Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Es gehöre zu den unveräußerlichen Grundrechten der Frau, ihr ungeborenes Kind abzutreiben. So sieht es das Parlament der Europäischen Union. Am 7. Juli 2022 hat es eine Resolution zu den Rechten von Mädchen und Frauen verabschiedet, in der die Abtreibung als Menschenrecht deklariert wird.

Das Lebensrecht des Kindes im Mutterschoß wird vollkommen verschwiegen. Mit keinem Wort wird die Aufgabe des Staates angesprochen, sich für das Leben des Kindes einzusetzen. Die Forderung ist so allgemein formuliert, dass sie bewusst die Tötung jedes ungeborenen Kindes bis zur Geburt offenlässt.

Alle EU-Mitgliedsstaaten werden aufgefordert, jeder abtreibungswilligen Frau einen Zugang zu sicherer und legaler Abtreibung zu gewährleisten und sicherzustellen, dass Ärzte, medizinisches Personal und Einrichtungen die Durchführung von Abtreibungen nicht aus religiösen Gründen oder auf Basis einer Gewissensklausel verweigern. Jede Einschränkung oder Verwässerung dieses „mit der sexuellen und reproduktiven Gesundheit einhergehenden Rechts“ auf Abtreibung stelle eine Verletzung der Menschenrechte dar.

Doch ist es genau umgekehrt. Was das Europäische Parlament beschlossen hat, ist eine gewaltige Lüge. Denn die Praxis der Abtreibung stellt in Wirklichkeit die größte Menschenrechtsverletzung und Diskriminierung der schutzlosesten und unschuldigsten Menschen weltweit dar.

Nicht nur aus religiöser Sicht, sondern auch aus Vernunftgründen, die jedem ehrlich denkenden Menschen zugänglich sind, ist vollkommen klar, dass es kein Recht geben kann, einen Menschen umzubringen, weil er nicht in meine Lebensplanung passt. Die große Politik hat sich in den Dienst des menschlichen Egoismus gestellt, der die unantastbare Würde des Menschen dem Verlangen nach Genuss, Besitz und Macht unterordnet.

Unsere Demokratie ist vom Mehrheitsbeschluss abhängig. Minderheiten sind dieser Macht grundsätzlich unterlegen. Wenn auch der Wert wie die unantastbare Würde des Menschen zur Disposition steht, können keine Werte einen letzten Bestand haben. So ist unsere vielbeschworene „Wertegesellschaft“ zum Scheitern verurteilt. Unsere Demokratie, die im Namen der Freiheit auftritt, ist unweigerlich auf dem Weg, die Freiheit zu untergraben und sie den Menschen Schritt für Schritt zu rauben.

Die Freiheit verteidigen kann nur derjenige, der zu einem Urteil fähig ist, das nicht von einem parlamentarischen Mehrheitsbeschluss abhängig ist. Es ist die Stunde gekommen, da wir dem Beschluss des EU-Parlaments mit voller Überzeugung widersprechen und klarstellen: Es gibt kein Recht auf Abtreibung! Mit allem Nachdruck protestieren wir gegen die Resolution des Europäischen Parlaments. Und wir lassen uns die Freiheit nicht nehmen, unser Urteil, das wir im Licht der Vernunft, der menschlichen Natur und der göttlichen Offenbarung fällen, öffentlich zu bezeugen.

Liebe Leser, diesem Auftrag haben wir die neue Ausgabe gewidmet. Es geht nicht um die Frage, ob wir unsere Position beweisen oder die heutige Welt von unserer Haltung überzeugen können. Wir stehen vor der Aufgabe, die Fähigkeit zu erwerben und zu vermitteln, uns in Bezug auf die Fragen der heutigen Zeit ein klares Urteil zu bilden. In diesem Sinn sagen wir Ihnen ein aufrichtiges Vergelt's Gott für Ihre Unterstützung und Treue. Möge Sie Gott auf die Fürsprache unserer himmlischen Mutter Maria reichlich segnen und Ihnen erholsame Sommertage schenken!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

EU-Resolution fordert „Recht auf Abtreibung“ als Bestandteil der Grundrechtecharta

Auch die Würde der Ungeborenen ist unantastbar!

Der Kampf um das Leben spitzt sich immer mehr zu. Niemand hätte für möglich gehalten, dass das historische Urteil „Roe versus Wade“ des Obersten US-Gerichts aus dem Jahr 1973 für nichtig erklärt werden könnte. Doch am 24. Juni 2022 hat der Supreme Court genau diesen Schritt vollzogen und das Recht auf Abtreibung gekippt. Im Gegenzug hob die Bundesregierung am selben Tag das Werbeverbot für Abtreibung auf und das EU-Parlament ging nun noch einen Schritt weiter.

Kirche-heute-Interview mit Alexandra Maria Linder

Kirche heute: Frau Linder, Sie engagieren sich seit vielen Jahren für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder. Nun hat das Europa-Parlament am 7. Juli 2022 eine Resolution zu den Rechten von Mädchen und Frauen verabschiedet, in der die Abtreibung als Menschenrecht deklariert wird. Wie haben Sie persönlich diese Entscheidung aufgenommen?

Alexandra Maria Linder: Als ideologische Perversion, verbunden mit intellektueller Beschränktheit, wenn man das so deutlich sagen darf. Man kann einer Gruppe von Menschen, nämlich den vorgeburtlichen Menschen, in einer Grundrechtecharta in Artikel 7a nicht die Rechte nehmen, die man ihnen unmittelbar vorher in Artikel 1-6 garantiert hat …

Können Sie schon abschätzen, wie Sie dieser Herausforderung begegnen möchten? Was bedeutet die Resolution für Ihre zukünftige Arbeit in der Lebensrechtsbewegung?

Es wäre schön, wenn alle, die bisher aus welchen Gründen auch immer Zurückhaltung geübt haben, nun sagen: Ich mache mit! Je mehr solcher völlig abstrusen Beschlüsse, Gesetze etc. erscheinen, desto mehr Menschen erkennen die Richtung und möchten etwas tun. Je mehr wir sind, je mehr Mittel wir haben, desto mehr können wir, auch auf europäischer Ebene, arbeiten und bewirken. Ohne die Lebensrechtsbewegung wäre vieles schlechter, mit einer noch größer aufgestellten Bewegung einiges noch oder wieder besser.

Seit Jahrzehnten wird um das Thema Abtreibung gekämpft. Mit allen Mitteln versucht eine mächtige Lobby, die Legalisierung der Abtreibung weltweit durchzusetzen. Was treibt diese Lobby an? Welche Ziele stehen hinter diesem Kampf?

Zum einen eine völlig falschlaufende angebliche Feminismus-Bewegung: Es ist vernunftgemäß nicht zu erklären, warum Frauen eine wesentliche, faszinierende und menschheitserhaltende Fähigkeit, die nur sie haben, abschaffen sollen, um eine richtige Frau zu sein. Das geht nur, wenn man sein eigenes Geschlecht im Grunde selbst für minderwertig hält und zum Sekundär-Mann wandeln will. Das aber ist das absolute Gegenteil einer vernünftigen, echten Emanzipation, für die auch wir eintreten.

Zum anderen Geld: Mit künstlichen Verhütungsmitteln und Abtreibung, die wegen der mangelhaften Funktionalität der künstlichen Verhütung unbedingt als Sicherung mitangeboten werden muss, lassen sich gute Gewinne erzielen, zum Beispiel in den bevölkerungsreichen Staaten Afrikas.

Zum Dritten weitere involvierte Ideologien, Stichwort Rassismus oder Eugenik. Nicht von ungefähr befinden sich in den USA Abtreibungseinrichtungen vorwiegend in afroamerikanischen und Latino-Stadtvierteln, ein Drittel aller abgetriebenen Kinder sind afroamerikanische Kinder, bei einem Bevölkerungsanteil von unter 16 Prozent. Und man sollte sich fragen, warum wir die Bevölkerung in Afrika, Asien, Lateinamerika zwingen wollen, weniger Kinder zu bekommen, statt sich um die wirtschaftliche Entwicklung und Versorgung der Frauen mit Bildung und medizinischen Einrichtungen zu kümmern. Damit würde die Kinderzahl langfristig und von den Menschen selbstbestimmt sinken. Eines der zahlreichen zynischen Beispiele dafür ist, dass Marie Stopes International Prostituierten in Kampala/Uganda lediglich illegale Abtreibung anbietet, statt ihnen aus dieser ungewollten Lebenssituation herauszuhelfen. Aber lieber propagiert man weiter das Narrativ einer angeblichen Überbevölkerung.

Des Weiteren sind sowohl IPPF (International Planned Parenthood Federation) als auch Pro Familia von Eugenikern gegründet worden. Auch diesen Aspekt darf man nicht vergessen. Hierzulande wird er z.B. durch pränatale Bluttests, um nach bestimmten Kindern zu fahnden, breit ausgelegte medizinische Indikation bis zur Geburt bei Abtreibung und Präimplantationsdiagnostik bei künstlicher Befruchtung gefördert.

Was ist nun aus Ihrer Sicht zur neuesten Entscheidung des Europa-Parlaments zu sagen?

Man macht sich zum Handlanger von Abtreibungsideologen und führt die EU-Grundrechtecharta ad absurdum. Auf nationale Gesetzgebung haben die Abstimmungen dieses Parlaments keinen Einfluss, aber es geht ja auch um Geldströme an Abtreibungsorganisationen, verweigerte Zahlungen an Lebensrechtsorganisationen und ideologisches Vorankommen.

Der Entwurf wurde mit 378 zu 255 Stimmen bei 42 Enthaltungen angenommen. War mit einer so großen Zustimmung im Europa-Parlament zu rechnen? Wie konnte es soweit kommen?

Das EU-Parlament ist linkslastig und damit ideologisch festgelegt. Keine Diskussion möglich, es geht in diesem Bereich politisch fast nur noch um feste Fronten; Vernunft, Zahlen, Fakten sind nicht gefragt. Übrigens haben etwa 200 Parlamentarier bei der Abstimmung gefehlt. Wie man sich als Politiker bei einer solchen Frage entziehen oder enthalten kann, ist mir ein Rätsel.

Wie ist es zu erklären, dass eine solche Resolution das Lebensrecht des Kindes vollkommen ausblenden kann?

Verblendung, Ideologie, Faktenresistenz, Negierung wissenschaftlicher Erkenntnisse der Embryologie und willkürliche Entmenschlichung der Kinder vor der Geburt, stattdessen Bestimmung des „Schwangerschaftsalters“, Durchführung eines „Schwangerschaftsabbruchs“, Bezeichnung des Kindes als „Fruchtblase“, „Schwangerschaftsgewebe“ – dann geht das.

Geht die Resolution der EU vom Recht auf Abtreibung bis zur Geburt aus?

Offensichtlich, denn eine Frist wird in diesem einen vorgeschlagenen Satz nicht genannt.

Das Recht auf Abtreibung soll nun offiziell in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aufgenommen werden. Was bedeutet das für die Mitgliedsstaaten der EU, insbesondere für Länder wie Malta und Polen, die eine Legalisierung der Abtreibung bislang ablehnen?

Dieser Satz steht noch nicht in der Grundrechtecharta. Sollte er jemals darin erscheinen, kann man den Druck auf lebensbejahende Staaten weiter erhöhen. Dort wird ja mit perfidesten Mitteln, dem Missbrauch tragischer Todesfälle, die mit Abtreibung gar nichts zu tun haben, und Lügen versucht, die Gesetzgebung zu ändern – ein merkwürdiges Verständnis von Demokratie und Subsidiarität der europäischen Staaten, nebenbei.

Erst am 24. Juni 2022 hat der Supreme Court, das Oberste US-Gericht, das historische „Roe v. Wade“-Urteil aus dem Jahr 1973 aufgehoben und damit das Recht auf Abtreibung gekippt. Ist die Entscheidung des EU-Parlaments eine Antwort auf diese Entwicklung in Amerika?

Ja. Die USA haben gesehen, welche Folgen eine legalisierte Abtreibung hat – über 63 Millionen so getötete Kinder und ihre Familien, das Personal, das daran mitzuwirken hat, die gesellschaftlichen Folgen vor allem für die afroamerikanische Bevölkerung, übrigens auch die steigende Müttersterblichkeit (19 bei weißen Frauen, 55 bei afroamerikanischen Frauen – auf 100.000 Geburten) und bleibende Armut vor allem bei nicht-weißen Frauen. Solche Zahlen und Fakten entlarven auch die Lüge, dass legalisierte Abtreibung automatisch die Müttersterblichkeit senke oder für arme Frauen irgendeinen Nutzen haben könnte.

In den USA sollen nach Umfragen 75% der Bevölkerung das Urteil des Supreme Court befürworten. Wie beurteilen Sie die derzeitigen Vorgänge in Amerika? Sind sie ein Zeichen der Hoffnung auch für Europa?

Natürlich. Die Bundesstaaten können jetzt politisch selbst entscheiden, Abtreibungsideologien und entsprechende Geschäftsmodelle eindämmen und den Frauen im Konflikt echte Hilfe anbieten, hoffentlich verbunden mit guter Gesundheitsversorgung, die in den USA leider noch nicht selbstverständlich ist. Jedes Land, das eine humane Familien-, Frauen- und Kinderpolitik anstrebt, ist ein Gewinn für die Menschen und ein Vorbild für die Welt. Malta hat eine äußerst geringe Müttersterblichkeit, weil man sich um die Menschen kümmert, statt ihnen den Tod anzubieten. Ein Rechtsstaat muss dafür sorgen, dass die Tötung unschuldiger Menschen weder zugelassen noch gesetzlich erlaubt wird.

In Deutschland hat die Ampelkoalition am selben Tag, also am 24. Juni, den Paragrafen 219a abgeschafft, der die Werbung für Abtreibung bisher verboten hat. Welches Signal geht von dieser Entscheidung aus? Was bedeutet sie für die gesellschaftspolitische Entwicklung in Deutschland?

Das Ziel der Koalition ist sichere und legale Abtreibung als von der Krankenkasse finanzierte Gesundheitsversorgung. § 219a war nur ein erster Schritt, der keine großen Konsequenzen haben wird, aber gesellschaftlich für mehr Akzeptanz sorgen soll. Erstaunlicherweise will ein Gesetzesentwurf zum assistierten Suizid genau das Werbeverbot einführen, das bei Abtreibung angeblich ein „Informationsverbot“ war…

Ist die deutsche Regierung gerade dabei, unsere Gesellschaft vollkommen umzubauen? Erleben wir bereits den Übergang zum Transhumanismus, von dem der französische Rechtswissenschaftler Grégor Puppinck spricht?

Der Transhumanismus ist eine Ersatzreligion, die wir unter anderem deshalb für sehr gefährlich halten, weil sie Seele und Geist des Menschen ausblendet und letztlich abschaffen will. Der angestrebte Umbau der deutschen Gesellschaft erscheint mir vom Ziel her zunächst anders: Die stabile, natürliche, möglichst lebenslange Familie als autarke und schlecht kontrollierbare Keimzelle der Gesellschaft wird nicht mehr angestrebt, der Mensch soll sozusagen mehr vereinzelt und vereinsamt werden. Der Mensch ist jedoch ein soziales Wesen und wünscht sich im Grunde nichts sehnsüchtiger als das ursprüngliche Familienmodell; das wird hier bewusst ignoriert und teils sogar bekämpft.

Deutsche Politiker haben im Zuge der EU-Resolution schon jetzt die Forderung erhoben, dass die Fähigkeit, Abtreibungen durchzuführen, als Pflichtbestandteil in die medizinische Ausbildung aller Ärzte aufgenommen werden müsste. Wird es Ihrer Ansicht nach dazu kommen?

Diese Forderung besteht ebenfalls schon länger. Ja, das ist möglich.

Wie steht es angesichts der neuesten politischen Entscheidungen um die Gewissensfreiheit der Ärzte und des medizinischen Personals?

Krankenhäuser können jetzt schon das gynäkologische Personal danach auswählen, ob es Abtreibungen vornehmen will. Das ist aber eine Minderheit. Die meisten medizinischen Einrichtungen möchten weder Abtreibungen noch assistierten Suizid, weil es keine Heilbehandlungen und keine Gesundheitsleistungen sind. Solange medizinische Einrichtungen nicht dazu gezwungen werden, hat man noch eine ethische Wahl. Für die Ausbildung aber könnte die Gewissensfreiheit eher bedroht sein, sollte Abtreibung zum Beispiel Pflichtbestandteil werden.

Haben katholische Krankenhäuser in Europa eine Zukunft?

Wenn sie sich auf ihre besonderen Fähigkeiten und Menschenwürde-Aspekte besinnen und sie umfassend verwirklichen, unbedingt – als humane Alternative zu gewinnorientierten, operationswütigen, nachlässigen und/oder Tötungshandlungen anbietenden Einrichtungen, die den Menschen nicht als Einheit von Geist, Seele und Körper sehen und entsprechend nicht so behandeln.

Welche Aufgabe hat die Kirche angesichts der neuesten Entwicklung? Wie sollen die Bischöfe auf die Entscheidung des EU-Parlaments reagieren?

Es steht mir nicht zu, Bischöfen etwas zu empfehlen. Jedoch erscheint mir eine mutige, vorbildhafte Besinnung auf die wesentlichen, Gott und dem Menschen dienenden Angebote des Christentums für die Gesellschaft sehr wichtig.

Was können die Gläubigen tun? Welches Zeugnis erwartet Gott Ihres Erachtens von uns Christen?

In der Hoffnung, dass ich Gott richtig verstehe…: für den Glauben eintreten; Nächstenliebe üben, jeder auf seine Weise und mit seinen Gaben; die Geistlichen und die Gemeinden unterstützen, bestärken und verteidigen.

Wie bewerten Sie den Einsatz von Papst Franziskus für den Lebensschutz?

Inhaltlich, wie man es von einem Papst erwarten darf, in der praktischen Ausführung (ernannte Personen und Institutionen im Vatikan und anderswo, die dafür zuständig sein sollen) und in der Wortwahl häufig erklärungsbedürftig.

Angesichts dessen, was derzeit in Deutschland und Europa passiert, verlieren viele Menschen den inneren Frieden und die Hoffnung auf einen neuen Frühling der Menschheit, von dem der hl. Papst Johannes Paul II. gesprochen hat. Was wünschen Sie unseren Lesern?

Mut, Tapferkeit, Kraft „von oben“, eine gute Beziehung zu Gott und den Menschen und natürlich das, was uns an Kraftquellen vorgegeben ist und angeboten wird: Glaube, Liebe, Hoffnung!

Frau Linder, wir danken Ihnen von Herzen für das aufschlussreiche und ermutigende Interview und wünschen Ihnen viel Kraft für Ihren wertvollen Einsatz zugunsten des Lebens.

Die Fragen stellte Pfr. Erich Maria Fink.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Abtreibung ist nie gerechtfertigt

In der Enzyklika Evangelium vitae vom 25. März 1995 hat Papst Johannes Paul II. die kirchliche Lehre hinsichtlich der Abtreibung mit seiner Autorität als oberster Hirte der Kirche bekräftigt. Auch im Blick auf schwierige und komplexe Situationen hält er klar und eindeutig an dem Urteil fest, dass Abtreibung nicht gerechtfertigt werden kann.

Mit der Autorität, die Christus Petrus und seinen Nachfolgern übertragen hat, erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen – die mehrfach die Abtreibung verurteilt und, obwohl sie über die Welt verstreut sind, bei der eingangs erwähnten Konsultation dieser Lehre einhellig zugestimmt haben –, dass die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen. Diese Lehre ist auf dem Naturrecht und auf dem geschriebenen Wort Gottes begründet, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt der Kirche gelehrt (Nr. 62).

Gewiss nimmt der Entschluss zur Abtreibung für die Mutter sehr oft einen dramatischen und schmerzlichen Charakter an, wenn die Entscheidung, sich der Frucht der Empfängnis zu entledigen, nicht aus rein egoistischen und Bequemlichkeitsgründen gefasst wurde, sondern weil manche wichtigen Güter, wie die eigene Gesundheit oder ein anständiges Lebensniveau für die anderen Mitglieder der Familie gewahrt werden sollten. Manchmal sind für das Ungeborene Existenzbedingungen zu befürchten, die den Gedanken aufkommen lassen, es wäre für dieses besser, nicht geboren zu werden. Niemals jedoch können diese und ähnliche Gründe, mögen sie noch so ernst und dramatisch sein, die vorsätzliche Vernichtung eines unschuldigen Menschen rechtfertigen (Nr. 58).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Papst Franziskus zum Thema Abtreibung

Alle Menschenrechte stehen auf dem Spiel

Wenn es um das Thema Abtreibung geht, äußert sich Papst Franziskus unmissverständlich und kompromisslos. Ohne diplomatische Rücksichtnahme nennt er die Dinge beim Namen. Er scheut sich nicht, von Verbrechen und Mord zu sprechen oder die Tötung ungeborener Kinder als Auftragsmord zu bezeichnen. Die dahinterstehende Lebenshaltung vergleicht er sogar mit der Logik der Mafia. Schon in seinem programmatischen Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium vom 24. November 2013 begründet er das klare und unnachgiebige Urteil der Kirche in Bezug auf die Abtreibung. Er hebt hervor, dass mit dieser Frage der gesamte Menschenrechtskodex auf dem Spiel steht. Gleichzeitig bringt er mit den Dramen, die sich hinter Abtreibungen verbergen, ein außerordentliches Mitgefühl zum Ausdruck und ruft zu mehr Einsatz für Frauen in Not auf.

Von Papst Franziskus

An der Verteidigung des ungeborenen Lebens hängen die Menschenrechte

Unter diesen Schwachen, deren sich die Kirche mit Vorliebe annehmen will, sind auch die ungeborenen Kinder. Sie sind die Schutzlosesten und Unschuldigsten von allen, denen man heute die Menschenwürde absprechen will, um mit ihnen machen zu können, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und Gesetzgebungen fördert, die erreichen, dass niemand das verbieten kann. – Um die Verteidigung des Lebens der Ungeborenen, die die Kirche unternimmt, leichthin ins Lächerliche zu ziehen, stellt man ihre Position häufig als etwas Ideologisches, Rückschrittliches, Konservatives dar. Und doch ist diese Verteidigung des ungeborenen Lebens eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden. Sie setzt die Überzeugung voraus, dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen.

Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben keine festen und dauerhaften Grundlagen für die Verteidigung der Menschenrechte; diese wären dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligen Machthaber unterworfen. Dieser Grund allein genügt, um den unantastbaren Wert eines jeden Menschenlebens anzuerkennen. Wenn wir es aber auch vom Glauben her betrachten, dann „schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor dem Angesicht Gottes nach Rache und ist Beleidigung des Schöpfers des Menschen“ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, Nr. 213).

Wir haben wenig für Frauen in Not getan

Gerade weil es eine Frage ist, die mit der inneren Kohärenz unserer Botschaft vom Wert der menschlichen Person zu tun hat, darf man nicht erwarten, dass die Kirche ihre Position zu dieser Frage ändert. Ich möchte diesbezüglich ganz ehrlich sein. Dies ist kein Argument, das mutmaßlichen Reformen oder „Modernisierungen“ unterworfen ist. Es ist nicht fortschrittlich, sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernichtet. Doch es trifft auch zu, dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten, die sich in sehr schweren Situationen befinden, wo der Schwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelle Lösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders, wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folge einer Gewalt oder im Kontext extremer Armut entstanden ist. Wer hätte kein Verständnis für diese so schmerzlichen Situationen? (Nr. 214).

Ist es richtig, einen Auftragsmörder anzuheuern?

Das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten“ mit seiner knappen und kategorischen Formulierung erhebt sich wie ein Bollwerk zur Verteidigung des Grundwerts der zwischenmenschlichen Beziehungen. Und was ist der Grundwert der zwischenmenschlichen Beziehungen? Der Wert des Lebens (vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion Donum vitae, 5: „Das menschliche Leben ist heilig, weil es von seinem Beginn an ,der Schöpfermacht Gottes‘ bedarf und für immer in einer besonderen Beziehung zu seinem Schöpfer bleibt, seinem einzigen Ziel. Nur Gott ist der Herr des Lebens von seinem Anfang bis zu seinem Ende: Niemand darf sich, unter keinen Umständen, das Recht anmaßen, ein unschuldiges menschliches Wesen direkt zu zerstören.“).

Darum: Du sollst nicht töten. Man könnte alles Übel, das in der Welt geschieht, so zusammenfassen: die Verachtung des Lebens. … Ein widersprüchlicher Ansatz gestattet auch die Auslöschung des menschlichen Lebens im Mutterleib, im Namen der Wahrung anderer Rechte. Aber wie kann ein Akt, der unschuldiges und wehrloses Leben im Keim erstickt, therapeutisch, zivil oder auch einfach nur menschlich sein? Ich frage euch: Ist es richtig, ein menschliches Leben zu „beseitigen“, um ein Problem zu lösen? Ist es richtig, einen Auftragsmörder anzuheuern, um ein Problem zu lösen? Das geht nicht, es ist nicht richtig, einen Menschen, so klein er auch ist, zu „beseitigen“, um ein Problem zu lösen. Es ist, als würde man einen Auftragsmörder anheuern, um ein Problem zu lösen. Woher kommt das alles? Wo entstehen Gewalt und Ablehnung des Lebens im Grunde? Aus der Angst. Denn die Aufnahme des anderen ist eine Herausforderung für den Individualismus.

Auch ein Kind mit einer schweren Behinderung ist ein Geschenk Gottes

Denken wir z.B. daran, wenn man entdeckt, dass ein noch ungeborenes Leben Träger einer Behinderung, vielleicht auch einer schweren Behinderung ist. Die Eltern brauchen in diesen dramatischen Fällen wahre Nähe, wahre Solidarität, um sich der Wirklichkeit zu stellen und die verständlichen Ängste zu überwinden. Stattdessen erhalten sie oft hastig den Rat, die Schwangerschaft abzubrechen. Das sagt man so, aber „die Schwangerschaft abbrechen“ bedeutet „jemanden zu beseitigen“, unmittelbar.

Ein krankes Kind ist wie jeder Notleidende der Welt, wie ein alter Mensch, der Beistand braucht, wie viele Arme, die sich mühsam durchschlagen müssen: Das Kind – der Junge, das Mädchen –, das als Problem erscheint, ist in Wirklichkeit ein Geschenk Gottes, das mich aus dem Egozentrismus herausführen und mich in der Liebe wachsen lassen kann. Das verletzliche Leben zeigt uns den Ausweg, den Weg, uns aus einem in sich selbst verschlossenen Dasein zu retten und die Freude der Liebe zu entdecken (Generalaudienz, 10. Oktober 2018).

Wissenschaftlich gesehen ist die Frage des ungeborenen Lebens klar

Das Problem der Abtreibung: Das ist mehr als ein Problem, es ist Mord. Wer abtreibt, der tötet, um es klar zu sagen. Nehmen Sie ein beliebiges Buch über Embryologie für Medizinstudenten. In der dritten Woche nach der Empfängnis sind bereits alle Organe vorhanden, die DNA – es ist ein menschliches Leben. Dieses menschliche Leben muss respektiert werden, dieser Grundsatz ist so klar! Dem, der das nicht verstehen kann, würde ich folgende Frage stellen: Ist es richtig, ein menschliches Leben zu töten, um ein Problem zu lösen? Ist es richtig, einen Killer anzuheuern, um ein menschliches Leben zu töten? Wissenschaftlich gesehen ist es ein menschliches Leben. Ist es richtig, es beiseitezuschaffen, um ein Problem zu lösen? Und darum ist die Kirche bei diesem Thema so hart, denn wenn sie (Abtreibung) akzeptieren würde, wäre es so, als würde sie das tägliche Morden akzeptieren (Pressekonferenz auf dem Rückflug von Bratislava, 15. September 2021).

Abtreibung ist ein „absolutes“ und nie ein „geringeres“ Übel

Abtreibung ist nicht ein „geringeres Übel“, es ist ein Verbrechen. Es heißt, einen aus dem Weg zu räumen, um einen anderen zu retten. Das ist das, was die Mafia tut. Abtreibung ist ein Verbrechen, ein absolutes Übel. Hinsichtlich des „geringeren Übels“: eine Schwangerschaft zu vermeiden ist ein Fall – wir sprechen von einem Konflikt zwischen dem fünften und dem sechsten Gebot. Paul VI. – ein großer! – hat in einer schwierigen Situation in Afrika den Ordensschwestern für den Fall von Vergewaltigung erlaubt, Verhütungsmittel zu verwenden. Man darf nicht das Übel, eine Schwangerschaft allein zu vermeiden, mit der Abtreibung verwechseln. Die Abtreibung ist nicht ein theologisches Problem, es ist ein menschliches Problem, ein medizinisches Problem. Man tötet eine Person, um eine andere – im günstigsten Fall – zu retten oder gut durchkommen zu lassen. Abtreibung ist gegen den hippokratischen Eid, den die Ärzte ablegen müssen. Es ist ein Übel in sich, aber es ist am Anfang nicht ein religiöses Übel, nein, es ist ein menschliches Übel. Und es ist klar, da es ein menschliches Übel ist, wird es – wie jede Tötung – verurteilt (Pressekonferenz auf dem Rückflug aus Mexiko, 17. Februar 2016).

Es ist kein religiöses, sondern ein menschliches, anthropologisches Problem

Was die Abtreibung betrifft, wissen Sie, wie die Kirche denkt. Das Problem der Abtreibung ist kein religiöses Problem: wir sind nicht aus religiösen Gründen gegen Abtreibung. Nein. Es ist ein allgemein menschliches Problem und eine Frage der Anthropologie. Wenn man über die Frage der Abtreibung nachdenkt, und dabei von religiösen Vorgaben ausgeht, wird das Denken übergangen. Das Problem der Abtreibung ist Gegenstand der Anthropologie. Und die anthropologische Frage nach der ethischen Erlaubtheit, ein Lebewesen zu beseitigen, um ein Problem zu lösen, ist immer gegeben. Aber das ist bereits die Diskussion. Ich möchte nur betonen: Ich habe etwas dagegen, dass das Problem der Abtreibung von einem religiösen Ausgangspunkt her diskutiert wird. Nein. Es ist ein anthropologisches Problem, es ist ein menschliches Problem. Das denke ich darüber (Pressekonferenz auf dem Rückflug von Dublin, 26. August 2018).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Der Katechismus zur Abtreibung

Die Lehre der Kirche über die Abtreibung wird in den Nummern 2270-2275 des Katechismus der Katholischen Kirche dargelegt. Darin heißt es:

2270    Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an absolut zu achten und zu schützen. Schon im ersten Augenblick seines Daseins sind dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben [Vgl. DnV 1,1.]. …

2271    Seit dem ersten Jahrhundert hat die Kirche es für moralisch verwerflich erklärt, eine Abtreibung herbeizuführen. Diese Lehre hat sich nicht geändert und ist unveränderlich. Eine direkte, das heißt eine als Ziel oder Mittel gewollte, Abtreibung stellt ein schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz dar. …

2272    Die formelle Mitwirkung an einer Abtreibung ist ein schweres Vergehen. Die Kirche ahndet dieses Vergehen gegen das menschliche Leben mit der Kirchenstrafe der Exkommunikation. …

2273    Das unveräußerliche Recht jedes unschuldigen Menschen auf das Leben bildet ein grundlegendes Element der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Gesetzgebung. …

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Weg zur antichristlichen Gesellschaft

Die Schlüsselrolle der Abtreibung

Im Jahr 2018 veröffentlichte der französische Rechtswissenschaftler Grégor Puppinck (geb. 1974) das Buch „Les droits de l‘homme dénaturé“, das 2021 unter dem Titel „Der denaturierte Mensch und seine Rechte“ auch auf Deutsch erschien (Be&Be-Verlag Heiligenkreuz).[1] Darin zeigt Puppinck auf, was sich hinter der Entwicklung „neuer Menschenrechte“ verbirgt.  Gerade die Durchsetzung des Rechts auf Abtreibung als „Menschenrecht“ spiele eine Schlüsselrolle beim radikalen Umbau der Gesellschaft auf dem Fundament eines völlig neuen antichristlichen Menschenbildes. Schon 2014 habe die französische Nationalversammlung in einer Resolution die Praxis der Abtreibung als „universelles Recht“ und als „unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau einer fortschrittlichen Gesellschaft“ bezeichnet. Und der Europäische Gerichtshof habe in einem Votum unverblümt die schockierende Erklärung abgegeben, dass ein staatlicher Schutz letztlich nur jenen Individuen zukomme, „die aktiv am normalen täglichen Leben einer demokratisch verfassten Gesellschaft teilnehmen“.

Von Grégor Puppinck

Der Standpunkt der Gesellschaft zum Selbstmord, zur Homosexualität, zur Abtreibung, und mithin – kurz gesagt – zur Kontrolle über das Leben hat sich seit 1948 ebenso wenig geändert wie die Menschenrechte; was sich hingegen geändert hat, ist die Fähigkeit der Gesellschaft, das Privatleben der Leute einer moralischen Beurteilung zu unterziehen. Die westliche Gesellschaft hält sich nicht mehr für berechtigt, jemanden auf ein bestimmtes Bild vom Menschen (bzw. der menschlichen „Person“) zu verpflichten – wohl vor allem deshalb, weil wir es seit 1948 fertiggebracht haben, den vom christlichen Humanismus ererbten Sinn des Daseins aus dem Blick zu verlieren: wir wissen nicht mehr, was der Mensch ist. Indem er sich selbst den Menschen offenbarte, hatte Gott dem Menschen auch den Menschen geoffenbart. Aber ohne diese Offenbarung des Menschen durch Gott sind wir dazu verurteilt, uns nur noch subjektiv wahrzunehmen, ohne uns im Spiegel des göttlichen Anders-Seins sehen zu können. Dementsprechend wäre die tiefere Ursache für die heute zu beobachtende Umgestaltung der Menschenrechte weniger in den Menschenrechten selbst als in der Zurückweisung des geoffenbarten Schöpfergottes zu suchen. Diese Verdiesseitigung entzieht dem Menschen seine Identität und die Würde seiner Geschöpflichkeit und Sohnschaft, um ihm stattdessen die unbeschränkte Freiheit eines Waisenkindes zu verschaffen.

Vor diesem Hintergrund der Zurückweisung Gottes findet eine zweifache Entwicklung statt, in der einerseits neue Individualrechte behauptet werden und andererseits die personalistische und christliche Ontologie zerstört wird; letztlich fließen diese beiden Entwicklungsstränge in eins zusammen, weil diese neuen Rechte nur darauf abzielen, die Macht zu erwerben, sich von dieser Ontologie zu befreien. Es handelt sich um die befreiende Zerstörung eines Seinskonzepts, das die Macht der Person über sich selbst im Namen der Achtung der kosmischen Harmonie zwischen dem Menschen und der Schöpfung einschränkt. So wird die Macht der Person über sich selbst entfesselt, indem die Harmonie zerschlagen und der Konflikt ins Sein eingeführt wird.

Die neuen Rechte auf Abtreibung, Euthanasie, Homosexualität und Eugenik sind allesamt ein Ausdruck dieses Konflikts: es handelt sich um Rechte des menschlichen Willens über den menschlichen Leib, die die Ausübung willkürlicher Macht gegen den Leib gewährleisten. Ganz im Gegensatz zum herkömmlichen Verständnis der Gerechtigkeit zielen diese neuartigen Rechte nicht auf Recht und Billigkeit ab, sondern auf Macht. Gegen die christliche Ontologie setzen sie eine dualistische und materialistische Sicht auf den Menschen um und stürzen das alte Prinzip der Unverfügbarkeit des menschlichen Leibes um, das die als Achtung vor der Einheit zwischen Leib und Geist verstandene Menschenwürde garantierte. … Vielmehr wird die Anerkennung der Menschenwürde eines Wesens davon abhängig gemacht, ob es im Besitz eines Geistes ist: dieser Fötus ist demnach noch kein Mensch, während jener Alte oder Kranke seine Menschenwürde in dem Maß einbüßt, in dem er sein Bewusstsein verliert. Auf diese Weise tritt der von Fleisch und Blut losgelöste Individualismus der Materialisten die Nachfolge des christlichen Humanismus an. …

Die Gleichheit wird zum einzigen Prinzip der Gesellschaftsordnung: sie besteht in ganz neuartiger Weise in dem Verbot, irgendwelche äußerliche (d.h. nicht „geistige“) Merkmale des Individuums zu berücksichtigen. Und noch mehr: Diese von jeder Leiblichkeit abgelöste Gleichheit ist eine Voraussetzung für die schiere Existenz einer Menschheit ohne gemeinsamen Vater (Auszüge von S. 82-87).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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[1] Grégor Puppinck: Der denaturierte Mensch und seine Rechte, Heiligenkreuz 2021, HC, 276 S., Euro 21,90, ISBN 978-3-903602-07-6 – Bestellung unter Tel. 0043(0)2258 8703-400 oder E-Mail: bestellung@ bebeverlag.at – www.klosterladen-heiligenkreuz.at

Exorzismus und Heilungsdienst der Kirche

Die Befreiung vom Bösen

Pater Dr. Josef Weber SDB (geb. 1948) ist Dozent für Neues Testament und Christliche Spiritualität an der Katholischen Stiftungshochschule München, Abteilung Benediktbeuern. In einem Vortrag am 5. April 2022 in Radio Horeb behandelte er das Thema „Gott und das Geheimnis des Bösen“. Den zweiten Teil seiner Ausführungen widmete er der Frage, wie wir als Christen mit dem Bösen umgehen sollen. Dabei ging er auch auf den Befreiungsdienst der Kirche und den Großen Exorzismus ein, konzentrierte sich aber darauf, wie sich jeder Gläubige vor den Angriffen des Bösen schützen kann.

Von Josef Weber SDB

Der dreifache Auftrag Jesu an die Apostel

Im Markusevangelium lesen wir von einem dreifachen Auftrag, den Jesus seinen Jüngern übertragen hat. „Er rief die Zwölf zu sich und sandte sie aus…, damit sie (a) die Frohbotschaft verkünden, (b) Kranke mit Öl heilen und (c) Dämonen austreiben“ (vgl. Mk 6,7-13). Diesen dreifachen Auftrag muss heute auch die Kirche ausüben. 

An erster Stelle steht die Verkündigung der Frohbotschaft. Diesen Auftrag erfüllt die Kirche in und außerhalb der Liturgie.

Der zweite Auftrag lautet: „Legt den Kranken die Hände auf!“ Dies bedeutet nicht, dass alle Kranken gesund werden, denen Priester die Hände auflegen, sondern dieser Auftrag bezieht sich auf alle Kranken, Armen, Ausgestoßenen. Die Kirche muss denen nahe sein, die der Hilfe bedürfen. Das geschieht institutionell etwa durch das Sakrament der Krankensalbung, auch durch die Caritas. Das geschieht aber auch durch unzählige ehrenamtliche Helfer, von denen es viele in unseren Pfarreiengemeinschaften gibt.

Der dritte Auftrag an die Apostel bzw. an die Kirche wird heute vielfach übergangen. Er lautet: „Treibt mit meiner Vollmacht Dämonen aus!“ Da fragen wir uns: Wann und wo geschieht das heute in der Kirche? Glauben die Theologen noch an Dämonen oder interpretieren sie diese als psychische Erkrankungen? Wir wollen diesem dritten Auftrag ein wenig nachgehen.

Das Rituale des Exorzismus

Es gibt in der Kirche den Befreiungsdienst. Es werden Befreiungsgebete gesprochen. Es gibt aber auch das Rituale des Exorzismus. Wörtlich heißt dieses Wort „Hinausbeschwören“, d.h. ein Dämon wird aus einem Menschen hinausbeschwört. Der Exorzismus ist ein im Namen Jesu an den Teufel gerichteter Befehl, Menschen, Orte oder Gegenstände zu verlassen bzw. sie in Ruhe zu lassen. Dabei handelt es sich nicht um Magie, sondern um ein feierliches Gebet im Namen und in der Vollmacht Christi, im Namen und im Auftrag der Kirche.

Schon in der Urkirche wurden Exorzismen vorgenommen. Nach Tertullian konnte jeder Christ einen Exorzismus sprechen. Später blieb er Bischöfen und Priestern vorbehalten. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Taufe spielte der Exorzismus in der alten Kirche eine große Rolle. Er wurde durch symbolische Handlungen und durch Worte vorgenommen.

„Abschied vom Teufel“

In einer Zeit, in der die Leugnung Satans bis hinein in kirchliche Kreise zunimmt, breitet sich sein Wirken in einem noch nie dagewesenen Ausmaß aus. In unserer Zeit besteht Satans größter Erfolg darin, dass er uns zu der Annahme verführt hat, es gebe ihn gar nicht. Im Jahr 1969 veröffentliche Herbert Haag das Buch „Abschied vom Teufel“ – mit einem durchschlagenden Erfolg. Weitere Bücher ähnlichen Inhalts folgten. Heute kommen Begriffe wie „Satan“ als Person oder „Hölle“ in der Theologie kaum noch vor. Auch bei Predigten wird kaum darüber gesprochen. Sie werden als mittelalterliche Mythen oder Legenden abgetan. Was müssen wir nicht alles glauben, um nicht an die Existenz des Teufels glauben zu müssen!

In einer Ansprache am 21. November 1972 sagte Papst Paul VI., dass „der Rauch Satans in die Kirche eingedrungen ist“. Heute sehen wir, wie recht Papst Paul VI. vor genau 50 Jahren hatte!

Bedrängnis – Umsessenheit – Besessenheit

Wir kennen die Begriffe der Bedrängnis (obsessio), der Umsessenheit (circumsessio) und der Besessenheit (possesio).

Die Bedrängnis erfahren fast alle Christen, besonders jene, die bewusst christlich leben wollen. Es handelt sich um Versuchungen, Attacken, Irritationen des Bösen mit dem Ziel, den Menschen vom Weg zu Gott abzuhalten.

Umsessenheit meint unerklärliche seelische, geistige oder körperliche Schmerzen, manchmal mit der Verführung zum Suizid, mit nächtlichen Alpträumen, diffusen Störungen. Oft steckt hinter solchen Symptomen eine Verwünschung oder Verfluchung, oft auch der bisherige Umgang mit Esoterik und Okkultismus.

Besessenheit schließlich kommt eher selten vor, sie kann selbstverschuldet sein, etwa durch freiwilliges Einlassen auf okkulte Praktiken. Sie kann aber auch zugelassen sein als ein stellvertretendes Leiden für Gott. Es handelt sich dabei um eine Innewohnung eines oder mehrerer Dämonen.

Der Große Exorzismus

Bei einer echten Besessenheit können die Dämonen nur durch den großen Exorzismus gebannt werden. Ein solcher Exorzismus darf nur durch einen von seinem Bischof bevollmächtigten Priester ausgeführt werden. Der frühere Erzbischof von Turin, Kardinal Ballestrero, war davon überzeugt, dass Exorzismen ein Überbleibsel aus dem Mittelalter sind. Daher entzog er allen Exorzisten seiner Diözese die Vollmacht. Drei Jahre vor seinem Tod ernannte er für seine Diözese 33 neue Exorzisten, nachdem er mit der Wirklichkeit des Bösen konfrontiert worden war.

Wie sollen wir mit dem Bösen umgehen?

Wie sollen wir reagieren, wenn wir mit dem Geheimnis und der Macht des Bösen konfrontiert werden? Sollen wir den Bösen bekämpfen, ihm ausweichen, ihn leugnen? Wie gehen wir als Christen mit dem Bösen um?

Eine erste wichtige Regel heißt: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute“ (Röm 12, 21). Ich rate auf keinen Fall, den Kampf gegen den Bösen aufzunehmen, indem man ihn angreift. Dies ist die Aufgabe der Exorzisten! Vielmehr sagt der hl. Paulus, dass wir alle das Böse durch das Gute besiegen sollen. Denn dort, wo das Gute geschieht, hat der Böse keine Macht! Wo Wahrheit ist, kann keine Lüge sein. Wo Licht ist, kann keine Finsternis sein. Wo Heil ist, kann kein Unheil sein. Wo Christus ist, kann kein Dämon sein.

Wenn wir uns vom Bösen bedrängt fühlen, dann sollten wir unser Taufgelübde erneuern. Das können wir ganz allein machen (GL 573,8). Indem wir drei Mal ganz bewusst dem Bösen abkehren mit „Ich widersage!“ und uns drei Mal ganz bewusst zum dreifaltigen Gott bekennen mit „Ich glaube!“, stellen wir uns auf die Seite Gottes und sind für den Bösen nicht erreichbar.

Einen wichtigen Schutz gegen den Bösen bietet uns auch unsere himmlische Mutter, die Mutter Jesu. Sie ist für den Teufel unangreifbar. Er kann und darf sich ihr nicht nähern. Darum sollten wir Maria bitten, dass wir uns unter ihren Schutzmantel stellen dürfen. Oder noch besser: Wir weihen uns ihrem Unbeflecktem Herzen und dem Heiligsten Herzen Jesu. Dann sind wir auch ganz geschützt!

„Alles kann, wer glaubt!“

Wir sind ganz geschützt, wenn wir am Glauben der Kirche festhalten, wie er uns in unserer Kindheit und Jugend vorgelebt wurde. Lassen wir uns nicht verführen von einer vermeintlichen Theologie, von Menschen, die heute die Kirche völlig erneuern wollen und eine ganz bestimmte Vorstellung von dieser Erneuerung haben, indem sie Neuerungen einfordern, die es bisher in der Kirche nicht gegeben hat.

Zugegeben, unsere Kirche muss von Grund auf erneuert werden, doch nicht durch Menschen, die alles besser wissen, sondern nur durch jene, die in der Kraft und unter der Leitung des Heiligen Geistes diese Kirche erneuern. Als Teresa von Kalkutta einmal gefragt wurde, was die Welt und die Kirche retten wird, antwortete sie: „Das Gebet! Jede Pfarrei soll in Stunden der Anbetung vor Jesus im Allerheiligsten Altarsakrament hintreten.“ An einer anderen Stelle wurde sie gefragt, was in der Kirche nicht in Ordnung sei. Sie hat darauf lapidar auf Englisch geantwortet: „Me and you! – Ich und Du!“ Die Reihenfolge sollten wir nicht umkehren. Ähnlich heißt es in einem alten Gebet: „Herr, erneuere deine Kirche – und fang bei mir an!“

Haben wir keine Angst vor dem Bösen! Erbitten wir uns mit den Jüngern Jesu: „Herr, stärke unseren Glauben!“ Zu einem Mann aus der Menge sagte Jesus: „Alles kann, wer glaubt!“ Dieser antwortet: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,23). Versuchen wir, unseren Glauben an unsere Kinder und Enkelkinder weiterzugeben, damit die Glaubenstradition, die Glaubensweitergabe nicht unterbrochen wird.

Wer Jesus, dem „Licht der Welt“ (Joh 8,12), nachfolgt, kann nicht in der Finsternis bleiben und nicht von den Mächten der Finsternis überwältigt werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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„Seine Rechtgläubigkeit war die eines großen Herzens“

Carl Muth und das katholische Bildungsbürgertum

Carl Muth (1867-1944) hat mit seiner Monatszeitschrift Hochland 40 Jahre lang die geistesgeschichtlichen Auseinandersetzungen in Deutschland beeinflusst und die katholische Kirche zur Teilnahme am kulturellen Dialog befähigt. In seinem Hochland-Kreis konnten Intellektuelle untereinander Kontakte knüpfen und sich gegenseitig Orientierung schenken. Muth half nicht nur den Lesern zur Urteilsfindung, sondern begleitete auch persönlich interessierte junge Menschen wie Hans und Sophie Scholl. Ihre Hinrichtung brach im das Herz.

Von Jakob Knab

Der preußische Protestantismus prägte die Kultur und bestimmte die Mentalitäten im Kaiserreich. Angesichts dieser kulturellen Hegemonie (Catholica non leguntur) rang die katholische Minderheit um Gleichberechtigung. Der Vorwurf der Inferiorität des katholischen Milieus führte zum katholischen Literatur-Streit, den der Publizist Carl Muth mit seiner unter dem Pseudonym „Veremundus“ veröffentlichten Streitschrift „Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit?“ (1898) ausgelöst hatte. Muth wollte eine binnenkirchlich moralisierende Engherzigkeit überwinden; dabei geriet er freilich in den Verdacht eines „literarischen Modernismus“.

Gründung der Zeitschrift „Hochland“

Im Oktober 1903 gründete Muth die Kulturzeitschrift Hochland, um dem katholischen Bildungsbürgertum Wege aus dem geistigen Ghetto aufzuzeigen. Die etwa 40 Jahrgänge haben zwei Generationen gebildeter Katholiken bewegt, gestärkt und gefestigt. Muth war ein Meister der klärenden Kritik. Angesichts des esoterischen Vergottungswahns in Stefan Georges Gedichten sprach Muth von einer „kunstvoll geschmiedeten und mit edlen Steinen kostbar verzierten Monstranz, in der das Heilige fehlt“.

Bismarcks Kulturkampf hatte Wunden geschlagen, die lange nachwirkten. Die Kluft zwischen Protestanten und Katholiken hatte sich vertieft. Die katholische Zentrumspartei achtete nun darauf, nicht noch einmal wie unter Bismarck als „Reichsfeinde“ ins politische Abseits zu geraten. Auch Katholiken wollten dem Vaterland treu dienen. Stets wollte Carl Muth die Zeichen der Zeit erkennen.

Opfer nationalistischer Verhetzung

Im August 1914 war auch Muth erfasst von jener reichsweiten Kriegsbegeisterung, als er im Hochland über das „Kriegsunwetter“ jubelte: „Das war der Anfang: ein Schauspiel für Gott und Menschen und herrlich bis zum Jüngsten Tag!“ Muths Freund Friedrich Wilhelm Foerster lehrte damals an der Universität München Philosophie und Pädagogik, in seinen Vorlesungen übte er auch Kritik am preußisch-deutschen Militarismus. „Der überaus sensitive und emotionale Carl Muth“, so Foerster Jahrzehnte später, „wurde ein Opfer der Hasspropaganda gegen England, ja überhaupt jener ganzen nationalistischen Verhetzung des deutschen Volkes.“ Mitte August 1918 sprach ihn Foerster auf jene deutschnationale Verblendung an: „Mein lieber Muth! Die Freundschaft fängt erst dort an, wenn man einander unverblümt die Wahrheit sagt.“ Mit ein paar dürren Zeilen brach Muth die Freundschaft ab. Aber im September 1934, im zweiten Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, besuchte Muth den verlorenen Freund in Paris und gestand: „Sie hatten recht, und ich hatte unrecht.“ Er erkannte nun die Abgründe deutscher Verirrung.

Geistige Weite der Weißen Väter

Muths Lebensgeschichte spannt sich vom Ende des Kulturkampfes bis zum Ende der NS-Gewaltherrschaft, sein geistiges Ringen war bestimmt von der Weite eines suchenden Geistes sowie von der Enge staatlicher wie auch kirchlicher Verhältnisse.

Carl Borromäus Johann Baptist Muth wurde am 31. Januar 1867 in Worms geboren. 1881 fand er als Zögling Aufnahme im Missionshaus Steyl in Holland. Nach drei Jahren führte ihn sein Weg nach Algier, wo er Kardinal Lavigerie, den Gründer der Weißen Väter, kennenlernte. Zeitlebens fühlte sich Muth dieser französischen Geistigkeit und Weite verbunden. Er studierte in Gießen Staatswissenschaften, später in Berlin hörte er Vorlesungen über Volkswirtschaft und Germanistik. Während eines Aufenthalts in Paris 1892/1893 und in Rom 1893 betrieb er kunstgeschichtliche Studien, dabei befasste er sich auch mit aktuellen sozialen Fragen.

Carl Muth liebte Hans Scholl wie einen Sohn. Diese väterliche Zuneigung zeigt auch die Widmung, die er in sein Buch „Schöpfer und Magier[2] schrieb: „Seinem lieben Hans Scholl herzlich zugeeignet – Karl Muth München-Solln, d. 10. Juli 1942."[3] Den ersten Kontakt zwischen Hans Scholl und Carl Muth hatte Otl Aicher geknüpft. Damit gehört er zu den Geburtshelfern der Weißen Rose. Es ist jener Otl Aicher, der am 7. Juni 1952 in der Kirche St. Anna in München Inge Scholl, die Schwester von Hans und Sophie Scholl, heiratete. Und der Priester, der dieses Brautpaar segnete und mit ihnen den Gottesdienst feierte, war Romano Guardini.

Hans Scholl und der Hochland-Kreis

Warum hatte der Jungkatholik Otl Aicher den betagten Gelehrten Muth in München aufgesucht? Von seinem Kaplan Bruno Wüstenberg in der Pfarrei Söflingen (bei Ulm) hatte er Anregungen zur vertieften Lektüre erhalten. Diese reichten von den Bekenntnissen des Augustinus, von den Büchern Theodor Haeckers bis hin zu Carl Muths Zeitschrift Hochland.  Zu den Hochland-Autoren zählten Namen von internationalem Rang: Erik Peterson, Max Scheler, Joseph Bernhart, Theodor Haecker, Waldemar Gurian, Romano Guardini und Alois Dempf. Aicher wollte jene Menschen großen Formats persönlich kennenlernen: Ende Oktober 1941 besuchte er zunächst Carl Muth in München-Solln; später lernte er auch Theodor Haecker kennen. Als Hans Scholl erstmals Carl Muth traf, da war dies nicht nur eine Begegnung zweier Generationen. Es trafen sich Scholls ungestüme Vitalität und Muths gereifte Besonnenheit; es fanden die mitunter ungestillte Lebensgier des jungen Scholl und die reiche Lebenserfahrung des betagten Gelehrten Muth zueinander. Beide einte sogleich die Empörung über die Machthaber, denn erst wenige Wochen zuvor war die Monatsschrift Hochland, „jahrzehntelang die vornehmste katholische Revue in deutscher Sprache“,[4] vom NS-Regime „aus kriegswirtschaftlichen Gründen“ eingestellt worden. Als Muth Scholls Faszination an der Literatur spürte, bat er ihn, seine umfangreiche Privatbibliothek zu ordnen. In diesem anregenden Umfeld ergaben sich die Gespräche über die Verflechtung von christlichem Glauben und politischem Handeln.

Im Winter 1941 schrieb Carl Muth an Otl Aicher: „Hans [Scholl] geht bei mir als lieber und sehr geschätzter Hausfreund ein und aus. Er ist auch oft mein Tischgast und kommt mit allerhand Menschen in Berührung, die ihn interessieren."[5] Scholl lernte diese Persönlichkeiten aus dem Hochland-Kreis kennen: Theodor Haecker, Werner Bergengruen, Sigismund von Radecki und Alfred von Martin. Mitte Januar 1942 wurde im Hause Muth ein Leseabend veranstaltet, wo Haecker Predigten von John Henry Newman, die er ins Deutsche übertragen hatte, vorlas. Ganz gewiss fühlte sich Scholl direkt angesprochen, wenn der begnadete Prediger Newman vom Glaubensbekenntnis sprach und gleichzeitig auch „unsere Gefühle, Stimmungen, unsere Einbildungskraft und unser Gewissen“ im Blick behielt.[6]

Als Sophie Scholl im Mai 1942 ihr Studium an der Universität München begann, wohnte sie zunächst bei Carl Muth in München-Solln. Zu ihrem 21. Geburtstag schenkte er der Studentin aus Ulm das Büchlein von Martin Deutinger „Über das Verhältnis der Poesie zur Religion“. Schönheit sei nur, so Muth in seinem Vorwort, „in Beziehung zum Geiste, zur Freiheit denkbar“. Als Sophie Scholl über Fotos des Grabtuchs von Turin staunte, meinte Muth: „Noch nie hat sich ein Betrachter so vertieft, wie heute Sophie Scholl. Sie scheint ein sehr innerliches und ernstes Mädchen zu sein.“

An ihren Bruder Hans richtete Sophie damals die erstaunte Frage, „dass das Bild nicht mehr Aufsehen erregt. Denn ein Christ“, so ihre Überzeugung, „müsse doch darin Gottes Angesicht sehen, mit leiblichen Augen.“ Hier wollte die protestantisch geprägte Sophie Scholl, die unter der Ferne Gottes litt, dem nahen Gott auf die Spur kommen. Jahrzehnte später blickte eine Jugendfreundin erstaunt zurück: „Sie war mit den Jahren beinahe katholisch geworden, so überkandidelt religiös, sonst hätte sie das auch nicht machen können."[7]

Licht für das suchende Herz

Ende November 1941 schrieb Hans Scholl besorgt an Otl Aicher: „Gegenwärtig ist er [Carl Muth] krank, Bronchitis; die eigentliche Ursache der Krankheit liegt jedoch auf geistigem Gebiet, nehme ich an. Die Aktion gegen die Juden in Deutschland und den besetzten Gebieten hat ihm die Ruhe genommen."[8] Der Bekenntnisbrief, den Hans Scholl an Weihnachten 1941 an Carl Muth schrieb, ist aus der Vertrautheit zwischen Carl Muth und Hans Scholl zu verstehen; denn in der Lebensgeschichte von Hans Scholl gibt es eine Schlüsselszene, einen blitzartigen, aufschlussreichen Augenblick, der Einblick gibt in sein suchendes, unruhiges Herz. Diesen Umschlagpunkt schilderte er dem väterlichen Freund so: „Ich bin erfüllt von der Freude, zum ersten Mal in meinem Leben Weihnachten eigentlich und in klarer Überzeugung christlich zu feiern. … Ich hörte den Namen des Herrn und vernahm ihn. In diese Zeit fällt meine erste Begegnung mit Ihnen. Dann ist es von Tag zu Tag heller geworden. Dann ist es wie Schuppen von meinen Augen gefallen. Ich bete. Ich spüre einen sicheren Hintergrund und ich sehe ein sicheres Ziel. Mir ist in diesem Jahr Christus neu geboren."[9]

Wenn er bekennt, es sei „wie Schuppen von seinen Augen gefallen“, dann knüpfte er an eine Stelle aus der Apostelgeschichte im Neuen Testament an: „Sofort fiel es wie Schuppen von seinen Augen.“ Diese Geschichte erzählt von der Bekehrung des Saulus auf dem Weg nach Damaskus.

Auch Aurelius Augustinus hatte in seiner Lebensgeschichte einen langen Weg der Sinnsuche zurückgelegt. In seinen Bekenntnissen erzählt er von seiner Bekehrung: „Tolle, lege!“ – „Nimm und lies!“, wie er in einem dramatischen Augenblick eine Wahrheit erkennt und dafür die alten Überzeugungen aufgibt. In das Geschenk von Carl Muth, die deutsche Ausgabe der Ennarationes in psalmos (Über die Psalmen / Aurelius Augustinus, übertragen von Hans Urs von Balthasar) schrieb Scholl vorsichtig mit Bleistift: „Hans Scholl 1941, zur Zeit der Wende“. Und mit Bleistift unterstrich er diese Deutung von Psalm 41 („Meine Seele dürstet nach Gott“): „Was für Gott bald ist, das ist spät für die Sehnsucht“ sowie „Wenn Tiefe Abgrund heißt, glauben wir dann, das Menschenherz sei kein Abgrund?“ Dieser Psalmenkommentar ist das spirituell reifste Werk des Kirchenlehrers Augustinus von Hippo.

Trauer um seine ermordeten Weggefährten

Im Sommer 1942 richtete Carl Muth eine Denkschrift an Papst Pius XII. Die Verbindung lief über den bayrischen Heimatkundler Bruno Schweizer[10] (Dießen am Ammersee), der dank seiner Forschungen zur cimbrischen Sprache den Südtiroler Linguisten Monsignore Giuseppe Cappelletti kannte. Dieser wiederum war Eugenio Pacelli (Pius XII.) in einer gemeinsamen Zeit an einer theologischen Hochschule begegnet.

Es war auch Carl Muth, der für Hans Scholl (und auch für Alexander Schmorell) Kontakte zum Bibliothekspater und bayrischen Kirchenhistoriker P. Romuald Bauerreiß OSB von der Abtei St. Bonifaz in München knüpfte. Jahre später erinnerte sich der Benediktiner Bauerreiß: „Aber die steigende Not des Vaterlandes drängte Hans noch zu anderem Tun. Die Geschichte hat sicher viele Freiheitskämpfer gesehen, die mit Überzeugung, Leidenschaft und Opferbereitschaft ihrer Sendung gedient haben, aber wohl wenige hat es gegeben, die sich mit solch geradezu wissenschaftlicher Sorgfalt und höchstem sittlichen Ernst darauf vorbereitet haben wie Hans Scholl. Seine Beschäftigung mit Thomas von Aquin und anderen christlichen Autoren war getragen nicht zuletzt von der brennenden Frage nach dem aus christlichem Gewissen gebotenen Widerstand gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt. Wer Hans kannte, weiß – und wußte es schon damals –, daß er am liebsten offen vor den Tyrannen hingetreten wäre, um ihm ins Gesicht zu schleudern: Es ist Dir nicht erlaubt!"[11]

Nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft schaute Werner Bergengruen, Muths Münchner Nachbar, zurück: „Ich wusste nicht, dass der Student Hans Scholl, dem ich im Haus Carl Muths begegnete – er war Muth bei der Neuordnung seiner Bibliothek behilflich –, der Verfasser jener Flugblätter der Weißen Rose war, die meine Frau und ich nächtlich abtippten und die ich dann nach sorgfältiger Auswahl der Adressaten zu Rad in die Stadt brachte, um sie auf die Briefkästen der verschiedensten Postbezirke zu verteilen. Nachdem das Unheil sich schon erfüllt hatte, erschienen zu später Abendstunde zwei Gestapobeamte bei Muth. Er wurde gefragt, ob er zugebe, Hans Scholl gekannt und häufig bei sich gesehen zu haben. Muth bejahte. ,Dann sind Sie also einer der intellektuellen Urheber.‘ Zur Antwort brüllte Muth ihn an: ‚Das werden sie mir beweisen müssen!‘ schrie er zornig. Mit diesem Schrei hatte Muth die Herrschaft über die Situation an sich gerissen. Als die Beamten, die übrigens nach Muths Zornesausbruch höflich geworden waren, sich über seinen Schreibtisch machten, fiel es ihm nach seinem Ausdruck siedend heiß ein, dass in einem Fach dieses Schreibtisches das Manuskript von Theodor Haeckers ‚Tag- und Nachtbücher‘ lag! Schon im nächsten Augenblick konnte es in den Händen der Gestapo sein. Dort musste es Haecker wie Muth zum Verderben werden. In dieser Not wandte Muth sich an den heiligen Thomas Morus, den Blutzeugen des aufrechten christlichen Gewissens. Die Gestapobeamten übergingen das Fach, Haeckers Manuskript blieb unangerührt."[12]

Der 22. Februar 1943, als Hans und Sophie Scholl zusammen mit Christoph Probst in München unter dem Fallbeil hingerichtet wurden, habe ihm, so Muth später, das Herz gebrochen. Carl Muth sprach von seinen ermordeten Weggefährten mit der Trauer eines seiner Kinder beraubten Vaters.[13]

Carl Muth starb am 15. November 1944 in Bad Reichenhall. Auf dem Sterbebildchen würdigte der Hochland-Redakteur Friedrich Fuchs den heimgegangenen Glaubenszeugen und Gelehrten so: „Der heranwachsenden Generation stärkte er das katholische Selbstbewusstsein gegenüber der ungläubigen Umwelt. Soweit diese Welt selbst zur Kirche zurückfand, sicherte er ihr auch auf kulturellem Boden eine Heimstatt. Seine Rechtgläubigkeit war die eines großen Herzens, das keinen Andersglaubenden von seiner Liebe ausschloss. Er half ringenden Talenten ans Licht. Er liebte die unabhängigen, eigenwilligen Geister und machte sie fruchtbar für die Gemeinschaft. Er liebte die Jugend, die Christus sucht; in seinen letzten Jahren ward er an dieser Jugend jung.“ Dieses Sterbebildchen zeigt das ikonenhafte Christusgesicht des Turiner Grabtuchs, wie es auch Hans und Sophie Scholl vertraut war.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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[1] Thomas Karlauf, Stefan George: Die Entdeckung des Charisma, München 2009, 360.
[2] Carl Muth: Schöpfer und Magier. Drei Essays, Leipzig 1935. – Neben einer Würdigung und vertieften Deutung der ‚Schöpfer‘ Klopstock und Goethe tritt eine polemische Kritik an der Gestalt und dem Werk des ‚Magiers’ Stefan George.
[3] IfZ München 11.13., Band 151; hier zitiert nach: Robert M. Zoske: Sehnsucht nach dem Lichte – Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe und Texte, München 2014, 391f.
[4] Hans Maier: Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben, 1931 ff., München 2011, 117.
[5] Carl Muth: Schreiben vom 19. Dezember 1941, in: Hans Scholl / Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1984, 321.
[6] Haecker trug Predigten aus dem Band „Das Mysterium der Dreieinigkeit und der Menschwerdung“ (Leipzig 1940) vor. Auszug: „… dass das Christentum Übung und Arbeit gibt dem ganzen Geiste des Menschen, unserm höchsten und subtilsten Verstand ebenso wohl wie unsern Gefühlen, Stimmungen, unserer Einbildungskraft und unserem Gewissen“ (S. 19).
[7] Sibylle Basler: Die Weiße Rose. Zeitzeugen erinnern sich, Reinbek bei Hamburg 2006, 220.
[8] Hans Scholl an Otl Aicher: Schreiben vom 23. November 1941, in: Hans Scholl/Sophie Scholl: Briefe und Aufzeichnungen, hrsg. von Inge Jens, Frankfurt am Main 1984, 69.
[9] Hans Scholl an Carl Muth: Schreiben vom 22. Dezember 1941, in: Briefe und Aufzeichnungen, 75.
[10] en.wikipedia.org/wiki/Bruno_Schweizer – Mitteilung von Dr. Jón Helgi Schweizer (Dießen) am 10. Juni 2012.
[11] Romuald Bauerreiß: Erinnerungen an Hans Scholl, in: Der Rhaeten-Herold (1953), Nr. 208, 6.
[12] Werner Bergengruen: Erinnerungen an Carl Muth, in: HOCHLAND Bd. 46, Jg. 1953, 79. – Siehe auch Luise Hackelsberger-Bergengruen: Publizistik im Widerstand. Die Zeitschriften DEUTSCHE RUNDSCHAU und HOCHLAND im Dritten Reich, in: Elisabeth Prégardier/Hans Maier (Hg.): „Vater, wohin gehst du?“ Familienschicksale im Widerstand, Edition Mooshausen, 22.
[13] Franz Josef Schöningh: Carl Muth. Ein europäisches Vermächtnis, in: HOCHLAND 39. Jg., Heft l (1946/47), 18.

Die Eltern der hl. Thérèse von Lisieux

Louis und Zélie Martin

Als Beitrag für die Artikelserie zum Jubiläumsjahr „50 Jahre Theresienwerk“ stellt Rolf Wundrack die Eltern der hl. Therese von Lisieux vor: Zélie Martin, geb. Guérin, (23.12.1831 - 28.08.1877) und Louis Martin (22.08.1823 - 29.07.1894). Die Eheleute wurden 2008 unter Papst Benedikt XVI. selig- und 2015 im Rahmen der Bischofssynode zur Ehe- und Familienpastoral von Papst Franziskus heiliggesprochen. Zélie und Louis hatten zwei Söhne und sieben Töchter, von denen aber nur fünf Töchter das Erwachsenenalter erreichten. Alle fünf wurden Klosterschwestern.

Von Rolf Wundrack

Am 12. Juli ist der Gedenktag der hl. Zélie und Louis Martin, dem ersten Ehepaar der Kirchengeschichte, welches gemeinsam, am 18. Oktober 2015, von Papst Franziskus heiliggesprochen wurde. Einige Menschen fragen sich immer wieder, ob diese Heiligsprechung nur deswegen erfolgte, weil sie selbst Eltern einer Heiligen waren, einer sehr beliebten darüber hinaus. Dies trifft so ganz sicher nicht zu.

Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten hat die Kirche nicht den Todestag der beiden Heiligen als ihren Gedenktag, ihren „himmlischen Geburtstag“ sozusagen, festgelegt, sondern den Vorabend ihres Hochzeitstags. Eine auf die Fürsprache von Zélie und Louis Martin bestätigte Heilung des italienischen Jungen Pietro Schiliro (er wurde daraufhin das „zehnte Kind der Familie Martin“ genannt) im Juni 2002 führte zur Seligsprechung am 19. Oktober 2008. Nach der Heilung der kleinen Carmen Perez Pons in Spanien im November 2008, die ebenfalls auf die Fürsprache der Eheleute Martin zurückzuführen war, stand einer Heiligsprechung nichts mehr im Wege.

Obwohl das hl. Ehepaar im späten 19. Jahrhundert in Frankreich lebte, sind sie für unsere Zeit hochaktuell und rundum sehr modern. Papst Franziskus hat einmal gesagt: „Gott erwartet von uns nur, dass wir seinem Wort folgen und ihm vertrauen."[1] Diese Beschreibung trifft auf das Ehepaar Martin vollständig zu. Bei der Heiligsprechung sagte der Pontifex: „Zélie und Louis Martin haben Tag für Tag ein Umfeld des Glaubens und der Liebe geschaffen."[2] Und die „Kleine“ hl. Thérèse schrieb: „Der liebe Gott hat mir einen Vater und eine Mutter gegeben, die mehr für den Himmel als für die Erde geschaffen waren."[3] Oder, wie es ihre zweitälteste Tochter, Pauline, einmal ausdrückte: „Meine Eltern sind mir immer wie Heilige erschienen.“

Es handelte sich letztendlich um einen Paukenschlag unserer Kirche, ein Ehepaar gemeinsam heilig zu sprechen. Gerade in der heutigen Zeit, wo die Familie in ihrer von Gott gewollten Form heftig angegriffen, ja bekämpft wird, stellt uns die Kirche dieses heilige Ehepaar als Vorbild für christliche Familien hin. Leider scheint dieser Paukenschlag vor allem in unserem Land bislang überhört worden zu sein; es scheint, als ob dort lieber über die ewigen selben Ladenhüter diskutiert wird.

Dabei verlief das Leben von Louis und Zélie Martin nicht ohne Probleme und mit den üblichen Wechselfällen des Lebens, was wir auch aus verschiedenen anderen Heiligenbiografien kennen. Von ihren insgesamt neun Kindern starben vier im frühen Kindesalter, darunter zwei Söhne. Das hatte zur Folge, dass der größte und innigste Wunsch der Familie, der Kirche einen Priester schenken zu können, nicht in Erfüllung gehen konnte. Alle fünf älteren Töchter wurden Klosterschwestern. So erfüllt sich in dieser Familie das Wort des Herrn aus dem Matthäus-Evangelium: „An den Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,20).

Dazu musste die Familie Martin den deutsch-französischen Krieg 1870/71 miterleben, da auch ihr Wohnort Alençon in der Normandie betroffen war. Hinzu kamen schwere Erziehungsprobleme mit ihrer drittältesten Tochter Léonie. Schließlich litten beide Elternteile an schweren Krankheiten, die jeweils eine lange Leidenszeit mit sich brachten. Zélie litt an Brustkrebs und starb früh mit 46 Jahren, Louis mit 70 Jahren nach mehreren Schlaganfällen und Herzattacken zusammen mit einer schweren Hirnkrankheit. Beiden gemeinsam war, dass sie in ihrer Jugend ins Kloster gehen wollten, was aber beiden verwehrt blieb.

In der Familie Martin war der christliche Glaube fester Bestandteil des Alltags. Man besuchte täglich die Frühmesse und nahm das Christliche mit nach Hause und lebte es dort weiter, ganz selbstverständlich. Dabei hatten die beiden jeweils ein Geschäft zu führen: Zélie war eine renommierte Herstellerin der berühmten Spitzen von Alençon: „La dentelle des reines, la reine des dentelles“ – „Die Spitze der Königinnen und die Königin der Spitzen“. Sie beherrschte ihr Handwerk wirklich. Louis besaß einen Uhren- und Schmuckladen.

Louis und Zélie Martin sind keine Märtyrer oder Personen des geweihten Lebens. Sie sind Mann und Frau, Eltern, Eheleute, Unternehmer, Gläubige – wie viele von uns. In Frankreich nennt man sie „Les Saints de l`ordinaire“, die „ganz gewöhnlichen Heiligen“. Man spricht auch gern von der „Sain-teté du quotidien“, von der „Heiligkeit des Alltäglichen“. Papst Franziskus bezeichnet sie als „die Heiligen von nebenan“. Die französische Mystikerin Madeleine Delbrel hat einmal geschrieben: „Es gibt Leute, die Gott nimmt und in eine besondere Lebensform beruft. Andere gibt es, die lässt er in der Masse, die zieht er nicht aus der Welt zurück. Es sind Leute des gewöhnlichen Lebens. Leute, die man auf einer beliebigen Straße antrifft. Sie lieben ihre Tür, die sich zur Straße hin öffnet, wie ihre der Welt unsichtbaren Schwestern und Brüder die Tür lieben, die sich endgültig hinter ihnen geschlossen hat. Wir andern, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, diese Welt, auf die Gott uns gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist."[4]

Das können uns Zélie und Louis Martin für unseren Alltag und für unser Leben ganz nahebringen. Wir müssen uns nur darauf einlassen. Auch und gerade heute können wir als Familien und Ehepaare daraus lernen. Zélie und Louis haben so betrachtet in ihrer Zeit unter Lebensumständen gelebt, die unter heutigen Aspekten an und für sich hochmodern sind. Beide sind berufstätig, haben Kinder, leben in unruhigen Zeiten und sterben an heute noch existierenden Krankheiten. Aber nicht diese Ereignisse als solche, sondern vielmehr, wie Zélie und Louis ihr Leben im unbedingten Vertrauen auf Gott und mit ihrer starken Liebe als Ehepaar meistern, das macht ihre Heiligkeit aus und sie uns zu Vorbildern.

Zélie schreibt beispielsweise über den frühen Tod vier ihrer Kinder in tiefer Demut: „Gott ist der Herr, und er brauchte mich nicht um meine Erlaubnis zu bitten."[5]

Als sie – bereits sehr schwer erkrankt – weiß, dass ihr eigener Tod nahe bevorsteht, schreibt sie nach einer „missglückten“ Wallfahrt nach Lourdes als ihre letzten geschriebenen Worte: „Was soll ich sagen? Wenn die Muttergottes mich nicht gesund macht, dann heißt das, dass meine Zeit hier abgelaufen ist und der liebe Gott will, dass ich mich anderswo als auf Erden ausruhe…"[6]

Das Ehepaar Martin ist in seinem Ehestand heilig geworden, vor allem durch die Art und Weise, wie sie alle Ereignisse, die sie durchstehen mussten, durchlebt haben. Alle Alltagsprobleme waren ihnen aus eigener, teilweise sehr leidvoller Erfahrung wohlbekannt. Das sind Leute aus dem Alltag – wie wir auch! Ihre Familie war ein mächtiger Ort der Liebe. In allen Situationen ihres Lebens gab es für sie nur eine Quelle und nur ein Ziel: die Liebe Gottes. Und darin sind sie uns als verunsicherte Eltern und Familien ein Vorbild geworden – gerade in der heutigen Zeit der Gender-Ideologie, wo sich die Familie heftigsten Angriffen ausgesetzt sieht.

Somit wird deutlich: Das heilige Ehepaar Louis und Zélie verfügt durchaus über ein eigenes heiliges Profil. Ihr Ziel war es, ihren Ehestand mit einem Maximum an christlichem Geist zu verwirklichen, wie ihre Tochter Céline schreibt. Dieser Umstand macht sie aus meiner Überzeugung sehr kompetent und geradezu prädestiniert dafür, allen Ehepaaren beizustehen. Und: Sie haben ihren Glauben gemeinsam praktiziert. Heute wissen wir anhand von Statistiken: Paare, die gemeinsam beten, lassen sich signifikant weniger scheiden als andere Eheleute.

In diesem spirituellen Umfeld konnte die hl. Thérèse aufwachsen und in ihrer eigenen Glaubensüberzeugung wachsen. Bei ihr ist man ja ohnehin immer geneigt, sich die Frage zu stellen: Wie konnte sie in ihrem kurzen Leben zur Kirchenlehrerin werden, woher hatte sie das alles? Die Antwort darauf ist: Das Fundament für ihren Glauben, für ihre Spiritualität wurde durch ihre Familie, durch ihre Eltern grundgelegt.

Und: Die Geschichte der Familie Martin ist noch nicht zu Ende geschrieben. Die drittälteste Tochter, Léonie, steht vor ihrer Seligsprechung. Ausgerechnet Léonie, deren Erziehung der Mutter nicht selten große Probleme bereitete und deren Lebensweg wahrhaftig alles andere als geradlinig verlief. Sie war bis zu ihrem Tod 1941 Klosterschwester in Caen.

Die Reliquien von Zélie und Louis Martin sind in einem berührbaren Schrein in der Krypta der Basilika Ste. Thérèse im französischen Lisieux aufbewahrt – der imposanten Kirche, die zwar 1937 schon geweiht, aber erst 1954 zu Ehren ihrer Tochter Thérèse fertiggestellt wurde. In Alençon und Lisieux kann man die Wohnhäuser von Louis und Zélie Martin besichtigen. Kleine und liebevolle Führungen durch das Haus in der Rue Saint Blaise in Alençon (wo auch die hl. Thérèse geboren wurde) und in „Les Buissonnets“ in Lisieux geben einen Einblick in das Leben der Heiligen. Schließen möchte ich meine Ausführungen über die heiligen Zélie und Louis Martin mit einem leicht abgewandelten Gebet von Hélène Mongin aus ihrem Buch über das Ehepaar Martin:

„Gott der ewigen Liebe, du gibst uns in den hl. Eheleuten Louis und Zélie Martin ein Beispiel für die in der Ehe gelebte Heiligkeit. Inmitten der Pflichten und Schwierigkeiten des Lebens haben sie den Glauben und die Hoffnung bewahrt. Sie haben ihre Kinder erzogen, damit sie Heilige werden. Möge ihr Gebet und ihr Beispiel die Familien in ihrem christlichen Leben unterstützen und uns allen auf unserem Weg zur Heiligkeit beistehen. Heilige Zélie und Louis Martin, bittet für uns. Amen.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Predigt von Papst Franziskus am 13.10.2013.
[2] Homilie von Papst Franziskus am 18.10.2015.
[3] Therese von Lisieux: Brief 261 (v. 26.07.1897) an Maurice Bellière.
[4] Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern. Texte, Gedichte, Gebete, hrsg. von Annette Schleinzer, Ostfildern 2003, 32.
[5] Zélie Martin, CF 65: An ihre Schwägerin, v. 05. 05.1871.
[6] Zélie Martin, CF 217: An ihren Bruder, v. 16.08. 1877.

Brief der hl. Zélie Martin an ihren Bruder

Brief von Zélie Martin vom 1. Januar 1863 an ihren Bruder Isidore Guérin, der 22 Jahre alt ist und in Paris Medizin studiert:

Mein lieber Bruder,

ich wünsche Dir ein gutes neues Jahr und ich ersehne für Dich von ganzem Herzen, dass Du in Deinen Unternehmungen erfolgreich bist. Ja, ich bin sicher, dass Du Erfolg haben wirst, wenn Du es nur willst. Das hängt allein von Dir ab, denn der liebe Gott beschützt alle, die ihm vertrauen. Es hat noch nie jemanden gegeben, den er im Stich gelassen hätte.

Wenn ich daran denke, was der liebe Gott, auf den ich mein ganzes Vertrauen setze und in dessen Hände ich die Sorge um meine Geschäfte gelegt habe, für mich und meinen Mann getan hat, kann ich nicht daran zweifeln, dass seine göttliche Vorsehung mit besonderer Sorgfalt über seine Kinder wacht.

Ich bin Deinetwegen sehr beunruhigt, mein Lieber. Mein Mann prophezeit mir je-den Tag traurige Dinge. Er kennt Paris und sagt, dass Du Versuchungen ausgesetzt sein wirst, denen Du nicht widerstehen kannst, weil Du nicht fromm genug bist. Er erzählt mir, wie es ihm selbst ergangen ist und wie viel Mut es ihn gekostet hat, um aus all diesen Kämpfen siegreich hervorzugehen. Wenn Du wüsstest, welche Prüfungen er durchmachen musste… Ich flehe Dich an, lieber Isidore, tu, was er tat: bete, dann wirst Du Dich vom Strom nicht mitreißen lassen. Wenn Du der Versuchung einmal erliegst, bist Du verloren. Nur der erste Schritt bereitet Mühe, und zwar sowohl auf dem Weg des Bösen wie auf dem des Guten; danach wird Dich die Strömung mitreißen.

Wenn Du nur einwilligen wolltest in das, was ich Dir vorschlage, wenn Du es mir als Neujahrsgeschenk machen wolltest, so wäre ich glücklicher, als wenn Du mir ganz Paris schenken würdest. Also: Du wohnst ganz nahe bei der Kirche Unsere Liebe Frau vom Sieg. Geh nur einmal am Tag hinein und bete ein Ave-Maria zur Heiligen Jungfrau. Du wirst sehen, dass sie Dich auf ganz besondere Weise beschützen und Dir in dieser Welt Erfolg erlangen wird, um Dir danach eine Ewigkeit an Glück zu schenken. Was ich Dir da sage, ist meinerseits keine übertriebene Frömmigkeit, entbehrt auch nicht jeglicher Grundlage. Ich habe allen Grund, der Heiligen Jungfrau zu vertrauen; von ihr empfing ich Gunstbeweise, die mir allein bekannt sind.

Du weißt ja, das Leben ist kurz. Du und ich, wir sind bald am Ziel und werden uns glücklich schätzen, so gelebt zu haben, dass unsere letzte Stunde nicht allzu bitter wird. Wenn Du jetzt kein gutes Herz hast, wirst Du über mich spotten; sonst wirst Du sagen, dass ich recht habe.

Wenn Du mir schreibst, erwähne nicht, was ich Dir oben über Louis‘ Bemerkungen gesagt habe, die Dich betreffen; es würde ihm missfallen. Ich bin nach wie vor sehr glücklich mit ihm, er macht mir das Leben recht angenehm. Mein Mann ist wirklich ein Heiliger. Ich wünsche allen Frauen einen solchen Mann – das ist mein Neujahrswunsch für sie.

Am Dienstag schicke ich Dir Gänsehackfleisch und Gläser mit Marmelade.

Meine kleinen Töchter sind sehr lieb. Dein Patenkind will nicht mehr allein gehen. Sie ist gefallen und so ängstlich geworden, dass nichts in der Welt sie bewegen kann, einen Schritt zu machen, ohne sich abzustützen; sie spaziert an Stühlen und Möbeln entlang. Du glaubst nicht, wie lieb und zärtlich sie ist. Ohne dass man sie auffordert, umarmt sie einen, und das zu jeder Zeit. Dem lieben Jesus schickt sie Kusshändchen. Sie spricht noch nicht, versteht aber schon alles. Kurz und gut: Sie ist ein außergewöhnliches Kind…

Deine Schwester Z. Martin

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Brief des hl. Louis Martin an seine Frau

Brief von Louis Martin vom 8. Oktober 1863 an seine Frau Zélie:

Liebe Freundin,

ich kann erst am Montag nach Alençon zurückkommen; die Zeit wird mir lang, ich sehne mich danach, bei Dir zu sein.

Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass Dein Brief mir viel Freude bereitet hat, wenn ich darin auch lese, dass Du Dich allzu sehr abgemüht hast. Daher empfehle ich Dir dringend Ruhe und Schonung, vor allem bei der Arbeit. Von der Compagnie Lyonnaise habe ich ein paar Aufträge erhalten; nochmals, mach Dir nicht so viele Sorgen, mit Gottes Hilfe werden wir es zu einem hübschen kleinen Haus bringen.

Ich hatte das große Glück, in der Kirche Unsere Liebe Frau vom Sieg die Kommunion zu empfangen. Dieser Ort ist ja geradezu ein kleines irdisches Paradies. Ich habe auch für die ganze Familie eine Kerze angezündet. Ich küsse Euch alle recht herzlich in der freudigen Erwartung, bald wieder bei Euch zu sein. Ich hoffe, dass Marie und Pauline recht artig sind!

Dein Gatte und wahrer Freund, der Dich sein Leben lang liebt.

Louis Martin  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Im bevölkerungsreichsten Land Afrikas explodiert der Terror

Nigeria – ein Land versinkt im Blut

Nigeria ist seit Jahren ein Land der Märtyrer. Islamistischer Terror der Miliz „Boko Haram“ und anderer Splittergruppen verbreiten unter der gesamten Bevölkerung Angst und Schrecken. Gerade auch die Christen stehen im Fadenkreuz: Sie gelten den Radikalen als besonders verhasst. Wöchentlich erreichen das weltweite katholische Hilfswerk „Kirche in Not“ Meldungen von Übergriffen, Entführungen und Morden. Auch zahlreiche Priester sind unter den Opfern.

Von Kirche in Not e.V.

Friedliches Zusammenleben zerstört

Die Regierung im bevölkerungsreichsten Land Afrikas steht der Gewalteskalation tatenlos gegenüber. Die katholische Kirche erhebt schwere Vorwürfe gegen die Politik. Dabei könnte Nigeria ein Musterbeispiel für das Zusammenleben der Religionen sein: Christen und Muslime machen je die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Die meisten Christen wohnen im Süden des Landes, im Norden sind sie in der Minderheit.

Von dort aus schwappte auch der Terror in das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Zehntausende Menschen verloren ihr Leben, Millionen mussten flüchten. Auch in der Mittelregion des Landes kam es zu Gewalt, ausgehend von mehrheitlich muslimischen Viehhirten, den Fulani. Neben Landkonflikten spielen auch immer wieder religiöse Aspekte eine Rolle.

Pfingstmassaker mit 38 Toten

Doch nun bleibt nicht einmal mehr der vergleichsweise sichere Süden Nigerias vom Terror verschont. Blutiges Fanal war der Angriff auf die vollbesetzte Kirche St. Franz Xaver in Owo im Südwesten Nigerias am Pfingstsonntag. Dabei wurden mindestens 38 Personen getötet und Dutzende schwer verletzt. Mittlerweile wurden einige Personen festgenommen, die für das Massaker verantwortlich sein sollen.

„Kirche in Not“ konnte mit einem Augenzeugen sprechen: Andrew Adeniyi Aba-yomi arbeitet als Pfarrvikar in der Gemeinde von Owo. Er schildert die dramatischen Ereignisse.

 

„Kirche in Not“: Wo befanden Sie sich, als der Angriff geschah?

Pfarrvikar Andrew Adeniyi Abayomi: Die Festmesse zum Pfingstsonntag war gerade vorbei. Anschließend sollte vor der Kirche eine Prozession stattfinden. Ich stand noch im Altarraum und legte Weihrauch ein. Da hörte ich einen lauten Knall. Ein Gottesdienstbesucher stürzte auf mich zu und schrie: „Herr Pfarrer, da sind Bewaffnete!“

„Ich habe die Menschen beschützt wie eine Henne ihre Küken“

Hatten Sie Angst um Ihr Leben?

Ich hatte keine Angst um mein eigenes Leben. Ich habe vor allem daran gedacht, wie ich die Gemeindemitglieder retten könnte. Einige von ihnen verrammelten die Eingangstür. Ich forderte die Leute auf, in die Sakristei zu gehen. Von dort konnten sich einige ins Freie in Sicherheit bringen. Ich war von Kindern umringt, mehrere Erwachsene klammerten sich an mich. Ein paar Kinder haben sich sogar unter meinem Messgewand versteckt. Ich habe sie beschützt wie eine Henne ihre Küken. Der Angriff dauerte etwa eine halbe Stunde. Er scheint sorgfältig geplant gewesen zu sein.

Was geschah dann?

Wir hörten von draußen, dass die Angreifer jetzt fort seien. Wir öffneten die Tür der Sakristei. Ich sah, dass zahlreiche Gemeindemitglieder tot oder verletzt waren. Ich war erschüttert. Ich habe die Unversehrten gebeten, die Verletzten ins Krankenhaus zu bringen. Wir ließen die Toten in der Kirche zurück und versuchten die Verwundeten zu retten.

Der Südwesten Nigerias galt bislang als weitgehend friedlich, im Gegensatz zum Norden des Landes. Wie erklären Sie sich diesen plötzlichen Gewaltausbruch?

Wir haben gehört, dass militante Gruppen jetzt auch im Südwesten und in weiteren Landesteilen Kämpfer mobilisieren. Bislang lässt sich nicht feststellen, welcher Gruppe oder welcher Ethnie die Angreifer angehören.

„Glaube der Menschen ist nicht geschwächt, im Gegenteil“

Wie kümmern Sie sich jetzt um die Überlebenden?

Wir betreuen sie seelsorgerisch, besuchen sie und beten mit ihnen. Wir versuchen, die Familien der getöteten Menschen zu unterstützen. Es kommt auch Hilfe von staatlichen und privaten Organisationen, wie zum Beispiel dem Roten Kreuz. Sogar muslimische Organisationen und Imame unterstützen uns.

Wie ist die Reaktion der Gläubigen auf den Anschlag?

Einige Gemeindemitglieder sind immer noch voller Angst. Wir versuchen, ihnen wieder auf die Beine zu helfen. Das Wichtigste dabei ist der persönliche Kontakt. Bei den Begegnungen mit den Gemeindemitgliedern habe ich festgestellt: Ihr Glaube ist nicht geschwächt, er ist sogar stärker geworden. Sie sind bereit, standhaft zu bleiben.

Entführung und Ermordung von Priestern an der Tagesordnung

Standhaft bis zum Tod: Das gilt auch für zahlreiche Priester in Nigeria, die von Kriminellen entführt werden. Das ist mittlerweile an der Tagesordnung. Manche kommen nach Tagen der Misshandlung und Gefangenschaft frei. Aber immer mehr Seelsorger werden ermordet. Eines der jüngsten Beispiele ist der 50-jährige Priester Vitus Borogo aus der Diözese Kaduna im Norden Nigerias. Er wurde Ende Juni von Kriminellen überfallen, als er seine Familie besuchen wollte. Die bewaffneten Männer erschossen ihn und entführten seinen Bruder und eine weitere Person. Am selben Wochenende wurde auch der Priester Christopher Odia aus der Diözese Auchi im Süden Nigerias ermordet. Er wollte gerade sein Pfarrhaus verlassen, um die Sonntagsmesse zu feiern. Kriminelle planten auch seine Entführung, aber die ging schief. Deshalb musste der Priester sterben. Er wurde nur 41 Jahre alt.

„Verteidigung der Religionsfreiheit ist eine Überlebensfrage“

„Bei uns allen liegen die Nerven blank. Die Menschen haben Angst und sind traumatisiert“, berichtet der Erzbischof von Kaduna, Matthew Man-Oso Ndagoso, gegenüber „Kirche in Not“. Allein in seiner Diözese Kaduna wurden seit 2019 sieben Priester entführt und zwei getötet. In dieser verzweifelten Situation ruft der Erzbischof dazu, Druck auf die Regierung Nigerias auszuüben und das Überleben der Christen zu unterstützen: „Die Verteidigung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit ist für uns in Nigeria eine Überlebensfrage!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Die universale Mutterschaft Mariens

„Wir sind alle ihre Söhne und Töchter“

Pfarrer Dr. Richard Kocher, Programmdirektor von Radio Horeb, blickt auf das Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel voraus und zeichnet das Bild der Mutter, die sich mit machtvoller Liebe um die ganze Menschheit kümmert. Bis zum Ende der Welt führt sie ihre Kinder auf den rechten Weg und spendet ihnen mit ihrer Gegenwart Trost. Durch ihre immerwährende Fürsprache macht sie das apostolische Wirken der Kirche fruchtbar. Dazu zitiert Pfr. Kocher berührende Worte aus einer Predigt von Papst Franziskus anlässlich der Übertragung des Gnadenbildes Salus Populi Romani in der römischen Basilika Santa Maria Maggiore am 28. Januar 2018.

Von Richard Kocher

Mit dem Hochfest der Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August beginnt der so genannte Frauendreißiger, der am 15. September mit dem Gedächtnis der Schmerzen Mariens endet. In diese Zeit fallen außer den beiden genannten noch weitere Mariengedenktage: 22. August – Maria Königin, 8. September – Mariä Geburt und 12. September – Mariä Namen.

Die Muttergottes ist die Patronin unseres Radios und in geistlicher Hinsicht unsere Mutter. Das Konzil hat in der Kirchenkonstitution Lumen gentium erklärt, dass „sie uns in der Ordnung der Gnade Mutter“ ist. Weiter heißt es dort: „Diese Mutterschaft Marias in der Gnadenökonomie dauert unaufhörlich fort, von der Zustimmung an, die sie bei der Verkündigung gläubig gab und unter dem Kreuz ohne Zögern festhielt, bis zur ewigen Vollendung aller Auserwählten“ (LG 61f.). Durch die Verkündigung des Engels hat sie vom Heiligen Geist empfangen und Christus geboren (vgl. Lk 1,26-38). Ihre Gottesmutterschaft ist die Grundlage ihrer geistlichen Mutterschaft für das ganze Menschengeschlecht. Explizit wird diese unter dem Kreuz ihres Sohnes. Es ist das Vermächtnis des Herrn, dass er Maria uns in seiner letzten Stunde im Apostel Johannes zur Mutter gegeben hat: „Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh 19,27).

In wörtlicher Übersetzung heißt es im Griechischen, dass der Jünger sie in das Eigene aufnahm. Damit ist das Haus, das Leben gemeint. Wir sollen Maria Zutritt gewähren zu unserem Haus, sie zu unserer Mitbewohnerin machen. Mit den gleichen Worten, wie die Herabkunft des Heiligen Geistes bei der Empfängnis Jesu beschrieben wird, wird sie auf die Jünger an Pfingsten geschildert. Kardinal Scheffczyk formuliert deshalb treffend: „Die Gegenwart der Mutter in der betenden Gemeinde kurz vor dem Pfingstereignis ist ein Zeichen dafür, dass sich ihre Mutterschaft nun der Kirche zuwendet.“

Maria ist also in dreifacher Hinsicht unsere Mutter: durch die Empfängnis bei der Verkündigung, unter dem Kreuz und durch das Pfingstereignis. Die Mutterschaft Mariens bezieht sich auf alle Menschen, egal welcher Rasse oder Religion sie angehören.

Natalie Mukamazimpaka, eine der drei Seherinnen von Kibeho, deren Erscheinungen von der katholischen Kirche für echt anerkannt worden sind, sagte zu den protestantischen und muslimischen Mädchen der Kibeho-Hochschule im Auftrag der Muttergottes: „Wir sind alle ihre Töchter und sie hat uns alle gleich lieb. […] Unsere Liebe Frau hat mir nie gesagt, dass die Menschen von einer Religion zur anderen Religion konvertieren sollen, aber sie liebt uns so sehr, dass sie uns bittet, unsere Herzen zu bekehren und unseren Vater zu lieben – das meint sie mit ,Bekehrung‘. Sie sagt, dass man das am besten erreicht, wenn man den Rosenkranz betet, und der ist nicht nur für Katholiken da“ (Immaculée Ilibagiza: Die Erscheinungen von Kibeho. Maria spricht zur Welt aus dem Herzen Afrikas, 92).

Bei der Übertragung des Gnadenbildes „Salus Populi Romani“ feierte Papst Franziskus am 28.01.2018 in der Basilika Santa Maria Maggiore eine Hl. Messe. Bei der Predigt führte er hierbei aus:

„Der Herr selbst weiß, dass wir inmitten so vieler Gefahren Zuflucht und Schutz brauchen. Deswegen hat er im höchsten Moment am Kreuz zum Lieblingsjünger – und damit zu jedem Jünger – gesagt: ,Siehe, deine Mutter!‘ (Joh 19,27).

Die Mutter ist kein Optional, keine frei wählbare Sache, sie ist das Vermächtnis Christi. Und wir brauchen sie wie ein Wanderer die Stärkung braucht, wie ein Kind den Arm, der es trägt. Für den Glauben bedeutet es eine große Gefahr, ohne Mutter, ohne Schutz zu leben, wenn wir uns vom Leben treiben lassen wie die Blätter vom Wind. Der Herr weiß es und empfiehlt uns, die Mutter aufzunehmen. Es handelt sich nicht um geistlichen Anstand, es ist ein Erfordernis des Lebens. Sie zu lieben ist nicht Poesie, sondern heißt zu leben wissen. Denn ohne Mutter können wir nicht Kinder sein. Und wir sind vor allem Kinder, geliebte Kinder, die Gott zum Vater und die Jungfrau Maria zur Mutter haben.

Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt, dass Maria ,Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes für das wandernde Gottesvolk‘ (Dogmatische Konstitution Lumen gentium, Nr. 68) ist. Sie ist Zeichen, sie ist das Zeichen, das Gott für uns gesetzt hat. Wenn wir ihm nicht folgen, kommen wir von der Fahrbahn ab. Es gibt nämlich Verkehrszeichen für das geistliche Leben, die beachtet werden müssen. Sie zeigen uns, die wir ,noch auf der Pilgerschaft sind und in Gefahren und Bedrängnissen weilen‘ (ebd., Nr. 62), die Mutter, die schon ans Ziel gelangt ist. Wer kann uns besser auf dem Weg begleiten als sie? Worauf warten wir?

Wie der Jünger unter dem Kreuz die Mutter ,zu sich‘ nahm, in sein Eigen aufnahm – sagt das Evangelium (vgl. Joh 19,27) – so laden auch wir von diesem mütterlichen Haus aus Maria zu uns nach Hause ein, in unser Herz, in unser Leben. Gegenüber der Mutter kann man nicht neutral oder unbeteiligt bleiben. Andernfalls verlieren wir unsere Identität als Kinder und unsere Identität als Volk und leben ein Christentum der Ideen und Programme ohne Anvertrauen, ohne Zärtlichkeit, ohne Herz. Ohne Herz aber gibt es keine Liebe, und der Glaube läuft Gefahr, zu einer schönen Fabel einer anderen Zeit zu werden.

Die Mutter dagegen behütet die Kinder und bereitet sie vor. Sie liebt und schützt sie, damit sie die Welt lieben und schützen. Machen wir die Mutter zum Gast in unserem Alltag, zur ständigen Anwesenheit zu Hause, zu unserer sicheren Zuflucht. Vertrauen wir ihr jeden Tag an. Rufen wir sie in jeder Unruhe an. Und vergessen wir nicht, zu ihr zurückzukehren, um ihr zu danken.“

Es ist mein Wunsch, dass sich vielen erschließt, warum wir bei Radio Horeb die Muttergottes ehren; deshalb meine Ausführungen hierzu. Allen, die in diesen Wochen im Urlaub sind, wünsche ich von Herzen eine gute, erholsame Zeit. Möge diese auch eine Zeit des Gebetes und der Hinwendung zu Gott sein.

P.S.: Vor etwa zehn Jahren konnte man in einer Missionszeitschrift lesen: „In den letzten Jahren überlegte man weltweit in verschiedenen kirchlichen Gremien, wie man auf moderne Weise Christus erneut zu den Völkern bringen kann. Man entwickelte gut ausgeklügelte Pastoralpläne, schuf Kommissionen, organisierte internationale Kongresse und nützte in bester Absicht natürlich die modernen Kommunikationsmittel. Und doch zeigen vielerorts diese Anstrengungen nur wenig Erfolg. Hat man dabei vielleicht die Berufung der Gottesmutter zu wenig beachtet?“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
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Fatima: Aufruf zum stellvertretenden Beten und Opfern

Der Weg zum Frieden

Der Theologin und Autorin Anna Roth ist Fatima ein Herzensanliegen. Immer wieder analysiert sie die Botschaft der Gottesmutter, aber auch die Worte des Engels, der die Seherkinder auf die späteren Marienerscheinungen vorbereitet hat. Die Engelgebete, die sich den Kindern tief eingeprägt haben, nehmen den Geist der stellvertretenden Hingabe voraus, zu der die Gottesmutter alle Gläubigen aufgerufen hat.

Von Anna Roth

Fatima aus dem Jahr 1917 heute noch aktuell? Ja, warum bleibt sie bis zur Wiederkunft Christi aktuell?

„Alle Leiden ertragen“

Es geht um die Stellvertretung. Alle gläubigen Christen sind aufgerufen, für die weltweite Bekehrung der Sünder zu beten und Opfer zu bringen. Die Bitte, die Maria damals an die drei Kinder Lucia, Jacinta und Francisco gerichtet hat, ist dringlich, ergeht an uns. Das Werk muss weitergeführt werden. Tempus fugit – Die Zeit eilt![1]

In der Frage Marias am 13. Mai 1917 konkretisiert sich die Sorge Gottes um den Sünder: „Wollt ihr euch Gott anbieten, um alle Leiden zu ertragen, die Er euch schicken wird, zur Sühne für alle Sünden, durch die Er beleidigt wird und als Bitte für die Bekehrung der Sünder? Ihr werdet viel leiden müssen, aber die Gnade Gottes wird eure Stärke sein!"[2]

Die Kinder wollen es. Sie sind begeistert. Sie sind noch sehr jung: Lucia ist zehn, Jacinta sieben und Francisco neun Jahre alt. Sicher haben sie sich keine Gedanken über die Bedeutung des Leidens gemacht. Wahrscheinlich konnten sie sich darunter nichts Genaueres vorstellen. Das war von Vorteil. Wir wissen, dass die drei Hirtenkinder den Auftrag sehr ernsthaft erfüllt haben, trotz starker Anfeindungen. Gottes Gnade schenkte ihnen die Kraft standzuhalten.

Wie steht es um unseren Enthusiasmus? Wenn Gott in seiner großen Barmherzigkeit die Gottesmutter mit einer so ernsthaften Botschaft nach Fatima sendet, muss die Situation gravierend sein. Über hundert Jahre sind seitdem vergangen. Bereits als Jesus noch unter seinen Jüngern weilte, fragte er: „Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden?“ (Lk 18,8). In diesen Worten manifestiert sich die große Sorge Gottes.

Aber sind wir bereit zum Leiden? Wie würden wir Erwachsenen reagieren, wenn uns diese Frage gestellt würde: „Wollt ihr alle Leiden ertragen?“ Und es geht nicht darum, Leiden für unsere eigene Rettung zu ertragen, sondern es geht um das stellvertretende Sühneleiden. Sind wir bereit, für einen unbekannten Menschen zu leiden? Im familiären Kreis könnte man sich das vielleicht vorstellen; aber für Fremde, zu denen wir keine Beziehung haben, die wir nicht kennen, bewusst freiwillig zu leiden, damit sie sich bekehren? Wollen wir das? Würden wir das tun?

Machen wir uns nichts vor. Das ist radikal. Wir Erwachsenen würden uns fragen, welche Art von Leiden ist gemeint? Was kommt da auf mich zu? Wie kann ich das mit meiner Familie, meinen Kindern, meinem Beruf etc. in Einklang bringen? Werde ich meinen Lebensalltag noch bewältigen können – mit der versprochenen Gnadenstärke Gottes?

Diese Radikalität Jesu ist nicht neu. Sie begegnet uns an verschiedenen Stellen in der Schrift: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37). Oder an anderer Stelle: „Zu einem anderen sagte er (Jesus): Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes“ (Lk 9,59-62).

Allerdings liegt in der Botschaft von Fatima der Fokus nicht isoliert auf der Forderung des Opferbringens, auch das tägliche Rosenkranzgebet ist vonnöten. Vielversprechend und gnadenreich ist das beharrliche, tägliche Gebet, sei es ein Ave Maria, ein Rosenkranzgesätz oder ein ganzer Rosenkranz.

Die Engelgebete

Maria bereitet ihr Kommen sorgfältig vor. Die Fatima-Ereignisse beginnen schon zwischen April und Oktober 1915. Zunächst bemerkt Lucia über den Bäumen im Tal zu ihren Füßen etwas wie eine Wolke, weißer als Schnee, durchsichtig und von menschlicher Gestalt. Die Engelerscheinungen erfolgen im Frühjahr 1916.[3]

Dabei lehrt der Engel den Kindern folgendes Gebet: „Mein Gott, ich glaube an Dich, ich bete Dich an, ich hoffe auf Dich und ich liebe Dich. Ich bitte Dich um Verzeihung für jene, die an Dich nicht glauben, auf Dich nicht hoffen und Dich nicht lieben.“ (Teil 1)

„Heiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, in tiefer Ehrfurcht bete ich Dich an und opfere Dir auf den kostbaren Leib und das Blut, die Seele und die Gottheit Jesu Christi, gegenwärtig in allen Tabernakeln der Erde, zur Wiedergutmachung für alle Schmähungen, Sakrilegien und Gleichgültigkeiten, durch die Er selbst beleidigt wird. Durch die unendlichen Verdienste seines Heiligsten Herzens und des Unbefleckten Herzens Marias bitte ich Dich um die Bekehrung der armen Sünder.“ (Teil 2)[4]

In beiden Gebeten geht es um das stellvertretende Beten und Opfern für die Bekehrung der Sünder. Gott ist der liebende, barmherzige Vater. Er will den Sünder retten. Maria betont die bedrohliche Situation mit der Aufforderung: „Betet, betet viel und bringt Opfer für die Sünder, denn viele Seelen kommen in die Hölle, weil sich niemand für sie opfert und für sie betet."[5]

Was signalisiert die Aussage Marias? Sie unterstreicht die Ernsthaftigkeit der Stellvertretung. Denn offensichtlich gibt es zu wenig Gläubige, die für die Sünder beten und Opfer bringen. Deshalb bleibt die Botschaft Marias von Fatima gegenwartsnah.

Die Aktualität der Fatima-Botschaft im Hier und Jetzt

Denken wir zurück an das Jahr 1917. Damals vertraute Maria den Kindern an: „Wenn man nicht aufhört, Gott zu beleidigen, wird unter dem Pontifikat von Pius XI. ein anderer, schlimmerer Krieg beginnen."[6] Es war der Zweite Weltkrieg. Jetzt, nach einer langen Friedensperiode, haben wir in Europa wieder Krieg. Diese Situation macht die Bedeutsamkeit der Fatima-Botschaft deutlich. Das Flehen Marias, stellvertretend für die Bekehrung der Sünder zu beten und zu opfern, ergeht akut an uns. Viele Gebetsgruppen haben sich gegenwärtig gebildet, um für den Frieden zu beten. Frieden ist nur möglich, wenn sich der Mensch bekehrt und im Einklang mit Gottes Geboten lebt.

Unsere Bereitschaft ist vonnöten. Jedes Ave Maria, das wir in Stellvertretung für die Bekehrung der Sünder beten, wird die Menschheit und mit ihr die Welt zu einem friedlichen Miteinander verändern.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Anna Roth: Maria & Fatima im Licht der Barmherzigkeit Gottes, 2017.
[2] Sr. Lucia spricht über Fatima, 9. Auflage, Fatima 2007, S. 88, 186.
[3] Vgl. ebd., S. 79ff., 181ff.
[4] Ebd., S. 83f., 181, 183.
[5] Ebd., S. 99, 192.
[6] Ebd., S. 132.

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