Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Was sich vor unseren Augen in der Ukraine abspielt, droht die ganze Welt aus der Bahn zu werfen. Die erschütternden Bilder, die uns erreichen, lassen niemanden kalt. Sie wühlen die ganze Menschheit auf, wecken Gefühle von Abscheu und Verzweiflung, zwingen Politiker zum Handeln und bergen die Gefahr in sich, unkontrollierbare Mechanismen auszulösen. Unsere Weltordnung scheint aus den Fugen zu geraten.

Ein Licht in der Finsternis ist das weltweite Mitgefühl mit der gemarterten Bevölkerung. Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Angesichts der sich ausbreitenden Angst ist die Offenheit für die unzähligen Flüchtlinge ein heilender Trost. Doch ein Ausweg ist noch nicht in Sicht.

Papst Franziskus erweist sich als guter Hirte, der sich unermüdlich für die leidenden Menschen einsetzt und sich furchtlos an ihre Seite stellt. Unerschrocken legt er Zeugnis für die Forderungen des Evangeliums und seine persönliche Anteilnahme ab, schickt seine Kardinäle in die Ukraine, telefoniert mit dem Russisch-Orthodoxen Patriarchen in Moskau und mit Staatsoberhäuptern und ist bereit, alles zu tun, um zu vermitteln und Frieden zu stiften.

Doch der Papst sieht sich nicht als Politiker, sondern als Diener des Reiches Gottes. Er fällt keine Urteile, mischt sich nicht in die Politik selbst ein und gibt keine Ratschläge zu Waffenlieferungen oder wirtschaftlichen Sanktionen. Ihm geht es um den Menschen, der von Gott geliebt ist und den allein die Gnade Gottes zum Heil führen kann.

So ruft Papst Franziskus an erster Stelle zum Gebet und zum Fasten auf. Ausdrücklich bittet er alle Gläubigen, auf diese Weise mitzuhelfen, um den Ukraine-Konflikt zu lösen und dem unsäglichen Leiden ein Ende zu bereiten. Christus ist unser Friede. Zu ihm muss die Menschheit zurückkehren, an ihn muss sie sich wenden, wenn sie im Frieden leben möchte. Nur er kann Versöhnung schenken und die Wunden heilen.

Seinen pastoralen Mut zeigt Papst Franziskus nun auch darin, dass er die Bitte der ukrainischen Bischöfe aufgegriffen und angekündigt hat, am 25. März 2022, dem Hochfest der Verkündigung des Herrn, Russland und die Ukraine dem Unbefleckten Herzen Mariens zu weihen. Der Papst weiß, dass wir in dieser entscheidenden Stunde nichts zu verlieren haben, wenn wir auf die Wünsche der Gottesmutter von Fatima eingehen. Er braucht jetzt keine politischen oder kirchenpolitischen Rücksichten mehr nehmen, sondern kann Russland und die Ukraine beim Namen nennen. So vertraut er auf die mütterliche Liebe der Königin des Friedens und auf die Macht ihrer Fürsprache. Im Licht der Botschaft von Fatima ist der Weiheakt des Papstes ein großes Zeichen der Hoffnung.

Liebe Leser, wir schreiben diese Zeilen eine Woche vor dem angekündigten Weiheakt, auf den wir voll Zuversicht und Dankbarkeit vorausblicken. Sie erhalten das Heft Tage danach. Doch ist uns dieses Ereignis so wichtig, dass wir uns entschlossen haben, es zum Titelthema dieser Ausgabe zu machen. Dazu passt auch sehr gut das ausführliche Interview mit dem Gründer der Initiative „Deutschland betet Rosenkranz“, die eigentlich eine Antwort auf Corona sein wollte, nun aber als Friedensinitiative eine brisante Aktualität erlangt hat.

Wir freuen uns, mit der Vorstellung des Buches „Schönheit und Heiligkeit“ von Prof. Dr. Anton Štrukelj unserem hochgeschätzten Papst em. Benedikt XVI. zum 95. Geburtstag gratulieren zu dürfen. Wir bitten ihn um sein Gebet und seinen Segen für die Kirche in Deutschland und für den Frieden in der Welt. Mit einem aufrichtigen Vergelt’s Gott wünschen wir Ihnen eine gnadenreiche Karwoche und eine hoffnungsvolle Osterzeit.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Papst Franziskus zur Tragödie in der Ukraine

„Der Krieg ist Wahnsinn!“

Papst Franziskus lässt sich nicht einschüchtern. Unerschrocken nannte er die Dinge beim Namen, als er nach dem Angelus am 6. März 2022 auf die erschütternden Vorgänge in der Ukraine einging. Eine Woche später wurde er noch deutlicher und flehte im Namen Gottes, das Massaker zu beenden. Franziskus stellt sich an die Seite der gemarterten Bevölkerung, dankt aber auch den Journalisten und allen, die sich um Flüchtlinge kümmern. Ein trostvolles Zeugnis aus der Kraft des Evangeliums.

Von Papst Franziskus

Liebe Brüder und Schwestern! In der Ukraine fließen Ströme von Blut und Tränen. Es handelt sich nicht nur um eine Militäroperation, sondern um einen Krieg, der Tod, Zerstörung und Elend aussät. Die Zahl der Opfer steigt ebenso wie die Zahl der Menschen auf der Flucht, insbesondere Mütter und Kinder. Der Bedarf an humanitärer Hilfe in diesem gequälten Land steigt von Stunde zu Stunde dramatisch an.

Ich appelliere nachdrücklich dafür, dass die humanitären Korridore wirklich gesichert werden und dass der Zugang von Hilfsgütern zu den belagerten Gebieten gewährleistet und erleichtert wird, um unseren Brüdern und Schwestern, die von den Bomben und der Angst unterdrückt werden, lebenswichtige Hilfe zu leisten.

Ich danke allen, die Flüchtlinge aufnehmen. Vor allem aber bitte ich flehentlich um ein Ende der bewaffneten Angriffe, darum, dass Verhandlungen der Vorrang eingeräumt werde – und dass sich der gesunde Menschenverstand durchsetzen möge. Und dass das Völkerrecht wieder respektiert werde!

Und ich möchte auch den Journalistinnen und den Journalisten danken, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um Informationen zu liefern. Danke, Brüder und Schwestern, für diesen Dienst, den ihr leistet! Ein Dienst, der es uns ermöglicht, die Tragödie dieser Bevölkerung hautnah mitzuerleben und die Grausamkeit eines Krieges zu beurteilen. Danke, Brüder und Schwestern.

Lasst uns gemeinsam für die Ukraine beten: wir haben ihre Fahnen vor uns. Beten wir gemeinsam, als Brüder und Schwestern, zu Unserer Lieben Frau, der Königin der Ukraine. Gegrüßt seist du, Maria…

Der Heilige Stuhl ist bereit, alles zu tun, um sich in den Dienst dieses Friedens zu stellen. In diesen Tagen sind zwei Kardinäle in die Ukraine gereist, um den Menschen zu dienen, um zu helfen. Kardinal Krajewski, Almosenpfleger, um den Bedürftigen zu helfen, und Kardinal Czerny, kommissarischer Präfekt des Dikasteriums für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Diese Anwesenheit der beiden Kardinäle dort ist die Anwesenheit nicht nur des Papstes, sondern diejenige des ganzen christlichen Volkes, das sich nähern und sagen will: „Der Krieg ist Wahnsinn! Haltet bitte ein! Seht euch diese Grausamkeit an!“

Dem fügte Papst Franziskus eine Woche später beim Angelus am 13. März hinzu:

Brüder und Schwestern, wir haben gerade zur Jungfrau Maria gebetet. Diese Woche ist die Stadt, die ihren Namen trägt, Mariupol, zu einer Märtyrerstadt in dem erschütternden Krieg geworden, der in der Ukraine wütet. Angesichts der Barbarei der Tötung von Kindern, von unschuldigen Menschen und von wehrlosen Zivilisten gibt es keine strategischen Begründungen, die stichhaltig wären: das Einzige, was es zu tun gilt, ist, der inakzeptablen bewaffneten Aggression ein Ende zu setzen, bevor sie Städte in Friedhöfe verwandelt. Mit Trauer im Herzen vereint sich meine Stimme mit jener des einfachen Volkes, das um ein Ende des Krieges fleht. In Gottes Namen, hört auf den Schrei der leidenden Menschen und lasst die Bombenangriffe und die Attacken aufhören! Setzt wirklich und entschlossen auf die Verhandlungen und sorgt dafür, dass die humanitären Korridore effizient und sicher sind. Im Namen Gottes bitte ich euch: Beendet dieses Massaker!

Ich möchte noch einmal dazu aufrufen, die vielen Flüchtlinge, in denen Christus gegenwärtig ist, aufzunehmen und für das große Netz der Solidarität danken, das sich gebildet hat. Ich bitte alle Diözesan- und Ordensgemeinschaften, die Momente des Gebets für den Frieden zu vermehren. Gott ist nur der Gott des Friedens, er ist nicht der Gott des Krieges, und wer die Gewalt unterstützt, frevelt gegen seinen Namen. Lasst uns nun in Stille für die Leidenden beten und dafür, dass Gott die Herzen zu einem festen Friedenswillen bekehren möge.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zur Bedeutung der Weihe Russlands und der Ukraine am 25. März 2022

Großes Zeichen der Hoffnung

Papst Franziskus ist auf die Bitte der römisch-katholischen Bischöfe der Ukraine eingegangen und hat am 25. März 2022 angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen die beiden Länder Russland und die Ukraine zusammen dem Unbefleckten Herzen Mariens geweiht. Pfarrer Erich Maria Fink, der seit Anfang 2000 als Seelsorger in Russland tätig ist, sieht darin ein großes Zeichen der Hoffnung. Im Licht der Botschaft von Fatima haben für ihn die derzeitigen Ereignisse eine Bedeutung, die weit über die Grenzen der Ukraine hinausgeht. Die weitere Entwicklung des Konflikts sei für die Zukunft der ganzen Völkerfamilie entscheidend. Seinen Beitrag verfasste Pfr. Fink eineinhalb Wochen vor dem Vollzug der Weihe durch Papst Franziskus.

Von Erich Maria Fink

Als uns hier in Russland am 24. Februar 2022 die Nachricht vom Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine erreichte, konnten wir nur noch weinen. Und mein erster Gedanke war: Jetzt sollte der Papst die Weihe Russlands an das Unbefleckte Herz Mariens vollziehen, und zwar wirklich so, wie es die Gottesmutter in Fatima als Voraussetzung für den Frieden in der Welt verlangt hat.

Mit großer Freude hörte ich eine Woche später vom Appell der ukrainischen Bischöfe an den Papst, eine öffentliche Weihe Russlands und der Ukraine an das Unbefleckte Herz Mariens vorzunehmen. Auch sie betonten ausdrücklich, dass es so geschehen sollte, „wie es die Heilige Jungfrau in Fatima erbeten hat“.

Die Gottesmutter hatte von der „Weihe Russlands“ gesprochen. Diesen Terminus sind wir so gewohnt, dass wir zunächst etwas aufhorchen, wenn die Bischöfe eine Weihe Russlands und der Ukraine erbitten. Ich konnte dieser Verbindung innerlich sofort zustimmen. Man muss bedenken, dass im Juli 1917, als die Gottesmutter von Russland sprach, die Ukraine noch zum Russischen Reich gehörte. So könnte der Weiheakt die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts einfangen und einen Bogen von damals über die Oktoberrevolution, die Sowjetherrschaft, den Zweiten Weltkrieg und die Perestroika bis hin zur jetzigen Tragödie spannen.

Als nun der Vatikan vermeldete, Papst Franziskus wolle dem Ersuchen der ukrainischen Bischöfe nachkommen und die Weihe am 25. März 2022 vollziehen, wurde ich von unglaublicher Dankbarkeit und Zuversicht erfüllt. In dieser Stunde schmerzvoller Heimsuchungen setzen wir unser ganzes Vertrauen auf die Verheißungen der Gottesmutter von Fatima und ihren barmherzigen Rettungsplan. Wir sind überzeugt, dass Gott in der Finsternis und Verzweiflung unserer Tage das Geheimnis seiner Liebe besonders durch das Unbefleckte Herz Mariens aufleuchten lassen möchte. Deshalb verbinden wir mit der angekündigten Weihe große Hoffnungen auf Frieden unter den Völkern und auf Einheit unter den christlichen Gemeinschaften.

Die Bitte um eine erneute öffentliche Weihe wurde nur von den römisch-katholischen Bischöfen der Ukraine ausgesprochen. Sie vertreten die Katholiken, die dem lateinischen Ritus angehören. Diese machen lediglich ein Prozent der bis noch vor kurzem 44 Millionen Einwohner des Landes aus. Daneben gibt es die viel größere griechisch-katholische Kirche. Es handelt sich um die mit Rom unierten Christen, die ihre ostkirchlichen Traditionen beibehalten haben. Zu ihnen zählen immerhin neun Prozent der Bevölkerung. Nun ist zu hoffen, dass im Zusammenhang mit der angekündigten Weihe zuallererst diese beiden Kirchen Hand in Hand gehen und in der Öffentlichkeit ein starkes Zeugnis für ihren gemeinsamen Weg unter dem Schutz der Gottesmutter ablegen. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, dass auch die orthodoxen Gemeinschaften in irgendeiner Form ihre Anteilnahme und ihre Unterstützung der Weihe Russlands und der Ukraine bekunden.

Ist die Weihe nicht schon längst vollzogen?

Mit der Bitte um einen solchen Weiheakt ist auch die alte Diskussion wieder aufgeflammt, ob die vom Himmel geforderte Weihe Russlands bereits vollzogen wurde oder ob sie bislang unvollständig erfolgte.

Die Seherin Lúcia dos Santos hatte letztlich diese Debatte selbst ausgelöst, nämlich nach der Weihe durch Papst Pius XII. im Jahr 1942. Während des Zweiten Weltkriegs hatte sie den Papst wiederholt dazu aufgefordert, den Rettungsanker zu ergreifen und die vom Himmel verlangte Weihe durchzuführen. Tatsächlich ging der Papst darauf ein, orientierte sich aber an der Herz-Jesu-Weihe von Papst Leo XIII. am 11. Juni 1899. Dieser hatte als Stellvertreter Christi auf Erden die ganze Welt in den Weiheakt eingeschlossen. So weihte auch Papst Pius XII. am 31. Oktober und noch einmal am 8. Dezember 1942 die ganze Welt dem Unbefleckten Herzen Mariens. Dieser Akt verfehlte seine Wirkung nicht, sondern läutete das Ende der Nazi-Herrschaft ein.

Mich hat immer berührt, wie einfühlsam Papst Pius XII. versuchte, Russland wenigstens anzudeuten. Im Weihegebet heißt es: „Gib den Frieden auch jenen Völkern, die sich durch Irrtum oder Zwietracht getrennt haben, und vornehmlich denen, die eine einzigartige Verehrung für Dich hegen, bei denen es kein Haus gab, in dem nicht Deine ehrwürdige Ikone in Ehren stand (in einer Anmerkung wurde hinzugefügt: „heute wird sie vielleicht verborgen gehalten und für bessere Tage bewahrt“); führe sie zum einzigen Schafstall Christi, zum einzigen und wahren Hirten zurück!“

Es ist nicht zu übersehen, dass Pius XII. schon damals klar gesehen hat, dass die Weihe Russlands darauf abzielt, den Weg für die Wiederherstellung der vollen Einheit der Russisch-Orthodoxen Kirche mit dem Nachfolger Petri zu ebnen. Erst mit der Einheit zwischen orthodoxer und katholischer Kirche wird die verheißene Bekehrung Russlands erfolgt sein.

Dennoch stellte Sr. Lúcia fest, der Papst habe mit dieser Weihe die Forderungen des Himmels nicht vollständig erfüllt. Vor allem sei der Weiheakt nicht „zusammen mit allen Bischöfen der Welt“ erfolgt.

Die Weihe, die der hl. Papst Johannes Paul II. am 25. März 1984 auf dem Petersplatz in Rom durchführte, war zusammen mit dem Marianischen Jahr 1987/88 offensichtlich ausschlaggebend für den Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa. Auch dürfen wir diesem Weiheakt des Papstes die Verschonung von einem Atomkrieg zuschreiben, wie es Sr. Lúcia bekräftigt hat. Nahm Johannes Paul II. doch ausdrücklich die Bitte „Vor Atomkrieg, unkontrollierbarer Selbstzerstörung und jeder Art des Krieges befreie uns!“ in das Weihegebet auf. Doch nannte auch Johannes Paul II. Russland nicht beim Namen. Und im Gebet, welches das Marianische Jahr begleiten sollte, war Russland nur indirekt genannt. Es spricht von den Völkern, „die in diesem Marianischen Jahr das 600jährige oder 1000jährige Jubiläum ihrer Bekehrung zum Evangelium feiern“. Gemeint sind die litauische Nation und die heilige Rus.

Sr. Lúcia bestätigte 1989 dem Vatikan gegenüber auch schriftlich, mit der Weihe vom Jahr 1984 habe der Papst der Bitte der Gottesmutter entsprochen. Vor allem Tarcisio Kardinal Bertone SDB betonte, die Weihe sei zur Zufriedenheit von Schwester Lucia vollzogen worden. Wurde er auf das Thema angesprochen, konnte er sehr ungehalten reagieren.

Ich war aber immer der Meinung, dass damit das Thema nicht einfach abgeschlossen sein konnte. Zunächst ist anzumerken, dass es nicht in die Kompetenz einer Seherin fällt, die empfangenen Botschaften im Detail zu deuten, geschweige denn eine solche Frage zu beurteilen. Ich habe mich immer gewundert, warum sich der Vatikan an Sr. Lúcia wandte, um sie diese Entscheidung treffen zu lassen und sich später auf ihre Worte berufen zu können. Dies wäre nach kirchlichem Verständnis nur dann möglich gewesen, wenn Sr. Lúcia im Anschluss an den Weiheakt vom Jahr 1984 eine neue, von der Kirche geprüfte und anerkannte Erscheinung gehabt hätte. Solange aber gelten die Worte der Gottesmutter. Und es bleibt eine objektive Tatsache, dass Russland in den Weihegebeten nicht ausdrücklich genannt worden ist. Aber die Absicht Gottes besteht offenkundig darin, durch die unzweideutige Nennung Russlands eine klare Aussage zu treffen und dadurch seinen Willen zu offenbaren. Dieser zielt auf die volle Bekehrung Russlands ab, die ebenfalls noch aussteht.

Bekehrung Russlands

Am 7. Januar 2000 hatte ich meinen seelsorglichen Dienst in Russland begonnen. Im Rahmen des Heiligen Jahres wurde auch eine große „Jubiläumsfeier der Bischöfe“ am 8. Oktober 2000 angekündigt. Papst Johannes Paul II. ließ zu diesem Anlass die Statue Unserer Lieben Frau von Fatima nach Rom bringen, um die Marienweihe zu erneuern.

Ich war zutiefst bewegt und richtete am 19. September 2000 einen Brief an Papst Johannes Paul II., in dem ich die Bitte aussprach: „Am 13. Juni 1929 sagte die Gottesmutter zu Sr. Lucia von Fatima: ‚Es ist der Augenblick gekommen, in dem Gott den Heiligen Vater auffordert, in Vereinigung mit allen Bischöfen der Welt die Weihe Russlands an mein Unbeflecktes Herz zu vollziehen; er verspricht es durch dieses Mittel zu retten.‘ Damit führte die heiligste Jungfrau fort, was sie bereits am 13. Juli 1917 angekündigt hatte: ‚… Um das zu verhüten, werde ich kommen, um die Weihe Russlands an mein Unbeflecktes Herz … zu fordern. … Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und eine Zeit des Friedens wird der Welt geschenkt werden.‘ Heiliger Vater, wir bitten Sie inniglich, am 8. Oktober den historischen Augenblick zu nützen und in Anwesenheit so vieler Bischöfe Russland im Weihegebet namentlich zu nennen.“

Und ich unterstrich diese Bitte mit dem Hinweis: „Wir erleben unmittelbar die Notwendigkeit einer wirklichen Bekehrung Russlands, die die sichtbare Einheit zwischen Ost- und Westkirche einschließt. In unserer Arbeit klammern wir uns an die Verheißung Unserer Lieben Frau von Fatima. Nur eine wunderbare Gnadenhilfe Gottes kann die geistige Wende in Russland herbeiführen.“

Ich hatte mich also bereits damals davon überzeugt, dass eine echte geistige Wende, eine wirkliche Bekehrung Russlands, noch nicht stattgefunden hat. Sicherlich sind der Wiederaufbau der Kirchen und die Neubelebung der Klöster eindrucksvoll und zeichenhaft. Doch große Sorgen machte mir in den letzten zehn Jahren die Entwicklung, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche, wie es mir ein hoher Vertreter der orthodoxen Kirche selbst erklärt hat, mehr im Dienst des staatlichen Patriotismus als des Evangeliums steht.

Aus dem Staatssekretariat erhielt ich im Jahr 2000 eine freundliche Antwort. Sie ließ mich aber auch spüren, dass ich den Vatikan mit einer solchen Bitte nicht länger belästigen sollte.

Zeichen der Hoffnung

Was sich derzeit in der Ukraine abspielt, ist eine unaussprechliche Tragödie. Es sieht wirklich so aus, als ob die Weihe jetzt dringender ist als je zuvor. Denn es besteht die Gefahr, dass die ganze Welt in den Strudel der Gewalt hineingezogen wird. In dieser Situation kann die Kirche nichts verlieren. Es ist auch nicht mehr die Zeit, sich diplomatisch zurückzuhalten und auf politische und konfessionelle Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Das scheint Papst Franziskus ebenfalls so zu sehen. An Mut fehlt es ihm gewiss nicht, wie er im Augenblick eindrucksvoll unter Beweis stellt. Und wir hoffen, dass der Weiheakt alle verlangten Elemente erfüllt, dass er in Vereinigung mit allen Bischöfen der Welt vollzogen wird, dass das Wort „weihen“ verwendet werden (nicht nur „anvertrauen“) und dass ausdrücklich vom „Unbefleckten Herzen Mariens“ die Rede ist und nicht nur allgemein von der Gottesmutter.

Die Rettung des Friedens wäre ein unglaublich starkes Zeichen, besonders für die Russisch-Orthodoxe Kirche und die beiden Nationen selbst. Es besteht kein Zweifel, dass der Himmel gerade auf diesem Weg auch die Einheit zwischen Ost- und Westkirche wiederherstellen will.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Vom Versuch des Menschen, moralisch autonom zu sein

„Kulturmanipulation“ unter Rot-Gelb-Grün

In der Genesis lesen wir, dass im Paradies zwei Bäume standen: der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse (vgl. Gen 2,9). Diese und ihre mögliche Deutung haben mich immer fasziniert, denn der Anfang geht mit und ist von entscheidender Bedeutung für das Kommende.

Von Richard Kocher

Mit dem Baum des Lebens verbinde ich die Vorstellung von vollem, ewigem Leben. Dann stünde der Baum der Erkenntnis wohl für allumfassende Erkenntnis, für Allwissenheit. Beide Bäume würden somit Eigenschaften ausdrücken, die nur Gott zukommen. Bestand die Sünde des Menschen darin, dass er eigenmächtig danach gegriffen hat und in diesem Sinn Gott gleich sein wollte?

Andere deuten „Erkenntnis“ als die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau, denn diese wird in der Bibel öfters mit dem Begriff „erkennen“ bezeichnet (z.B. bei der Verkündigung an Maria in Lk 1,34: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“). Warum sollte dieses Erkennen aber verboten sein und vor allem, warum hat der Genuss vom Baum des Lebens so unvorstellbar negative, bis heute anhaltende Wirkungen?

Nur die Berücksichtigung des biblischen Kontextes und des weiteren Verlaufs der Erzählung vermag die richtige Deutung zu geben. Das Essen vom Baum der Erkenntnis führt zu einer Distanzierung des Menschen von Gott. In einem der neuesten biblischen Kommentare zum Alten Testament von Georg Fischer (im Herder-Verlag publiziert) heißt es, dass man es mit dem „Respekt vor Gott und der von ihm gesetzten Grenze zu tun“ hat. Im eigenständigen Agieren des Menschen und dem unabhängigen Urteilen, was für ihn gut oder böse ist, wollte er an die Stelle Gottes treten. „Der ‚Baum der Erkenntnis von gut und böse‘ steht symbolisch für den Versuch des Menschen, moralisch autonom zu sein“, heißt es dort. In der eigenmächtigen Beurteilung, was für ihn gut ist, überschreitet der Mensch sein ursprünglich von Gott gegebenes Vermögen, weil er nicht in der Lage ist, „eine völlig angemessene, in Allem zutreffende Einschätzung“ zu treffen. Er ist damit in den göttlichen Bereich eingedrungen. „Wer dagegen verstößt und unabhängig von Gott seinen Weg gehen will, verliert das ‚Leben‘ in einem tieferen Sinn.“ Die selbstmächtig geraubte Erkenntnis von Gut und Böse wird dem Menschen zum Verhängnis, denn sie kommt allein Gott zu.

Durch seinen Drang zum von Gott autonomen Handeln fällt der Mensch aus dieser Ordnung heraus. Es geht um eine grundlegende Verfehlung, aus der sich wurzelhaft alles Böse ableitet. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Wenn der Mensch Gott nicht mehr Gott sein lassen will, greift er in dessen Rechte ein und legt selbstmächtig fest – um nur ein Beispiel zu nennen –, wer leben darf und wer nicht. Ehe und Familie werden in der Genesis als das dem Menschen Gemäße verstanden. Entgegen dem Zeugnis der Bibel, dass Mann und Frau füreinander geschaffen sind und sich ergänzen, werden heute alternative Beziehungsformen propagiert, die im Widerspruch zur Offenbarung stehen. (…)

Johannes Röser, der frühere Chefredakteur und jetzige Herausgeber von „Christ in der Gegenwart“ hat in der Nr. 3/2022, S.2 in prägnanter Sprache und theologischer Tiefe einen Kommentar mit dem Titel „Kulturmanipulation“ verfasst, der sich darauf bezieht, dass die rot-gelb-grüne Koalition die Gesellschaft ökologisch runderneuern will; dabei geht es auch um die Natur des Menschen, die nach Papst Benedikt nicht beliebig manipuliert werden darf. Ich gebe ihn in gekürzter Form wieder:

„Ein Regierungs-Großprojekt bereitet die familienpolitische Transformation vor. Nichteheliche oder pseudoeheliche Beziehungen werden zu ,Verantwortungsgemeinschaften‘ erklärt. Die sprachliche Neuerfindung dient dazu, die Ehe zu relativieren. Gleichzeitig wird die Familie zu einem spätneuzeitlichen künstlichen Produkt kleinbürgerlicher Biederkeit umdeklariert, was verschleiert, dass Ehe und Familie Institutionen des Menschengeschlechts seit Jahrtausenden sind. Ihr Sinn: Nachwuchs zeugen, aufziehen, erziehen, ins Erwachsensein bringen, den Fortbestand der Gemeinschaft sichern. [...] Seltsamerweise wird dieser erste Sinn der Sexualität heutzutage schamhaft tabuisiert. Sogar beim Synodalen Weg. [...] Alle Kulturen feiern die Paarung per Hochzeit als höchstes Fest. [...] Mit der Evolution hin zum Monotheismus entwickelte sich die Monogamie. Die Einehe hat sich religions- und kulturübergreifend als das modernen Zivilisationen Gemäße durchgesetzt, wobei archaische Polygamie-Stammestraditionen da und dort fortleben. Die ein Leben lang treue Einehe gegenseitiger Fürsorge garantiert – bei allen Problemen – am besten die psychische wie soziale Gesundheit des Paares wie seiner Kinder. Es ist absurd, wenn der Staat das relativiert, um im Nachhinein psycho-soziale Gesundheits-Reparatur-Agenturen aufzubauen. Ehe und Familie – nur eine Verantwortungsgemeinschaft? Bedeutend mehr: eine Verbindlichkeitsgemeinschaft, unübertroffen, einzigartig. Die beabsichtigte Familien-Transformation bewirkt nicht Fortschritt, sondern Rückschritt. Die Kulturrevolution erweist sich als Kulturmanipulation! Die Kirchen sollten öffentlich vehement Widerstand leisten, statt – wie etliche Amtsträger etwa bei Klimaschutz und Migration – sich anbiedernd an die Regierung anzuschmiegen. Mit einem Wort der Befreiungstheologie: Kontestation. Also Anfechtung und Infragestellung bestehender Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Auf evangelisch: Status confessionis.“

 Den vollständigen Kommentar finden Sie unter: www.herder.de/cig/cig-ausgaben/archiv/2022/3-2022/kulturmanipulation/

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
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Interview mit dem Gründer der Initiative „Deutschland betet Rosenkranz“

Große Sehnsucht nach Gebetsgemeinschaft

Am 1. Dezember 2021 startete Manfred Benkert mit der Initiative „Deutschland betet Rosenkranz“. Sie entstand als Antwort auf das Bedürfnis nach Versöhnung und Einheit. In kürzester Zeit entwickelte sie sich zu einer Erfolgsgeschichte. Woche für Woche nehmen etwa 20.000 Menschen an den Treffen teil. Es zeigt sich eine tiefe Sehnsucht nach Gebetsgemeinschaft, aber auch das Bedürfnis, durch die Teilnahme am Rosenkranz auf öffentlichen Plätzen ein Glaubenszeugnis abzulegen. Der Ukraine-Konflikt verleiht der Initiative einen zusätzlichen Impuls und neue Aktualität. Benkert ist 54 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder. Er lebt in Altötting, ist Mitglied der Gemeinschaft Emmanuel und organisiert unter anderem seit 2011 die Ewige Anbetung in der dortigen Anbetungskapelle. Im Interview schildert er seine Erfahrungen.

Interview mit Manfred Benkert

Kirche heute: Herr Benkert, Sie haben die Initiative „Deutschland betet Rosenkranz“ ins Leben gerufen. Sie laden dazu ein, an öffentlichen Plätzen jeden Mittwoch um 18:00 Uhr gemeinsam den Rosenkranz zu beten. Was ist das Gebetsanliegen? Wofür beten die Menschen?

Manfred Benkert: Wir beten um Einheit und Frieden in unserem Land, in Europa und der ganzen Welt und wollen die Menschen in unserem Land und weltweit der Muttergottes anvertrauen. Wir wollen Gott wieder zurück in unser Land und in die Herzen der Menschen bringen und das durch und mit Maria. Wir wollen beten – um die Bekehrung der Herzen und dass Gott wieder den ersten Platz im Leben der Menschen einnimmt.

Warum haben Sie sich für den Rosenkranz entschieden?

Die Muttergottes hat immer wieder, v.a. in Fatima, aufgerufen: „Betet täglich den Rosenkranz!“ Durch das Beten in der Öffentlichkeit wollen wir den Rosenkranz und die Kraft des Rosenkranzgebets wieder zurück in die Gesellschaft bringen. Schwester Lucia, eines der Seherkinder von Fatima, sagte: „Die allerseligste Jungfrau gab dem Rosenkranz eine solche Wirkung, dass es kein materielles, spirituelles, nationales oder internationales Problem gibt, das nicht durch ihn und durch unser Opfer gelöst werden kann.“

Von seiner Struktur her ist der Rosenkranz ganz christozentrisch und das Evangelium wird wie in einem Brennglas zusammengefasst. Zudem ist er so einfach und klar, dass ihn jede und jeder auch spontan erlernen und mitbeten kann, auch Kinder, selbst wenn sie den Rosenkranz vorher nie oder selten gebetet haben.

Der hl. Pater Pio hat ja mal sinngemäß gesagt, wenn man den Rosenkranz betet, dann ist es so, als wenn man die Hand der Muttergottes ergreifen würde. Daran wollen wir erinnern und dazu ermutigen.

Neben dem Werben für das tägliche Rosenkranzgebet ist mein Anliegen mit dieser Initiative auch, den Aufruf der Muttergottes in den Botschaften von Fatima den Menschen nahe zu bringen und ihm Gehör zu verschaffen. Hierzu zählen neben dem täglichen Rosenkranzgebet auch die eigene Umkehr und Buße sowie Sühne, sprich Wiedergutmachung, für die Sünden anderer durch Gebet und freiwillige Opfer, d.h. wir haben eine Mitverantwortung für das Heil der anderen.

An wie vielen Orten finden derzeit solche Gebete statt? Wie sind die Standorte über Deutschland verteilt?

Offiziell sind uns über 760 Orte in ganz Deutschland gemeldet. Da wir von einigen wissen, dass sie sich nicht auf unserer Online-Plattform angemeldet haben, rechnen wir mit über 800 Orten. Außer im Osten Deutschlands, wo die Dichte der öffentlichen Rosenkränze nicht ganz so stark ist, gibt es über die ganze Bundesrepublik verteilt die „Mittwochsrosenkränze“.

Wie viele Menschen machen mit? Kann man die Gesamtzahl der Teilnehmer aller Gebetstreffen in etwa abschätzen?

Ich schätze, dass sich etwa 20.000 Menschen an den wöchentlichen öffentlichen Rosenkränzen beteiligen.

Wie kam es dazu? Wann und wo haben die öffentlichen Gebete begonnen? Wie hat sich die Initiative seither entwickelt? Ist die Teilnehmerzahl eher am Wachsen oder geht die Begeisterung schon wieder zurück?

Diese wunderbare Idee zu der Initiative der „Mittwochsrosenkränze“, die ja auf öffentlichen Plätzen stattfinden, entstand in Österreich, von der ich erstmals am 1. Dezember vergangenen Jahres erfahren habe. Die österreichische Rosenkranz-Initiative „Österreich betet“ hatte sich einige Tage vorher gegründet und über Telegram organisiert. Die Geburtsstunde der deutschen Initiative „Deutschland betet Rosenkranz“ war dann dieser 1. Dezember, als ich ebenfalls eine Telegram-Gruppe hier in Deutschland gestartet hatte, auf die bereits ohne eigene Werbung innerhalb 24 Stunden über 400 Menschen aufmerksam wurden und der Gruppe beigetreten sind. Die Gruppe auf Telegram ist jetzt auf über 6.000 Personen angewachsen. Die ersten „Mittwochsrosenkränze“ im Rahmen unserer Initiative begannen dann ganz bewusst am 8. Dezember, an „Mariä Empfängnis“. Die Freude darüber, dass sich bereits beim ersten Mal über 115 Orte beteiligten, war bei mir und dem ganzen Orga-Team groß. Mit einer geschätzten Beteiligung von aktuell 800 Orten entspricht das, Stand heute, in etwa einer Versiebenfachung. Die Anzahl der Orte wächst zwar im Augenblick nicht im selben Tempo wie zu Beginn, jedoch habe ich den Eindruck, dass an den bestehenden Orten mehr Menschen auf die Initiative vor Ort aufmerksam werden.

Warum finden die Gebetstreffen auf öffentlichen Plätzen und nicht in Kirchen statt?

Uns ist es wichtig, ein öffentliches Zeichen des Gebetes zu setzen. Es hat etwas damit zu tun, dass wir den katholischen, oder überhaupt den christlichen Glauben wieder in der Öffentlichkeit sichtbar werden lassen wollen. Und ja, es hat natürlich auch etwas mit Zeugnis geben zu tun, das wir als Christen vielleicht auch erst wieder lernen müssen. Es ist schon besonders, wenn, wie es beispielsweise in München ist, über 200 Menschen mit Kerzen in der Hand mitten in der Fußgängerzone an der Mariensäule oder anderswo an Kreuzen, Pestsäulen oder vor Kirchen etc. stehen und gemeinsam beten.

Wir wollen damit auch ein Zeichen der Hoffnung in unserem Land setzen, das auch Menschen anziehen soll, die vielleicht mit dem Glauben nicht so viel zu tun haben, die nicht wissen, wie sie mit ihren Ängsten und Nöten umgehen sollen, und deshalb aber gerade in so bewegten Zeiten wie diesen nach einem Anker suchen, der ihnen inneren Frieden gibt, der ihnen Halt gibt, und so vielleicht wieder einen Schritt auf Gott zumachen. Immer wieder kommt es vor, dass Menschen spontan stehen bleiben und mitbeten. Von vielen Orten wissen wir, dass zu den öffentlichen Rosenkränzen auch der Kirche Fernstehende kommen, Menschen die mit der Kirche abgeschlossen haben oder ausgetreten sind. Diese Menschen kämen vielleicht nicht, wenn die Rosenkränze in der Kirche stattfinden würden. Öfter bekommen wir die Rückmeldung, dass auch Glaubensgeschwister aus der evangelischen Kirche dazukommen. Von einem Ort wissen wir, dass die dortige evangelische Pastorin bei den wöchentlichen „Mittwochsrosenkränzen“ mitbetet, weil sie in Einheit mit den Glaubensgeschwistern beten will. Was für ein wunderbares ökumenisches Zeugnis – und das im öffentlichen Raum.

Nehmen an den Gebeten auch kirchliche Mitarbeiter, Priester und Bischöfe teil?

Bischöfe nehmen leider noch nicht teil. Was nicht ist, kann ja noch werden. Gott sei Dank beten aber sehr wohl Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter mit.

Wie steht die kirchliche Hierarchie überhaupt zu dieser Initiative? Gibt es offizielle Stellungnahmen der Kirche? Erfahren Sie vonseiten der Kirche Unterstützung?

Nun, die Initiative ist ja noch sehr jung und vielleicht auch noch nicht bis in die Spitzen der kirchlichen Hierarchie in Deutschland angekommen. Trotzdem habe ich bereits sehr schöne Rückmeldungen von Priestern und eines Bischofs erhalten, mit dem ich kürzlich länger telefonierte. Dieser Bischof hat sich sehr über diese Rosenkranz-Initiative gefreut und war froh darüber, dass die Initiative in der Bevölkerung eine so große Resonanz erfährt. Wir wurden sehr dazu ermutigt weiterzumachen.

Ja, es steht noch aus, dass wir die Bischöfe persönlich anschreiben und ihnen davon genauer berichten. Wir stehen ja auch gerade erst am Anfang.

Wie reagiert die Öffentlichkeit auf die Gebetsversammlungen? Erleben die Treffen auch Anfeindungen oder verlaufen sie völlig friedlich?

Vielleicht muss ich an dieser Stelle auch einmal sagen, dass es sich bei den öffentlichen Rosenkränzen nicht unbedingt um eine Gebetsversammlung handelt. Denn dazu müsste es ja eine Andacht unter einer gemeinsamen Leitung sein. Das ist ja nicht überall der Fall. – Die eigene Erfahrung bei uns in Altötting ist – und das ist sicher auch die von anderen Orten –, dass wo der Rosenkranz in einer Fußgängerzone oder auf einem belebteren Platz stattfindet und eine größere Anzahl an Menschen beisammenstehen und beten, sich immer wieder Menschen davon angezogen fühlen, stehen bleiben, neugierig sind, warum da gebetet wird, und vereinzelt mitbeten. Das ist auch beabsichtigt. Ja, natürlich hören wir hin und wieder davon, dass öffentliche Rosenkränze gestört werden, aber das sind, soweit ich das mitbekomme, eher Einzelfälle. Wir beten ja um Einheit und Frieden. Diese Störaktionen zeigen uns ja letztlich immer wieder auf, wie notwendig unser Gebet ist.

Hat die Initiative ein Echo in den Medien hervorgerufen? Welche Stimmen sind zu vernehmen?

Einige christliche Medien haben bereits von der Initiative berichtet und was ich so mitverfolgt habe, durchwegs positiv. Die Tagespost beispielsweise übertitelte ihren Artikel zu unserer Initiative gleich ziemlich zum Startzeitpunkt mit: „,Deutschland betet‘ ist ein Leuchtturm.“ Aber auch sonst sind in den „weltlichen“ Medien einige Artikel erschienen, die über die Initiative informiert haben. Einige Interviews stehen auch noch aus.

Wie werden die Treffen organisiert? Wer ist der jeweilige Verantwortliche? Von wem wird der Leiter bestimmt? Gibt es bestimmte Regeln für die Gestaltung des Rosenkranzgebets?

Eigentlich ist das sehr einfach. Wir haben auf unserer Webseite www.deutschland-betet-rosenkranz.de eine Möglichkeit geschaffen, wo man über ein Online-Formular ein öffentliches Rosenkranzgebet einfach melden kann. Dieser Ort wird dann über eine digitale Deutschlandkarte – nachdem wir anhand der gemachten Angaben überprüft haben, ob die Angaben so exakt sind und man den Ort auch auf der Karte findet – von uns freigeschaltet und auf der Karte angezeigt. Andere können dann danach suchen, ob es in ihrer Nähe schon ein öffentliches Gebetstreffen gibt, und können dort dann hinzukommen. Grundsätzlich braucht es für die Rosenkränze auch keinen Verantwortlichen. Die Menschen finden sich an dem gemeldeten Ort ein, z.B. vor einem Kreuz, einer Mariensäule, einem Marienbrunnen, vor einer Kirche und fangen an, den Rosenkranz zu beten. Sehr wohl gibt es aber auch Orte, wo es mehr organisiert ist, bei denen Priester dabei sind, die am Ende einen Segen spenden. Wir als Initiative sind lediglich – wenn man so will – Impulsgeber und stellen eine Plattform zur Verfügung, damit man erfahren und sehen kann, wo Rosenkränze in der Öffentlichkeit gebetet werden. Für die Gestaltung des Rosenkranzgebets gibt es von unserer Seite keine Regeln oder Vorgaben. Die könnten wir ja auch gar nicht einfordern oder überprüfen. Gerne kann natürlich noch ein Marienlied gesungen oder noch das ein oder andere kirchliche Gebet gesprochen werden oder, wie schon erwähnt, kann am Ende natürlich sehr gerne ein Priester den Segen spenden. Da ist jeder frei. Der Zeitrahmen sollte etwa 30 bis max. 40 min. sein.

Wer betreut die Internet-Seite der Initiative und die Auftritte in den sozialen Netzwerken?

Ich habe um mich herum ein kleines ehrenamtliches Orga-Team, für das ich sehr, sehr dankbar bin. Unser Team ist in ganz Deutschland verstreut und zusätzlich gibt es einige Fachleute, die uns mit ihrem Know-how (grafisch, juristisch etc.) ebenfalls ehrenamtlich unterstützen. Das war und ist wirklich vom Himmel (zusammen-)geführt. Bis auf eine Person, die gerade neu dazugestoßen ist, hatte ich vorher niemanden in unserem Team gekannt. Jede und jeder bringt sich mit seinen Fähigkeiten und Kompetenzen ein. So ist gleich zu Anfang ein Informatiker ins Team gekommen, der sich angeboten hatte, für uns eine Webseite zu bauen. Das war wirklich genial, denn das hat es uns ermöglicht, auch etwas mehr aus der „Telegram-Blase“ rauszukommen. Die wöchentlichen Impulse vor den Mittwochsrosenkränzen, die in die Hauptgruppe auf Telegram eingestellt werden, schreibe i.d.R. ich. In der Bildergruppe auf Telegram stellen die Teilnehmer an den Rosenkränzen selbst ihre Impressionen von den Gebeten vor Ort ein. Organisatorisches teilen wir uns im Team auf. So z.B. die vielen E-Mails abarbeiten, die Landkarte mit den verschiedenen Orten für die öffentlichen Rosenkränze auf der Webseite aktuell halten oder auf die Einhaltung der Gruppenregeln in der Telegram-Bildergruppe zu achten.

Wie sehen Sie selbst die Entwicklung der Initiative? Sind Sie von der Dynamik der Gebetstreffen überrascht? Was beeindruckt Sie dabei am meisten? Wie lange soll die Initiative weitergeführt werden?

„Not lehrt beten“ heißt es im Volksmund und wir Menschen sind leider so gestrickt, dass wir eher uns Gott im Gebet zuwenden, wenn wir Nöte in unserem Leben spüren und selbst mit unserem eigenen Latein am Ende sind. In so einer Zeit sind wir gerade. Wir merken, aus unserer eigenen Kraft kommen wir da wohl nicht mehr gut heraus.

So wie die Lage sich gerade in Europa und der Welt entwickelt, gehen wir schweren Zeiten entgegen. Wir merken ja, dass die Leute einen Halt im Gebet suchen. Deshalb ist auch der Zulauf zu den Rosenkränzen groß und wird hoffentlich noch mehr werden. Wie alles in meinem Leben habe ich auch diese Initiative der Muttergottes anvertraut und sie führt die himmlische Regie und ich und wir dürfen einfach nur Werkzeug sein. Beeindruckt bin ich, dass so viele Menschen bereit sind, diesem Aufruf zu folgen, und dass auch Familien mit ihren Kindern kommen. Dass sich die Initiative bisher so entwickelt hat, freut mich und alle aus unserem Team natürlich außerordentlich.

Überrascht hat mich die Dynamik nicht, nur bestätigt, dass es die Zeit des Gebets und der Umkehr ist. Wie lange die Initiative fortgeführt wird, wird man sehen. So Gott will, wird die Initiative andauern, auch über die Notzeiten hinaus, und helfen, den Triumph des Unbefleckten Herzens Mariens einzuleiten. Die Muttergottes in Fatima hatte ja versprochen: „Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren!“ So lange hoffe und bete ich, dass die Initiative fortdauert und dann als Dank weitergeführt wird.

Was hat Sie eigentlich dazu bewogen, die Initiative zu starten?

Seit mittlerweile zwei Jahren erleben wir in unserem Land – und natürlich nicht nur da, sondern weltweit – eine Spaltung der Gesellschaft ungeahnten Ausmaßes. Ein Riss, der durch die ganze Gesellschaft geht, durch Gemeinden, durch die Kirche, ein Riss, der Freundschaften entzweit und – was das Schlimmste ist – dass diese Krise Familien in unterschiedliche Lager entzweit hat. Statt Glaube, Hoffnung und Liebe, die von Gott kommen, haben sich nun sichtbar immer mehr Angst, Hass und Zwietracht, Misstrauen und Verwirrung in unserer Gesellschaft breitgemacht. Dies wurde durch die öffentlichen Medien leider noch befeuert. Das mitzuerleben, auch im eigenen Umfeld, hat mich innerlich nahezu zerrissen und mich zum Weinen gebracht und ich fragte Gott: Herr, was kann mein Beitrag konkret für unser Land und für die Menschen hier sein, damit die Einheit und der Friede wieder zurück in unsere Herzen kommen, dass die Menschen wieder anfangen zu lieben und an dich, Gott, zu glauben, auf dich zu hoffen und auf dich hin sich auszurichten? Wie kann ich dir dienen? Und dann kam vergangenes Jahr der Impuls aus Österreich zum öffentlichen Rosenkranzgebet. Ich verspürte sofort in meinem Herzen ein Drängen, einen solchen Aufruf auch in unserem Land zu starten, und ich sagte mir, wenn uns jemand in dieser bedrängenden Zeit helfen kann, dann ist das unsere liebe Jungfrau Maria, die wir als Friedenskönigin und Knotenlöserin verehren, die sich in Fatima als Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz vorgestellt hat. Die Muttergottes sagte ja am 13. Mai 1917 zu den Seherkindern in Fatima: „Betet täglich den Rosenkranz, um den Frieden in der Welt zu erlangen!“ Wieviel mehr wird dieser Aufruf jetzt konkret, wo Europa und die ganze Welt gerade dabei sind, in einen verheerenden Krieg hineingezogen zu werden.

Was ist Ihnen persönlich in Ihrem Glaubensleben wichtig? Wo sind Sie spirituell beheimatet?

Durch ein Bekehrungserlebnis vor über 15 Jahren durfte ich die große Liebe und Barmherzigkeit Gottes erfahren. Durch diese Erfahrung ist es mir persönlich ein großes Anliegen, den katholischen Glauben an andere Menschen weiterzugeben und die „Frohe Botschaft“ in die Welt von heute hineinzutragen: dass es einen Gott gibt, der uns so nahe ist und so unendlich liebt, dass er sogar sein Leben am Kreuz für uns hingegeben hat und sich uns in der Eucharistie zur Speise gibt; der möchte, dass wir das Leben haben und das in Fülle und wir irgendwann ganz bei Ihm sind. Meine geistige Heimat ist die Gemeinschaft Emmanuel, die im französischen Herz-Jesu-Wallfahrtsort in Paray-le-Monial ihre Wurzeln hat. Da ich in Altötting geboren bin und dort auch lebe, bin ich auch sehr marianisch geprägt. Dadurch schlagen sozusagen zwei Herzen in meiner Brust: die Herzen Jesu und Mariens.

Haben Sie eine Familie? Was machen Sie beruflich?

Ich bin verheiratet mit einer ganz tollen Frau und habe zwei wunderbare Kinder. Von der Ausbildung her komme ich aus dem Projektmanagement. Beruflich darf ich schon seit vielen Jahren größtenteils für das Reich Gottes arbeiten und wirken. 2011 durfte ich mit meiner Frau zusammen die 24/7-Anbetung hier in der Altöttinger Anbetungskapelle starten, die Papst Benedikt als erster Beter 2006 bei seinem Altötting-Besuch eröffnet hatte. Für die Organisation der Anbetung sind wir seither beauftragt. Daraus ist auch ein Anbetungsapostolat entstanden mit dem Ziel, Pfarreien zu helfen, 24/7-Anbetungsorte in und mit den Pfarrgemeinden zu starten. So darf ich u.a. Mitinitiator der jährlich stattfindenden „Adoratio-Kongresse“ hier in Altötting sein. Der erste Kongress fand 2019 zum ersten Mal statt eben mit der Zielsetzung, die eucharistische Anbetung in die Pfarreien zu bringen. Mit im Boot sind bei diesen Kongressen neben der Diözese Passau auch die Bistümer Augsburg, seit 2021 Regensburg und jetzt neu das Bistum Eichstätt.

Was gibt Ihnen Kraft für Ihr Engagement?

Kraft für mein Engagement erfahre ich aus den Sakramenten – im täglichen Empfang der Eucharistie und durch die Beichte, in der eucharistischen Anbetung, vor allem nachts, sowie aus dem Lesen der Heiligen Schrift und dem Rosenkranzgebet, wo ich an der Hand und durch das Herz und durch die Augen Mariens auf Jesus schauen darf.

Was wünschen Sie sich für diese Initiative und was wünschen Sie den Teilnehmern an den Gebeten?

Ich würde eher sagen, was wünsche ich mir mit dieser Initiative? Mein größter Wunsch ist, dass diese Rosenkranz-Initiative einen Beitrag dazu leistet, damit die Menschen wieder anfangen, an Gott zu glauben und IHM den ersten Platz in ihrem Leben und in der Gesellschaft geben, dass die Menschen aufhören, Gott zu beleidigen, und zu Gott umkehren. Ich wünsche mir, dass diese Initiative einen Beitrag dazu leistet, Hoffnung in unser Land zu bringen, dass an Stelle von Spaltung Einheit und Frieden in unser Land einziehen. Ferner wünsche ich mir, dass durch diese Initiative die Menschen anfangen, die Muttergottes und ihr unbeflecktes Herz zu verehren, da ihr Herz gemeinsam mit dem heiligsten Herzen Jesu verehrt werden will und die Menschen in diesen Herzen ihre Zuflucht nehmen in Zeiten der Bedrängnis.

Den Teilnehmern wünsche ich viel Freude im Herzen trotz aller Bedrängnis, Hoffnung, eine große Standhaftigkeit und Treue im Gebet für die noch kommenden Stürme unserer Zeit, dass sie in Gott und der Muttergottes fest verankert sind und den Rosenkranz nicht aus der Hand legen, und ein großes missionarisches Herz, um viele Menschen zu Jesus zu führen. Denn nirgends sonst finden wir unser Heil. Gott und seine demütige Braut, Maria, zählen auf uns.

Jesus, ich vertraue auf Dich – sorge Du!

Herr Benkert, für das Gespräch bedanken wir uns ganz herzlich und wünschen Ihnen für die Zukunft der Initiative Gottes reichsten Segen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Der Weg zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“

Raïssa Maritain – Segen für die Völker

Die unglaubliche Geschichte der aus Russland stammenden Jüdin Raïssa Umanzowa (1883-1960) erinnert an die Worte, die Jahwe einst zu Abraham gesprochen hat: „Durch dich sollen alle Völker der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,3). Ein Mädchen, das in Rostow am Don geboren wurde, in Mariupol ihre Schulausbildung begann und mit zehn Jahren wegen zunehmender Judenpogrome mit ihrer Familie nach Paris emigrierte, wurde zur Wegbereiterin der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auf ihre zermürbenden Lebensfragen fand sie erst eine Antwort, als sie sich mit den Werken des hl. Thomas von Aquin beschäftigte. Zu dieser Quelle des Geistes führte sie auch ihren Studienfreund Jacques Maritain, der zunächst Naturwissenschaften studiert hatte und so die scholastische Philosophie entdeckte. Beide wurden katholisch und heirateten. Auf der Grundlage des katholischen Naturrechtsdenkens verfasste Jacques 1942 während des Zweiten Weltkriegs ein Werk über die Menschenrechte, 1948 wurde er von den Vereinten Nationen beauftragt, einen Text für eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorzubereiten. 22 der von ihm vorgelegten 26 Rechte wurden übernommen.

Von Jakob Knab

Als Raïssa am 12. September 1883 in Rostow am Don (Südrussland) in die jüdische Familie Umanzow geboren wurde, konnte niemand ahnen, dass dieses kleine Mädchen etliche Jahre später dem Gelehrten Jacques Maritain erste Fenster in die scholastische Denkwelt des hl. Thomas von Aquin öffnen würde. Es war dann auch ihr Ehemann Jacques Maritain, der nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges federführend bei der Aufgabe war, für die Vereinten Nationen den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu verfassen.

Schon drei Jahre nach ihrer Geburt musste ihre Familie von Rostow am Don nach Mariupol am Asowschen Meer umziehen. In Ihrem Rückblick „Die großen Freundschaften“ wird Raïssa über die kargen Jahre ihrer jüdischen Kindheit erzählen. All die Herzen waren ergriffen von den göttlichen Verheißungen, aber auch von der Leidensgeschichte der Jahrhunderte, die freilich die Hoffnung nicht auslöschen konnte. Unter den damaligen Verhältnissen und antisemitischen Mentalitäten war es eine Ausnahme, dass ein jüdisches Mädchen überhaupt zur Schule gehen durfte. Von Beginn an war Raïssa fasziniert vom Lernen, wo sie Schritt für Schritt eine neue Welt betrat. In ihr keimte eine erste Ahnung von Sinn, Halt, Orientierung und Wahrheit.

Aber Pogrome im zaristischen Russland beendeten diese friedvollen acht Jahre in Mariupol. Die Familie war gezwungen, erneut ins Ungewisse aufzubrechen, um in Westeuropa eine neue Bleibe zu suchen. Sie fanden eine Unterkunft in Paris. Innerhalb von zwei Wochen konnte sich Raïssa einen Grundwortschatz in der neuen Sprache aneignen. Am Ende des ersten Schuljahres wurde die Hochbegabte für ihren Fleiß und ihre Aufmerksamkeit gelobt. In den kommenden Jahren verschlang sie die großen Werke der französischen Literatur. Aber auf ihre drängende Frage, warum es in der Welt so viel Leid, Schmerz und Übel gibt, erhielt sie nie eine Antwort. In dieser Phase wurde ihre Beziehung zur angestammten Religion brüchig. Nach einem glänzenden Schulabschluss wurde sie zur Jahrhundertwende in die Sorbonne aufgenommen. Diese Elite-universität war in ihren Augen der ersehnte Leuchtturm der Weisheit. Zunächst wollte sie naturwissenschaftliche Fächer belegen; doch Fragen nach den metaphysischen Grundlagen fristeten dort ein Randdasein. In ihrer Ratlosigkeit begegnete Raïssa einem liberal-protestantisch geprägten Studenten namens Jacques Maritain, der damals Unterschriften für sozialistische Studenten im Zarenreich sammelte. Umgehend knüpften Raïssa und Jacques freundschaftliche Bande; sie führten viele, lange Gespräche. Beide suchten nach einer Wahrheit, wie sie die Naturwissenschaft nicht geben konnte. „Que sais-je?“ („Was weiß ich?“) – war die Losung der intellektuellen Schicht.

In dieser Sackgasse, wo der Durst nach Wahrheit nicht gestillt wurde, begegneten die beiden dem Dichter Charles Péguy; er gehörte zu den Gründergestalten der Reformbewegung renouveau catholique. Nach einer militanten Phase als Sozialist war er auf einer Wallfahrt nach Chartres zur katholischen Kirche zurückgekehrt. Seit der Dreyfus-Affäre hatte er sich in die Geschichte des Judentums vertieft. Mit seinem Anstoß an das Paar Jacques und Raïssa, die Rue Saint-Jacques, die die Sorbonne vom Collège de France trennt, zu überqueren, stellte Péguy weltanschauliche Weichen für die beiden. Dort belegten sie die Vorlesungen des Philosophen Henri Bergson. Nur vorübergehend wurde ihr Hunger gestillt. Ihre Verlobung im Jahr 1902 hielten sie vor ihren Familien geheim. Im November 1904 schlossen die beiden den Bund fürs Leben, aber finstere Wolken voller suizidaler Gedanken überschatteten ihr junges Glück. Der Gedanke bedrückte sie: Falls es keine Wahrheit gibt, dann ist das Leben nicht lebenswert.

Erst als sie in dieser bedrückend-schwermütigen Zeit dem Schriftsteller Léon Bloy begegneten, konnten ihr Hunger und Durst nach Wahrheit gestillt werden; sie fanden inneren Frieden. Raïssa fühlte sich verstanden, denn der leidenschaftliche Katholik Bloy hatte 1892 die Studie Le Salut par les juifs (dt. „Das Heil durch die Juden“) über die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens veröffentlicht. So konnte sich Raïssa zu ihren jüdischen Wurzeln bekennen. Denn Bloy schrieb an gegen den unterschwelligen und offenen Judenhass in der französischen Gesellschaft.

Eines Tages, als Raïssa schwer erkrankte und sie unter schrecklichen Schmerzen litt, faltete Jacques erstmals wieder die Hände und flehte und betete. Die Konvertitin Jeanne Bloy, Léons Frau, legte eine wundertätige Medaille der Jungfrau Maria um ihren Hals.[1] Nach ihrer Genesung bat Raïssa um die Aufnahme in die katholische Kirche; denn für Bloy waren die Sakramente und das Gebet die Leitplanken für die Heiligung des Alltags und der Arbeit. Wenige Wochen später, am 11. Juni 1906, wurden Raïssa und Jacques Maritain zusammen mit Raïssas Schwester Vera in der Kirche Saint-Jean l’Évangeliste de Montmartre getauft. Die beiden Taufpaten waren das Ehepaar Léon und Jeanne Bloy. Sie erhielt noch den christlichen Vornamen Gertrud, zu welchem sie folgende Geschichte erzählt: „Als der Herr der heiligen Gertrud mit der einen Hand Krankheit, mit der anderen Gesundheit hinhielt, hielt sie sich nicht damit auf zu wählen, sondern ging geraden Wegs zum Herzen Jesu."[2]

Es war Raïssa, die auf ihrer Suche nach Wahrheit auf das Werk des Thomas von Aquin stieß. Ihre Entdeckung gab Jacques Maritain die entscheidenden Anstöße für sein Lebenswerk. Das Interesse von Annie Kraus [Kh 12/2021 und 01/2022] an Thomas von Aquin geht zurück auf die Zeit, als sie noch als jüdische Studentin das Büchlein von Raïssa Maritain, L’Ange de l’École, ins Deutsche übertrug. Hier ein Auszug, um ihre einfühlsame Übertragung zu veranschaulichen: „Der hl. Thomas empfing die Gelehrigkeit der Seele, die nichts anderes ist als die Fähigkeit, zu begreifen und zu lernen. Zähigkeit des Gedächtnisses ward ihm zuteil; niemals vergaß er, was er einmal gelernt hatte. Ihm war die Macht des Geistes verliehen; sein Verstand drang bis zum Grunde der verborgensten Wahrheiten. Ihm ward die Liebe zur allerseligsten Jungfrau, dem Sitz der Weisheit, eingepflanzt."[3]

Aufgrund der Kriegswirren in Europa, die mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen begannen, verließen Jacques, Raïssa und Schwester Vera Frankreich; Ende Dezember 1939 kamen sie in den USA an. An der Princeton University konnte Professor Maritain seinen Ansatz eines Christlichen Humanismus entfalten.

Inge Scholl, die ältere Schwester von Hans und Sophie Scholl, schilderte im Dezember 1942 ihre Sehnsucht, vom eigenen Ich loszukommen. Dabei zitierte sie aus dem Buch „Vom Leben des Gebetes“ (1928) von Jacques und Raïssa Maritain. Wenige Tage vor ihrer Konversion am 22. Februar 1945 teilte Inge mit, dass Sophies Lieblingssatz „Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben“ (Le cœur tendre et l’esprit dur) von Jacques Maritain stamme. Laut Otl [Aicher] sei er der bedeutendste zeitgenössische Philosoph, er sei französischer Botschafter beim Vatikan geworden und er sei auch konvertiert.

In den letzten Lebensjahren litt Raïssa unter schweren Krankheiten. Ihre Schmerzen empfand sie als Mitgefühl (compassion) mit den Leiden ihres Volkes Israel. Inmitten aller Sorgen fand sie Trost in den Psalmen: „Sei still und wisse, dass ich Gott bin“ (Ps 46,10). Sie starb am 4. November 1960 in Paris. Ihre letzte Ruhestätte fand sie auf dem Dorffriedhof von Kolbsheim im Elsass.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] „Eines Tages, als es mir sehr schlecht ging und ich schreckliche Schmerzen hatte, kam Frau Bloy zu mir und setzte sich an mein Bett. Sie sagte mir, ich solle beten und dass sie mir eine Muttergottes-Medaille geben würde. Ich konnte nicht sprechen, aber ich fühlte mich sehr verärgert über die – wie mir schien – schwerwiegende Taktlosigkeit. Nachdem Jeanne Bloy keine Antwort bekam, legte sie mir die Medaille um den Hals. In einer Sekunde und ohne zu merken, was ich tat, wandte ich mich vertrauensvoll an Maria und schlief in einem sanften und erholsamen Schlaf ein. Meine Genesung begann...“ (Raissa Maritain: Témoignage Chrétien,1946).
[2] Maritain: Vom Leben des Gebetes, Augsburg 1928, 42.
[3] Raissa Maritain: Der Engel der Schule. Thomas von Aquin der Jugend dargestellt, Salzburg-Leipzig 1935, 30f.

Papst Benedikt XVI. zum 95. Geburtstag

„Im Licht des wirklichen Oben“

Der slowenische Dogmatikprofessor Dr. Anton Štrukelj bereitete dem emeritierten Papst Benedikt XVI., der am 16. April 1927 geboren wurde, ein außerordentliches Geburtstagsgeschenk. Unter dem Titel „Schönheit und Heiligkeit. Papst Benedikt XVI. zum 95. Geburtstag"[1] veröffentlichte er eine Zusammenstellung von Beiträgen, in denen er diesen zentralen Ansatz im Denken des Jubilars behandelt. Als Herausgeber der slowenischen Fassung der „Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio“ hatte Professor Štrukelj dort bereits einen Großteil dieser Artikel publiziert. Mit der deutschen Edition des Buches, das zunächst auf Slowenisch erschienen war, liegen sie nun auch in deutscher Sprache vor. Nachfolgend das aufschlussreiche Vorwort von Bischof Dr. Rudolf Voderholzer, dem Gründungsdirektor des 2008 ins Leben gerufenen Instituts Papst Benedikt XVI. in Regensburg und Herausgeber der gesammelten theologischen Schriften von Papst Benedikt XVI.

Von Bischof Dr. Rudolf Voderholzer, Regensburg

Anton Štrukelj ist ein Theologe der Communio und mehr als die Hälfte der in diesem Sammelband vorgelegten Aufsätze sind in der Internationalen theologischen Zeitschrift Communio erschienen. Zum kirchengeschichtlichen Hintergrund dieser Zeitschrift ist folgendes zu bedenken:

George Weigel spricht in seinem Buch „Das Projekt Benedikt“ von einer „Concilium-Communio-Spaltung“, die sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Kreis der Theologen und mit ihnen auch in der Öffentlichkeit entwickelt hatte.[2] Was er damit meint, ist das Entstehen zweier „Schulen“, die die Art und Weise, wie Reform in der Kirche gestaltet werden soll, unterschiedlich betrachten. Die Entstehung der beiden Schulen macht sich fest in der Gründung der beiden Zeitschriften „Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie“ und „Internationale katholische Zeitschrift Communio“. Beide wollen die Rezeption des Konzils fördern. Die 1965 gegründete Zeitschrift Concilium hat dabei das Ziel, die Diskussionen des Konzils in einer Art „Konzil der Theologen“ ohne lehramtliche Einschränkungen progressiv fortzuführen. Diese Diskussion steht in Gefahr, von sekundären und persönlichen Interessen überlagert zu werden und kann zu Polarisierungen und Lagerbildung führen.

Wie reagierte die 1972 gegründete Zeitschrift Communio darauf? Joseph Ratzinger, einer der acht Gründer der Zeitschrift, drückt es folgendermaßen aus: „Aufgabe der Zeitschrift Communio musste und muss es daher sein, auf dieses wirkliche Oben hinzulenken, das in einem bloß soziologischen und psychologischen Denken dem Blick entschwindet. Die ‚Kirchenträume‘ für morgen und der von ihnen ausgelöste Aktionismus des Kirche-Machens können, wo das Wesentliche ausfällt, wie Georg Muschalek gezeigt hat, nur immer weitere Enttäuschungen hervorrufen. […] Nur im Licht des wirklichen ‚Oben‘ kann auch eine ernsthafte und weiterführende Kritik an der Hierarchie geübt werden, deren Grundlage nicht die Philosophie des Neides, sondern das Wort Gottes sein muss. Eine Zeitschrift, die unter dem Namen Communio steht, muss deshalb vor allem die Rede von Gott wachhalten und vertiefen, vom trinitarischen Gott, seiner Offenbarung in der Heilsgeschichte des Alten und Neuen Bundes, in deren Mitte die Menschwerdung des Sohnes, das Mitsein Gottes mit uns steht. Sie muss vom Schöpfer reden und vom Erlöser, von der Gottähnlichkeit und von der Sünde des Menschen; sie muss die Ewigkeitsbestimmung des Menschen vor Augen haben und so mit der Theologie eine an die Wurzeln gehende Anthropologie entfalten. Sie muss das Wort Gottes zur Antwort für die Menschen machen."[3]

Der Zeitschrift Communio geht es darum, Gemeinschaft zu stiften unter den Menschen, um gemeinsam den Glauben und die Lehre der Kirche zu vertiefen und zu verstehen (vgl. Lumen gentium). Sie möchte den Austausch zwischen der Theologie und der Kultur fördern, sozusagen den Dialog zwischen Kirche und Welt (vgl. Gaudium et spes). Fortschritt wird von ihr nicht betrachtet als ein über das Konzil Hinausgehen, sondern als ein tieferes Eindringen in die communio, die letztlich verstanden werden muss als communio zwischen Gott und Mensch.

Diesem Erbe dient in Slowenien wie kein anderer Anton Štrukelj, emeritierter Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana und ehemaliges Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission. Er hat mit einer mehrfach aufgelegten Dissertation über Hans Urs von Balthasar, einen der Gründer der Zeitschrift Communio, promoviert und ist ein unermüdlicher Interpret, vor allem auch Übersetzer, der Theologie Joseph Ratzingers. In der Bibliografie Joseph Ratzingers, die 2009 von dessen Schülerkreis herausgegeben wurde, wird er 28 Mal als Übersetzer von Büchern und Aufsätzen angeführt. Als Herausgeber der slowenischen Communio weiß er sich dem ursprünglichen Auftrag der Zeitschrift verpflichtet und sorgt damit dafür, dass das inhaltliche Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils gefördert und gepflegt wird. Er stellt dabei die Rede von Gott und die Kernelemente der christlichen Offenbarungs- und Heilsgeschichte in den Mittelpunkt. Eine konsequente Orientierung am Wort Gottes ermöglicht echte Kritik an der Sozialgestalt der Kirche, die nicht von wesensfremden Kriterien ausgehend Forderungen formuliert, die von der Kirche nicht erfüllt werden können und somit nur zu Enttäuschungen führen.

Nun legt er mit diesem Band anlässlich des 95. Geburtstages von Papst em. Benedikt XVI. eine „Theologie der Schönheit und Heiligkeit“ vor, die letztlich dem gleichen Ziel dient: Gott großschreiben und den Menschen von ihm her begreifen.

Ich wünsche dem Geehrten ebenso wie dem Autor Gottes reichen Segen und dem Buch viele Leserinnen und Leser, die sich von der Theologie Joseph Ratzingers begeistern lassen und dem wahren Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils näherkommen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Anton Štrukelj: Schönheit und Heiligkeit. Papst Benedikt XVI. zum 95. Geburtstag, EOS Verlag 2022, Softcover, 286 S., Euro 29,95, ISBN 978-3-8306-8116-8, Bestellung direkt unter: Tel. 08193-71701 – https://eos-verlag.de
[2] George Weigel: Das Projekt Benedikt. Der neue Papst und die globale Perspektive der katholischen Kirche, München 2006, 197 und 225.
[3] Joseph Ratzinger: Communio – ein Programm [1992], in: JRGS 7, 1106-1119, hier: 1116.

Jahrhunderttheologe und unverwechselbarer Papst

„Goldene Rose“ für Mariazell

Prof. Dr. Anton Štrukelj (geb. 1952) hatte auch Egon Kapellari, den emeritierten Bischof von Graz-Seckau, um ein Geleitwort zu seinem Buch „Schönheit und Heiligkeit"[1] gebeten. „Ich habe diese Einladung gerne angenommen, weil ich mit dem Papst emeritus seit Jahrzehnten ebenso verbunden bin, wie ich es mit Hans Urs von Balthasar seit meinen vielen Jahren als Studentenpfarrer in Graz bis zu seinem Tod gewesen bin“, so Bischof Kapellari. Denn Štrukelj zeigt die enge Verbindung der christlichen Botschaft von der Schönheit bei Joseph Ratzinger und Hans Urs von Balthasar auf.

Von Bischof em. Egon Kapellari, Graz-Seckau

Papst emeritus Benedikt XVI. wurde am 16. April 1927 geboren. Als Hommage zu seinem 95. Geburtstag veröffentlicht der ihm besonders verbundene slowenische Theologe Anton Štrukelj, emeritierter Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana, nun das Buch „Schönheit und Heiligkeit“. Es umfasst Texte, die der Autor in den letzten Jahren zu unterschiedlichen Anlässen verfasst hat. Nicht alle beziehen sich unmittelbar auf den Jubilar – den Jahrhunderttheologen Joseph Ratzinger und unverwechselbaren Papst Benedikt XVI. –, aber alle beleuchten viel aus dem ungemein weiten Spektrum von Wesen und Wirken dieses großen Christen und Lehrers inmitten der Kirche und der ganzen Menschheit.

Unter den zahlreichen Themen, die durch den Jubilar in vielen Jahrzehnten immer wieder zu Wort gekommen sind, haben Schönheit und Heiligkeit einen besonderen Rang. Professor Štrukelj hat sie daher als Titel für sein nun vorliegendes Buch gewählt. Beides prägt auch das Werk des großen Theologen Hans Urs von Balthasar, dem Professor Štrukelj seine Doktorarbeit gewidmet hat. (…)

Papst Benedikt hat am 8. September 2007 aus Anlass des 850-Jahr-Jubiläums von Mariazell dieses Heiligtum besucht und dort in meinem Beisein als Diözesanbischof für das alte Gnadenbild ein symbolisch kostbares Geschenk, die Goldene Rose, überreicht. Das Bild und die Rose werden nun auch im Buch „Schönheit und Heiligkeit“ dokumentiert.

Joseph Kardinal Ratzinger:

„Ich habe schon öfters gesagt, dass meiner Überzeugung nach die wahre Apologie des Christlichen, sein überzeugender Wahrheitsbeweis, allem Negativen entgegen zum einen die Heiligen sind und zum anderen die Schönheit, die der Glaube hervorgebracht hat. Damit Glaube heute wachsen kann, müssen wir uns selbst und die uns begegnenden Menschen in die Begegnung mit den Heiligen, in die Berührung mit dem Schönen führen.“

(Joseph Kardinal Ratzinger: Unterwegs zu Jesus Christus, Augsburg 2003; Neuausgabe 2007 mit Titel:  Die Schönheit Gottes. Ecce Homo – Seht, welch ein Mensch)

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Anton Štrukelj: Schönheit und Heiligkeit. Papst Benedikt XVI. zum 95. Geburtstag, EOS Verlag 2022, Softcover, 286 S., Euro 29,95, ISBN 978-3-8306-8116-8, Bestellung direkt unter: Tel. 08193-71701 – https://eos-verlag.de

Gedanken zur Bibel und zur Causa Benedikt XVI.

Wie war es wirklich?

Pfr. Bodo Windolf (geb. 1961) leitet die Christus Erlöser Pfarrei in München Neuperlach. Er ist bekannt für seine Predigten, in denen er freimütig den katholischen Glauben bezeugt und treffend das Zeitgeschehen deutet. Am 20. Januar 2022 wurde das Münchner Missbrauchsgutachten vorgestellt und die Öffentlichkeit stürzte sich auf Papst em. Benedikt XVI. Bereits am 23. Januar ging Pfr. Windolf in aller Ehrlichkeit auf die Fragen ein, von denen die Menschen aufgewühlt waren, also noch vor der Stellungnahme des emeritierten Papstes. Wir geben die Predigt, die am 26. Januar auch auf Radio Horeb zu hören war, im Wortlaut wieder.

Von Bodo Windolf

Wie war es wirklich?“ Diese Frage möchte ich als Brücke nehmen, um sowohl einen Blick auf das heutige Evangelium zu werfen als auch einige Gedanken zu äußern zu dem, was inbesondere unser Erzbistum seit vergangenen Donnerstag beschäftigt und erschüttert, nämlich das externe Gutachten zu sexuellem Missbrauch in unserem Bistum.

Überlegungen zum Evangelium

„Wie war es wirklich?“ Wer gelegentlich Klassik-Radio hört, kennt ohne Zweifel das Format „Die wahre Geschichte“, die unter dem Pseudonym Friedrich Epenstein immer so eingeleitet wird: „Sie glauben, Bescheid zu wissen? Ich verrate Ihnen nun die wahre Geschichte.“ Und so erfährt man interessante Hintergründe von Redewendungen, Bräuchen, historischen Begebenheiten usf. – oft wirklich lohnend.

„Wie war es wirklich?“ Das ist auch die entscheidende Frage bei Gerichtsprozessen, journalistischer Recherche, historischer Forschung, oder auch einfach beim Gespräch eines Lehrers mit der Klasse, z.B. um den Hergang und die Verursacher einer Prügelei herauszufinden.

„Wie war es wirklich?“ Diese Frage stellt sich immer wieder auch in Bezug auf die Bibel, und hier besonders in Bezug auf das Neue Testament. Und sie stellt sich nicht nur der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts, sondern auch der der Zeit Jesu. Denn genau das zeigt die Einleitung, die Lukas seinem Evangelium voranstellt. Bis heute jagen „Spiegel“ und Co immer wieder – man verzeihe mir – dieselbe „Sau“ durchs Dorf, wenn sie, wieder einmal, neueste Forschungen darüber „enthüllen“, wie sich die Sache mit Jesus wirklich verhalten habe, wobei jeder einigermaßen Kundige weiß, dass es sich wieder und wieder um eine zum x-ten Mal aufgewärmte Ur-Alt-Kamelle handelt, die als das Neueste vom Neuen ausgegeben wird. Am populärsten sind die unzähligen apokryphen Evangelien – z.B. die der Eva, der Maria, des Judas, des Petrus, des Marcion … – die immer wieder bemüht werden, um endlich der „wahren“ Wahrheit auf die Spur zu kommen. Sie stammen allesamt aus dem 2. oder sogar erst 3. Jahrhundert, sind also in großem Abstand zur Lebenszeit Jesu verfasst, weswegen es kein Zufall ist, dass die Kirche von Anfang an nur die vier ältesten Evangelien anerkannt hat. Denn sie wurden verfasst von Zeitzeugen Jesu wie Matthäus und Johannes, vielleicht auch Markus – bei ihm gibt es die Vermutung, dass er Jesus gekannt haben könnte als einer seiner Jünger – oder von jemandem, der Zeitzeugen kannte und befragen konnte, so Lukas.

Und eben dieser Lukas ist es, der nach Art heutiger Investigativ-Journalisten genau das betont: dass er Augenzeugen befragt und allem nochmals sorgfältig nachgegangen ist, um sich selbst und die, für die er schreibt, von der Zuverlässigkeit des Berichteten zu überzeugen.

An dieser Stelle darf ich ein persönliches Bekenntnis aussprechen: Mich hat diese Zusicherung des hl. Lukas immer weitaus mehr überzeugt als die Skepsis nicht weniger moderner Theologen, die vieles als Legende bezeichnen, als gläubige Übermalung und nachösterliche Überhöhung von Begebenheiten, die so nie stattgefunden hätten. Über 2000 Jahre hinweg konstruiert man immer wieder neue und einander oft widersprechende Hypothesen darüber, was Jesus gesagt hat und was nicht, was er getan hat und was nicht, wie es damals also angeblich wirklich war. Dass die Evangelisten bei ihrer Niederschrift die Ereignisse um und mit Jesus nicht protokolliert haben, ist selbstverständlich. Aber bei aller theologischen Aussage und Absicht, die jeweils besondere Aspekte des Lebens Jesu beleuchten, sind für mich Lukas und die übrigen Evangelisten unvergleichlich glaubwürdiger als die Dekonstruktionen so mancher heutigen Theologen.

Überlegungen zur Missbrauchsstudie

Von hier aus nun ein Sprung von 2000 Jahren in die Gegenwart. „Wie war es wirklich?“ Diese Frage hat auch die Rechtsanwaltskanzlei Westphahl Spiker Wastl beschäftigt, die im Auftrag unserer Erzdiözese nach 2010 ein zweites Gutachten über sexuellen Missbrauch in unserem Bistum seit 1945 untersuchen sollte. Was dabei herauskam, ist so schrecklich, wie man es erwarten musste, und tatsächlich treibt es jedem aufrechten Christen und Katholiken die Schamröte ins Gesicht, was einmal mehr dokumentiert wurde: nämlich das Verhalten von Verantwortlichen der Diözesanleitung, die kaum oder gar keine Empathie mit den Opfern hatten, Straftaten vertuschten, Täter nicht aus dem Verkehr zogen, sondern es zuließen, dass sie nach Versetzung anderswo ihr Unwesen weitertreiben konnten, und die die Wahrung des kirchlichen Image vor den Schutz von Kindern und Jugendlichen stellten. Selten im Verlaufe der Kirchengeschichte hat das Bemühen um den Ruf der Kirche diesen in Wahrheit so in den Schmutz getreten. Dass die Verhaltensmuster anderswo, also bei ebenfalls betroffenen Konfessionen und Institutionen, überall dieselben sind, ist keine Entschuldigung. Im Gegenteil, wenn Angehörige einer Institution, zu deren DNA der Schutz der Schwachen und ein hoher moralischer Anspruch gehört, so eklatant versagen, wiegt es ungleich schwerer.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich von mir selbst nicht weiß, ob ich, wenn ich selbst an verantwortlicher Stelle gewesen wäre, mich dem dokumentierten Kartell des Schweigens, des Vertuschens und mangelnder Hinwendung zu den Opfern hätte entziehen können. Ich würde es wünschen, aber ich kann einfach nicht behaupten, dass ich anders gehandelt hätte und aus dem System ausgebrochen wäre.

Wo allerdings mein Verständnis definitiv an eine Grenze stößt, ist, dass ich unter den Verantwortlichen kaum jemanden wahrnehme, der bereit wäre, öffentlich zu bekennen: Ich bin schuldig geworden. Ein solches „Ich bin schuldig geworden“ war in unserer Diözese bislang nur von Kardinal Marx in seinem Rücktrittsgesuch an Papst Franziskus zu vernehmen. In der Regel ist nur zu hören, die Kirche sei schuldig geworden aufgrund systemischen Versagens. Dieses Sich-verstecken hinter dem Kollektiv der Kirche halte ich, mit Verlaub, für eine Frechheit. Denn spätestens seit dem II. Vatikanum sollte uns allen bewusst sein, dass wir alle Kirche sind und nicht nur Amtsträger und die Hierarchie. Man kann nicht die Gesamtheit der Gläubigen in Mithaftung nehmen für Schuld, die leitende Bischöfe und Mitglieder der Bistumsleitungen auf sich geladen haben. Systemische Ursachen sehe ich durchaus, nämlich v.a. in Leitungsstrukturen und Seilschaften von Ordinariaten, was auch anzugehen ist. Aber wie immer man es dreht und wendet – Schuld ist immer in erster Linie etwas Persönliches. Wie wenige Verantwortliche öffentlich dazu stehen, empfinde ich als beschämend.

Hier möchte ich nun auch kurz auf die Ausführungen des Gutachtens zu Papst em. Benedikt eingehen, weil ich nicht glaube, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt. (Mir ist bewusst, dass ich hier ausschere aus der überwiegenden inner- und außerkirchlichen Kommentierung.)

In der medialen Rezeption des Gutachtens wurde aus 235 in unterschiedlicher Weise auffällig gewordenen Tätern der Schwerpunkt auf den Fall Peter H. aus dem Bistum Essen gelegt, der von Gemeindemitgliedern in Garching an der Alz als ein charismatischer Menschenfänger beschrieben wurde, wie es für viele Pädo-Kriminelle typisch ist. 

Kurz zum Hergang: Am 3. Januar 1980 erhielt München die Anfrage aus dem Bistum Essen, ob man Peter H., bei dem eine „Gefährdung“ vorliege, weswegen man ihn aus der Seelsorge habe entfernen müssen, unterbringen könne, da er sich in München einer Therapie unterziehen solle. In der Ordinariatskonferenz vom 15. Jan. stimmte man zu. Papst em. Benedikt bestreitet, an dieser Sitzung teilgenommen zu haben, was nachweislich falsch ist und, wie man aus Rom hört, korrigiert werden wird. Hoffentlich!

Doch die entscheidende Frage ist nicht die Teilnahme an der Sitzung, sondern inwieweit der damalige Erzbischof Ratzinger über die Vorgeschichte von Peter H. tatsächlich unterrichtet wurde. Papst Benedikt bestreitet dies, das Gutachten behauptet, es sei „überwiegend wahrscheinlich“, dass er informiert wurde, was aber nicht beweisbar ist. Auch Formulierungen wie die über einen anderen Fall, von dem es heißt, dass ihm eine „strafrechtliche Verurteilung … möglicherweise bekannt war, er den Priester dennoch in seiner seelsorglichen Tätigkeit beließ“, stärken zumindest an dieser und ähnlichen Stellen nicht das Vertrauen in die handwerkliche Validität des Gutachtens. Wie kann aus dem Konjunktiv einer möglichen Kenntnis der Indikativ des Handelns gefordert werden?

Aus meiner persönlichen Sicht mag man kritisieren, dass Benedikt auf Unterscheidungen wie die zwischen sexuellen Handlungen vor einem Kind oder Jugendlichen und mit einem Kind oder Jugendlichen wert legt. Was rechtlich vor Jahren noch von Belang war, ist es Gott sei Dank heute nicht mehr und er schadet sich selbst, wenn er auf solche Details auch heute noch rekurriert. Auch mag man sich wünschen, er hätte zumindest einen Satz wie diesen geäußert, dass es aus der heutigen Kenntnis der Problematik wünschenswert sei, er hätte damals sehr viel genauer hingeschaut und präventiv gehandelt.

Aber genau hier liegt für mich auch das Problem des Gutachtens, was seine und seiner Vorgänger Beurteilung betrifft. Seit den 1980er Jahren gibt es einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess, wie mit Missbrauchsverbrechen umzugehen ist. Wie unzulänglich sicher nicht bei jedem, aber doch weithin das Problembewusstsein war, sieht man u.a. an der Tatsache, dass Forderungen wie die, (angeblich) gewaltfreie Pädokriminalität zu entkriminalisieren, es bis in Parteiprogramme geschafft haben. In diesem Lernprozess befinden sich Kirchen, Gerichte sowie staatliche und nichtstaatliche Institutionen insgesamt bis heute.

Auch Kardinal Ratzinger hat ohne Zweifel einen solchen Lernprozess durchlaufen. Ab Mitte der 80er Jahre war er in Rom als Präfekt der Glaubenskongregation mit zahlreichen Missbrauchsfällen weltweit beschäftigt. Er war der, der mit am konsequentesten und gegen viele kuriale Widerstände die Verschärfung kirchlichen Vorgehens gegen Missbrauch betrieb – u.a. sorgte er dafür, dass 384 pädokriminelle Priester in den Laienstand versetzt und (erstmalig) die Zusammenarbeit mit staatlichen Strafverfolgungsbehörden verpflichtend gemacht wurde; außerdem sorgte er für die Verschärfung des kirchlichen Strafrechts bezüglich dieser Verbrechen.

Dass nun gerade seine Person derart an den Pranger gestellt wird, und zwar nach Verhaltensmaßstäben von heute, mit denen man ohne Beachtung des erwähnten 40-jährigen Lernprozesses ein Verhalten von damals beurteilt, ist meiner Meinung nach schlicht und einfach anachronistisch. Jedenfalls kann ich bei allen Verdiensten des Gutachtens und der geleisteten Arbeit inzwischen besser verstehen, warum Köln die Veröffentlichung des Gutachtens derselben Kanzlei abgelehnt hat. Ich halte es für schwierig, mit am Ende doch zu vielen Mutmaßungen, wie es hier geschieht, zu operieren.

„Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit.“ Dieser Satz aus der heutigen 2. Lesung drückt ohne Zweifel das aus, was viele gläubige Menschen empfinden. Ich selber gehöre nach wie vor gerne der Kirche an, für die ich seit 26 Jahren als Priester tätig bin, verstehe aber auch so manchen, der sich mit Grausen abwendet. Ich hoffe, Sie bleiben der Kirche trotz allem treu. Denn so sehr es dunkelste Seiten in ihr gibt – die hellen überwiegen für mich immer noch bei weitem, dann nämlich, wenn wir als Kirche das tun, wozu wir von Gott gesandt sind und was der letzte Satz der heutigen 1. Lesung so wunderbar ausdrückt: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
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Ein Tandem zweier Heiliger – Don Bosco und Don Cafasso

Jugendarbeit in schwerer Zeit

P. Dr. Josef Weber SDB (geb. 1948) hat am 31. Januar 2022 zum Fest des hl. Johannes Bosco in Radio Horeb einen fesselnden Vortrag über seinen Ordensgründer gehalten. Er verglich die Zeit von damals mit heute, in der die Kirche ebenfalls schwere Zeiten durchzustehen hat. Gerade das Thema Missbrauch stellt die Kirche und ihre Jugendarbeit vor große Herausforderungen. Was hat uns der hl. Don Bosco zu sagen? Als Boten des Evangeliums müssen wir für Kinder und Jugendliche heilige Vorbilder sein, erfüllt von selbstloser Liebe. Es gilt heute, das verlorengegangene Vertrauen wiederherzustellen, ohne den Anspruch aufzugeben, dem sich der große Jugendapostel verpflichtet wusste, nämlich als Erzieher zu echten Freunden der jungen Menschen zu werden. P. Dr. Josef Weber, der aus dem oberösterreichischen Grein an der Donau stammt, trat 1966 in den Orden der Salesianer Don Boscos ein und lehrt an der Katholischen Stiftungshochschule München, Abteilung Benediktbeuern, Neues Testament und Christliche Spiritualität. Wir veröffentlichen den Vortrag, der thematisch in zwei Teile gegliedert ist, in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben. Der erste Beitrag zeigt auf, wie Don Bosco in seine Sendung als Jugendapostel hineingewachsen ist.

Von Josef Weber SDB

Seit dem Jahr 2010 bemüht sich die katholische Kirche um eine Aufarbeitung zahlloser Missbrauchsfälle. Sie steht in harter Kritik von allen Seiten. Letztes Jahr sind über 220.000 Mitglieder aus der katholischen Kirche ausgetreten. Mit dem Verzicht auf ihre Mitgliedschaft verloren diese Christen das Recht, Sakramente zu empfangen, kirchliche Ämter zu bekleiden, Tauf- oder Firmpate zu sein, kirchlichen Vereinen anzugehören usw. – Im Januar 2022 wurde das Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München-Freising veröffentlicht. Und wieder kehren viele der Kirche den Rücken. Einmal mehr ist uns allen bewusst geworden, in welch furchtbar schwere Krise unsere Kirche geraten ist. Unsere Kirche! Ich darf wohl annehmen, dass für Sie alle unsere Kirche eine geistliche Heimat ist. Unsere Kirche ist eine heilige Kirche. Ihre Heiligkeit ist gegeben, weil Christus ihr Haupt ist. Sie ist heilig, weil sie vom Heiligen Geist geleitet wird, der sie reinigt, wandelt und erneuert. Darum sind auch wir zur Heiligkeit berufen. Papst Franziskus sagt: „Habt keine Angst vor der Heiligkeit. Die Heiligkeit besteht nicht darin, außergewöhnliche Dinge zu tun, sondern Gott in uns wirken zu lassen.“

Natürlich gilt unsere erste Sorge den Missbrauchsopfern. Sie sind die Leidtragenden, oft über viele Jahre hinweg. Was man ihnen angetan hat, kann mit Geld letztlich nicht aufgewogen werden. Ihnen muss alle Hilfe zukommen, damit sie ein lebenswertes Leben führen können.

Doch ich denke auch an unsere Kirche, nicht an die Institution, nicht an ihre Strukturen, sondern – an ihre Heiligkeit. Diese Heiligkeit der Kirche ist durch zahllose Missbrauchsfälle aufs Ärgste beschmutzt worden. Ihre Heiligkeit wurde verdunkelt, ihre Sündhaftigkeit ist weithin sichtbar und zum beispiellosen Ärgernis geworden. Wie verhalten wir uns in dieser Kirche? Treten wir aus oder treten wir für die Kirche ein? Wir können zur Reinigung und zur Erneuerung der Kirche nur dann beitragen – wenn wir bleiben, wenn wir jetzt erst recht in Treue zur Kirche stehen. Shakespeare sagt in einem seiner Dramen: „Es ist ein Leichtes zu kommen. Es ist ein Leichtes zu gehen. Aber es ist schwer zu bleiben!“ Die Last des Schmutzes, unter der unsere Kirche zutiefst leidet, tragen wir mit, auf dass die Heiligkeit der Kirche wieder neu erstrahlen möge.

Don Bosco und seine Zeit

Auch die Zeit, in die der hl. Johannes Bosco, der große Jugendapostel von Turin, hineingeboren wurde, war eine äußerst schwierige Zeit für die Kirche damals, eine Zeit der Umstürze und der Seuchen, eine Zeit der Intrigen und der Verleumdungen, eine Zeit der Kriege und der Zerstörungen.

Nachdem Papst Pius VII. Napoleon 1809 exkommuniziert hatte, wurde er verhaftet und als Gefangener nach Frankreich gebracht. Trotz starken Drucks blieb Pius VII. auch im Exil gegenüber den Forderungen Napoleons unnachgiebig. Einmal trat er sogar in den Hungerstreik. Als Napoleon dem Papst gedroht hatte, er habe die Macht, die römisch-katholische Kirche zu zerstören, antwortete der Papst mit einem milden Lächeln: „Das haben zweihundert Päpste vor mir nicht geschafft. Warum sollte es ausgerechnet Ihnen gelingen?“ 1814, fünf Jahre später, kehrte der Papst nach Rom zurück und führte als Dank 1815 das Fest „Maria, Hilfe der Christen“ ein. Unter diesem Titel wird Don Bosco, der in jenem Jahr 1815 in der Nähe von Turin geboren wurde, die Madonna ein Leben lang verehren.

Don Bosco! Sympathisch, liebenswert, anziehend, geschätzt. Manchmal auch mit Ecken und Kanten, wenn seine piemontesische Bauernschläue durchbricht. Als eine faszinierende Erzieherpersönlichkeit ist er in die Geschichte eingegangen, als einer der größten katholischen Erzieher des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus wird er Gründer von religiösen Gemeinschaften, Initiator von Laienbewegungen, Schriftsteller, Berater, Visionär und Prophet sein. Er schreibt Schulbücher und verfasst volkstümliche katechetische Unterweisungen. Er verbringt viele Stunden im Beichtstuhl, handelte für seine Jugendlichen Lehrverträge aus. Der Spielhof ist ihm genauso wichtig wie die Kirche, in den Werkstätten findet man ihn ebenso wie auf der Kanzel.

Dieser Jugendapostel von Turin kannte jeden einzelnen Jugendlichen mit Namen, nachdem in seinem Jugendwerk in Valdocco in Turin schon über 600 Buben Aufnahme gefunden hatten. Er hat noch mit 60 Jahren an den Wettkämpfen der Jugendlichen teilgenommen und saß im Alter mit seinem zerschlissenen, staubigen Talar mitten unter den Buben. Diese bewunderten ihn, weil er sich zeitlebens ein jugendliches Herz bewahrte. Doch der Pädagoge Don Bosco ist nicht zu verstehen ohne den Heiligen Don Bosco. Denn in seinem Leben ist das Natürliche ins Übernatürliche übergegangen. Und diese übernatürliche Welt zeigt sich besonders in seinen Träumen. Sie nehmen in seinem Leben einen derart großen Raum ein, dass man sein Leben wie eine Aufeinanderfolge von Träumen verstanden hat.

Es gibt keinen Heiligen, über den eine umfangreichere Biografie geschrieben worden ist als über Don Bosco! 16.700 Seiten umfasst sie. In der italienischen Originalausgabe heißt sie „Memorie biografiche di Don Giovanni Bosco (MB)“ und zählt 19 Bände. Darin sind uns 132 Träume von ihm überliefert. Nehmen wir andere Quellen aus seiner Zeit hinzu, stoßen wir nochmals auf 111 weitere Träume. Don Bosco war ein Weltmeister im Träumen! Und so begann denn das alles Entscheidende in seinem Leben auch mit einem Traum.

Als der kleine Giovanni neun Jahre alt war, hatte er einen bedeutungsvollen Traum, der für ihn zu einer Art Berufungstraum wurde. Aber lassen wir Don Bosco selber erzählen. „Mit neun Jahren hatte ich einen Traum, der mir mein ganzes Leben im Gedächtnis blieb. Ich sah eine große Schar von Jugendlichen spielen. Als ich sie fluchen hörte, stürzte ich sofort auf sie und suchte, sie mit Schlägen und Schimpfen zum Schweigen zu bringen. Da erschien ein vornehm gekleideter Herr und sagte: „Nicht mit Schlägen, sondern mit Güte und Liebe wirst du sie als Freunde gewinnen. Ich werde Dir eine Lehrmeisterin geben. Unter ihrer Führung wirst du weise werden.“ „Wer seid Ihr eigentlich?“ „Ich bin der Sohn jener Frau, die drei Mal am Tag zu grüßen deine Mutter dich lehrte. Nach meinem Namen frag meine Mutter!“

In diesem Augenblick sah ich neben dem Herrn eine Frau von majestätischem Aussehen. Sie trug einen Mantel, der wie die Sonne glänzte, und sagte: „Schau!“. Ich schaute und bemerkte, dass alle Buben verschwunden waren. An ihrer Stelle sah ich viele Ziegen, Hunde, Katzen, Bären und einige andere Tiere. „Siehst du, das ist dein Arbeitsfeld. Werde demütig, tüchtig und stark, und was du jetzt an diesen Tieren geschehen siehst, sollst du für meine Kinder tun.“ Da erschienen plötzlich anstelle der wilden Tiere sanfte Lämmer. Ich begann zu weinen und bat die schöne Dame, mir das doch zu erklären. Da legte sie mir ihre Hand auf den Kopf und sagte: „Zur rechten Zeit wirst du alles verstehen…!“

„Zur rechten Zeit wirst Du alles verstehen!“ Doch bis er diesen Traum verstand, sollten viele Jahre vergehen. Denn erst als am 16. Mai 1887, 67 Jahre später, in Rom die Herz-Jesu-Kirche eingeweiht wurde, brach Don Bosco während der Feierlichkeiten in Tränen aus. Don Rua, sein späterer Nachfolger, eilte zu ihm und fragte ihn, ob er denn Schmerzen habe. Don Bosco verneinte. In der Sakristei sagte er dann zu Don Rua: „Mein lieber Don Rua! Als ich neun Jahre alt war, hatte ich einen seltsamen Traum, in dem mir mein späteres Arbeitsfeld gezeigt wurde. Heute habe ich diesen Traum verstanden.“

Das Leben Don Boscos

Werfen wir zunächst in aller Kürze einen Blick auf das Leben Don Boscos. Er wird am 16. August 1815 in Becchi, einem kleinen Ort in der Nähe von Turin geboren. Er ist das Kind armer, tief religiöser Eltern. Als er zwei Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Bereits in jungen Jahren muss er in der kleinen Landwirtschaft schwer mitarbeiten, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Der junge Giovanni versteht es, mit seinen Zauberkunststücken und akrobatischen Übungen seine Kameraden zu begeistern. In seiner Mutter findet er große Unterstützung. Durch ihr Beispiel legt sie die Grundlage für seine Berufung zum Priester und Erzieher.

Nach harter Schulzeit, während der er wegen dauernden Geldmangels mehrere Berufe ausübt, wird er 1841 in Turin zum Priester geweiht. Nun wird er Don Bosco genannt – „Don“ ist die italienische Anrede für Priester. Der Neupriester begegnet nun jungen Menschen, die vom Land in die oberitalienische Großstadt strömen in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Bei den wenigsten erfüllt sich diese Hoffnung, und so fristen sie arbeitslos und entwurzelt ihr Leben in Turin. Nicht wenige von ihnen geraten auf die schiefe Bahn. Diese jungen Menschen holt Don Bosco von der Straße weg und nimmt sie in sein „Oratorium“ – so nennt er seine Jugendhäuser – auf. Mitarbeiter helfen ihm bei seiner Arbeit.

Don Bosco und Don Cafasso

Sehr wichtig für eine spätere Jugendarbeit wurde für Don Bosco die Begegnung mit seinem geistlichen Begleiter Don Giuseppe Cafasso. Dieser stammt aus der Heimat Don Boscos und war nur vier Jahre älter als er. Doch er wurde ihm zum großen Vorbild, weil er sich um die Gefängnisse in Turin kümmerte und den jungen Priester Don Bosco dorthin mitnahm. Don Cafasso war nicht nur Professor, sondern auch Seelsorger durch und durch. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass alle kirchlichen Jugendeinrichtungen in Turin unmittelbar oder mittelbar ihre Entstehung ihm verdanken.

Die Turiner nannten Don Cafasso damals den „Galgenpriester“, weil er in die Gefängnisse ging, um den Gefangenen Beistand zu leisten. Wurde einer zum Tod verurteilt, bestieg Don Cafasso mit ihm den Karren und stand ihm bis zur Hinrichtung bei. Immer öfters begleitete Don Bosco ihn bei dieser Arbeit. Die dunklen Korridore, die feuchten Mauern, die traurigen Gesichter der Gefangenen erschütterten ihn zutiefst. Er empfand Abscheu und hatte das Gefühl zu ersticken. Was ihn aber am schmerzlichsten traf, war der Anblick von Buben, die zum Teil noch halbe Kinder waren und im Kerker saßen. Don Bosco schrieb später darüber: „Eine so große Anzahl Jugendlicher zwischen 12 und 18 Jahren anschauen zu müssen, die gesund und kräftig sind und nun untätig, von Insekten zerstochen, nach geistiger und materieller Nahrung hungern, das erschauderte mich zutiefst.“

Er ging in der Folge öfters mit Don Cafasso zu den Gefangenen, aber auch alleine, und versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Anfangs waren die Reaktionen entmutigend. Er musste schwere Beleidigungen einstecken. Nach und nach aber schwand das Misstrauen und es gelang ihm, als Freund zu ihnen zu sprechen. Er erfuhr ihre traurige Vorgeschichte. Die meisten von ihnen saßen wegen Diebstahl im Gefängnis, sie hatten wegen Hunger gestohlen. „Was mich aber am meisten erschütterte“, so Don Bosco, „war, dass viele nach ihrer Entlassung zwar entschlossen waren, ein besseres Leben zu führen, kurze Zeit später aber wieder im Gefängnis landeten.“ Don Bosco erkannte: „Weil sie auf sich allein gestellt sind, darum versagen sie. Sie bräuchten jemanden, den sie zum Freund haben, der sich ihrer annimmt, sich um sie kümmert, sie sonntags in die Kirche führt“ (vgl. dazu MB II, 370ff.).

Nachdem er das Gefängnis verlassen hatte, stand für ihn fest: „Diese Jugendlichen dürfen nicht mehr im Gefängnis landen.“ Er beriet sich mit Don Cafasso und dieser half ihm, seinen Wunsch in die Tat umzusetzen.

Der Beginn des salesianischen Jugendwerkes in Turin-Valdocco

Von Sonntag zu Sonntag kamen immer mehr Jugendliche zu Don Bosco. Er verbrachte mit ihnen gemeinsam den Tag mit Spielen, Spaziergängen und Religionsunterricht. Doch es war schwierig, einen geeigneten Ort dafür zu finden. Immer wieder wurde er mit seiner Bubenschar vertrieben. War es doch alles andere als normal, wenn damals ein junger Priester mit Jugendlichen, von denen die meisten das Gefängnis schon von innen gesehen hatten, herumzog. Von der Kirche San Pietro in Vincoli, wo ihn die Pfarrhaushälterin vertrieb, wechselte er zu den Dora-Mühlen, von dort auf den Friedhof, vom Friedhof in die Casa Moretta. Don Bosco nahm es mit Humor. In der Casa Moretta richtete er eine erste Abendschule für die Jugendlichen ein, brachte ihnen Lesen und Schreiben bei und gab ihnen Religionsunterricht.

1846 fand er endlich das, wonach er so lange gesucht hatte: er mietete den sog. Pinardi-Schuppen im Turiner Stadtteil Valdocco an, renovierte ihn mit seinen Buben und konnte ihn ein Jahr später sogar käuflich erwerben. Seine Mutter kam, um ihm den Haushalt zu führen. Sie, die Mama Margherita, wurde die gute Seele des Oratoriums, wie er sein Jugendzentrum nannte. Pensionierte Handwerkmeister halfen ihm, Lehrwerkstätten einzurichten. So entstanden eine Schusterei und Schneiderei, eine Schreinerei und Schlosserei und schließlich konnte er sogar eine Druckerei einrichten.

Neben den Lehrlingen dachte Don Bosco aber auch an begabte Jugendliche, für sie gründete er 1854 eine Lateinschule, um ihnen den Weg zum Priestertum zu ermöglichen. Nachts verfasste er eine große Anzahl von Schulbüchern, gab einen Katechismus heraus, ein Geographiebuch, eine zweibändige „Geschichte Italiens“. Zu den ersten Buben, die diese Lateinschule besuchten, zählten Michael Rua, sein späterer Nachfolger, und Dominikus Savio, der mehr als drei Jahre bei Don Bosco war, mit 15 Jahren starb und 1954 heiliggesprochen wurde. Aus dieser Lateinschule, heute würden wir „Gymnasium“ sagen, kamen seine engsten Mitarbeiter, die ersten Salesianer. Im Laufe seines Lebens hat Don Bosco 2000 jungen Menschen den Weg zum Priestertum gewiesen.

Don Bosco schlief kaum mehr als fünf Stunden pro Nacht. Neben seinen Schulbüchern schrieb er Tausende von Briefen, verbrachte zahllose Stunden im Beichtstuhl, handelte für seine Jugendlichen Lehrverträge aus und – war vor allem ein Mann des Gebetes! Zu seinem Tod 1888 schrieb die damalige italienische Tageszeitung „La Fanfulla“: „Wenn Don Bosco Finanzminister gewesen wäre, wäre Italien ökonomisch die erste Nation der Welt.“ Papst Pius XI. sagte über ihn: „Don Boscos Leben war ein großes und einzigartiges Martyrium. Es war ein Leben immenser Arbeit“ (MB XIX, S. 250). Für seine Jugendlichen war er eine lebendige Bibel, weil sie die gedruckte nicht lesen oder nicht verstehen konnten.

Um seine Arbeit, die immer umfangreicher wurde, bewältigen zu können, gründete er 1859 den Orden der Salesianer, benannt nach dem hl. Franz von Sales, dem Ordenspatron. Die Salesianer sollten sich die Milde und Güte und Sanftmut dieses Heiligen zum Vorbild nehmen. Zusammen mit der hl. Maria Mazzarello gründete er 1872 auch einen weiblichen Zweig, die „Töchter Mariä Hilfe der Christen“, heute einfach Don Bosco-Schwestern genannt. Und schließlich rief er 1876 noch die „Vereinigung der Salesianischen Mitarbeiter“ ins Leben, eine Art Dritter Orden, deren Mitglieder die Salesianer und die Don-Bosco-Schwestern mit ihrer Mitarbeit und ihrem Gebet unterstützen.

Zum seinem ersten Oratorium in Turin-Valdocco kamen bald weitere Neugründungen hinzu: zunächst im Piemont, später in ganz Italien. Noch zu Lebzeiten Don Boscos breitete sich sein Werk nach Frankreich und Spanien und England aus. In mehreren Träumen wurde er angewiesen, seine Mitbrüder auch als Missionare nach Südamerika und in andere damalige Missionsgebiete zu schicken. So sind die Salesianer zu einem der größten Missionsorden geworden. Heute arbeiten die fast 16.000 Salesianer in 132 Ländern der Erde.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
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Therese von Lisieux und Therese Neumann – zwei „geistliche Schwestern“

Auf den Spuren der hl. Therese in Konnersreuth

Pater Benedikt Leitmayr (geb 1958) ist seit 2013 Pfarrseelsorger von Konnersreuth, bekannt durch Therese Neumann (1898-1962), für die 2005 das Seligsprechungsverfahren eröffnet worden ist. Nach einer Ausbildung zum Elektroinstallateur besuchte Leitmayr die Spätberufenenschule Fockenfeld und trat 1984 in die Kongregation der Oblaten des hl. Franz von Sales ein. 1991 wurde er zum Priester geweiht und ist besonders als Religionslehrer und Wallfahrtsseelsorger engagiert. Seit 2006 gehört er zu den Ehrenkaplänen von Lourdes. In seinem Beitrag zeigt P. Benedikt die tiefe Verbindung auf, welche die hl. Therese von Lisieux zu Konnersreuth, seinem derzeitigen Wirkungsort, besitzt. Gleichzeitig legt er Zeugnis über seine persönliche Beziehung zur hl. Therese ab. Ihre Worte „Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben“ hatte er sogar als Primizspruch gewählt.  

Von P. Benedikt Leitmayr osfs

Therese von Lisieux ist eine Heilige, die ganz tief in der Liebe verwurzelt ist und es niemals bereut hat, sich der Liebe ausgeliefert zu haben: „Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben!“ Diesen Ausspruch der Therese von Lisieux habe ich vor mehr als 30 Jahren als meinen Primizspruch gewählt und dadurch meine Ordens- und Priesterberufung in ganz besonderer Weise der hl. Therese vom Kinde Jesu anvertraut.

Heute bin ich Pfarrseelsorger in Konnersreuth, einem Ort, in dem Therese von Lisieux schon sehr lange Zeit verehrt wird und bis heute einen festen Platz in der Pfarr- und Marktgemeinde hat. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass Therese Neumann, die „Resl von Konnersreuth“, eine sehr große Verehrerin der französischen Karmelitin Therese von Lisieux war. Gerne möchte ich Therese von Lisieux und Therese Neumann als „zwei geistliche Schwestern“ bezeichnen, die durch ihre Liebe zu Christus bis heute das Evangelium in der Welt lebendig werden lassen.

„Ich begriff, dass die Liebe meine Berufung ist…“

Therese von Lisieux sagt: „Ich begriff, dass die Liebe alle Berufungen in sich schließt, dass die Liebe alles ist, dass sie alle Zeiten und Orte umspannt, […] mit einem Wort, dass sie ewig ist! Endlich habe ich meine Berufung gefunden, meine Berufung ist die Liebe! Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein, […] so werde ich alles sein. Ich habe keine großen Wünsche mehr außer dem einen, zu lieben, bis ich vor Liebe sterbe.“

Therese Neumann sagt: „Der liebe Heiland ist so gut; den lieben Heiland muss man gernhaben. Wenn man einen solch treuen, zuverlässigen Freund an der Seite hat, wie es der liebe Heiland ist, kann nichts fehlen. Alles dem lieben Heiland zuliebe, er ist ja so gut.“

Die Liebe zum Heiland als Berufung, im Herzen der Kirche zu leben, ist das, was Therese Neumann von Therese von Lisieux erfahren hat, als Geschenk für ihr Leben und ihren Glauben, auch in ihrem Leiden. Die Liebe hat die beiden in ihrer je eigenen Berufung zu geistlichen Schwestern auf dem Weg in der Nachfolge Christi gemacht.

Therese von Lisieux wird zum großen Vorbild von Therese Neumann

Dieser Gedanke verbindet die hl. Therese von Lisieux und die Dienerin Gottes Therese Neumann in ganz tiefer und innerlicher Weise. Es ist die Liebe, die das Leben, das Herz und die Seele eines Menschen für den Heiland öffnet. Die Liebe, mit der sich Therese von Lisieux Jesus geschenkt hatte, war für Therese Neumann ein großes Vorbild geworden. Schon ab dem Jahr 1914 betete Therese Neumann um die Seligsprechung der Karmelitin und machte sich durch das Lesen der Geschichte ihrer Seele mit dem Leben und Wirken der Therese von Lisieux vertraut.

Das Jahr 1918 war für Resl von Konnersreuth ein einschneidendes Jahr. Sie erlitt beim Brandlöschen einen Unfall. Die Folgen waren Blindheit und Lähmung. Therese Neumann war buchstäblich ans Bett gefesselt. Doch dann kam es zu entscheidenden „Begegnungen“ mit Therese von Lisieux: Am Tag der Seligsprechung der Kleinen Therese, am 29. April 1923, wurde Resl auf deren Fürsprache von ihrer Blindheit geheilt und konnte nach fünf Jahren wieder sehen. Ebenso war der Heiligsprechungstag am 17. Mai 1925 ein heilender Tag, denn an diesem Tag befreite der Heiland Therese Neumann weitgehend von ihrer Lähmung. Die vollständige Heilung fand am Todestag der hl. Therese von Lisieux statt, nämlich am 30. September 1925. Am 1. Oktober 1925, dem liturgischen Festtag der hl. Therese von Lisieux, ging Resl nach vielen Jahren wieder selbständig in die Konnersreuther Pfarrkirche. Sie nahm Rosen aus dem Pfarrgarten mit und schmückte damit das Kreuz und das Bild der Heiligen Familie hinter dem Altar. Sie tat es in großer Dankbarkeit, hat sie doch erlebt, dass ihr die hl. Therese von Lisieux aus dem Himmel Rosen der Liebe in ihr Leben gestreut hat. Hier wird das Wort der hl. Therese lebendig: „Ich werde meinen Himmel damit verbringen, auf Erden Gutes zu tun. Nach meinem Tod werde ich Rosen regnen lassen.“ So hatte Therese von Lisieux einen großen Platz im Leben und im Herzen der Resl von Konnersreuth.

Die Patronin der Weltmission formt die „Missionarin von Konnersreuth“

Ich bin überzeugt, dass die Patronin der Missionen die „Missionarin von Konnersreuth“ reich mit ihrem Liebesideal beschenkt hat, mit ihrer Jesusliebe, mit ihrer Demut, mit ihrer Einfachheit und ihrem kindlichen Glauben.

Wer heute nach Konnersreuth kommt, sieht, dass Therese von Lisieux hier ihren festen Platz hat. Dies ist erlebbar durch den Theresienaltar, den es seit dem 16. Mai 1928 in der Pfarrkirche gibt, durch den Theresienbrunnen, den Pfarrer Joseph Naber im Jahr 1965 auf dem Therese-Neumann-Platz errichten ließ, durch das Anbetungskloster Theresianum, wo noch heute die Marienschwestern vom Karmel wirken, aber auch dadurch, dass zahlreiche Menschen in Konnersreuth ihr eine „Heimat“ in ihrem Herzen gegeben haben und bis heute noch geben.

Erwähnenswert ist sicherlich auch, dass eine der heutigen Turmglocken, die aus dem Jahr 1949 stammen, ein Bild der hl. Therese vom Kinde Jesus mit der Aufschrift trägt: „Heilige Therese vom Kinde Jesus, lass beim Läuten deiner Glocke Gnadenrosen auf uns herabregnen!“ Am Schlagrand der Glocke steht: „Gestiftet von Therese Neumann und von Pfarrer Joseph Naber“. Es ist die Glocke, die täglich zum Gebet des „Engel des Herrn“ einlädt.

Zudem besitzt die Pfarrei Konnersreuth mehrere Reliquien der hl. Therese von Lisieux. Seit 2015 haben wir einen Schrein mit einer Reliquie, die wir zum Gedenken an 90 Jahre Heiligsprechung und 90 Jahre Heilung der Resl von ihrer Lähmung aus dem Karmel von Lisieux bekommen haben. Sie wurde uns vom damaligen Leiter des Theresienwerkes, Msgr. Anton Schmid, in Konnersreuth überreicht, als Therese vom Kinde Jesu in der Gestalt des Reliquienschreins aus Lisieux Konnersreuth, ihr „bayerisches Lisieux“, besuchte.

Das französische und das „bayerische“ Lisieux

1942 wurde Konnersreuth von dem Karmelitenpater Gebhard Heyder das „bayerische Lisieux“ genannt. Wer im französischen oder im bayerischen Lisieux den Pilgerweg geht, begibt sich in die Spuren der hl. Therese von Lisieux und in die Spuren der Liebe zu Jesus. Beide Orte lassen lebendig werden, dass eine tiefe Beziehung zu Jesus Christus und zur heiligen Eucharistie ein erfülltes Leben schenken kann, selbst wenn das Leben vom Leiden geprägt ist.

Von großer Bedeutung ist jedoch, dass die Liebe unsere Berufung zum Leben mit Christus ausmacht und dass wir die Berufung zur Liebe in der Anbetung entdecken und erleben. Sowohl Therese von Lisieux als auch Therese Neumann waren Menschen der Anbetung. Sie geben uns heute ins Leben mit, dass wir das Leben mit Christus gewinnen und nicht verlieren, denn ein Leben in Christus kennt keine verlorene Zeit. Therese von Lisieux und Therese Neumann haben das Eintauchen in die geheimnisvolle Welt Gottes als ihre Berufung angenommen und sind dadurch lebendiges Evangelium geworden.

Gerade in einer Zeit, in der die Menschen mit Leid immer weniger anfangen können, es nicht verstehen und in ihr Leben einordnen können, zeigen uns diese beiden geistlichen Schwestern, dass im Leiden eine tiefe menschliche Würde steckt. Ihre Leidenszeiten verstehen sie als Zeiten, die durch die Liebe Gottes Ewigkeitsgewinn schenken. Sie verkünden uns: Am Ende bleibt die Liebe und allein die Liebe trägt und wandelt jedes Leid!

Unser aller Berufung ist die Liebe

Jeder Christ ist zur Liebe berufen, somit ist unsere Berufung die Liebe. Therese Neumann sagt uns: „Unsere Berufung ist es, das Leiden der Welt in der Liebe Christi zu tragen.“ Therese von Lisieux sagt uns: „Glauben wir nur ja nicht, lieben zu können, ohne zu leiden.“ Ich selbst möchte darauf eine Antwort mit meinem Primizspruch geben, den mir die hl. Therese von Lisieux geschenkt hat: „Ich bereue es nicht, mich der Liebe ausgeliefert zu haben!“ Wer es nicht bereut, sich der Liebe Gottes anzuvertrauen, wird von dieser Liebe reichlich beschenkt und kann aus dieser Liebe heraus die Menschen in ihren Lebens- und Glaubenswegen stärken.

„Liebe Therese von Lisieux, mit dir im Herzen der Kirche die Liebe sein zu dürfen, was könnte ich mir mehr wünschen … Das ist einfach ein großartiges Geschenk!“ Ich freue mich, wenn Sie sich im 50. Jubiläumsjahr des Theresienwerkes, im 125. Todesjahr der Therese von Lisieux und im 60. Todesjahr der Therese Neumann zum Pilgerweg der Liebe einladen lassen und mit diesen beiden geistlichen Schwestern erfahren, wie nahe Ihrem Leben der lebendige Gott ist. Ich bin sicher, auch Sie werden es nicht bereuen, sich der Liebe auszuliefern!   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Resl von Konnersreuth

Die offizielle Homepage des Bistums Augsburg enthält einen umfangreichen Heiligenkalender mit ausgezeichneten Lebensbeschreibungen. Nachfolgend die Darstellung von Therese Neumann. Dass sie in dieses Verzeichnis aufgenommen worden ist, bedeutet eine besondere Anerkennung vonseiten der Kirche.

Bistum Augsburg

Therese Neumann, geboren am 9. April 1898, gestorben am 18. September 1962, war das älteste von elf Kindern einer Schneiderfamilie und ging mit 14 Jahren als Magd zu einem verwandten Großbauern. Nach einem verheerenden Scheunenbrand 1918 erkrankte sie nach und nach bis zum völligen Zusammenbruch. Blind und gelähmt, zeitweise taub und von Epilepsieanfällen geschüttelt, war sie ein Pflegefall geworden. Am 29. April 1923, dem Tag, an dem Therese von Lisieux seliggesprochen wurde, war Resl plötzlich von ihrer Blindheit geheilt, zwei Jahre später, am 17. Mai 1925, dem Tag ihrer Heiligsprechung, verschwanden auch die Lähmungen und Krämpfe, und am Todestag der Heiligen im September desselben Jahres war Resl wieder völlig hergestellt.

In der Nacht vom 4. auf den 5. März 1926 hatte Resl die erste Vision vom Leiden und Sterben Christi – knapp 700 solcher Erlebnisse sollten bis zu ihrem Tod folgen. In dieser Nacht zeigte sich zum ersten Mal die Seitenwunde Jesu an ihrem Körper. Ab Oktober 1926 nahm sie bis auf den täglichen Empfang der heiligen Kommunion keine Nahrung zu sich. Nach und nach bildeten sich Wunden am Kopf und an den Händen, und jeden Karfreitag blutete sie aus Händen und Augen und fiel in einen todesähnlichen Schlaf, der bis zum Ostermorgen dauerte. Resl soll auch auf Aramäisch gesprochen haben, der Sprache Jesu.

Viele hielten Therese Neumann für eine Schwindlerin und verspotteten die Menschen als „wundersüchtig“. So auch der Publizist Fritz Gerlich, der 1927 eigens nach Konnersreuth reiste, um „dem Schwindel auf die Spur zu kommen“. Er wurde nach seiner Rückkehr katholisch und aus seinen Glaubensüberzeugungen heraus zu einem der schärfsten Hitler-Widersacher. Auch der anfangs skeptische Kapuzinerpater Ingbert Naab war von der Integrität der Resl überzeugt und gehörte wie Gerlich als Mitglied des „Konnersreuther Kreises“ zum Widerstand gegen die Nazis. Freilich hat es auch an Kritikern und bleibend Skeptischen bis heute nicht gefehlt.

Auf Resls Initiative wurde 1955 das Kloster der Salesianeroblaten mit dem Spätberufenenseminar Fockenfeld in der unmittelbaren Nachbarschaft von Konnersreuth eröffnet. 1962 starb sie in den Armen ihrer Schwester Maria.

1963 ging ein Wunsch der Resl in Erfüllung: Marienschwestern vom Karmel bezogen das Kloster Theresianum in Konnersreuth und widmen sich seitdem neben der Führung eines Altenheims und Kindergartens der ewigen Anbetung. Sie betreuen auch die rund 50.000 Wallfahrer, die jährlich ans Grab der Mystikerin kommen. 2005 erreichte der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller das Nihil obstat seitens der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsverfahren in Rom und eröffnete den Seligsprechungsprozess.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Vor 75 Jahren starb die Mystikerin Luisa Piccarreta

Die Stundenuhr der Passion Jesu

Die Dienerin Gottes Luisa Piccarreta (1865-1947) ist eine katholische Mystikerin aus Süditalien, die ein reiches Schrifttum hinterlassen hat. Mit 13 Jahren hatte sie eine erste Vision vom kreuztragenden Erlöser. Schon damals bot sie sich als Sühnopfer für die Sünden an, die den Heiland niederdrücken. Sie erhielt Offenbarungen über die Heiligung im göttlichen Willen, die sie auf Anweisung ihres Beichtvaters zwischen 1899 und 1938 auf etwa 10.000 Seiten niederschrieb, gesammelt in 36 Bänden. Deren Prüfung im Rahmen des Seligsprechungsprozesses ist noch nicht abgeschlossen. Daraus stellt Pater Klaus Holzer CP die sog. „Stundenuhr des Leidens Jesu Christi“ vor.

Von Klaus Holzer CP

Die Torheit des Kreuzes und des Leidens Christi

Einst schrieb der Apostel Paulus den folgenden Satz an die Gemeinde von Korinth: „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft“ (1 Kor 1,18). Anstelle „das Wort vom Kreuz“ könnte auch gesagt werden „das Leiden Christi“. Der Apostel Paulus, der obigen Satz an die Gemeinde von Korinth geschrieben hat, war selbst ein durch und durch vom Kreuz und vom Leiden seines Herrn Ergriffener. Gilt der Tadel des Apostels an die Galater nicht auch uns: „Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet? Ist euch Jesus Christus nicht deutlich als der Gekreuzigte vor Augen gestellt worden?“ (Gal 3,1-2). Befindet sich die Kirche vielleicht deshalb in der Krise, weil sie den gekreuzigten Heiland aus den Augen verloren hat? So abwegig ist das nicht. Zu allen Zeiten war das Kreuz etwas, an dem Anstoß genommen worden ist. Heute wie damals haben die meisten Menschen keinen Bezug zum Kreuz, sondern lehnen es ab und machen sich darüber lustig und spotten über Gläubige.

„Das größte und erstaunlichste Werk göttlicher Liebe“

Der hl. Paul vom Kreuz (1694-1775), Gründer der Kongregation vom Leiden Jesu Christi (Passionisten), sah im Leiden Jesu „das größte und erstaunlichste Werk göttlicher Liebe“. Er nennt es ein „unendliches Meer der Liebe“, aber auch ein „Meer des Schmerzes“. Dieser Heilige gab seinen Mitbrüdern folgende Parole mit auf den Weg: „Das Leiden Jesu Christi sei immer in euren Herzen!“ Die Passionisten tragen deshalb auf ihrem Habit ein Herz mit dieser Inschrift. Sie sollen das Leiden Christi betrachten und verkünden.

Für einen Großteil der Christen aber ist die Betrachtung des Leidens Christi etwas Fremdes. Und diejenigen, die es noch tun, sind in der Gefahr, dabei einige Fehler zu begehen. Von denen spricht der sog. „bayrische Kirchenvater“ und ehemalige Bischof von Regensburg Johann Michael Sailer (1751-1832) gegen Ende des 18. Jahrhunderts: „Wie ist denn die Betrachtung des Leidens Christi bei den meisten beschaffen? Sie stellen sich vor, als wenn Jesus Christus wirklich vor ihren Augen Blut schwitzte, gefangen, gegeißelt, gekreuzigt würde. Das ist recht. Aber gewöhnlicher Weise hält man sich nur bei dem Blutvergießen, bei den Schmerzen des Leidenden auf und denkt nicht, warum Jesus so große Schmerzen ausgestanden hat. Die großen Absichten des Leidens und Sterbens Jesu Christi werden nicht deutlich genug verstanden und nicht tief genug zu Herzen gefasst. Und das ist der erste Fehler.“ Dann kommt Sailer auf den zweiten Fehler zu sprechen. Es werde die Art und Weise, wie der Herr gelitten hat, zu wenig beherzigt: „Seine göttlich-schöne Geduld, seine Sanftmut, sein Gehorsam bis in den Tod des Kreuzes, sein Schweigen, seine Feindesliebe, sein Beten und sein Lehren, seine Ergebung in den Willen des Vaters, sein Beispiel, das er uns hinterlassen hat, wird nicht aufmerksam genug betrachtet.“ Der Herr hat uns ein vollkommenes Beispiel gegeben, wie wir sündige Menschen uns verhalten sollen, wenn Leid, Krankheit und Widerwärtigkeiten über uns kommen. So rät uns Sailer: „Wenn ich das Bild des Gekreuzigten ansehe, so sagt er nie zu mir: Habe Mitleid mit mir, sondern es ist mir, als hörte ich seine Stimme: Ich habe dir ein Beispiel gegeben, sei geduldig, sanftmütig, gehorsam wie ich, habe Mitleid mit dir selbst.“

Die Stundenuhr des Leidens Jesu Christi

Um Fortschritte im geistlichen Leben zu machen, ist es für den Christen unabdingbar, das Leiden Christi zu betrachten, und zwar in rechter Weise. Es gibt darüber hinaus noch eine weitere Möglichkeit, es fruchtbringend für sich selbst und für die ganze Menschheit zu machen, indem man sich intensiv mit der Stundenuhr des Leidens Jesu Christi[1] befasst. Sie wurde von der italienischen Mystikerin Luisa Piccarreta[2] verfasst, die am 23. April 1865 in Corato, Apulien (Süditalien), geboren wurde und dort auch im Ruf der Heiligkeit am 4. März 1947 starb, also vor 75 Jahren. Diese außergewöhnliche Frau erhielt Offenbarungen über die Geheimnisse des Göttlichen Willens. Von 1899 bis 1939, 40 Jahre lang, schrieb sie im Gehorsam gegenüber dem Herrn und ihrem Beichtvater 36 Bände ihres Tagebuches unter dem Titel „Buch des Himmels“, die bereits erwähnte „Stundenuhr der Passion“, verschiedene Betrachtungen zum Marienmonat Mai,[3] Kindheitserinnerungen, sog. „Runden der Seele“ und hunderte Briefe.[4] Ihre Schriften stimmen mit der Hl. Schrift und dem Lehramt der Kirche überein. Positiv über die Sendung Luisas hat sich der hl. Kapuzinerpater Pio von Pietrelcina (1887-1968) geäußert, der eineinhalb Autostunden von ihr entfernt in San Giovanni Rotondo lebte und große Berühmtheit erlangte.

Luisa besuchte nur etwa ein Jahr lang die Schule und wurde von Jesus durch viele Gnaden auf ihre Mission vorbereitet. Etwas mehr als 60 Jahre war sie bettlägerig und lebte völlig abgeschieden von der Welt. In diesem Zeitraum war die hl. Eucharistie allein ihre Nahrung. Die Wundmale unseres Herrn trug sie unsichtbar.[5] Sie wurde stets in ihrer Sendung von einem Beichtvater begleitet, unter denen sich Annibale di Francia (1851-1927) befand, der im Jahr 2004 von Papst Johannes Paul II. heilig gesprochen wurde. Im Jahr 1915 hat der hl. Annibale, Ordensgründer der „Rogationisten“, die erste Ausgabe der „Stundenuhr der Passion“ in Druck legen lassen. Seitdem gab es unzählige neue Auflagen, auch in verschiedenen Sprachen. Ins Deutsche übersetzt wurde die „Stundenuhr der Passion“ erstmals vom Benediktinerpater Beda Ludwig[6] Anfang der 1930er Jahre. Der hl. Annibale, der mit Papst Pius X. gut befreundet war, zeigte diesem bei einer Audienz die Erstausgabe der Stundenuhr. Der Papst sagte darüber: „Dieses Buch muss man auf den Knien lesen, es ist Jesus, der spricht!“   

Nutzen und Sinn der Betrachtung der Stundenuhr

Ein Brief Luisa Piccarretas an den hl. Annibale verdeutlicht, welche Früchte die Betrachtung der Stundenuhr hervorbringt: „Ehrwürdiger Vater, endlich schicke ich Ihnen die Stunden der Passion, die ich aufgeschrieben habe, alles zur Ehre unseres Herrn.  … Ich glaube, wenn ein Sünder sie betrachtet, er sich bekehren wird; wenn er unvollkommen ist, wird er vollkommen werden; wenn er heilig ist, wird er noch heiliger; wenn er in der Versuchung steht, wird er den Sieg erlangen; wenn er leidet, wird er in diesen Stunden die Kraft, die Medizin, den Trost finden. Und wenn seine Seele armselig und schwach ist, wird er geistliche Nahrung finden und den Spiegel, in welchem er sich selbst fortwährend betrachten kann, um sich selbst zu verschönern und sich Jesus, unserem Vorbild, gleich zu gestalten.“

Im selben Brief heißt es dann weiter, worum es bei der Betrachtung der Stundenuhr geht, nämlich um Sühne: „Ich teile Ihnen auch mit, dass der Zweck dieser Leidensstunden nicht so sehr darin besteht, die Geschichte der Leiden Jesu zu erzählen, denn es gibt schon genug Bücher, welche dieses fromme Thema behandeln, und es wäre nicht notwendig, dazu ein neues zu verfassen. Vielmehr besteht ihr Zweck in der Sühne, indem die verschiedenen Punkte des Leidens unseres Herrn mit den verschiedenen Sünden in Beziehung gebracht werden, um auf diese Weise mit Jesus vereint eine würdige Wiedergutmachung für sie zu leisten, um annähernd all das auszugleichen, was die anderen Seelen ihm schulden. Deshalb überlasse ich es Ihnen, ehrwürdiger Vater, den Zweck dieser Schriften in einem Vorwort bekannt zu machen.“

Anleitung zur rechten Betrachtung der Stundenuhr

Pater Annibale ist dieser Weisung Luisas nachgekommen und hat die rechte Weise, wie eine Stunde aus der Passion Jesu zu halten ist, mitgeteilt. Die bloße Erinnerung an die Leiden Jesu genügt nicht. Der zeitliche und örtliche Abstand zu den Leiden Jesu ist zu überbrücken. Es geht darum, in den Göttlichen Willen einzutreten, in dem alles gegenwärtig und im Geschehen begriffen ist, um auf diese Weise an den inneren Akten und Leiden Jesu teilzunehmen. Diese vollziehen sich gegenwärtig und zu diesem bestimmten Zeitpunkt. Auf diese Weise soll das Leben Jesu in uns wiederholt werden. Wir sollen dem Herrn immer ähnlicher werden. Und es geht weiterhin darum, über jede menschliche Seele den unendlichen Wert, die Verdienste und Wirkungen seiner Passion auszugießen.

Jesus selbst erklärt diesen wichtigen Unterschied: „Wer das Geschehen meines Leidens in seiner Seele wiederholt, unterscheidet sich wesentlich von jemand, der über meine Leiden nur nachdenkt und sie bemitleidet. Der erste bildet einen Akt meines Lebens, der meinen Platz einnimmt, um meine Leiden zu wiederholen, und ich fühle mich so, als würden mir die Auswirkungen und der Wert eines göttlichen Lebens zurückgeschenkt. Wenn jemand nur an meine Leiden denkt und mich bemitleidet, dann fühle ich nur die Gesellschaft dieser Seele. Aber weißt du, in wem ich meine Leiden wiederholen kann, so als würden sie jetzt geschehen? In jemand, der meinen Willen als Zentrum seines Lebens besitzt“ (Buch des Himmels, 24. Oktober 1925, Bd. 18).[7]

Es geht beim Halten der Stunden der Passion also nicht nur um das Lesen und auch nicht um eine fromme Andacht, sondern um die Bildung von Leben: das innere Leben Jesu. Auf diese Weise werden wir Tag für Tag immer mehr erfahren, dass Jesus wirklich in uns lebt. Wir erhalten Anteil an seinem göttlichen Leben.

Die rechte Weise, eine Stunde aus der Passion Jesu zu halten, besteht in einem Dreischritt: zuerst aufmerksam lesen, dann darüber nachdenken und endlich aus der Meditation das Leben Jesu bilden.

Wirkungen der Betrachtung der Stundenuhr

Jesus selbst erklärte Luisa die Wirkungen der Stundenuhr: „Meine Tochter, wer immer an meine Passion denkt, bildet in seinem Herzen eine Quelle. Und je mehr er daran denkt, umso mehr wächst diese Quelle, und da die Wasser, die entspringen, allen gemeinsam sind, so dient diese Quelle meiner Passion, die im Herzen gebildet wird, zum Wohl der Seele, zu meiner Ehre und zum Wohl der Geschöpfe.“

Luisa stellte darauf eine Frage: „Sag mir, mein Gut, was wirst du denen als Lohn geben, welche die Stunden deiner Passion halten werden, wie du es mich gelehrt hast?“

Die Antwort des Herrn: „Meine Tochter, ich werde sie nicht wie von euch betrachten, sondern als ob ich selbst sie gehalten hätte, ich werde euch dieselben Verdienste geben, als ob ich im Akt des Erleidens meiner Passion wäre, und dieselben Wirkungen, entsprechend der Dispositionen der Seelen. Dies, während sie auf Erden sind, und ich könnte ihnen keinen größeren Lohn geben. Dann, im Himmel, werde ich sie vor mich stellen, und sie mit Pfeilen der Liebe verwunden und der Freuden, so oft, wie sie die Stunden Meiner Passion gehalten haben, und sie werden mich wie Pfeile durchdringen. Welch ein süßer Zauber wird das für alle Heiligen sein!“ (Buch des Himmels, 10. April 1913, Bd. 11).

Lohn für die Betrachter der Stundenuhr

Eines Tages kommt Luisa auf die von ihr gebrachten Opfer zu sprechen: „Ich schrieb die Stundenuhr, und dachte bei mir: Wie viele Opfer, um diese gesegneten Stunden der Passion zu schreiben! Besonders, um gewisse innere Akte zu Papier zu bringen, die nur zwischen mir und Jesus vorgegangen waren! Was wird der Lohn sein, den er mir geben wird?“ Darauf vernimmt sie die zärtliche Stimme Jesu: „Meine Tochter, als Lohn, dass du die Stunden meiner Passion niedergeschrieben hast, werde ich dir für jedes Wort, das du geschrieben hast, einen Kuss geben, eine Seele.“ Darauf Luisa: „Meine Liebe, das ist für mich, und denen, die sie halten werden, was wirst du ihnen geben?“ Und Jesus: „Wenn sie sie gemeinsam mit mir halten werden und mit meinem eigenen Willen, werde ich ihnen bei jedem Wort, das sie rezitieren, auch eine Seele geben, denn das ganze Mehr oder Weniger an Wirkung dieser Stunden meiner Passion liegt in der größeren oder geringeren Einheit, die sie mit mir haben. Und wenn sie sie mit meinem Willen halten, verbirgt sich das Geschöpf in meinem Wollen, und da mein Wollen handelt, kann ich alle Güter hervorbringen, die ich will, auch für ein einziges Wort, und dies jedes Mal, wenn sie sie halten werden“ (Buch des Himmels, 14. Oktober 1914, Bd. 11).

Wunsch und Wohlgefallen Jesu

Jesus wünscht von uns, dass wir die Stunden seiner Passion halten. Der Segen, der davon ausgeht, ist unbeschreiblich groß: „Wenn ich diese Stunden meiner Passion höre, höre ich meine eigene Stimme, meine eigenen Gebete, ich sehe meinen Willen in dieser Seele, welcher darin besteht, das Wohl aller zu wünschen und für alle Wiedergutmachung zu leisten. Und ich fühle mich hingezogen, in ihr zu wohnen, um in ihr das tun zu können, was sie selbst tut. … O wie gerne hätte ich, dass auch nur eine einzige Seele in jedem Land diese Stunden meiner Passion hielte! Ich würde mich selbst in jedem Land hören, und meine Gerechtigkeit, die in diesen Zeiten höchst aufgebracht ist, würde zum Teil besänftigt“ (Buch des Himmels, 14. Oktober 1914, Bd. 11).

Das Wohlgefallen des Herrn an jenen, die die Stunden der Passion halten, ist groß. Dies kommt zum Ausdruck in den folgenden an Luisa gerichteten Worten, die ihr große Dinge prophezeien: „Meine Tochter, wenn du wüsstest, welch große Genugtuung ich fühle, wenn ich dich diese Stunden meiner Passion wiederholen sehe … du wärest glücklich. … Wisse aber, dass ich dich überreich mit neuem Licht und neuen Gnaden belohnen werde; und auch nach deinem Tod: jedes Mal, wenn Seelen auf Erden diese Stunden meiner Passion halten werden, werde ich dich im Himmel mit immer neuem Licht und Herrlichkeit bekleiden“ (Buch des Himmels, 4. November 1914, Bd. 11).

Lichtvolle Wahrheiten in den Schriften Luisa Piccarretas

Die Schriften von Luisa Piccarreta sind von außergewöhnlicher Bedeutung für die Kirche und die gesamte Menschheit. In ihnen findet sich viel Licht und Kraft. Jesus selbst hebt die Bedeutung seiner Schriften hervor. Er kündigte an, dass finstere Zeiten kommen werden. Seine Offenbarungen an Luisa Piccarreta aber werden Licht schenken, um nicht abzukommen vom rechten Weg. So diktierte er Luisa am 20. Juni 1938: „Du sollst wissen, dass diese Schriften aus dem Mittelpunkt der großen Sonne meines Willens hervorgegangen sind, deren Strahlen voll der Wahrheiten sind, die aus diesem Zentrum entströmt sind, die alle Zeiten, alle Jahrhunderte, alle Generationen umfangen. … Diese Schriften antasten zu wollen, bedeutet daher, mich selbst angreifen zu wollen, den Mittelpunkt meiner Liebe, meine Feinheiten der Liebe, mit denen ich die Geschöpfe liebe.“

Es braucht ein wenig Geduld und Anstrengung, um tiefer einzutauchen in die Schriften Luisas. Dazu kann die „Stundenuhr des Leidens Christi“ eine sehr gute Hilfe sein.[8]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] „Das Reich des Göttlichen Willens“ (Bd. 2) sowie weitere Bücher, die sich mit dem Leben im Göttlichen Willen befassen, können bezogen werden bei: Salvator-mundi, Postfach 1263, D-84495 Altötting, Tel. 08671/969856 – Webseite: www.salvator-mundi.at
[2] Der Seligsprechungsprozess für Luisa wird seit dem 7. März 2006 auf vatikanischer Ebene geführt.
[3] Buch „Die Jungfrau Maria im Reich des göttlichen Willens“ (Bd. 8).
[4] Ein kleines Büchlein mit Briefen Luisa Piccarretas ist ebenfalls beim oben angegeb. Verlag bestellbar.
[5] Biografische Daten über Luisa Piccarreta finden sich im Buch von Gertraud Pflügl: „Kommt und nehmt mein Reich in Besitz“ (Bd. 5).
[6] Pater Beda Ludwig war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein bekannter geistlicher Schriftsteller. Er wurde am 16.6.1871 in der südhessischen Stadt Lorsch geboren und trat 1894 in den Benediktinerorden ein. 1917 wurde er zum Subprior des bekannten Klosters Andechs ernannt. Gestorben ist er am 22.4.1941. Sein Grab befindet sich auf dem Klosterfriedhof des Klosters Andechs.
[7] Das „Buch des Himmels“ ist bereits aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt. Von den 36 Bänden gibt es nur private Übersetzungen. Auszüge und Erklärungen, die sich auf das „Buch des Himmels“ beziehen, sind bei Salvator-mundi bestellbar.
[8] Eine gute Hinführung liefert Manfred Anders: „Das Leben im Reich des göttlichen Willens“ (Bd. 4), ebenfalls beziehbar bei Salvator-mundi.

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