, München 1921, 448.
[7] Bernhard Hanssler/Hinrich Siefken: Theodor Haecker. Leben und Werk, Sigmaringen 1995, 228.
[8] Freundliche Auskunft des Erzbischöflichen Archivs München vom 9. August 2021.
[9] Haecker: Vorrede zu „Satire und Polemik“ 1914-1920, 12f.
[10] Ebd., 13.
[11] Richard Seewald: Die Zeit befiehlt’s. Wir sind ihr untertan, Freiburg im Breisgau 1977, 119.
[12] Theodor Haecker: Der Krieg und die Führer des Geistes, in: Satire und Polemik, 173.
[13] Max Horkheimer: Zu Theodor Haecker: Der Christ und die Geschichte, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 5, 1936, 372f.
[14] Theodor Haecker 1879-1945. Bearbeitet von Hinrich Siefken (= Marbacher Magazin 49/1989), 7.
[15] Otl Aicher: innenseiten des kriegs, Frankfurt am Main 1985, 30f.
[16] Hier zitiert nach Christine Hikel: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose, München 2013, 38.
[17] Inge Scholl, Eintrag ins Tagebuch vom 5. Mai 1941; hier zitiert nach Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie, München 2010, 273.
[18] Weiterführend zu Hans Scholl: Jakob Knab: Ich schweige nicht. Hans Scholl und die Weiße Rose, Darmstadt 2018.
[19] Theodor Haecker: Tag- und Nachtbücher 1939-1945, hg. von Hinrich Siefken, Innsbruck 1989, 165 [Notat 735].
[20] Ebd., 88, Notat [378].
[21] Eugen Turnher, Schreiben an den Verfasser vom 8. Dezember 2002: „Anwesend waren: Gastgeberin Gertrud Schreiber, Theodor Haecker, Hans Scholl, Sophie Scholl, Christoph Probst, Hyazinth Pakosch, der spätere Nachfolger von Romano Gu-ardini in St. Ludwig München, und Eugen Turnher.“ – Eugen Turnher (1922–2007) hörte als Student in München zusammen mit Theodor Haecker englische Sender ab. Von 1945 bis 1990 war er am Institut für Germanistik an der Universität Innsbruck als Assistent, Dozent und Professor tätig.
[22] Sophie Scholl, Schreiben an Fritz Hartnagel vom 7. Februar 1943, in: Hans Scholl/Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1984, 235.
[23] Gespräch des Verfassers mit Elisabeth Hartnagel (Stuttgart) am 2. August 2006. Das Gästebuch vom Bruderhof – der einzige Eintrag stammt von Theodor Haecker – befand sich im Privatbesitz von Elisabeth Hartnagel (1920-2020). Dieses zeitgeschichtliche Dokument befindet sich nun in den Aktenbeständen des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde.

„Bibelteilen“ in kleinen christlichen Gemeinschaften

Begegnung mit Jesus in seinem Wort

Pfarrer August Sparrer durfte am 12. März 2021 seinen 90. Geburtstag feiern. Als Ruhestandsgeistlicher und Kanonikus der Altöttinger Stiftspfarrkirche ist er immer noch aktiv und verfolgt interessiert das Leben der Kirche in Deutschland. Auf dem Hintergrund seiner langen Lebenserfahrung hält er Ausschau nach Möglichkeiten echter Erneuerung. Dabei hat er die Gemeinschaft Emmanuel zu schätzen gelernt. Nachfolgend stellt er den Weg des „Bibelteilens“ in kleineren Gemeinschaften vor, das viele Gläubige auf ihrem Weg gestärkt und zu einem missionarischen Christsein ermutigt hat.

Von August Sparrer  

Für viele Katholiken ist die Heilige Schrift ein Buch im Bücheregal. Es gibt wenige Katholiken, die regelmäßig das Evangelium lesen und so eine lebendige Beziehung zu Jesus finden. Dazu kann das „Bibelteilen“ in kleinen christlichen Gemeinschaften gut anregen. Wenn in Deutschland in den nächsten Jahren der Priesternachwuchs weiterhin abnimmt, wenn Priester oft fünf und mehr Pfarreien zu betreuen haben, dann könnte die Pastoral mit kleinen christlichen Gemeinschaften in Deutschland zu einer Chance werden.

Viele Katholiken erleben die Kirche als eine Institution, der man eine Steuer zahlt und dafür bei bestimmten Lebenswenden ihren Service erhält. Sie fühlen sich nicht als die Kirche, in der sie als Gemeinschaft leben und mit Jesus unterwegs sind. Die „kleinen christlichen Gemeinschaften“, die in den Missionskirchen entstehen, sind eine große Hilfe, die Kirche zu erfahren und eine Partizipation im Glauben zu erleben. Was geschieht in kirchlichen Basisgemeinden oder „Kleinen christlichen Gemeinschaften?“

• Christen „teilen“ miteinander in überschaubaren Gruppen das Wort der Heiligen Schrift und erfahren es dabei als lebendiges Wort Gottes für ihr Leben.

• Es geschieht dabei kein Bibelstudium im akademischen Sinn, sondern es wird in einer Atmosphäre des Gebetes ermöglicht, Christus in seinem Wort zu begegnen.

• Dabei wird die Erfahrung der Teilnehmer mit dem Wort Gottes im Anhörverfahren ohne Diskussion ausgetauscht.

• Die Teilnehmer lernen beim „Bibelteilen“ mit eigenen Worten zu beten, sich eine lebendige Vorstellung von Christus zu machen und mit ihm zu sprechen.

• Sie erfahren auch, wie Christus dabei die Gemeinschaft zentriert und sie für andere offenhält.

• Sie spüren, dass diese Erfahrung nicht folgenlos bleibt, sondern dass Christus sie persönlich sendet.

• Darum helfen die Mitglieder in der Seelsorge.

Eine ältere katholische Religionslehrerin hat ihr erstes „Bibelteilen“ so erlebt: „Ich habe immer geglaubt, dass Christus auferstanden ist, weil ich es der Kirche geglaubt habe. Heute im ,Bibelteilen‘ habe ich das erste Mal erfahren, dass Jesus lebt. Ich habe zum ersten Mal seine Gegenwart gespürt in dieser Gemeinschaft mit vorher unbekannten Menschen, die das Wort miteinander gelesen und das, was sie berührt hat, einander mitgeteilt haben“ (siehe „Kleine christliche Gemeinschaften“, Herder Verlag 2012, 383ff.).

Der Heilige Vater Benedikt XVI. hat auf der Bischofssynode über das Wort Gottes in Rom (2008) diese Methode sehr gewürdigt und gelobt: „Wenn diese Art der Begegnung mit dem Herrn in seinem Wort diszipliniert durchgeführt wird, schafft sie langsam eine tiefe Glaubens- und Weggemeinschaft, die allen Beteiligten hilft, ihren Glauben zu leben und mit anderen zu teilen. Diese Methode ist ein Geschenk der Gnade, die einen sehr verbreiteten religiösen Individualismus überwinden kann. Wenn die Priester miteinander und zusammen mit ihrem Bischof diese Begegnung mit dem Wort Gottes praktizieren (um nicht zu sagen feiern), kann dies zu einer sehr tiefen Erneuerung, zur gegenseitigen Wertschätzung, zu einer geistlichen Einheit führen und die Voraussetzung für echte Jüngergemeinschaften in der Pfarrei werden. Freilich ist es dabei notwendig, sich selbst zu öffnen, Korrekturen zuzulassen und ein Quantum Demut mitzubringen.“

In seinem Nachsynodalen Schreiben „Verbum Domini“ sagt Papst Benedikt XVI.: „Darum hat die Bischofsynode mehrmals die Bedeutung der Pastoral in den christlichen Gemeinden als den eigentlichen Bereich hervorgehoben, in dem ein persönlich gemeinschaftlicher Weg mit dem Wort Gottes beschrieben werden kann, sodass dieses wirklich die Grundlage des geistlichen Lebens bildet.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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Marienerscheinung im russischen Ort Obwinsk 1685

Die prophetische Stimme der Gottesmutter

Die Kirche erfüllt ihre prophetische Sendung dadurch, dass sie der Welt den Anbruch des Reiches Gottes verkündet und die Frohe Botschaft vom Versöhnungsangebot Gottes bringt. Sie ist berufen, jeder Zeit neu den Sinn des Lebens zu erschließen und die Pläne Gottes mit uns Menschen aufzuzeigen. Pfarrer Erich Maria Fink ist überzeugt, dass ihr dabei die anerkannten Marienerscheinungen mit ihrem prophetischen Charakter eine Hilfe sein können. In seinem Beitrag stellt er eine konkrete Erscheinung der Gottesmutter vor, die sich vor gut 300 Jahren in Russland ereignet hat. Sie ist bislang völlig unbekannt, könnte seiner Meinung nach aber einen wertvollen Beitrag für die Erneuerung des kirchlichen Lebens und die Bemühungen um die Wiederherstellung der Einheit zwischen katholischer und russisch-orthodoxer Kirche leisten.

Von Erich Maria Fink  

Beim Propheten Jesaja heißt es: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des HERRN. So hoch der Himmel über der Erde ist, so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege und meine Gedanken über eure Gedanken“ (Jes 55,8f.). Alle Wege Gottes mit uns Menschen haben das eine große Ziel, nämlich uns auf den Weg der Rettung zu führen und uns in der ewigen Gemeinschaft mit ihm unsere Vollendung zu schenken. Dieser Plan der Erlösung umfasst die ganze Geschichte, die ganze Menschheit, ja die ganze Schöpfung. Er ist über alle menschlichen Gedanken erhaben, ein Geheimnis, das unser Verstehen übersteigt. Es kann nur im Glauben angenommen werden.

Um seinen Plan auszuführen, hat Gott das Volk Israel auserwählt und mit ihm einen Bund geschlossen, den Alten Bund am Berg Sinai. Mit ihm hat er den neuen und ewigen Bund vorbereitet, den er schließlich durch den Tod und die Auferstehung seines menschgewordenen Sohnes, Jesus Christus, gestiftet hat. Seiner Kirche aber, dem neuen Volk Gottes, hat er die Sendung anvertraut, Werkzeug des Heils für die ganze Menschheit zu sein. So nennt das II. Vatikanische Konzil die Kirche „lumen gentium“ – „Licht der Völker“ (zum LG 1) und „universale salutis sacramentum“ – „allumfassendes Heilssakrament“ (LG 48).

Das prophetische Amt

Das Volk des Alten Bundes war ständig in Gefahr, vom Weg Gottes abzuweichen und sich den anderen Völkern anzugleichen. Die ganze Geschichte des Volkes Israel ist vom Dienst der Propheten geprägt. Ihre Sendung bestand darin, das Volk immer wieder zur Umkehr zu rufen, es an seine unvergleichliche und unveräußerliche Berufung zu erinnern und es zu befähigen, seine Aufgabe im Plan der Erlösung zu erfüllen, aber auch, um diesen Plan immer weiter zu enthüllen.

Im Neuen Bund hat Gott durch Jesus Christus seinen ewigen Plan vollkommen offenbart (vgl. Eph 1,3-14). Die prophetische Sendung der Kirche, des Volkes des Neuen Bundes, besteht gerade darin, diese Offenbarung der Welt unverfälscht und unverkürzt kundzutun. Wenn die Kirche vom prophetischen Amt spricht, das sie im Auftrag Jesu Christi ausübt, hat sie verschiedene Dimensionen im Blick:

• Zunächst geht es um die Formung des Volkes Gottes selbst. Ständig muss sie die getauften und gefirmten Christen ermahnen, umzukehren und ihrer Sendung treu zu bleiben.

• Sodann hat sie die Aufgabe, sich immer mehr in die geoffenbarte Wahrheit zu vertiefen und sie unter der Anleitung des Heiligen Geistes vollkommener zu verstehen.

• Schließlich ist sie berufen, im Licht des Evangeliums die Zeichen der Zeit zu deuten und den Menschen in einer Welt, die ständig im Wandel begriffen ist, Orientierung zu geben. Aus dem Glauben heraus muss sie Antworten geben auf die jeweils neuen Lebenssituationen und die Fragen, die sich damit stellen.

Je vollkommener die Kirche ihr prophetisches Amt ausübt, umso mehr wird sie selbst zum prophetischen Zeichen in der Welt, umso fruchtbarer verwirklicht sie ihre prophetische Sendung für die ganze Menschheit.

Erscheinungen der Gottesmutter

An diesen Kriterien müssen sich außerordentliche Phänomene wie Marienerscheinungen messen. Sie haben ihrem Wesen nach prophetischen Charakter. Doch geht es dabei nicht um hellseherische Voraussagen über die Zukunft, selbst wenn dieses Element wie schon bei den Propheten des Alten Bundes eine gewisse Rolle spielen kann. Entscheidend ist die Frage, ob sie zur notwendigen Umkehr hinführen und das Volk Gottes befähigen, seine priesterliche Berufung auszuüben und fruchtbar am Erlösungsplan Gottes mitzuwirken.

Die großen Marienerscheinungen wie in La Salette (1846), Lourdes (1858) oder Fatima (1917) erfüllen genau diese Kriterien und konnten vor allem auch deshalb von der Kirche offiziell anerkannt werden. Sie haben sich für die Kirche als wertvolle Hilfe erwiesen, um in der heutigen Zeit ihre prophetische Sendung zu verwirklichen.

Im Dialog mit der Ostkirche stellen diese Erscheinungen bislang eher ein Hindernis dar. Die orthodoxe Kirche stößt sich vor allem daran, dass die Gottesmutter in der Regel ohne Jesuskind erscheint. Auf den ostkirchlichen Ikonen ist Maria fast immer als Gottesgebärerin mit Kind dargestellt. Und die orthodoxe Kirche betont zu Recht, dass eine Marienverehrung ohne Blick auf den Erlöser nicht denkbar ist. Gleichzeitig tut sie sich mit den Botschaften schwer, die die Gottesmutter bei ihren Erscheinungen gegeben hat. Dies hängt natürlich mit den typisch katholischen Glaubensinhalten zusammen, die darin vermittelt werden, wie das Petrusamt oder die Unbefleckte Empfängnis Mariens. Es geht aber auch um den immer wiederkehrenden Aufruf zur Umkehr selbst, in dem häufig irdisches Unheil als Folge der Sünden gedeutet wird.

In Russland gibt es jedoch eine Erscheinung der Gottesmutter, die unübersehbare Parallelen zu den Marienerscheinungen in der katholischen Kirche aufweist. Sie hat bereits im Jahr 1685 stattgefunden und im Grunde genommen die großen Erscheinungen in der Westkirche vorausgenommen. Von der Russisch-Orthodoxen Kirche wurde sie bereits ein Jahr später, also 1686, anerkannt. Sie birgt letztlich ein ungeahntes Potential für die Ökumene. Die damaligen Ereignisse könnten zu einer entscheidenden Brücke zwischen Ost- und Westkirche werden und die Russisch-Orthodoxe Kirche der katholischen Kirche näherbringen.

Obwinsk im Gebiet der Komi

Die Erscheinung hat in einem Ort mit dem Namen Obwinsk stattgefunden. Er liegt am Rande des Urals, 140 km nordwestlich der Gebietshauptstadt Perm und 200 km südwestlich der altrussischen Stadt Solikamsk. Heute gehört der Ort zur Permer Region, befindet sich aber im Gebiet der Komi (bzw. Syrjanen), eines finno-ugrischen Volkes, das bis heute viele seiner Traditionen bewahrt hat. Aus deren Sprache stammt auch die Bezeichnung Obwinsk, die sich von dem nahegelegenen Fluss Obwa ableitet.

Interessant ist, dass das Volk der Komi vom hl. Stefan von Perm (um 1340-1396) zum christlichen Glauben geführt worden ist, der deswegen auch den Ehrentitel „Apostel der Komi“ erhalten hat. Der hl. Stefan war eine der großen Gestalten des frühen Russlands, Zeitgenosse und persönlich Bekannter des hl. Sergius von Radonesch (um 1314-1392), auf dessen Erbe die Russisch-Orthodoxe Kirche gründet. Ab 1382 war der hl. Stefan Bischof von Klein-Perm und entwickelte für die Missionierung der Komi ein eigenes Alphabet, also eine eigene Schrift.

Im Zug des Unionskonzils von Basel-Ferrara-Florenz (1431-1445) wurden vier russische Heilige in das Martyrologium, also den Heiligenkalender, der katholischen Kirche aufgenommen. Neben den beiden heiligen Mönchen Antonius (983-1073) und Theodosius (1036-1074) vom Höhlenkloster in Kiew aus dem 11. Jahrhundert sind dies eben auch der hl. Sergius von Radonesch und der hl. Stefan von Perm aus dem 14. Jahrhundert. Dieser geschichtliche Hintergrund verbindet die Ereignisse von Obwinsk zusätzlich auf eindrucksvolle Weise mit der katholischen Kirche.

Die Ereignisse von Obwinsk

Die Ereignisse von Obwinsk sind sehr detailliert überliefert und gut dokumentiert. Aus der damaligen Zeit ist unter anderem ein vergilbtes Pergament erhalten, auf dem das Zeugnis des Sehers festgehalten ist. Es handelt sich um Rodion Nowikow, einen Bauern, der wegen seiner intellektuellen Begabung und seiner Aufrichtigkeit bei seinen Mitbürgern in hohem Ansehen stand und dessen Aussagen als zuverlässig galten.

Was ist geschehen? Am 22. Mai 1685 ging Rodion zur Arbeit in einen nahegelegenen Wald. Dort hatte er ein Dutzend Bäume gefällt, die er entasten wollte. Kurz bevor er den Wald erreichte, kamen ihm unheilvolle Gestalten entgegen. Sie waren von großer Statur und hatten glühende Augen. Eine Person war von oben bis unten schwarz, eine andere trug feuerartiges Haar, zwischen den beiden lief ein vierbeiniges Tier mit furchterregendem Aussehen. Während Rodion von Angst ergriffen den Gestalten auswich und nach einer Erklärung suchte, wandten sie sich ihm zu und brüllten wie ein wildes Tier: „Was willst du von uns?“ Da ergriff Rodion die Flucht.

In diesem Augenblick trat ihm aus dem dichten Wald eine hell leuchtende Gestalt entgegen und begrüßte ihn mit den Worten: „Der Friede sei mit dir, Rodion!“ Als er diesen Friedensgruß und seinen Vornamen hörte, beruhigte er sich und fasste Mut. Die Erscheinung aber, die in ein schneeweißes Gewand gekleidet war und von der er nur das Gesicht und einen Teil der Füße sehen konnte, fragte ihn, was er denn auf dem Weg gesehen habe. Rodion bemühte sich, das Geschaute genau zu schildern. Da begann ihm die geheimnisvolle Person zu erklären, dass in den drei Gestalten Plagen angedeutet seien, die über die Menschen hereinbrechen würden, wenn sie sich nicht bekehrten, nämlich tödliche Krankheiten und Seuchen, Viehsterben, Dürre und nicht rechtzeitiger Regen, Ernteausfall und Hungersnot.

 Wegen ihrer Sünden lasse Gott dies alles auf die Menschen kommen. Und die Erscheinung zählte vier Sünden auf. Es gehe darum, dass die Menschen fluchen, an Sonn- und Feiertagen arbeiten, sich der Trunksucht hingeben und Tabakgetränk konsumieren, was auch ein Hinweis auf Drogen sein könnte. Rodion wurde aufgefordert, den Priestern und dem Volk in der ganzen Gegend die Botschaft zu überbringen, sie sollten diese Sünden nicht mehr begehen, sondern einander lieben. An den Festtagen des Herrn und der Gottesmutter sollten sie in die Gotteshäuser gehen und in Liebe füreinander beten, Gott um die Abkehr von den Sünden und um das Himmelreich sowie um ihr Wohlergehen bitten. Wenn die Menschen auf die von ihr gegebene Botschaft hören, so die Erscheinung, werde Gott gnädig sein und seinen gerechten Zorn abwenden und die Menschen werden in Wohlstand und Überfluss an den Früchten der Erde leben; wenn sie aber nicht gehorchen und sich nicht von ihren abscheulichen Sünden abwenden, werden die genannten Plagen nicht von ihnen weichen.

Daraufhin gab die Erscheinung Rodion den Auftrag, in das benachbarte Dorf Roschdjestwenskoje zu gehen und dem dortigen Klerus und Volk zu sagen, sie sollten die Ikone zu Ehren des Entschlafens der Gottesmutter (Mariä Himmelfahrt) holen, die eigentlich in das Zentrum der Kirche gehöre. Doch hänge sie vergessen in der Ecke eines Vorraums, wo sich der Speisesaal befinde. Zudem sollten sie von dort zwei kleine Glocken mitnehmen und zusammen mit den Waisen und Armen eine Prozession zur Anhöhe zwischen den beiden Flüssen Tjusch und Jaswa durchführen, voraus ein Kreuz und die Entschlafens-Ikone der Gottesmutter. Auf der dortigen Wiese sollten sie das Kreuz aufstellen und danach innerhalb eines Tages eine Holzkapelle errichten, später auch eine Kirche und ein Kloster, in dem Mönche ihr gemeinschaftliches Gebetsleben ausüben sollten.

Außerdem sollten jedes Jahr an den Festen Christi Himmelfahrt und Mariä Himmelfahrt sowie am Fest des nicht von Menschenhand gemalten Antlitzes Christi am 16. August Prozessionen mit Gebeten und Liedern an diesen Ort abgehalten werden.

Schließlich fragte Rodion die Erscheinung, die er für einen Engel hielt: „Herr, wer bist Du?“ Sie antwortete ihm: „Ich bin die Mutter des Erlösers, des Herrn, Jesus Christus.“ Und von diesem Moment an war sie nicht mehr zu sehen.

Außer sich vor Staunen machte sich Rodion auf den Weg zurück in sein Dorf und nahm eine Abkürzung durch das Waldgebiet. Nach einigen Schritten stolperte er über einen Baumstumpf, fiel zu Boden und schürfte sich an seiner Hand die Haut auf, so dass sie blutete. In seinem Ärger und Schmerz stieß er ein Fluchwort aus. Im selben Augenblick vernahm er ein lautes Geräusch. Ein heftiger Windstoß riss ihn empor und schlug ihn mit unsichtbarer Kraft zu Boden. Er verlor das Bewusstsein und lag zwei Tage auf der feuchten Erde. Als er wieder zu sich kam, eilte er sogleich nach Roschdjestwenskoje und führte den Auftrag der Gottesmutter aus.

Die Entwicklung des Gnadenorts

Die Marienerscheinung löste in der Bevölkerung eine große Betroffenheit aus. Priester und Gläubige machten sich auf den Weg, um Buße zu tun und Gott um Verzeihung für ihre Sünden zu bitten. Wie es die Gottesmutter gewünscht hatte, errichteten sie mit vereinten Kräften innerhalb eines Tages eine Kapelle aus Holzstämmen. 

Bald begann die Mariä-Entschlafens-Ikone Tränen zu vergießen. Die Priester deuteten dies als Zeichen dafür, dass man die Ikone wieder an ihrem ursprünglichen Ort aufstellen sollte, und brachten sie zurück nach Roschdjestwenskoje. Doch auf wundersame Weise kehrte sie wieder in die Holzkapelle zurück. Außerdem ist in den kirchlichen Aufzeichnungen festgehalten, dass die Ikone mehrere Male ohne menschliches Zutun am Ort der Erscheinung aufgetaucht sei. Im Zug dieser Vorgänge sei dort auch eine Heilquelle entsprungen.

Bereits ein Jahr nach der Erscheinung wurden die Ereignisse von der Russisch-Orthodoxen Kirche als authentisch anerkannt. Am 24. Juni 1686 ordnete Bischof Jona, der Erzbischof von Wjazkij und Groß-Perm, an, bei der Kapelle ein Männerkloster zu errichten, das noch im selben Jahr seinen Betrieb aufnahm. Und 1706 konnte eine aus Stein gebaute Mariä-Entschlafens-Kirche am Gnadenort eingeweiht werden.

Doch das Kloster nahm 80 Jahre nach seiner Eröffnung ein jähes Ende. Die aus Deutschland stammende Zarin Katharina II. (Kaiserin von 1762 bis 1796), eine Vertreterin des aufgeklärten Absolutismus, veranlasste schon bald nach ihrer Machtübernahme eine umfangreiche Kirchenreform. Durch ein Manifest im Jahr 1762 wurden sofort 754 von 954 Klöstern in Russland geschlossen. Ein zusätzlicher Erlass aus dem Jahr 1766 forderte die Aufhebung weiterer Klöster, darunter auch des Männerklosters von Obwinsk.

Erst 140 Jahre später wurde es auf eine Anordnung des Zaren Nikolaus II. vom 25. Mai 1905 als Frauenkloster wiedererrichtet. In der Zwischenzeit hatte auch die Marienerscheinung von Obwinsk an Bedeutung verloren. Und das neue Aufleben des Klosters war nur von kurzer Dauer. Immerhin wuchs die Gemeinschaft auf 113 Schwestern an. Doch 1922, also nach 17 Jahren, wurde sie von den neuen sowjetischen Machthabern aufgelöst. Die Priester erlebten Verfolgung und Inhaftierung, bis auch die Mariä-Entschlafens-Kirche 1937 geschlossen wurde. Nach der Perestroika konnte der Erzbischof von Perm und Solikamsk, Athanasius Kudjuk, das Frauenkloster 1997 wieder ins Leben rufen. Im Mittelpunkt steht das „Wunder von Obwinsk“, wie die Marienerscheinung heute genannt wird. Auf dem Hintergrund der tragischen Geschichte kann man verstehen, warum der Gnadenort immer noch ein Schattendasein unter ärmlichen Verhältnissen führt. Auch in der Bevölkerung der Permer Region ist die Marienerscheinung fast völlig unbekannt.

Parallelen zu Erscheinungen in der katholischen Kirche

Die auffälligste Parallele zu den Marienerscheinungen im Westen ist das Erscheinungsbild selbst: Die Gottesmutter im weißen Gewand mit Schleier und Mantel, umgeben von Licht und ohne Kind auf dem Arm. Maria ist die Muttergottes, die den Erlöser geboren und bis unter das Kreuz begleitet hat. Von diesem Augenblick an aber tritt an die Stelle Jesu die ganze Menschheit: „Siehe dein Sohn, siehe deine Mutter!“ (Joh 19,26f.) Ihre mütterliche Aufgabe für alle Menschen kann Maria vollumfänglich ausüben, seit sie ihre Vollendung in Gott gefunden hat, mit Leib und Seele aufgenommen in den Himmel. Es ist höchst bedeutsam, dass die Gottesmutter in Obwinsk einen so starken Akzent auf ihre Himmelfahrt setzt. Die von ihr erwählte Mariä-Entschlafens-Ikone zeigt im Stil der Westkirche das Ereignis, wie sie umgeben von den staunenden Aposteln über ihrem Grab von Jesus Christus, ihrem auferstandenen Sohn, in Empfang genommen wird.

Inhaltlich ist die Botschaft fast identisch mit den Worten der Gottesmutter in La Salette 1846. Auch dort kündigt sie das Verderben der Ernte an und nennt als Grund das Fluchen und die Sonntagsarbeit, die beiden Sünden, die in Obwinsk an erster Stelle stehen. Die Aufforderung zum Gebet entspricht allen Erscheinungen des Westens, doch sticht die Parallele zu Fatima besonders hervor. Denn wie in Obwinsk ruft Maria in Fatima dazu auf, für die Bekehrung der Sünder und die ewige Rettung aller Seelen zu beten, also nicht nur um Vergebung der eigenen Sünden, sondern stellvertretend für alle anderen, damit sie die Kraft finden, sich von der Sünde abzuwenden. Dieses Detail in der Botschaft von Obwinsk verdient besondere Aufmerksamkeit. Es ruft letztlich die Wahrheit des gemeinsamen Priestertums in Erinnerung.

Auch die Aufforderung, eine Kapelle bzw. eine Kirche zu bauen, ist mit anderen Erscheinungen identisch, besonders auch die Einladung, Prozessionen durchzuführen, wie dies in Lourdes (1858) geschehen ist. Mit diesem Wallfahrtsort verbindet Obwinsk zudem das Geschenk der Heilquelle. In all diesen Wünschen geht es der Gottesmutter darum, die Menschen zur eigentlichen Quelle des Heils hinzuführen, nämlich zu Jesus Christus, dem wir besonders in den Sakramenten der Kirche begegnen können. Auf den Erlöser hin gerichtet ist auch die Aufforderung der Gottesmutter in Obwinsk, eine jährliche Prozession am Fest des nichtgemalten Antlitzes Christi durchzuführen. Man denkt unwillkürlich an das Grabtuch von Turin und das göttliche Antlitz von Manoppello, womit Obwinsk den Blick wiederum auf Schätze lenkt, die von der katholischen Kirche gehütet werden.

Ähnlich wie bei den Erscheinungen im Westen ist auch der Seher von Obwinsk zunächst von Furcht ergriffen. Und überall spricht die Gottesmutter im Gruß die biblische Aufforderung aus: „Fürchtet euch nicht!“ oder wie in Obwinsk: „Der Friede sei mit Dir!“ In diesen Geist ist auch der strenge Ruf zur Umkehr eingebunden, der nicht mit Angst erfüllen, sondern eine neue Liebe zu Jesus und Maria wecken möchte. In Obwinsk werden der Herr und die Gottesmutter mehrere Male zusammen genannt. Dies weist deutlich darauf hin, dass der Sohn Gottes sein Erlösungswerk mit Maria, seiner Mutter und Gefährtin, vollbringt.

Ausblick

In Obwinsk ist verständlicherweise nicht vom Rosenkranz die Rede, doch gibt es eine mündliche Überlieferung, die auch zu diesem Element eine Brücke schlägt, nämlich die Geschichte von der „Obwinsker Rose“. Die Legende besagt, dass die Gottesmutter, als sie Rodion den Auftrag zum Gebet füreinander und zum Bau eines Klosters für das gemeinschaftliche Gebetsleben gegeben habe, zeichenhaft ihren Mantel über alle Völker ausgebreitet habe. Dabei seien aus dem Mantel himmlische Rosen herausgefallen und hätten sich am Ufer der Obwa entlang verteilt. Jedenfalls gibt es seither in Kunst und Handwerk das in ganz Russland bekannte Verzierungsmotiv der „Obwinsker Rose“. Das Entscheidende aber ist, dass die Ikone der Erscheinung nun in der orthodoxen Kirche offiziell „Obwinsker Rose“ genannt wird. Damit wurde die Verbindung dieser Tradition zur Gottesmutter bekräftigt.

Die Ereignisse von Obwinsk sind in der Russisch-Orthodoxen Kirche einzigartig. Sie haben vor allem deshalb prophetischen Charakter, weil sie die späteren Erscheinungen im Westen vorausbilden und vorwegnehmen. Obwinsk könnte die Russisch-Orthodoxe Kirche von Fatima überzeugen, wo auf außerordentliche Weise die ganze Weltkirche aufgefordert wurde, am Schicksal der russischen Nation Anteil zu nehmen und für die Bekehrung Russlands zu beten, insbesondere den Rosenkranz. Damit aber wäre das Tor zur Wiederherstellung der Einheit weit aufgestoßen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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„Die Macht der kleinen Herde“ (5)

Die Grunddynamik einer Kirche, die ihren Auftrag lebt

Neuere Autoren und Kirchenentwicklungskonzepte, wie James Mallon („Divine Renovation“) und Michael White („Rebuilt“), kommen immer wieder auf fünf Lebens- und Handlungsfelder zurück, die in ihren Augen ausschlaggebend sind für die Vitalität einer Ortskirche oder Kirchengemeinde. Es sind Aspekte von Kirche-Sein, anhand derer Leitungsverantwortliche die Gesundheit des jeweiligen kirchlichen Organismus beurteilen können. Diese fünf vitalen Bereiche spiegeln sich dann auch in den Möglichkeiten, die man als Gemeinde dem Einzelnen bieten möchte, und in den Erwartungen, die an Mitglieder gestellt werden. Selbstverständlich gehen diese Aspekte auf das Neue Testament zurück und ziehen sich durch die gelebte und gelehrte Tradition der Kirche – allerdings recht unterschiedlich betont, entfaltet und nicht immer deutlich miteinander verknüpft. Das Verdienst, sie in ihrem inneren Zusammenhang aufgezeigt zu haben, liegt bei Pastor Rick Warren, Gründer und Leiter einer bedeutenden amerikanischen Freikirche. Seine Einsichten fanden mittlerweile Eingang in viele Erneuerungsansätze[1] weltweit, auch in der katholischen und orthodoxen Welt. Pfr. Lorenz Rösch bringt sie uns in diesem Beitrag nahe.

Von Lorenz Rösch  

In seinem Buch „Kirche mit Vision – Gemeinde, die den Auftrag Gottes lebt"[2] leitet Rick Warren die „fünf Aufträge“ Jesu an die Kirche von zwei zentralen Stellen des Matthäus-Evangeliums ab: dem Hauptgebot und dem Missionsauftrag. Die entsprechenden Aufträge bzw. Lebenszwecke lauten: 1. Liebe den Herrn von ganzem Herzen. 2. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. 3. Geht und macht Jünger (im Sinne von: Menschen zu Jesus führen). 4. Tauft sie (verstanden als: Menschen eingliedern in den Christus-Leib). 5. Lehrt sie (im Sinne von: Menschen zur Gleichförmigkeit mit Jesus begleiten).

In einem neueren Text[3] gibt Warren den fünf Aufträgen im Hinblick auf den Einzelnen folgende Fassung: 1. Gott möchte, dass ich ihn zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens mache – „Anbetung“. 2. Gott möchte, dass ich lerne, seine Familie zu lieben – „Brüderliche Gemeinschaft“. 3. Gott möchte, dass ich geistliche Reife entwickle – „Jüngerschaft“. 4. Gott möchte, dass ich im Gegenzug selber etwas beisteuere – „Dienst“. 5. Gott möchte, dass ich anderen von seiner Liebe erzähle – „Zeugnisgeben“.

Die Reihenfolge entspricht hier der inneren Logik, wie sie auch schon in „Kirche mit Vision“ dargestellt ist. Dabei ist der Zielpunkt („Zeugnisgeben“ bzw. „Evangelisieren“) für andere wiederum der Ausgangspunkt. Ein Glaubenszeugnis kann Menschen animieren, sich auf einen Gottesdienst einzulassen, oder auch auf eine Veranstaltung, ein Gemeinschaftstreffen (wo die Dimension „Anbetung“ ebenfalls spürbar sein wird). Wenn jemand dann selber Gott eine Antwort des Glaubens schenkt und die Dimension „Anbetung“ auch im persönlichen Leben ihren Platz bekommt, können sukzessive die Dimensionen „Gemeinschaft“, „Jüngerschaft“ und „Dienst“ hinzukommen. Das „Evangelisieren“ ist dabei im besten Fall schon eine Nebenwirkung der anderen Dimensionen, es bedarf aber auch der bewussten Intention und Initiative auf persönlicher und gemeinschaftlicher Ebene.

Innere Zusammenhänge strukturell verankern

Eine Kirche oder Gemeinde, die diese Zusammenhänge ernstnimmt, wird die „fünf vitalen Systeme“ – so sehr sie sich gegenseitig durchdringen mögen – auch in ihrer Struktur abzubilden versuchen. Und sie wird es auch dem Einzelnen ermöglichen, mit einem ausdrücklichen Akt des Engagements die jeweils zusätzliche Stufe von nun an bewusst ins eigene Leben zu integrieren. Eine Graphik veranschaulicht, wie sich aus all dem eine gestufte Zugehörigkeit und eine Strukturierung der Gemeinde in konzentrischen Kreisen ergibt („Fünf Kreise der Hingabe“)[4]:

 Man beachte unter anderem, dass in dieser Konzeption Menschen erst dann verantwortlich Dienste und Aufgaben übernehmen, wenn sie sich persönlich auf einen Weg der Jüngerschaft eingelassen haben. Es ist also ausgeschlossen, dass jemand aus persönlichen Interessen heraus in der Gemeinde einen „Dienstbereich“ etabliert, ein Amt bekleidet oder gar in der Leitung mitwirkt, ohne dass dies in ein Engagement als „Bruder/Schwester“ im gemeinsamen Projekt der Jesusjüngerschaft eingebettet wäre. Aber auch ein Ansatz wie der im französischen Erzbistum Poitiers[5] entwickelte, freimütig auch auf Menschen zuzugehen, die nicht zur Kerngemeinde zählen, aber getauft sind und bestimmte menschliche Qualifikationen besitzen, um sie befristet zur Leitung eines Dienstbereichs zu „berufen“, ist in diesem Rahmen kaum denkbar.

Zwar ist es gut und wichtig, mit der Wirkkraft des Evangeliums bzw. des Geistes Gottes über den Binnenraum der Kirche hinaus zu rechnen. Und es ist auch wichtig, Evangelisierung nicht einseitig als nach innen, sondern auch als nach außen gerichtete Bewegung zu verstehen (Prinzip Salz und Sauerteig). Doch kommt die ganze Kraft des Evangeliums erst dort zum Zuge, wo es Menschen so begegnet, dass sie mit Umkehr und Glauben darauf antworten können. Gewiss, wir dürfen und sollen mit Überraschungen rechnen: dass jemand im Nachhinein, durch einen übernommenen Dienst in der Kirche selber im Glauben „erwacht“, oder dass uns „draußen“ Menschen begegnen – Getaufte und Ungetaufte –, die ganz offensichtlich „nicht fern vom Reich Gottes“ sind. Der Heilige Geist findet im Einzelnen viele Wege; doch es hieße ihn ungebührlich herausfordern, wollte man seine Überraschungen zum System machen, statt sich an die innere Logik seines Wirkens zu halten.

Kirchliche Vitalität und Vitamine für lebendiges Christsein

Aus Frankreich stammt die Idee, die fünf wesentlichen Dimensionen auch als „Vita-mine“ (A-E) zu vermitteln:[6]

 Die Dienstbereiche, die z.B. im Modell von Poitiers unterschieden werden (und jeweils einer verantwortlichen Person anvertraut werden sollen), sind: Liturgie, Verkündigung und Diakonie. Diese drei sind uns seit dem letzten Konzil als Grundvollzüge der Kirche geläufig; sie korrespondieren mit den drei „Ämtern Christi“: Priester (Heiligung), Prophet (Lehre), König/Hirte (Leitung). Insofern „Diakonie“ nur den einen Teil des Hirtendienstes zur Sprache bringt, hat sich bald das Bedürfnis ergeben, dem noch den Bereich „Gemeinschaft“ an die Seite zu stellen (so auch in Bonn).

Wie steht nun diese ältere Einteilung zu den „fünf vitalen Systemen“ – oder um die verbreitete französische Bezeichnung aufzugreifen: zu den „fünf wesentlichen Elementen“ des Kirche-Seins? – Es scheint, dass hier Prophetendienst und Hirtendienst in etwa jeweils in zwei Bereiche aufgegliedert werden und somit deutlicher in den Blick kommen: Der Prophetendienst hat einerseits die Aufgabe der Erstverkündigung (Evangelisierung im engeren Sinn), andererseits die der sukzessiven Einweisung der bereits Glaubenden in die Lehre (Katechese) und entsprechende Lebensführung (Jüngerschaft). Der Hirtendienst will einerseits in Form von gegenseitiger Anteilnahme und Fürsorge ausgeübt werden (Brüderliche Gemeinschaft), andererseits durch die verbindliche Übernahme von Verantwortung (Dienst), wobei beides auch bis zur Diakonie im engeren Sinn gehen kann und muss. Übrigens kann man vom Priesterdienst Christi und der Kirche sagen, dass er katholischerseits ebenfalls immer schon in zwei Bereiche aufgegliedert worden ist: das Mitwirken an der Heiligung von Menschen und Welt einerseits und die Verehrung Gottes um seiner selbst willen andererseits (Liturgie im engeren Sinn).

Alte Einsichten anwendbar gemacht für die neue Situation

Diese Aufgliederungen sind nicht nur sachlich möglich, sondern aus der Situation geboten. Im Bereich der Verkündigung konnte die Kirche sich in den „christlichen Ländern“ vermeintlich jahrhundertelang auf die Katechese beschränken. Jetzt aber ist es ganz offensichtlich, dass die Erstverkündigung wieder ihren Platz bekommen muss, damit Antworten der Umkehr und des Glaubens möglich werden. Man darf hier an die einschlägigen Passagen von „Evangelii Nuntiandi“ und „Evangelii Gaudium“ erinnern. Zum anderen ist es ganz offensichtlich, dass die Katechese sich nicht mehr auf die Vermittlung von Lehrinhalten beschränken kann, sondern nur in Settings von ganzheitlichen Wegen und Schulen der Jüngerschaft funktionieren kann. Hier ist an „Novo Millennio ineunte“ zu erinnern mit seinem Ruf nach Gemeinden, die „echte ,Schulen‘ des Gebets“ sind, und nach einer Kirche, die auf allen Ebenen „zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft“ wird.[7]

Dieses Thema ist bereits eng verknüpft mit dem Bereich der Für-Sorge, die sich nicht länger auf eine einseitig-leitende Ausprägung beschränken kann, sondern auch und sogar primär in einer gegenseitig-begleitenden Weise stattfinden muss (was wiederum überschaubare Weggemeinschaften voraussetzt). Andererseits ist es wichtig, auch strukturell anzuerkennen, dass es vielfältige Gaben und Charismen der Leitung gibt, die ermöglicht und gefördert werden wollen. In beidem will die königliche Würde der Getauften Gestalt annehmen. Was den Grundvollzug der Liturgie betrifft, so ist neben der schon erwähnten Aufgliederung in die „absteigende“ und die „aufsteigende“ Dimension (Heiligung und Anbetung) auch die Komplementarität von gemeinsamem und persönlichem Beten wichtig. Nur persönlich betende Menschen können Liturgie so feiern, dass sie (auch wenn viele Einzelheiten vorerst unverstanden bleiben) die Wirklichkeit Gottes bezeugt und die Schönheit des Glaubens vermittelt.

In gewissen Kreisen der westlichen katholischen Christenheit wird jedes Bemühen um eine zielgerichtete Glaubenskommunikation gleich unter den Verdacht von Überlegenheitsgehabe, Dialogunfähigkeit und Machterhalt gestellt. Eine „von ihrem Sinn und Zweck geleitete Kirche“ lässt in ihren Augen den evangelischen Geist der Absichtslosigkeit und Unentgeltlichkeit vermissen. Doch wird damit ein anderer, ebenso klarer Charakterzug des Evangeliums ausgeblendet: dass es um Rettung geht und um eine Fülle des Lebens, die niemandem vorenthalten bleiben soll; dass die Kirche hier eine, ja: ihre Mission hat. Viele neuere katholische Gemeinschaften und Bewegungen wissen darum und bieten bewährte Rahmen, wo Menschen Jesus begegnen und als Jesusjünger wachsen können.

Mit vereinten Gaben

Richtig ist aber auch, dass sich diese Mission unter katholischen Vorzeichen teilweise anders darstellt als unter evangelikalen. Wir dürfen das Gute aufgreifen, das Gott dort wirkt und zeigt, und sind sogar verpflichtet dazu. Aber wir stehen auch zu den Schätzen unserer Tradition: zu der Gewissheit, dass in jeder Taufe von Gott her etwas geschieht – dass Gott darin nicht nur eine kirchliche Zugehörigkeit, sondern eine persönliche Einwohnung und Zugewandtheit begründet. Daher wird es bei uns – neben dem Bemühen, zum fruchtbaren Mitvollzug der Sakramente selbst zu verhelfen – immer auch um das nachträgliche Aneignen und weitere Hineinwachsen in das gehen, was diese bereits grundgelegt haben. Jüngerschaft und christliche Reife verwirklichen sich daher vor allem als Weg der Verinnerlichung, der Entdeckung dessen, der da ist, als fortschreitendes Sich-Überlassen an seine Gnade – ein Weg, der in Maria sein Vorbild hat und aus sich heraus ins Apostolat führt.[8] Als Katholiken stehen wir auch dazu, dass in der Eucharistiefeier die erlösende Liebe Christi sich auf eine Weise vergegenwärtigt, die über jede mögliche menschliche Antwort hinausreicht und die doch ihre stärkste und schönste Art und Weise ist, uns immer mehr in ihre eigene Bewegung hineinzunehmen, in die Dynamik von Gottes- und Bruderliebe, von Wachstum, Engagement und unbeirrbarem Zeugnis.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Rick Warren: Kirche mit Vision – Gemeinde, die den Auftrag Gottes lebt, Gerth Medien, eBook (384 S.), 13,99 Euro (D) ISBN 978-3-961224326; Rick Warren: Leben mit Vision – Wozu um alles in der Welt lebe ich?, Gerth Medien, geb. mit SU, 416 S., 17,99 Euro (D) ISBN 978-3-865918802 – www.gerth.de
[2] Gerth Medien, Asslar 2016; englischer Originaltitel: Purpose-Driven Church (1995). Für das Folgende vgl. in der deutschen Ausgabe S. 100-105.
[3] Es handelt sich um einen Impuls für die Saddleback-Gemeinden zum Jahr 2019. Vgl. https:// saddleback.com/connect/Articles/MAP/2019/1/23/GODS-5-PURPOSES-FOR-YOUR-LIFE; Übersetzung durch den Verf. – Der Beitrag liegt auf der Linie des Folgebands und auflagenstärksten Buchs von Rick Warren: Leben mit Vision. Wozu um alles in der Welt lebe ich? (Original 2002, deutsche Erstausgabe 2003), Asslar.
[4] Kirche mit Vision, S. 126, durch den Verf. handschriftlich ergänzt.
[5] Vgl. die Darstellung auf der Homepage der Bonner Pfarrei St. Petrus, die sich von Poitiers hat inspirieren lassen, insbesondere den Abschnitt: www.sankt-petrus-bonn.de/st-petrus/petrus-weg/die-schritte-zum-petrus-weg/ueberlegungen-zum-petrus-weg/
[6] Die Vorlage findet sich auf der Internetseite der Diözese Beauvais in einer „Kleinen Anleitung im Dienst des Wachstums christlicher Gemeinschaften und der Formung missionarischer Jünger“: oise.catholique.fr/eveque-et-ses-collaborateurs/notre-eveque-et-ses-conseillers/evangeliser/copy_of_la-joie-devangeliser-petit-guide-diocesain.pdf; Übersetzung bzw. Adaptation: d. Verf.
[7] NMI Nr. 33 und 43 (im Original jeweils kursiv).
[8] Explizit in dieser Spur bewegen sich z.B. die Anregungen des Buches von M-A. de Matteo und F.-X. Amherdt: Gottes Geist Raum geben. Grundlagen einer Pastoral, die Leben (er)weckt, Wien/ Zürich (LIT-Verlag) 2016.

Der Märtyrerpriester Michael Kurth (1901-1944)

In den Fängen des rumänischen Kommunismus

Prälat Prof. Dr. Helmut Moll hat sich mit der „umfassenden Aufarbeitung der christlichen Gewaltopfer des 20. Jahrhunderts“, wie sie von Papst Johannes Paul II. (1920-2005) angeregt worden war, große Verdienste erworben. Zusammen mit 170 Fachleuten erstellte er im Lauf der Jahre das zweibändige Hauptwerk „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“, das seit 2019 in siebter, überarbeiteter und aktualisierter Auflage vorliegt. Doch die Arbeit geht weiter. Prälat Moll fördert immer neue Lebensbilder zu Tage, in denen ergreifende Glaubenszeugnisse aufleuchten. Bisher noch unveröffentlicht ist der nachfolgende Beitrag über den Märtyrerpriester Michael Kurth (1901-1944). Sichtbar wird der geradlinige Weg eines jungen Priesters, der zum Dienen bereit war – bis zur Hingabe des Lebens.

Von Helmut Moll  

Im Direktorium für die Katechese vom 23. März 2020 unterstreicht der Päpstliche Rat zur Förderung der Neuevangelisierung das Zeugnis der Märtyrer mit folgenden Worten: „Die Kirche sieht die Märtyrer als illustre Meister des Glaubens, die durch die Mühen und Leiden ihres Apostolats eine erste Verbreitung des Glaubens ermöglicht haben. In den Märtyrern findet die Kirche ihren Lebenssamen, ‚semen est sanguis Christianorum‘ (Tertullian: ,ein Sa-me ist das Blut der Christen‘). Dieses Gesetz gehört nicht nur in die Zeit der Ursprünge des Christentums, sondern besitzt für die gesamte Kirchengeschichte bis in unsere Tage Gültigkeit. Gerade das auch als Jahrhundert des Martyriums bezeichnete 20. Jahrhundert war besonders reich an Zeugen, die es verstanden haben, das Evangelium bis zur höchsten Prüfung der Liebe zu leben. Ihr Glaubenszeugnis verlangt es, in Predigt und Katechese bewahrt und weitergegeben zu werden, um die Jünger Christi in ihrem Wachstum zu nähren“ (Nr. 100).

Diese Worte treffen auf Pfarrer Michael Kurth zu. Er kam am 16. Februar 1901 in der Ortschaft Walkan, einer Filiale der Pfarrei Altbeschenowa im Westen des heutigen Rumänien zur Welt. Altbeschenowa hat eine bulgarische Bevölkerung, sodass der spätere Pfarrer Kurth schon in seiner Kindheit diese Sprache erlernte. Seine schwäbischen Eltern, sein Vater Anton Kurth, ein Schmied, und seine Mutter Magdalena, geb. Jung, ließen das Kind am 19. Februar 1901 in Altbeschenowa auf den Namen des hl. Erzengels Michael taufen. Nach dem Besuch der Volksschule wechselte Michael auf das Piaristengymnasium in Temeswar, das, von der Kongregation der Piaristen geleitet, Schüler unabhängig von Nationalität und Konfession aufnahm. Die Lehrer unterrichteten Ungarisch, seit dem Jahr 1920 Rumänisch. Michael verließ im Jahre 1921 das Gymnasium mit dem Bakkalaureatsdiplom. Im Jahre 1992 wurde diese Schule als Diözesangymnasium neu errichtet und nach dem benediktinischen Märtyrerbischof Gerhard von Csanád (um 977-1046), dem ersten Hirten des Bistums Tschanad/Temeswar, „Gerhardinum“ benannt.

Im Anschluss daran begann Kurth das Studium der Philosophie und der Theologie an der Theologischen Akademie zu Temeswar, die er nach vier Jahren mit ausgezeichneten Ergebnissen abschloss. Er war sprachbegabt und beherrschte neben al-len im Banat gesprochenen Sprachen, also Deutsch, Rumänisch, Ungarisch und Serbisch, auch die bulgarische Sprache. Kurth, zu jener Zeit 24 Jahre alt, benötigte, da er das vom Kirchenrecht für die Priesterweihe vorgeschriebene Mindestalter von 25 Jahren noch nicht erreicht hatte, eine Dispens für die bevorstehenden Weihehandlungen.

Am 28. März 1925 wurde Kurth zum Subdiakon geweiht. Es folgte die Diakonatsweihe in Verbindung mit der Priesterweihe am 5. April 1925. Die Priesterweihe fand in der Kathedrale zu Großwardein statt, weil Temeswar zur damaligen Zeit über keinen konsekrierten Diözesanbischof verfügte. Bischof Julius Glattfelder (1874-1943) hatte sich im Februar 1923 wegen Unstimmigkeiten mit den rumänischen Behörden nach Szeged (Ungarn) zurückgezogen. Gespendet wurde die Priesterweihe von Imre Bjelik (1860-1927), Apostolischer Administrator der Diözese Großwardein. Die Heimatprimiz feierte Kurth am 19. April 1925 in der Pfarrkirche von Altbeschenowa.

Der Neupriester wurde Kaplan in Bakowa, wo er die ersten seelsorglichen Erfahrungen machte. Bereits am 1. Mai 1926 wechselte er als Kaplan nach Winga, wo er zwei Jahre blieb. Es folgten weitere zwei Jahre in seiner Heimat Altbeschenowa. Am 1. Mai 1930 wurde er zum Kaplan an der Pfarrkirche Hl. Johann von Nepomuk in Glogowatz ernannt. Die nächste Station seines priesterlichen Wirkens war von 1931 bis 1934 Reschitza, wo Kurth als Kaplan und Religionslehrer am dortigen Knabengymnasium tätig war. Am 1. Oktober 1934 übernahm er als Pfarradministrator die Pfarrei Clocotici im Banater Bergland. Diözesanbischof Dr. h.c. Augustin Pacha (1870-1954) von Temeswar, seit 1930 Oberhirte des Bistums Temeswar, ernannte Kurth am 19. April 1940 auf dessen Ersuchen hin zum Pfarrer von Altbeschenowa. Sein Ansuchen begründete er mit einem sehr gut abgeschlossenen Theologiestudium, mit den im Jahre 1929 gut absolvierten Prosynodalprüfungen, mit dem Beherrschen der bulgarischen Sprache und mit seiner bereits 15-jährigen Seelsorgserfahrung. Auch die Gläubigen von Altbeschenowa schrieben am 28. April 1940 an Bischof Augustin Pacha mit der Bitte, Kurth zu ih-nen zu senden; beigefügt waren über 480 Unterschriften von Gläubigen. Bischof Pa-cha trug dem Wunsch des Bewerbers und der Gläubigen Rechnung und ernannte Kurth am 10. Juni 1940 zum Pfarrverweser von Altbeschenowa. Am 12. Oktober 1942 erfolgte die Ernennung zum Pfarrer.

Pfarrer Kurth stand jeweils ein Kaplan zur Verfügung. Er versah seinen Dienst als Pfarrer verantwortungsbewusst und auch mit einem gewissen Erfolg. Gegen seine Amtsführung gab es keine Beschwerden. Er leitete den Rosenkranzverein, dessen Mitglieder auf 520 Personen stieg, und er unterhielt gute Beziehungen zu seinen Gläubigen und zu den Gemeindebehörden. Seit seiner Jugend litt er unter einer starken Sehschwäche, sodass er von der Verpflichtung, das tägliche Brevier zu beten, teilweise enthoben wurde.

„Schon bald nach dem Umsturz vom 23. August 1944 wurde das Banat auch Kriegsschauplatz. Deutsche und ungarische Truppen versuchten Temeswar wieder einzunehmen. Sie kamen bis vor die Stadt, doch gelang es den Rumänen, sich so lange zu halten, bis die Russen ihnen zu Hilfe gekommen sind. (…) Da der Westteil des Banats von Ungarn und Deutschen noch besetzt war, verließen viele deutsche Bewohner teils gezwungen teils freiwillig das Land und flüchteten gegen Westen.“ Im Herbst des Jahres 1944 besetzte die Rote Armee das Land, nachdem Rumänien den Regimewechsel vollzogen hatte. Die Einwohnerschaft des Ortes beklagte mehrere Tote durch die Kriegshandlungen. Bei den Opfern handelte es sich um einen deutschen Soldaten sowie um mehrere Bewohner, die von sowjetischen Soldaten getötet worden waren. Sie alle wurden von Kurth und seinen Kaplänen kirchlich beerdigt. In den Augen seiner Gegner hatte er sich damit schuldig gemacht. Diese Toten zu begraben, die von der Roten Armee gewaltsam getötet worden waren, dazu noch von einem Deutschen, galt als Vergehen. Deshalb wurde Kurth am 9. Oktober 1944 von einer Ordonnanz in das Bürgermeisteramt bestellt, wo sich die Leitung der im Ort befindlichen sowjetischen Truppen einquartiert hatte. Welche Anschuldigungen gegen Kurth im Einzelnen vorgebracht wurden, ist nicht bekannt. Der Gemeindenotar hatte Kurth den Rat erteilt, nicht in seinem Pfarrhaus zu übernachten, sondern sich zu verstecken. Kurth hielt es für angezeigt, sich im Keller seines Nachbarn, des Ortsarztes, zu verstecken. Am gleichen Abend war Kurth zu einem bessarabischen Flüchtling gegangen, auf den er sich immer verlassen konnte. Am nächsten Morgen hatte Kurth sein Versteck verlassen und sich in sein Pfarrhaus begeben. Dort wurde er von vier bewaffneten sowjetischen Soldaten aufgefordert, mit ihnen ins Auto zu steigen. Er wurde zum Verhör zur sowjetischen Kommandantur nach Großsanktnikolaus gebracht. Nach einer halben Stunde kam das Auto zurück, aber ohne Kurth. Seine Eltern und Geschwister machten sich auf den Weg nach Großsanktnikolaus, um nach ihm zu fahnden. Am nächsten Tag, es war der 11. Oktober 1944, fanden sie seine Leiche drei Kilometer vom Dorf entfernt. Die Angehörigen brachten den Leichnam nach Hause und beerdigten ihn am 13. Oktober 1944. Zugegen war kein Priester, nur seine Eltern, sein Bruder, seine Schwestern und Schwager bzw. Schwägerin.

Zu einem späteren Zeitpunkt erzählten die russischen Soldaten, was sich zugetragen hatte. Kurth sei zu der Stelle seines Todes gebracht worden, wo er, ahnend, was ihn erwartete, die Soldaten gebeten hatte, sich einige Minuten im Gebet sammeln und besinnen zu dürfen. Er nahm den Tod als Martyrium im Gebet an. Nachdem die Zeit der Besinnung vorbei war, habe Kurth den Soldaten gesagt, er sei zu sterben bereit. Daraufhin wurde er durch einen Kopfschuss getötet.

Der gewaltsame Tod von Kurth hat die Dorfbewohner zutiefst erschüttert. Der Diö-zesanarchivar von Temeswar, Dr. Claudiu Călin (geb. 1980), würdigte den Toten als ein „leuchtendes, würdiges und sogar heldenhaftes“ Beispiel, „denn dieser Priester hat sein Leben für den Glauben, für seine Gläubigen und die Menschenwürde hingegeben“. Pfarrer Michael Kurth wurde nur 43 Jahre alt.

Literatur:
K. Juhász, A. Schicht: Das Bistum Timisoara-Temesvar. Vergangenheit und Zukunft, Timisoara 1934.
K. Juhász: Donauschwäbische Kirchengeschichte, 2 Bde., Freilassing 1972/Stuttgart 1977.
F. Kräuter: Erinnerungen an Pacha (1870-1954). Ein Stück Banater Heimatgeschichte, Bukarest 1995.
C. Călin: Preotul Michael Kurth un preot martir la începutul epocii ateist-comuniste (Der Priester Michael Kurth, ein Martyrer-Priester am Anfang der atheistisch-kommunistischen Epoche), in: Literaturna Miselj: Timišvár/Timisoara/Temeswar, 3-4 (2013); ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht in: Banater Post. Zeitung der Landsmannschaft der Banater Schwaben 63, Nr. 11/12, 15.6.2019, 13-14.
M. Hausleitner: Die Donauschwaben 1868-1948. Ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat, Stuttgart 2014.
H. Haas: Ereignisse vom Herbst 1944 aus Großsanktnikolaus und Umgebung. Pfarrer Michael Kurth aus Altbeschenowa – ein Märtyrer seiner Menschlichkeit (Ms.).
H. Vastag: Bischof Augustin Pacha, in: Zeugen für Christus, Bd. II., 1197-1198.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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Entwicklung „neuer“ Menschenrechte (Teil 6)

Hat der Mensch das Recht, sein Geschlecht frei zu wählen?

Der franz. Rechtswissenschaftler Grégor Puppinck hat mit seinen Untersuchungen zur Entwicklung „neuer“ Menschenrechte einen äußerst wichtigen Beitrag geleistet. Seine Analyse lässt die rasanten Veränderungen in Gesellschaft und Politik verstehen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Wie konnte es so weit kommen, dass die höchsten Gerichtshöfe das Töten von Menschen nicht nur erlauben, sondern sogar als „Menschenrecht“ postulieren, mit der Begründung, diese seien nicht in der Lage, selbstbewusst zu handeln, wie Ungeborene oder Demente? Ein neues, antichristliches Menschenbild wird mit Gewalt durchgesetzt. Ein Angelpunkt ist die Forderung nach einer von jeder Moral losgelösten sexuellen Freiheit bis hin zum „Recht“, sein eigenes Geschlecht frei zu wählen.

Von Grégor Puppinck  

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat den Bereich des Privatlebens auch auf alle Arten des Sexualverhaltens ausgedehnt. Seit 2005 vertritt er die Auffassung, dass „das Recht, sexuelle Beziehungen zu führen, sich aus dem Recht, über den eigenen Körper zu verfügen, herleitet, das einen integralen Bestandteil des Begriffs der persönlichen Autonomie bildet“.[1] Der Gerichtshof hat der Sexualität jegliche moralische Dimension, die mit der menschlichen Natur verbunden wäre, abgesprochen, und sieht in ihr nur noch einen Aspekt des Intimbereichs und einen Ausdruck des Willens. Verschiedene Instanzen der Vereinten Nationen folgen demselben Ansatz.[2]

Zuvor hatte der Gerichtshof jedoch lange Zeit den Standpunkt vertreten, dass die Konventionsstaaten legitimerweise bestimmte widernatürliche Sexualpraktiken unter Strafe stellen dürfen, um so die öffentliche Moral und Gesundheit zu schützen. Nunmehr hat sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt: strafrechtlich verfolgt werden Personen und Texte, die diese Sexualpraktiken kritisch hinterfragen.[3] Im Zentrum dieses Umsturzes steht, dass die Achtung des individuellen Willens zum einzigen Kriterium für die Achtung der Menschenwürde geworden ist. Im Jahr 1981 geschah es zum ersten Mal, dass der Gerichtshof die moralische Beurteilung der homosexuellen Unzucht von ihrer strafrechtlichen Verurteilung abtrennte, indem er die Ansicht vertrat, dass „die Beurteilung homosexuellen Verhaltens als unmoralisch …keinen hinreichenden Grund darstellt, es mit strafrechtlichen Sanktionen zu versehen, wenn beide Partner erwachsen sind und es freiwillig tun“.[4] In der Folge zwang der Gerichtshof die Konventionsstaaten, homosexuelle und heterosexuelle Handlungen rechtlich gleichzustellen, insbesondere im Hinblick auf das Schutzalter.[5]

Dasselbe gilt für sadomasochistische Praktiken, im Hinblick auf welche „ein Recht auf Wahlfreiheit bezüglich der Art und Weise, wie man sich sexuell betätigt, ebenfalls garantiert werden muss“.[6] Nach Ansicht des Gerichtshofs kann man in einer demokratischen Gesellschaft in den Schutzzwecken der Gesundheit, der Moral und der öffentlichen Ordnung keine hinreichende Begründung mehr sehen, diese oder jene Form des Sexualverhaltens oder der Gewaltausübung, mag es sich dabei auch um extreme Praktiken handeln, zu verbieten, solange sie im Konsens aller Beteiligten geschehen. Der Gerichtshof unterstreicht, dass „die Möglichkeit für jedermann, das Leben so zu führen, wie er es will, unter anderem auch die Möglichkeit einschließen kann, sich solchen Betätigungen hinzugeben, die als für den Handelnden in physischer wie moralischer Hinsicht gefährlich oder schädlich angesehen werden können. In anderen Worten, der Begriff der Selbstbestimmung kann im Sinne der freien Verfügung über den eigenen Körper verstanden werden."[7] Für den Gerichtshof folgt daraus, „dass das Strafrecht grundsätzlich nicht in konsensuell ausgeübte Sexualpraktiken eingreifen kann, die der freien Willkür des Einzelnen unterfallen“;[8] die einzige Beschränkung, der diese Freiheit unterliegt, ist nicht die Achtung vor dem Körper der betroffenen Personen, sondern die Achtung vor ihrem Willen. Abgesehen von den verschiedenen Formen der Sexualität sind es darum bestimmte physische Gewalthandlungen, Verstümmelungen und selbstzugefügte Leiden, die nunmehr als Freiheiten verstanden werden, solange sie nur konsensuell geschehen. Die Gesellschaft darf demnach in diesem Bereich die Menschenwürde nicht mehr gegen den individuellen Willen der betreffenden Person verteidigen.

Subjektivierung der Sexualität

Die sexuelle Freiheit betrifft nicht nur die objektive Ebene des Verhaltens; sie reicht weiter, bis hin zur Ebene der sexuellen Identität. Diese Ausweitung der Freiheit vollzieht sich – wieder einmal – dank einer Subjektivierung.

Das Geschlecht als materielles Merkmal des menschlichen Körpers wird mittels einer Anzahl neuerfundener Begrifflichkeiten wie z.B. Gender, soziales Geschlecht, sexuelle Orientierung, sexuelle Identität oder Gender-Identität, in den Bereich des Subjektiven verwiesen. Diese Subjektivierung folgt aus der Vorstellung, dass das Geschlecht eine Vorfestlegung ist, eine materiale und soziale Zuordnung, die dem freien Willen aufgezwungen wird und somit ungeeignet ist, ein Individuum zu identifizieren. Das Geschlecht wäre demnach ein Hindernis der individuellen Freiheit, nicht nur insofern, als es dem Individuum eine Identität zuweist, sondern auch insofern, als es einen ungewollten Einfluss auf den Geist ausübt. Daher muss unsere Beziehung zur Wirklichkeit der Sexualität transformiert werden, damit wir in ihr nichts anderes mehr sehen als den formbaren Gegenstand unseres Willens. Wieder einmal geht es hier um die Ausweitung der Freiheit des Geistes zulasten des Körpers, und sei es um den Preis eines schizophrenen Gegensatzes zwischen beidem.

Dieser Gegensatz zwischen Geist und Körper trat zunächst in der Behauptung einer radikalen Unabhängigkeit des sexuellen Begehrens von der sexuellen Identität zutage; in der Folge wurde sie mit der Behauptung der Unabhängigkeit der sexuellen Identität vom Geschlecht selbst noch einen Schritt weitergetrieben. Somit finden sich die sexuelle Begierde und die sexuelle Identität befreit von jeder körperlichen oder sozialen Vorfestlegung; sie sind nur noch Gegenstand der individuellen Subjektivität.

Seit den 1980er-Jahren[9] wurde das Geschlecht zunächst durch den Begriff der „sexuellen Orientierung“ subjektiviert, die später als „ein tiefer Bestandteil der Identität jedes Menschen, die Heterosexualität, Homosexualität und Bisexualität umfasst“,[10] definiert wurde. 1994 hat auch der UN-Menschenrechtsausschuss diesen Ausdruck erstmals verwendet[11] und ihm somit eine globale Reichweite verliehen, woraufhin er dann 2012 auch vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte übernommen wurde.[12] Dieser Begriff erlaubt es, das natürliche Geschlecht von dem Gebrauch, den man davon macht, gedanklich zu trennen, ihm damit jeden natürlichen Charakter zu bestreiten, die physischen Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der sexuellen Betätigung zu relativieren, und sie somit alle als moralisch gleichwertig hinzustellen, so als ob es sich dabei um verschiedene Formen ein und desselben subjektiven Orientierungsvorganges handelte, der nicht durch den Körper, sondern nur durch das sexuelle Verlangen bestimmt wäre. Eine Sexualität, die wie eine Wetterfahne durch den heißen Atem der sexuellen Begierde orientiert wäre, wäre letztlich edler und menschenwürdiger als eine durch den Körper bestimmte, d.h. der kalten Materie und dem tierischen Instinkt unterworfene Sexualität.

In einem zweiten Schritt hat der EGMR 2002 sich dann einen noch radikaleren Dualismus zu eigen gemacht, indem er die geschlechtliche Identität in einen Gegensatz zum Geschlecht stellte. Er sei, so erklärte er damals, „nicht davon überzeugt, dass man heute weiterhin zulassen könne, dass diese Begriffe [d.h. ‚Mann‘ und ‚Frau‘, Anm. des Autors] implizieren, dass das Geschlecht einer Person allein anhand biologischer Kriterien zu bestimmen sei“.[13] Diese Entscheidung wurde getroffen, um transsexuellen Personen die Möglichkeit zu verschaffen, mit Personen desselben biologischen Geschlechts eine Ehe eingehen zu können. Der Gerichtshof ging in der Folge sogar darüber noch hinaus, indem er „die Freiheit … seine sexuelle Zugehörigkeit zu definieren, die sich als eines der wesentlichsten Elemente aus dem Recht auf Selbstbestimmung ergibt“,[14] anerkannte.

Jemandem die freie Wahl seiner sexuellen Identität nicht zu gestatten, verletzt demnach nicht nur seine „physische und soziale Identität“,[15] sondern darüber hinaus auch sein Recht, „Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Außenwelt einzugehen und aufrechtzuerhalten“.[16] Wie es scheint, ist es demnach von wesentlicher Bedeutung, dass der Einzelne ganz unabhängig von seinen körperlichen Gegebenheiten unter der sexuellen Identität seiner Wahl leben und gesellschaftlich in Erscheinung treten kann.

Der Erwerb dieses Rechtes vollzog sich in vielen sorgfältig geplanten Schritten. 1992 zwang der EGMR den Konventionsstaaten die Pflicht auf, im Personenstandswesen die Änderung der geschlechtlichen Identität solcher transsexueller Personen, die sich einer chirurgischen „Geschlechtsumwandlung“ unterzogen hatten,[17] rechtlich anzuerkennen. In der Folge musste sich der Gerichtshof noch mit verschiedenen anderen Aspekten dieser Problematik auseinandersetzen. Er ließ es zunächst noch zu, dass die staatlichen Gesetzgeber die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsänderung davon abhängig machten, dass der Interessent sich einer irreversiblen morphologischen Änderung seiner Geschlechtsorgane unterzog, um so den Einklang zwischen sozialer und physischer Wirklichkeit möglichst weitgehend aufrechtzuerhalten. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Der Gerichtshof hat nämlich in weiterer Folge „die Verpflichtung zu einer irreversiblen Änderung der Erscheinung“ für unzulässig erklärt[18] – und zwar vor allem deshalb, weil sie zur Unfruchtbarkeit führen kann und weil die Verpflichtung zu einer solchen Operation in die „physische und moralische Unversehrtheit der Person“ eingreift.[19] Es ist also just die Achtung vor der Unversehrtheit der Person, die es gebietet, dass die Gesellschaft sie als dem anderen Geschlecht angehörig anzuerkennen hat. Einmal mehr können wir hier beobachten, wie die Legitimität der materiellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zugunsten des schieren individuellen Willens den Rückzug antritt.

Der UN-Menschenrechtsausschuss ist in dieselbe Richtung gegangen, hat er doch die nachträgliche Ausstellung neuer Geburtsurkunden empfohlen, um die Angabe des angeborenen Geschlechts zu löschen.[20] Ihm folgte die Parlamentarische Versammlung des Europarats, die sogar noch einen Schritt weiter ging, indem sie die Mitgliedstaaten dazu aufforderte, „rasche, transparente und leicht zugängliche Verfahren“ zur Änderung dieser Angaben einzurichten, die „auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruhen“ und keine Änderung des physischen Erscheinungsbildes erfordern. Davon ausgehend, dass es absurd sei, die sexuelle Identität unter Bezugnahme auf die Natur, von der man sich ja gerade befreien will, festzulegen, hat dieselbe Parlamentarische Versammlung die Staaten dazu aufgefordert, in allen Personenstandsdokumenten für Personen, die dies wünschen, zusätzlich zu den Optionen männlich und weiblich eine dritte Option für die Angabe des Geschlechts vorzusehen.[21] Die Möglichkeit, sich einem dritten – d.h. keinem – Geschlecht zuzuordnen, wird vielleicht demnächst vom EGMR als neuester Aspekt des Rechts auf Privatleben höchste Weihen erhalten; dies ist auf jeden Fall das nächste Etappenziel des LGBT-Aktivismus, der neuerdings die grenzüberschreitende Sexualität (engl. queer) auf seine Fahnen heftet und dementsprechend seinem Akronym die Buchstaben „Q“ für queer und „I“ für „intersexuell“ hinzugefügt hat, sodass dieses fortan „LGBTQI“ lautet, wobei man ihm allerdings aus „Inklusivitätsgründen“ noch alle möglichen weiteren Buchstaben hinzufügen müsste, um endlich auch allen „asexuellen“ und „pansexuellen“ Personen, sowie all jenen, die ihre Identität noch nicht entdeckt haben, gerecht zu werden. Sobald sie sich von der Natur abgelöst hat und nur von Begierde und Trieb geleitet ist, hat die Suche nach der eigenen persönlichen Identität kein Ende.

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte fand schnell den Anschluss an seine europäische Schwesterinstitution, indem er seinerseits 2017 entschied, dass „das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht oder Genus (Gender) keineswegs objektive und unveränderliche Komponenten sind, die als physische oder biologische Gegebenheiten die Individualität einer Person ausmachen, sondern letztlich von der subjektiven Sicht der betreffenden Person abhängen und sich auf eine selbstwahrgenommene Konstruktion der eigenen Geschlechtsidentität in Verbindung mit der freien Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und der sexuellen Selbstbestimmung stützen.“ Von dieser Prämisse ausgehend konnte der Interamerikanische Gerichtshof logisch schlüssig deduzieren, dass „dem psychosozialen vor dem morphologischen Geschlecht der Vorrang zu geben ist“, weshalb er die amerikanischen Staaten dazu verpflichtete, ein einfaches und vertrauliches Verfahren zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechtswandels vorzuhalten, das auf dem Prinzip der Selbstbestimmung beruhen muss und keine medizinischen Voraussetzungen enthalten darf.[22]

Die sexuelle Freiheit ist die dritte soziale Revolution der Moderne nach der demokratischen Revolution des 18. Jahrhunderts und der sozialistischen Revolution des 19. Jahrhunderts. Jede dieser Revolutionen hat versucht, einer der drei großen Leidenschaften der Menschheit gesellschaftlich zum Durchbruch zu verhelfen: dem Wunsch nach Macht, nach Geld und nach Sex. Diese sozialen Revolutionen zielen darauf ab, die Macht jener Güter, auf die diese Leidenschaften sich richten, dadurch zu überwinden, dass sie sie gerecht über die Gesellschaft verteilen oder sie in der Gesellschaft auflösen. Dies betrifft momentan vor allem die Sexualität, die gleichsam aufgeteilt und aufgelöst wird, in der vergeblichen Hoffnung, die Gesellschaft von ihr zu befreien. Die drei Revolutionen versuchen, die Leidenschaften durch ein Überangebot jener Dinge, auf die sie sich richten, zu überwinden, während sie dem asketischen und christlichen Ansatz zufolge durch persönliche Entsagung beherrscht werden müssen. Die drei religiösen Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit finden somit jeweils ihren Gegenentwurf in der demokratischen, der sozialistischen und der sexuellen Revolution.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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[1] EGMR: K.A. und A.D. gegen Belgien, 42758/98 und 45558/99, 17. Februar 2005, § 83.
[2] Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen: The right to education (Das Recht auf Bildung), A/65/162 (2010).
[3] EGMR: Vejdeland und andere gegen Schweden, 1813/07, 9. Februar 2012.
[4] EGMR: Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, 7525/76, 22. Oktober 1981, § 60.
[5] EGMR: L. und V. gegen Österreich, 39392/98 und 39829/98, 9. Januar 2003, sowie S.L. gegen Österreich, 45330/99, 9. Januar 2003.
[6] EGMR: K.A. und A.D. gegen Belgien, 42758/98 und 45558/99, 17. Februar 2005, § 85.
[7] Ibid., § 83.
[8] Ibid., § 84.
[9] Die Verwendung des Begriffs „sexuelle Orientierung“ durch den EGMR geht auf die Entscheidung der EKommMR in der Rechtssache Johnson gegen Vereinigtes Königreich, 10389/83, 17. Juli 1986, zurück.
[10] Parlamentarische Versammlung des Europarats: Entschließung 1728 (2010) Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität.
[11] UN-Menschenrechtsausschuss: Toonen gegen Australien, Communication No. 488/1992, U.N. Doc. CCPR/C/50/D/488/1992 (1994), 31. März 1994.
[12] IAGMR: Atala Riffo und Töchter gegen Chile, 24. Februar 2012, Serie C, Nr. 239, § 83.
[13] EGMR: Christine Goodwin gegen Vereinigtes Königreich [GC], 28957/95, 11. Juli 2002, § 100.
[14] EGMR: Van Kück gegen Deutschland, 35968/97, 12. Juni 2003, § 73; Y.Y. gegen Türkei, 14793/ 08, 10. März 2015.
[15] EGMR: Mikulic gegen Kroatien, 53176/99, 7. Februar 2002, § 53; siehe auch Y.Y. gegen Türkei, 14793/08, 10. März 2015, § 56.
[16] EGMR: Schlumpf gegen Schweiz, 29002/06, 8. Januar 2009, § 77.
[17] EGMR: B. gegen Frankreich, 13343/87, 25. März 1992.
[18]EGMR: A. P., Garçon und Nicot gegen Frankreich, 79885/12, 52471/13, und 52596/13, 6. April 2017.
[19] EGMR: X und Y gegen Niederlande, 8978/80, 26 März 1985, § 22.
[20] Vereinte Nationen: Abschließende Feststellungen des Menschenrechtsausschusses zur Situation der Menschenrechte in Irland, 2008, CCPR/C/IRL/ CO/3, § 8.
[21] Parlamentarische Versammlung des Europarats, Entschließung 2048 (2015): Diskriminierung von Transgenderpersonen in Europa, 22. April 2015.
[22] IAGMR: Advisory Opinion OC-24/17, 24. Nov. 2017, Serie A, No. 24, §§ 95, 101, 161.

Wort zum „Marsch für das Leben“

Von Bischof Georg Bätzing  

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder, auch in diesem Wahljahr kommen Sie in Berlin zusammen, um trotz der Corona-Pandemie friedlich und unter Beachtung der geltenden Auflagen auf wichtige Wertmaßstäbe unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen, insbesondere auf die Würde des menschlichen Lebens, die unantastbar ist. Ich danke Ihnen für Ihr Engagement.

Werdende Mütter und Eltern haben die Auswirkungen der Pandemie im letzten Jahr besonders schmerzhaft zu spüren bekommen. Persönliche und niedrigschwellige Hilfe- und Unterstützungsangebote waren schwieriger oder nicht erreichbar. Das erhöhte Risiko auf schwere Krankheitsverläufe und Berichte über Fehlgeburten bei einer COVID-19-Infektion hat Schwangere verunsichert. Konfliktsituationen konnten sich durch die Einschränkungen des öffentlichen Lebens verschärfen. Die Meldung, dass der Corona-Lockdown die Gewalt in Familien, vor allem gegenüber Frauen und Kindern, massiv verschlimmert hat, ist alarmierend. Unser Land braucht daher wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Schwangeren vor Ausbeutung und Gewalt. Solche Initiativen zeitnah zu verwirklichen, sehe ich als besonders dringlich an. Denn der Einsatz für die körperliche und seelische Unversehrtheit, ihre Würde und ihre Rechte, ist ein zentraler Bestandteil unseres Einsatzes für den Schutz der personalen Würde aller Menschen.

Diese Überzeugung, dass allen Menschen die gleiche unantastbare Würde zukommt, muss mit demselben Ernst und ohne Abstriche auch für das Leben ungeborener Kinder gelten. Dem ungeborenen Kind kommt ab dem ersten Moment seiner Zeugung ein eigenständiger Schutzanspruch zu. Als katholische Kirche widersprechen wir deshalb mit allem Nachdruck der Auffassung des EU-Parlaments, dass die Abtreibung ungeborener Kinder ein Menschenrecht darstellt. Eine entsprechende politische Forderung wird der Tragik und der Komplexität der Situationen, in denen Mütter die Abtreibung ihres ungeborenen Kindes als einzigen Ausweg empfinden, nicht gerecht. Der Schutz des ungeborenen Lebens und der Schutz von Schwangeren bedingen einander gegenseitig. Werdende Mütter und Eltern, die sich während der Schwangerschaft in einer schweren Notlage befinden, bedürfen unserer Solidarität und konkreten Hilfe- und Unterstützungsangebote. Wir wollen sie in ihrer Bereitschaft zur Annahme des ungeborenen Kindes bestärken sowie Verhältnisse, die dieser Annahme im Wege stehen, verändern.

Für den Marsch für das Leben 2021 wünsche ich Ihnen Gottes Segen.

Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 10/Oktober 2021
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