Liebe Leser
Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel
In Kürze werden es 60 Jahre, dass der hl. Papst Johannes XXIII. die Enzyklika „Pacem in terris“ veröffentlicht hat. Sie ist von höchster Aktualität und Brisanz. Denn sie erschien am Höhepunkt des „Kalten Krieges“, zwei Jahre nach der Errichtung der Berliner Mauer und wenige Monate nach der Kubakrise. Mit den Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, erinnert heute wieder Vieles an damals. Auch wenn sich in der Ukraine nicht mehr Demokratie und Sozialismus bzw. Kommunismus gegenüberstehen, so entwickelt sich die militärische Auseinandersetzung erneut zu einem globalen Ost-West-Konflikt, der noch gefährlicher ist und in jedem Augenblick eskalieren kann.
Im Herbst 1962 stand die Menschheit zwei Wochen lang vor dem Abgrund einer atomaren Katstrophe. Zwischen den USA und der Sowjetunion drohte eine nukleare Konfrontation. Johannes XXIII. selbst griff in die politische Auseinandersetzung ein und nahm diplomatische Beziehungen zu US-Präsident John F. Kennedy und seinem sowjetischen Gegenpart Nikita Chruschtschow auf. Ihnen schrieb er: „Ich flehe die Staatsoberhäupter an, sich dem Schrei der Menschheit Friede, Friede nicht zu verschließen. Mögen sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um den Frieden zu retten … Mögen sie weiter verhandeln.“ Und am 25. Oktober 1962 warnte er die Welt in einem dramatischen Friedensapell über Radio Vatikan vor einem Atomkrieg. Niemand könne sich „die furchtbaren Folgen ausmalen“, so der Papst.
Nachdem die Krise entschärft war, legte er der Welt die Enzyklika „Pacem in terris“ vor. Mit allem Nachdruck stellte er klar: Im „Atomzeitalter“ sind Konflikte, „die unter Umständen zwischen den Völkern entstehen, nicht durch Waffengewalt, sondern durch Verträge und Verhandlungen beizulegen“ (Nr. 126). Zu dieser „Überzeugung“ gelange man angesichts „der schrecklichen Zerstörungsgewalt der modernen Waffen“ und „des Unheils grausamer Vernichtung, die diese Art von Waffen herbeiführen kann“. Es widerstrebe „der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten“ (Nr. 127).
„Friede auf Erden“ heißt der Titel dieser Enzyklika auf Deutsch. Wie bei kirchlichen Dokumenten üblich ist das Rundschreiben nach seinen ersten Worten benannt. Und der Untertitel enthält ein ganzes Programm. Er lautet: „Über den Frieden unter allen Völkern in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit.“ Diese Friedensenzyklika gilt als historisches Erbe des Konzilspapstes, ja, als eines der wichtigsten Dokumente der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert.
Bewusst hatte der Papst als Tag der Veröffentlichung den 11. April 1963, den damaligen Gründonnerstag, gewählt. Er wollte seinen Aufruf an Kirche und Welt in die Abschiedsreden Jesu eingebettet sehen, also in die Worte über Liebe und Einheit, mit denen der Erlöser sein eucharistisches Vermächtnis im Abendmahlssaal verbunden hatte. Bezeichnenderweise ist Johannes XXIII. nur knapp zwei Monate später gestorben, nämlich am 3. Juni 1963.
Alle Päpste haben seither auf diese Friedensenzyklika Bezug genommen. Wir versuchen mit Auszügen aus päpstlichen Ansprachen diese Linie nachzuzeichnen. Dabei ergibt sich ein eindrucksvolles Bild, das gerade in der gegenwärtigen Situation Orientierung bieten kann.
Liebe Leser, um Kosten zu sparen, haben wir uns entschlossen, Dezember und Januar als Doppelnummer herauszubringen. Mit einem herzlichen Vergelt’s Gott wünschen wir Ihnen eine gnadenreiche Advents- und Weihnachtszeit sowie Gottes reichsten Segen für das Neue Jahr 2023. Möge es uns auf die Fürsprache Mariens dem ersehnten Frieden näherbringen!
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Zur historischen Enzyklika „Pacem in terris“ – „Friede auf Erden“
Friedensappell in dramatischer Situation
Papst Franziskus nahm am 3. Oktober 2013 an einer Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der „historischen Enzyklika“ Pacem in terris teil. Sie war am 11. April 1963 von Johannes XXIII. promulgiert worden, den Johannes Paul II. im Jahr 2000 seliggesprochen hatte. In der Einleitung seiner Ansprache hob Papst Franziskus hervor: „Die Vorsehung wollte es, dass diese Begegnung unmittelbar nach der Ankündigung seiner Heiligsprechung stattfindet.“ Ähnliches galt für den damals noch „seligen“ Papst Johannes Paul II. (2011 von Benedikt XVI. seliggesprochen), auf den Franziskus in seiner Ansprache Bezug nahm. Für Johannes Paul II. war Pacem in terris eine historische Weichenstellung der katholischen Kirche. Sie gab zunächst dem II. Vatikanischen Konzil seine weitere Ausrichtung vor. Später versuchte Johannes Paul II., in seinem Pontifikat all das zu vertiefen und umzusetzen, was Johannes XXIII. mit seiner Enzyklika grundgelegt hatte. Aus Anlass der geopolitischen Spannungen und des bedrohten Weltfriedens geben wir die Ansprache von Papst Franziskus leicht gekürzt wieder.
Von Papst Franziskus
Die Älteren unter uns erinnern sich gut an die Zeit der Enzyklika Pacem in terris. Es war der Höhepunkt des sogenannten „Kalten Krieges“.
Die Menschheit am Rande eines weltweiten Atomkonflikts
Am Ende des Jahres 1962 stand die Menschheit am Rande eines weltweiten Atomkonflikts, und der Papst wandte sich mit einem dramatischen und bewegenden Friedensappell an alle, die die Verantwortung der Macht trugen. Er sagte: „Mögen sie auf ihr Gewissen hören und den furchtsamen Schrei hören, der aus allen Teilen der Welt von unschuldigen Kindern bis hin zu Greisen, von Personen und Gemeinschaften zum Himmel aufsteigt: Frieden! Frieden!“ (Radiobotschaft, 25. Oktober 1962). Der Schrei galt den Menschen, aber es war auch ein zum Himmel gerichtetes Flehen. Der Dialog, der damals zwischen den großen einander gegenüberstehenden Blöcken mühsam begann, führte im Pontifikat eines weiteren Heiligen, Johannes Pauls II., zur Überwindung jener Phase und zur Öffnung von Räumen der Freiheit und des Dialogs. Die Saat des Friedens, die der hl. Johannes XXIII. gesät hat, hat Früchte getragen. Aber wenngleich Mauern und Grenzen gefallen sind, bedarf die Welt auch weiterhin des Friedens, und der Aufruf der Enzyklika Pacem in terris bleibt weiterhin sehr aktuell.
Frieden auf Gerechtigkeit und Solidarität aufbauen
Was aber ist die Grundlage für den Aufbau des Friedens? Die Enzyklika Pacem in terris soll alle daran erinnern: Die Grundlage des Friedens besteht im göttlichen Ursprung des Menschen, der Gesellschaft und auch der Autorität, der die Einzelnen, die Familien, die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und die Staaten verpflichtet, Beziehungen der Gerechtigkeit und der Solidarität zu leben. Es ist daher Aufgabe aller Menschen, nach dem Vorbild Jesu Christi den Frieden aufzubauen durch diese beiden Wege: die Gerechtigkeit fördern und üben, in Wahrheit und Liebe; zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beitragen, ein jeder seinen Möglichkeiten entsprechend, gemäß der Logik der Solidarität. Wenn ich auf unsere gegenwärtige Wirklichkeit blicke, dann frage ich mich, ob wir diese Lehre von Pacem in terris verstanden haben. Ich frage mich, ob die Worte „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ nur in unserem Wörterbuch stehen oder ob wir alle uns dafür einsetzen, dass sie Wirklichkeit werden. Die Enzyklika des hl. Johannes XXIII. ruft uns deutlich in Erinnerung, dass es keinen wahren Frieden und keine wahre Eintracht geben kann, wenn wir uns nicht für eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft einsetzen, wenn wir Egoismen, Individualismen, Parteilichkeiten nicht überwinden, und zwar auf allen Ebenen.
Göttlicher Ursprung und unantastbare Würde des Menschen
Gehen wir etwas weiter. Welche Konsequenzen hat es, wenn man den göttlichen Ursprung des Menschen, der Gesellschaft und auch der Autorität in Erinnerung ruft? Die Enzyklika Pacem in terris stellt eine grundlegende Konsequenz in den Mittelpunkt: Der Wert der Person, die Würde eines jeden Menschen müssen stets gefördert, geachtet und geschützt werden. Und nicht nur die wichtigsten zivilen und politischen Rechte müssen gewährleistet werden – so der hl. Johannes XXIII. –, sondern einem jeden muss die Möglichkeit geboten werden, tatsächlich Zugang zu einer Lebensgrundlage zu haben: Nahrung, Wasser, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, Bildung sowie die Möglichkeit, eine Familie zu gründen und für ihren Unterhalt zu sorgen. Diese Ziele besitzen im nationalen und internationalen Handeln unabdingbare Priorität und sind ein Gradmesser für deren Qualität. Von ihnen hängt ein dauerhafter Frieden für alle ab.
Das wichtige Prinzip der Subsidiarität auf allen Ebenen
Und es ist auch wichtig, dass es Raum gibt für das große Spektrum an Verbänden und Gruppen der mittleren Ebene, die mit der Logik der Subsidiarität und im Geiste der Solidarität diese Ziele verfolgen. Gewiss nennt die Enzyklika Ziele und Elemente, die nunmehr Teil unserer Gedankenwelt geworden sind, aber es stellt sich die Frage: Sind sie es wirklich? Finden sie sich nach 50 Jahren in der Entwicklung unserer Gesellschaften bestätigt?
Geduld und Aufrichtigkeit in der internationalen Debatte
Es war nicht die Absicht von Pacem in terris zu sagen, dass es Aufgabe der Kirche sei, konkrete Weisungen zu geben in Bezug auf Themen, die in ihrer Komplexität der freien Diskussion überlassen werden müssen. In politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen ist es nicht das Lehramt, das praktische Lösungen aufzeigt, sondern vielmehr der Dialog, das Zuhören, die Geduld, die Achtung des Nächsten, die Aufrichtigkeit und auch die Bereitschaft, die eigene Meinung zu revidieren. Im Grunde zielte der Friedensappell von Johannes XXIII. im Jahr 1962 darauf ab, die internationale Debatte an diesen Tugenden auszurichten.
Die Entwicklung der Welt baut auf dem Frieden in den Herzen auf
Die grundlegenden Prinzipien von Pacem in terris können die Untersuchungen und die Diskussion über die „res novae“ … nutzbringend leiten: der Erziehungs- und Bildungsnotstand, der Einfluss der Massenmedien auf das Gewissen, der Zugang zu den Ressourcen der Erde, die gute oder schlechte Anwendung der Ergebnisse biologischer Forschungen, das Wettrüsten und die nationalen und internationalen Sicherheitsmaßnahmen. Die globale Wirtschaftskrise – ein schwerwiegendes Symptom mangelnder Achtung gegenüber dem Menschen und der Wahrheit, mit der von Seiten der Regierungen und der Bürger Entscheidungen getroffen wurden – zeigt es uns ganz deutlich. Pacem in terris zieht eine Linie, die vom Frieden, der im Herzen der Menschen aufgebaut werden muss, bis zum Überdenken unseres Entwicklungs- und Handlungsmodells auf allen Ebenen reicht, damit unsere Welt eine Welt des Friedens sei. Ich frage mich, ob wir bereit sind, ihre Einladung anzunehmen.
Die unmenschliche globale Wirtschaftskrise bedroht den Weltfrieden
Wenn ich vom Frieden spreche, wenn ich von der unmenschlichen globalen Wirtschaftskrise spreche, die ein schwerwiegendes Symptom für die mangelnde Achtung gegenüber dem Menschen ist, dann muss ich mit großem Schmerz auch der zahlreichen Opfer des tragischen Schiffbruchs gedenken, der sich heute, wie schon etliche Male zuvor, auf dem Meer vor Lampedusa ereignet hat. Mir kommt das Wort „Schande“ in den Sinn! Es ist eine Schande! Wir wollen gemeinsam Gott bitten für alle, die das Leben verloren haben: Männer, Frauen, Kinder, für die Angehörigen und für alle Flüchtlinge. Vereinen wir unsere Kräfte, damit solche Tragödien sich nicht wiederholen! Nur eine entschiedene Zusammenarbeit kann dazu beitragen, ihnen vorzubeugen. Der Herr möge uns mit der Fürsprache Mariens, der Königin des Friedens, helfen, stets in uns den Frieden anzunehmen, der ein Geschenk des auferstandenen Christus ist, und uns stets mit Hingabe und Kreativität für das Gemeinwohl einzusetzen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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Botschaft Johannes Pauls II. zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2003
Pacem in terris: Eine bleibende Aufgabe
Zum 40. Jahrestag nannte Papst Johannes Paul II. Pacem in terris eine „historische Enzyklika“. Er erinnerte daran, dass Papst Johannes XXIII. als Tag der Veröffentlichung den Gründonnerstag gewählt hatte und nur zwei Monate später gestorben war. Gleichzeitig hob er hervor, dass diese Friedensbotschaft ausdrücklich „an alle Menschen guten Willens“ gerichtet war und bereits in ihrer Einleitung den entscheidenden Punkt in die Worte fasste: „Der Friede auf Erden, nach dem alle Menschen zu jeder Zeit sehnlichst verlangten, kann nur dann begründet und gesichert werden, wenn die von Gott festgesetzte Ordnung gewissenhaft beobachtet wird“. Nachfolgend Auszüge aus der Botschaft.
Von Papst Johannes Paul II.
Die Welt, an die sich Johannes XXIII. wandte, befand sich tatsächlich in einem Zustand tiefgreifender Unordnung.
Zu einer zerspaltenen Welt vom Frieden sprechen
Das zwanzigste Jahrhundert hatte mit einer großen Fortschrittserwartung begonnen. Stattdessen hatte die Menschheit in sechzig Jahren Geschichte den Ausbruch zweier Weltkriege, die Errichtung grausamer totalitärer Systeme, die Häufung immenser menschlicher Leiden und die Entfesselung der größten Kirchenverfolgung, welche die Geschichte je erlebt hat, verzeichnen müssen.
Nur zwei Jahre vor Pacem in terris wurde 1961 die Berliner Mauer errichtet, um nicht nur die beiden Teile jener Stadt voneinander zu trennen und gegeneinander in Stellung zu bringen, sondern auch zwei Modelle des Verstehens und des Aufbaus der irdischen Gesellschaft. Auf beiden Seiten der Mauer nahm das Leben unter dem Einfluss oft gegensätzlicher Regeln und in einem zunehmend von Verdacht und Misstrauen durchsetzten Klima unterschiedliche Gestalt an. Sowohl als Weltanschauung wie auch als konkreter Lebensentwurf verlief jene Mauer quer durch die ganze Menschheit und drang in das Herz und den Verstand der Menschen ein, wo sie Trennungen erzeugte, die, so schien es, für immer bestehen bleiben sollten.
Zudem befand sich sechs Monate vor der Veröffentlichung der Enzyklika, als in Rom wenige Tage zuvor das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet worden war, die Welt wegen der durch die auf Kuba stationierten Raketen verursachten Krise am Rande eines Atomkrieges. Der Weg zu einer Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und der Freiheit schien blockiert. Viele glaubten, die Menschheit wäre dazu verdammt, noch lange Zeit in dieser gefährlichen Situation des „Kalten Krieges“ zu leben und ständig dem Alptraum ausgesetzt zu sein, dass ein Angriff oder ein Zwischenfall von einem Tag auf den anderen den schlimmsten Krieg der ganzen Menschheitsgeschichte auslösen könnten. Der Einsatz der Atomwaffen hätte ihn in der Tat zu einem Konflikt gemacht, der die Zukunft der Menschheit gefährdet hätte.
Die vier Säulen des Friedens
Papst Johannes XXIII. teilte nicht die Meinung derjenigen, die den Frieden in den Bereich des Unmöglichen rückten. Mit der Enzyklika bewirkte er, dass dieser fundamentale Wert – mit seiner ganzen anspruchsvollen Wahrheit – an beide Seiten der Mauer und aller Mauern zu pochen begann. Zu allen sprach die Enzyklika von der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie. Sie entzündete in allen ein Licht sehnsüchtigen Verlangens, auf dass Menschen eines jeden Erdteils in Sicherheit, Gerechtigkeit und mit der Hoffnung auf Zukunft leben.
Erleuchteten Geistes wie er war, erkannte Johannes XXIII. die entscheidenden Voraussetzungen für den Frieden in vier klaren Erfordernissen des menschlichen Geistes: Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit.
Die Wahrheit – sagte er – wird die Grundlage des Friedens sein, wenn jeder einzelne außer seinen Rechten auch seine Pflichten gegenüber den anderen ehrlich anerkennt.
Die Gerechtigkeit wird den Frieden aufbauen, wenn jeder die Rechte der anderen konkret respektiert und sich bemüht, seine Pflichten gegenüber den anderen voll zu erfüllen.
Die Liebe wird der Sauerteig des Friedens sein, wenn die Menschen die Nöte und Bedürfnisse der anderen als ihre eigenen empfinden und ihren Besitz, angefangen bei den geistigen Werten, mit den anderen teilen.
Die Freiheit schließlich wird den Frieden nähren und Früchte tragen lassen, wenn die einzelnen bei der Wahl der Mittel zu seiner Erreichung der Vernunft folgen und mutig die Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen.
Den Blick der Augen des Glaubens und der Vernunft auf die Gegenwart und in die Zukunft gerichtet, erkannte und deutete der selige Johannes XXIII. die tiefgreifenden Anregungen, die bereits in der Geschichte am Werk waren. Er wusste, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie oberflächlich betrachtet erscheinen. Trotz der Kriege und Kriegsdrohungen war in der Menschheitsgeschichte etwas anderes am Werk, etwas, das der Papst als den verheißungsvollen Anfang einer geistlichen Revolution erfasste.
Ein neues Bewusstsein von der Würde des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte
Die Menschheit, so schrieb er, habe auf ihrem Weg einen neuen Abschnitt eingeschlagen. Das Ende des Kolonialismus, die Entstehung neuer unabhängiger Staaten, der bessere Schutz der Arbeitnehmerrechte, die neue und willkommene Präsenz der Frauen im öffentlichen Leben erschienen ihm gleichfalls als Zeichen einer Menschheit, die dabei war, in eine neue Phase ihrer Geschichte einzutreten, eine Phase, die gekennzeichnet war von der „Überzeugung, dass alle Menschen in der Würde ihrer Natur unter sich gleich sind“. …
Angesichts des wachsenden Bewusstseins der Menschenrechte, das sich auf nationaler wie internationaler Ebene abzeichnete, hatte Johannes XXIII. eine Intuition für die dem Phänomen innewohnende Kraft und dessen außerordentliche Macht, die Geschichte zu verändern. Das, was sich wenige Jahre später vor allem in Mittel- und Osteuropa zutrug, war die einzigartige Bestätigung dafür. Der Weg zum Frieden, so lehrte der Papst in der Enzyklika, musste über die Verteidigung und Förderung der menschlichen Grundrechte führen. …
Aufgrund der Überzeugung, dass jedes menschliche Wesen in der Würde gleich ist und infolgedessen die Gesellschaft ihre Strukturen dieser Voraussetzung anpassen muss, entstanden sehr bald die Menschenrechtsbewegungen, die einer der großen Triebkräfte der Geschichte unserer Zeit konkreten politischen Ausdruck verliehen haben. Die Förderung der Freiheit wurde als ein unentbehrliches Element im Einsatz für den Frieden erkannt. Diese Bewegungen, die praktisch überall auf der Welt entstanden, trugen zum Sturz diktatorischer Regierungsformen bei und drängten darauf, sie durch andere, demokratischere Formen unter Beteiligung des Volkes zu ersetzen. Sie bewiesen in der Praxis, dass Friede und Fortschritt nur durch die Einhaltung des allgemeinen, ins Herz des Menschen eingeschriebenen Sittengesetzes erreicht werden können (vgl. Johannes Paul II.: Ansprache an die Vollversammlung der Vereinten Nationen, 5. Oktober 1995, Nr. 3).
Das universale Gemeinwohl
Noch in einem anderen Punkt erwies sich die Lehre von Pacem in terris als prophetisch, da sie der nächsten Phase der weltpolitischen Entwicklungen zuvorkam. Angesichts einer Welt, die immer mehr interdependent und globaler wurde, empfahl Papst Johannes XXIII., den Begriff des Gemeinwohls auf einen weltweiten Horizont hin neu zu formulieren. Um korrekt zu sein, sollte von nun an auf den Begriff des „universalen Gemeinwohls“ Bezug genommen werden. Eine der Folgen dieser Entwicklung war die offensichtliche Forderung nach einer öffentlichen Gewalt auf internationaler Ebene, die tatsächlich über die Fähigkeit verfügen würde, ein solches universales Gemeinwohl zu fördern. Diese Autorität, fügte der Papst sogleich hinzu, dürfte nicht durch Zwang, sondern nur durch einen Konsens unter den Nationen errichtet werden. Es sollte sich dabei um ein Organ handeln, das „die Anerkennung, die Achtung, den Schutz und die Förderung der Rechte der Person zum Hauptziel hat“.
Daher überrascht es nicht, dass Johannes XXIII. mit großer Hoffnung auf die am 26. Juni 1945 gegründete Organisation der Vereinten Nationen blickte. Er sah in ihr ein glaubwürdiges Werkzeug zur Erhaltung und Festigung des Friedens in der Welt. Gerade deshalb brachte er seine besondere Wertschätzung für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 zum Ausdruck, die er als „einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur rechtlichen und politischen Ordnung der Weltgemeinschaft“ ansah. …
Das Band zwischen Friede und Wahrheit
Alle, die meinen, das öffentliche Leben der Weltgemeinschaft entfalte sich gewissermaßen außerhalb des Rahmens der sittlichen Beurteilung, brauchen nur an die Auswirkung der Menschenrechtsbewegungen auf die nationale und internationale Politik des vor kurzem zu Ende gegangenen zwanzigsten Jahrhunderts zu denken. Diese Entwicklungen, denen die Lehre der Enzyklika zuvorgekommen war, widerlegen mit Entschiedenheit die Forderung, dass die Weltpolitik in einer Art „Freizone“ angesiedelt sei, in der das Sittengesetz keinerlei Macht hätte. …
Eine Kultur des Friedens
Die Religion besitzt eine lebenswichtige Rolle beim Anregen von Friedensgesten und bei der Festschreibung von Voraussetzungen für den Frieden. Diese Rolle kann sie umso wirksamer wahrnehmen, je entschlossener sie sich auf das konzentriert, was ihr eigen ist: die Öffnung für Gott, die Lehre von einer universalen Brüderlichkeit und die Förderung einer Kultur der Solidarität. Der „Gebetstag für den Frieden“, den ich am 24. Januar 2002 in Assisi unter Einbeziehung der Vertreter zahlreicher Religionen abgehalten habe, hatte genau diesen Zweck. Er wollte den Wunsch zum Ausdruck bringen, durch die Verbreitung einer Spiritualität und Kultur des Friedens zum Frieden zu erziehen.
Das Erbe von „Pacem in terris“
Der selige Johannes XXIII. war jemand, der keine Angst vor der Zukunft hatte. In dieser optimistischen Einstellung half ihm jenes überzeugte Vertrauen auf Gott und in den Menschen, das er aus dem Klima tiefer Gläubigkeit schöpfte, in dem er aufgewachsen war. Gestärkt durch diese Hingabe an die Vorsehung – und das sogar im Kontext eines offensichtlichen Dauerkonfliktes –, zögerte er nicht, den politischen Führern seiner Zeit eine neue Weltsicht vorzustellen. Das ist das Erbe, das er uns hinterlassen hat. … Wir sind eingeladen, uns für die gleichen Haltungen einzusetzen, die er vertreten hat: Vertrauen auf den barmherzigen und mitleidsvollen Gott, der uns zur Brüderlichkeit ruft; Vertrauen in die Männer und Frauen unserer Zeit und jeder anderen Zeit, wegen des Bildes Gottes, das in gleicher Weise in die Seelen aller eingeprägt ist. Ausgehend von diesen Haltungen darf man darauf hoffen, eine Welt des Friedens auf Erden aufzubauen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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Das Ringen um „Pacem in terris“ nach 60 Jahren
Brisanz der Friedensenzyklika
Die Enzyklika „Pacem in terris“ von Johannes XXIII. hat durch den Ukraine-Krieg eine ganz neue Aktualität erlangt. Man glaubte, den sog. „Kalten Krieg“ überwunden zu haben. Doch unversehens tauchte ein Ost-West-Konflikt in neuer Gestalt und unverminderter Härte wieder auf. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die militärische Auseinandersetzung mitten in Europa weiter entwickeln wird. Nach der Entschärfung der Kuba-Krise im Herbst 1962, die wie heute mit einer atomaren Bedrohung verbunden war, sah sich damals Papst Johannes XXIII. ermutigt, der Welt eine visionäre Friedensenzyklika vorzulegen. Mit ihren Akzenten hat sie nichts an ihrer Aktualität verloren, doch werden die damals formulierten Ansätze auch oft für Vorstöße in Anspruch genommen, die dem Rundschreiben selbst nicht gerecht werden. Daraus ergibt sich eine zusätzliche Brisanz, auf die Pfarrer Erich Maria Fink in seinem Beitrag aufmerksam macht.
Von Erich Maria Fink
Die Enzyklika Pacem in terris war ohne Zweifel ein historischer Aufbruch der katholischen Kirche. Er wies dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Weg und öffnete die entscheidenden Türen für das neue Selbstverständnis der Kirche in der Welt von heute. Als Sozial-enzyklika führte sie das Wagnis weiter, das Papst Leo XIII. mit „Rerum novarum“ vom 15. Mai 1891 eingegangen war. Als Oberhaupt der katholischen Kirche stieß er damals in das Feld der gesellschaftspolitischen Spannungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor und gab eine allgemeingültige Antwort auf die sozialen Herausforderungen des menschlichen Zusammenlebens. Sein Rundschreiben fand inner- wie außerkirchlich größten Anklang und wirkt bis heute nach. In diesem Sinn ist auch Pacem in terris vom 11. April 1963 eine typische „Sozialenzyklika“. Sie schreibt der Kirche eine Mission als Licht für alle Völker der Erde zu, nämlich die Aufgabe, der ganzen Menschheitsfamilie den Weg zum Frieden zu weisen. Unter diesem Anspruch wendet sich mit Pacem in terris erstmals in der Geschichte eine Enzyklika nicht nur an die katholische Kirche, sondern ausdrücklich an „alle Menschen guten Willens“.
Johannes XXIII. spannt einen großen Bogen
Ausgehend von der unumstößlichen Tatsache, dass jeder Mensch eine Person mit unveräußerlicher Würde darstellt, umreißt Papst Johannes XXIII. die Rechte und Pflichten, die auf dieser Grundlage jedem Menschen zukommen. Er wagt es, dazu einen Katalog von Menschenrechten zusammenzustellen, wie sie sich aus dem christlichen Menschenbild ergeben (vgl. Nr. 5-25).
Darauf aufbauend legt er dar, dass ein friedliches Zusammenleben innerhalb der Menschheitsfamilie nur gelingen wird, wenn diese Rechte garantiert werden und sich die staatlichen Autoritäten für ihren Schutz einsetzen (vgl. 26-46).
Schon damals vergleicht er das Zusammenleben der einzelnen Personen und die ihnen zukommenden Rechte mit der Formung einer Völkerfamilie, in der den einzelnen Staaten und Nationen so etwas wie nationale Rechte im Sinn der Menschenrechte zukommen (vgl. 68-75). Diesen Gedanken machte sich insbesondere Papst Johannes Paul II. zu Eigen und entfaltete ihn in seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 5. Oktober 1995.
Daraus ergibt sich für Johannes XXIII. die Forderung nach einer überstaatlichen Gewalt, welche den Menschenrechten auf der ganzen Welt Geltung verschafft. In diesem Zusammenhang prägt er den Begriff vom „universalen Gemeinwohl“ und bezeichnet die Einsetzung einer Gewalt, die sich auf die ganze Erde erstreckt, als „zwingend“. Wörtlich heißt es in der Enzyklika: „Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft, die alle Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine politische Gewalt geklärt werden können, de-ren Macht und Organisation und deren Mittel einen dementsprechenden Umfang haben müssen, deren Wirksamkeit sich somit über den ganzen Erdkreis erstrecken muss, so folgt um der sittlichen Ordnung willen zwingend, dass eine universale politische Gewalt eingesetzt werden muss.“ (Nr. 71)
Dieser Forderung haben sich seither alle Päpste angeschlossen, in überraschend ausführlicher Weise auch Papst Benedikt XVI. in der Enzyklika Caritas in veritate (Die Liebe in der Wahrheit) vom 29. Juni 2009. „Das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität, wie sie schon von meinem Vorgänger, dem seligen Papst Johannes XXIII., angesprochen wurde“, sei „dringend nötig“ und müsse auch „über wirksame Macht verfügen, um für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“, so Benedikt XVI. (Nr. 67).
Johannes XXIII. ist sich darüber im Klaren, dass er mit dieser Forderung einen sehr heiklen, aber entscheidenden Punkt für die Zukunft der Menschheitsfamilie anspricht. Er sieht die große Herausforderung, die darin besteht, dass die Einrichtung einer solchen universalen Gewalt den Nationen nicht aufgezwungen wird, sondern dass sich die Völker durch gegenseitige Übereinkunft einer solchen Gewalt „freiwillig beugen“.
Und so betont der Papst in Pacem in terris: „Würde dagegen diese allgemeine Autorität von den mächtigeren Nationen gewaltsam eingesetzt, wäre mit Recht zu fürchten, dass sie entweder nur den Interessen einiger weniger dienen oder von einer einzigen Nation abhängen würde; und so wären Kraft und Wirksamkeit ihres Handelns in Gefahr“ (Nr. 72).
Deswegen sieht Johannes XXIII. im ehrlichen Ringen um die Wahrheit über den Menschen die wichtigste Grundlage für den Frieden auf Erden. Denn Menschenrechte, die nicht der Wahrheit entsprechen, wie sie der menschlichen Vernunft zugänglich ist, können niemals ohne Gewaltanwendung der ganzen Völkerfamilie vermittelt werden.
Umgekehrt sieht die Kirche schon damals die Gefahr, dass sich Nationen mit Gewalt gegen eine übergeordnete Macht wehren werden, sollten sich bei den eingeforderten Menschenrechten Unstimmigkeiten oder offensichtliche Unwahrheiten einschleichen.
Anerkennung der Menschenrechte
Auf dem Hintergrund seiner Vision würdigt nun Johannes XXIII. die Gründung der Organisation der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 als wichtigen Schritt in die angedachte Richtung einer überstaatlichen Autorität. Und die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, die am 10. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde, sei „ein Akt von höchster Bedeutung“.
Aber der Papst fügt hinzu: „Wir verkennen nicht, dass gegenüber einigen Kapiteln dieser Erklärung mit Recht von manchen Einwände geäußert worden sind. Nichtsdestoweniger ist diese Erklärung gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt zu betrachten. Denn durch sie wird die Würde der Person für alle Menschen feierlich anerkannt, und es werden jedem Menschen die Rechte zugesprochen, die Wahrheit frei zu suchen, den Normen der Sittlichkeit zu folgen, die Pflichten der Gerechtigkeit auszuüben, ein menschenwürdiges Dasein zu führen“ (Nr. 75).
Zu Recht wird die Bedeutung der Enzyklika Pacem in terris darin gesehen, dass sie die Menschenrechte anerkennt. Doch darf nicht übersehen werden, dass Johannes XXIII. keine blinde Zustimmung ausspricht, sondern in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lediglich eine erste „Stufe“ sieht, die eine weitere Klärung der Frage erfordert.
Dazu stellt er unmissverständlich klar: „Die Ordnung jedoch, die im menschlichen Zusammenleben waltet, ist ganz geistiger Art: auf der Wahrheit aufruhend, ist sie nach den Geboten der Gerechtigkeit zu verwirklichen… Aber diese Art von Ordnung, deren Prinzipien sich auf alle erstrecken und absolut und unveränderlich sind, geht ganz vom wahren, und zwar vom persönlichen und die menschliche Natur übersteigenden Gott aus. Denn da Gott die erste Wahrheit aller Dinge und das höchste Gut ist, ist er zugleich die erhabene Quelle, aus der die menschliche Gemeinschaft allein wahrhaft Leben schöpfen kann, um so recht geordnet, fruchtbar und der menschlichen Würde angemessen zu sein“ (Nr. 20). Dabei bezieht sich Johannes XXIII. auf seinen Vorgänger Papst Pius XII. und auf den hl. Thomas von Aquin.
Zeichen der Zeit
Bei der Entwicklung „einer rechtlichen und politischen Ordnung aller Völker auf der Welt“ will Johannes XXIII. insbesondere auf die „Zeichen der Zeit“ achten. In seiner Enzyklika geht er ausführlich auf diese Zeichen ein. Doch ist es abwegig zu behaupten, er schreibe ihnen eine Art Offenbarungscharakter zu. Sie seien in der Enzyklika Pacem in terris neben der biblischen Offenbarung eine wichtige Quelle für die Glaubenslehre der Kirche. So wird es neuerdings auch von Vertretern des „Synodalen Weges“ behauptet. Dies aber wird dem Ansatz von Johannes XXIII. nicht gerecht. Gewiss versucht er, neue Erscheinungsbilder und Entwicklungen der Menschheit positiv zu deuten und als Frucht der göttlichen Vorsehung zu verstehen, aber eben gerade dadurch, dass er sie in das Licht der biblischen Offenbarung stellt.
Als wichtiges Beispiel gilt die Gleichberechtigung der Frau, die auch Johannes XXIII. hervorhebt. Doch kann man aus seiner Formulierung nicht die Forderung nach dem Frauenpriestertum ableiten, wie es nun geschieht. Seine Aussage darf nicht verkürzt zitiert werden. Sie lautet: „Darüber hinaus haben die Menschen das unantastbare Recht, jenen Lebensstand zu wählen, den sie für gut halten, d.h. also, entweder eine Familie zu gründen, wobei in dieser Gründung Mann und Frau gleiche Rechte und Pflichten haben, oder das Priestertum oder den Ordensstand zu ergreifen (vgl. Pius XII.: Weihnachtsbotschaft 1942)“ (Nr. 9).
Der globale Ansatz für den Weg in eine friedliche Zukunft der Menschheit steht und fällt nach Johannes XXIII. mit der ehrlichen und wahrheitsgetreuen Formulierung der Menschenrechte. Aber genau damit berührt Pacem in terris den wunden Punkt unserer Zeit. Das war der Grund, warum die hl. Mutter Teresa in ihrer Rede bei der Verleihung des Friedensnobelpreises die Abtreibung als den „größten Zerstörer des Friedens“ bezeichnet hat. Und so entlarvt Pacem in terris die sog. „neuen Menschenrechte“ als Sackgasse und Gefahr für den Weltfrieden, wie z.B. das angebliche Menschenrecht auf Abtreibung, auf die freie Wahl des Geschlechts, auf die Adoption von Kindern für homosexuelle Paare oder auf den staatlichen Beistand für einen selbstgewählten Suizid.
Die ganze Tragik im Ukraine-Konflikt besteht letztlich darin, dass Russland die Rechtfertigung der Auseinandersetzung mit dem „kollektiven Westen“ in diesen Rahmen hineinstellt. Es argumentiert damit, dass der Westen eine Hegemonie über alle Völker durchzusetzen versuche und ihnen ihre Werte – wie beispielsweise diese „neuen Menschenrechte“ – aufzwingen wolle. Dagegen wehre man sich wenn nötig auch mit Waffen. Und so stehe der Kampf im Dienst der Freiheit für alle Völker, die eine multilaterale Völkerfamilie und eine Befreiung aus dieser Art des kultur-politischen Kolonialismus des Westens ersehnten. Es ist der Widersacher, der die großen Lügen der Weltpolitik dazu nützt, um die Völker gegeneinander aufzubringen und in eine gegenseitige Vernichtung zu stürzen.
Die Völkerfamilie wird nicht mit Waffen zum Frieden finden, sondern nur, wenn sie sich den brennenden Fragen stellt und sich ehrlich um die Wahrheit über den Menschen bemüht. Darin besteht die Brisanz von Pacem in terris für die heutige Zeit.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Als die Generalmobilmachung mit Pfingsten verglichen wurde
„Gott mit uns!“ – Missbrauch der Religion
Pfarrer Dr. Richard Kocher, Programmdirektor von Radio Horeb, hat ein neues Buch herausgegeben, in dem Teile seiner Doktorarbeit über die göttliche Vorsehung mit aktuellen Predigten kombiniert sind. Das Buch trägt den Titel „Zeitgeist oder Geist der Zeit"[1] und beginnt mit einem Blick auf die Vorsehungsliteratur während des Ersten Weltkriegs. Die Stellungnahmen christlicher Theologen und Hirten zum damaligen Kriegsgeschehen machen nachdenklich. Wie leichtfertig von katholischer wie evangelischer Seite der Krieg gerechtfertigt wurde, ist geradezu erschreckend. Einen unrühmlichen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den sog. „Deutschen Christen“, einer Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche während des Dritten Reichs. Eine große Wende brachte in dieser Frage die Friedensenzyklika „Pacem in terris“ von Papst Johannes XXIII. im Jahr 1963. Doch heute hat sie durch die Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche zum Ukraine-Konflikt eine neue Brisanz erlangt.
Von Richard Kocher
Bei den Abhandlungen, die während des Ersten Weltkriegs zum Thema der Vorsehung veröffentlicht worden sind, handelt es sich ausnahmslos um Kleinschriften, die den Umfang von 40 Seiten selten überschreiten.[2]
Katholische Schriften überwiegen
Das Schrifttum liefert interessante Informationen.[3] Es zeigt sich, dass
1. nahezu alle Schichten und Stände der katholischen Hierarchie, angefangen vom Kaplan über den Professor bis zum Erzbischof, sich zur Vorsehung geäußert haben, die Professoren sich aber besonders stark herausgefordert fühlten (immerhin 4 von 10!),
2. die katholischen Stellungnahmen (8) im Vergleich zu den evangelischen (2) überwiegen,
3. je länger der Krieg gedauert hat, desto weniger zum Thema „Vorsehung“ geschrieben wurde (Becks Gespräch über den Weltkrieg und die Vorsehung ist eine Größe eigener Art, darauf muss gesondert eingegangen werden).
Die quälende Frage nach einer liebenden Vorsehung
Der Einstieg in das Thema ist bei allen fast gleich: Anhand der Schilderung der Not des Krieges für die Soldaten an der Front und der enormen Zerstörungen drängt sich von selbst die Sinnfrage bzw. die Vereinbarkeit mit einer gütigen Vorsehung auf.[4] Freilich werden hier schon Unterschiede deutlich. Mit zunehmender Länge des Krieges wurden die Fragen immer quälender und bohrender gestellt. Jemand, der 1914 oder am Anfang des Jahres 1915 schrieb in der Hoffnung auf einen baldigen Sieg der deutschen Waffen, tat dies anders als jemand, der 1916 schon auf fünf Millionen Kriegstote zurückblicken musste.[5] Die Bereitschaft, den Krieg zu rechtfertigen, verging spürbar. Offensichtlich war man sich an dessen Beginn noch nicht genügend bewusst, es mit einem modernen Waffengang zu tun zu haben mit einem bislang nicht bekannten Potenzial an Zerstörung.
Nationalistische Einstellungen treten hervor
Eine betont nationale, gelegentlich sogar eine nationalistische Einstellung ist bei allen Veröffentlichungen vorzufinden. Wiederholte Male wurde die These des deutschen Kaisers aufgegriffen, wonach dem Deutschen Reich der Krieg aufgedrängt wurde und die Schuld bei den anderen Nationen zu suchen sei. Dederichs: „Unser Volk – an der Spitze sein Friedenskaiser – wollte stets nur den Frieden. … Nur notgedrungen, schmählichst hintergangen und meuchlings wie von Wegelagerern überfallen, hat der Kaiser zum Schwerte gegriffen. Nun aber, sagte er selber, ‚wollen wir sie auch gründlich dreschen‘!"[6] Kardinal Hartmann: „Der Ruf unseres Kaisers, mit dem er sein Volk aufrief zu einem Kampfe gegen eine Welt von Feinden – zu einem Kampfe, in den er reinen Gewissens zog, der Gerechtigkeit unserer Sache vor Gott gewiss: War dieser Ruf nicht ein Ruf der göttlichen Vorsehung für uns alle? … Mit Gott in den aufgezwungenen Kampf."[7]. Horbach: „Denn ist je ein Krieg in der Welt geführt worden, den ein Volk und sein Fürst vor Gott verantworten konnten, so ist es dieser Notwehrkrieg, den wir Deutsche führen müssen."[8] Gspann: „Der gegenwärtige Krieg ist für uns Österreicher und Deutsche eine heilige Mission, für unsere Gegner ein ganz schauerliches Strafgericht."[9]
Aber auch dort gibt es Unterschiede und Stufungen. Während Eßer mit seinen kritischen Äußerungen sich positiv abhebt,[10] fallen die beiden evangelischen Pastoren Delbrück und Horbach, Kaplan Dederichs und Professor Gspann negativ mit ihren überzogenen Feindbildern auf. Bei Dederichs klingen rassistische Untertöne an: Bei einem deutschen Sieg sei mit einer „Verdrängung der unchristlichen wilden Turkos, Zuaven, Japaner, Indier usw."[11] zu rechnen. Der Soldat müsse sich zwar jeglichen persönlichen Hasses gegen den Feind enthalten, trotzdem gilt aber für Horbach: „Nicht scharf genug kann Englands Treulosigkeit, Hinterlist und Heuchelei verurteilt und verabscheut werden."[12] Ganz und gar nicht unchristlich sei das „deutsche Ungestüm“, der furor teutonicus: „Das ungestüm-wilde und todesmutige ‚Hurra!‘ beim deutschen Bajonettangriff lässt den Feind so erzittern und beben, dass er nicht standhalten kann.“ Beim „pflichtmäßigen Töten, das als Notwehr erfolgt“, hätten die tapferen Krieger machtvoll den Gesang „Deutschland, Deutschland über alles"[13] ertönen lassen.
Delbrück macht die Einkreisungspolitik des englischen Königs Eduard, „die politischen Schachzüge Greys, die Habsucht Englands, die Rachegedanken Frankreichs …die Ausdehnungsgelüste Russlands"[14] für den Ausbruch des Krieges verantwortlich. Kaum mehr überbietbar ist Gspann: „Der Engländer von heute ist wortkarg, mürrisch, materialistisch … England ist, als Nation betrachtet, das perfideste Volk der Erde … Frankreich ist das Land der Revolutionen, der Riesenskandale und der Sittenlosigkeit… Russland und tyrannischer Despotismus sind ein und dasselbe."[15]
Radikale Umdeutungen und Verfälschungen des christlichen Glaubens
Die radikalen Umdeutungen und Verfälschungen des christlichen Glaubens hat W. Pressel in seinem Buch „Die Kriegspredigt 1914-1918 in der evangelischen Kirche Deutschlands“ aufgezeigt. Es gab so gut wie keine theologische Aussage, die nicht auf den Krieg hin „aktualisiert“ wurde: Der Enthusiasmus des Kriegsbeginns wurde als neues pfingstliches Ereignis, als Mobilmachung durch den Heiligen Geist verstanden, der Erwählungsgedanke in säkularisierter Weise auf das deutsche Volk angewandt, die paulinische Gegenüberstellung von „Geist“ und „Fleisch“ als Überlegenheit des deutschen Geistes und fleischliche Gesinnung des militärischen Gegners ausgelegt, der Glaube als psychische Energie, als rückhaltlose Bereitschaft für Kraftleistungen und Opfer interpretiert und die Lehre von den Letzten Dingen einer radikalen Verfälschung unterzogen. Der Missbrauch der Kanzel zur politischen Propaganda war so offensichtlich, dass er sogar in Versailles von den alliierten Politikern zur Sprache gebracht wurde.
Wie brisant die Forschungsergebnisse Pressels sind, zeigt sich darin, dass der evangelische Bischof O. Dibelius in einem Brief vom 29. August 1962 Pressel das Recht absprach, die Kriegspredigten jener Zeit zu kritisieren.[16] Dieser ließ sich dadurch jedoch nicht beirren und veröffentlichte sie. Der Missbrauch der kirchlichen Verkündigung für politische Agitation blieb für die evangelische Kirche, wie Wischmann in seinen Lebenserinnerungen darlegt, nicht folgenlos. Nach dem Krieg lichteten sich selbst auf dem Land die Reihen der Gottesdienstbesucher beträchtlich. Die Menschen spürten, dass man sie in die Irre geführt hatte; das rächte sich nun.[17]
In der Theologie entwickelte Karl Barth (1886-1968) als Gegenreaktion auf die Vereinnahmung Gottes durch fragwürdige Identifizierungen seines Willens mit konkreten Geschichtsereignissen einen Transzendenztheismus, bei dem Gott als radikal vom Weltgeschehen abgehoben gedacht wurde.
Allgemein kann gesagt werden, dass der Krieg als ein Straf- und Läuterungsmittel Gottes gesehen wurde für die Sünden der Menschen,[18] besonders den sittlichen Verfall in der Vorkriegszeit. Die militärische Auseinandersetzung ist nicht nur negativ besetzt; sie setzt Kräfte des Guten frei: Geduld im Ertragen von Widerwärtigkeiten, Opferbereitschaft, Kameradschaftlichkeit, nationales Ehrgefühl, Rückgang sittenloser Ausschweifung und Weckung der Glaubenskräfte („Not lehrt beten“).[19]
Gebet um den deutschen Sieg statt Fürbitte um den Frieden
Andeutungen, etwa im Anschluss an Jes 55,8f., wonach die Vorsehung Gottes menschlicher Einsichtnahme nicht ohne Weiteres offensteht, oder im Hinblick auf die Torheit des Kreuzes sind selten;[20] aber auch euphorische Aussagen wie die folgende sind singulär: „Wahrlich: Krieg und Vorsehung, das Problem ist gelöst. Die Frage quält nicht mehr."[21]
Da nahezu alle (!) eingesehenen Schriften von der Gerechtigkeit der deutschen Sache überzeugt sind, wurde die Frage des Bittgebetes relativ einfach gelöst: Man muss sich selbst von Sünden reinhalten und Gott nur intensiv genug um den Sieg bitten, dann wird er zweifellos dem deutschen Volk geschenkt werden. Delbrück: „In der Gewissheit der Gerechtigkeit unserer Sache bauen wir in Bitte und Gebet darauf, dass Gott in seiner Vorsehung uns helfen werde."[22] Auf die Frage, ob es nicht angemessener sei, um den allgemeinen Frieden zu beten, antwortet Dederichs so: „Gewiss! Aber auch zugleich um unseren Sieg."[23] Ähnlich Horbach, der mit dem Gebet des Soldaten für den Sieg überhaupt keine Schwierigkeiten hat, sofern sich der Soldat nur um ein sittlich gutes Leben müht.[24] Selbst wenn alles zunächst natürliche Ursachen habe, so ist es doch Gott, der diese aneinanderfügt. Deshalb ist es letztlich sein Wille, wer Sieger oder Verlierer ist. Huber: „Darum beten wir zu ihm um den Sieg unserer Waffen."[25] Genuin theologische Ansatzpunkte sind in dieser auf Breitenwirksamkeit bedachten Literatur nur wenig zu erwarten; dass sie aber beim Bittgebet nur bei Schreiber anzutreffen sind, überrascht in dieser Spärlichkeit dann doch.[26]
Becks „Weltkrieg und Vorsehung“ – eine Ausnahme
Sowohl vom Zeitpunkt der Abfassung (1918) wie vom literarischen Genus (gewählt wird die Form des Gesprächs zwischen einem Studenten, der im Krieg den Glauben verloren hat, und seinem alten Pfarrer) hebt sich Becks Schrift „Weltkrieg und Vorsehung“ von den übrigen ab. Die blutige Saat der Gewalt und Zerstörung war nun nicht mehr zu übersehen: „Ganze Bataillone wurden weggemäht von den Maschinengewehren."[27] In der Sprache und im Ausdruck des Studenten schwingt die ganze Bitterkeit des erlebten Leids mit.[28] Der Pfarrer verweist in seiner Entgegnung auf ein falsches Gottesbild,[29] das sündhafte Begehren nach Ruhm und Vorrang als eigentlichen Grund des Krieges, die Fortschritte einer gottentfremdeten Naturwissenschaft, die nun auf den Menschen selbst im „‚Triumph‘ der Kultur zum Vernichtungskampfe"[30] zurückschlagen, den Geheimnischarakter der Vorsehung sowie auf die Liebe Gottes als Motiv von Schöpfung und Erlösung und den Ausgleich im Jenseits. Auch wenn der gute Ausgang des Gesprächs etwas gekünstelt erscheint,[31] so dürfte doch Becks „Weltkrieg und Vorsehung“ das Beste sein, was zum Thema der Vorsehung im Ersten Weltkrieg geschrieben wurde.
Der Verweis auf die Vorsehung sollte den Krieg rechtfertigen
Wenn aus heutiger Sicht auf die Vorsehungsliteratur im Ersten Weltkrieg zurückgeblickt wird, ist darauf zu achten, keinem Anachronismus zu verfallen. Die Kriegsbegeisterung war 1914 allgemein. Im Vergleich zu dem damals üblichen übertriebenen Nationalismus sind die eingesehenen theologischen Aufsätze sogar noch moderat im Ton. Trotzdem kann damit nicht alles entschuldigt werden. Es ist bedrückend, wenn sich keine einzige (!) kritische Anmerkung zu der aggressiven Hochrüstungspolitik und dem unverantwortlichen „Säbelrasseln“ des Wilhelminischen Deutschland findet und die Kriegsschuld allein den anderen Staaten angelastet wird.
Es bleibt der bittere Nachgeschmack, dass die Vorsehung zur Rechtfertigung des Krieges herangezogen wurde. Trotz andersartiger verbaler Beteuerungen wurde das wahnwitzige Töten an der Front bei Weitem nicht in voller Schärfe erkannt. Dementsprechend oberflächlich und seicht wurde die Frage nach dem Leid angegangen. Aufgrund der Voreingenommenheit für die deutsche Kriegsführung ist es beschämend, was zum Bittgebet gesagt wurde. Der Geheimnischarakter der Vorsehung wurde nicht zur Genüge erkannt und betont. Es blieb nicht ungestraft, wenn man vorschnell davon ausging, Gott auf seiner Seite zu haben. Insofern hat die Kritik Wiecherts,[32] dass die Kirche zu den Opfern nicht immer das Richtige gesagt habe, tatsächlich eine gewisse Berechtigung, wenngleich auch hier nicht in unguter Weise verallgemeinert werden darf.
„Gott mit uns!“ – Missbrauch des Namens Gottes
Meine beiden Großväter kämpften im Ersten Weltkrieg an der Front. Mein Vater wurde als 16-Jähriger noch in den letzten Kriegsmonaten zur Wehrmacht und dem Dienst mit der Waffe eingezogen. Die zu erörternden Zeiten sind vergangen. Sie liegen durch das persönliche Erleben und Berichten aber noch in Reichweite.
Eine begehrte Auszeichnung im Krieg war das Eiserne Kreuz. Ich habe ein solches beim Aufräumen auf dem Speicher des Dachbodens meines Elternhauses gefunden. Darauf war eingeprägt: 1914/1915. Angeblich wurde das meinem Großvater väterlicherseits verliehen. Auf einem weiteren kleinen Eisernen Kreuz, das ich zusammen mit diesem fand, war außer den Jahreszahlen 1914/15 noch zu lesen: Gott mit uns! Das heißt auf Hebräisch Immanuel, auf Lateinisch Emmanuel (Jes 7,14). Auch auf den Koppelschnallen der deutschen Soldaten war dies eingraviert. War Gott mit den Soldaten des Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg? Kann man das so einfach sagen? Ist das nicht höchst problematisch und eine Übertretung des zweiten Gebotes, Gottes heiligen Namen nicht zu missbrauchen? War Gott mehr mit den Deutschen als mit den Franzosen und den Engländern – und das bei einem „Handwerk“, in dem es darum ging, andere Menschen zu töten, Landschaften und Häuser zu zerstören und andere Nationen zu überfallen?
Wenn die Kreuzritter mit dem Schlachtruf Deus lo vult – „Gott will es“ in den Kampf gezogen sind, bestärkt in dem Wissen, dass Papst und Kirche hinter ihnen standen, dann kommt uns das heute sehr fragwürdig vor. Hat Gott das wirklich gewollt, was bei den Kreuzzügen alles an Unheil, Schrecken und Mord angerichtet worden ist?
Jesus Christus hat das Gegenteil gewollt
Fragwürdige Identifizierungen des Willens Gottes mit geschichtlichen Ereignissen und eigenen Willensäußerungen hat es in der Geschichte immer gegeben. Sie sollten uns nachdenklich stimmen, zumal wenn sie gegen die dezidierte Lehre und Verkündigung Jesu stehen. Der Mann aus Nazaret hat genau das Gegenteil dessen gesagt, was hier gerechtfertigt wurde: „Selig, die Frieden stiften“ (Mt 5,9). Das konnte man jedoch in keiner einzigen Schrift lesen, auch nicht: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44). Das war nirgends zu lesen. Petrus forderte er auf, sein Schwert wegzustecken, „denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Mt 26,52). Eine einseitige und interessengeleitete Exegese liest aus der Bibel das heraus, was sie will, und missbraucht sie so. Mit intellektueller Redlichkeit hat das nichts mehr zu tun.
Wenige Jahre später kam es noch schlimmer – im Dritten Reich
Es gab damals – im Unterschied zum Dritten Reich – keine Berufs-, Schreib- oder Redeverbote oder sonstige Repressalien, mit denen man rechnen musste, allenfalls eine gesellschaftliche Erwartungshaltung, der man nicht entsprach. Deshalb ist das angepasste Verhalten der Theologen umso verwerflicher. Wer meint, dass es nicht noch schlimmer hätte kommen können, sollte sich täuschen. Es kam noch schlimmer, und zwar in einem kaum mehr zu überbietenden Ausmaß bei der sogenannten Bewegung der „Deutschen Christen“ und das nur wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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[1] Richard Kocher: Zeitgeist oder Geist der Zeit, geb., 192 S., 19,95 Euro (D), Verlag Media Maria, Tel. 07303-9523310; www.media-maria.de
[2] Die behandelten Publikationen beziehen sich in der Titelangabe ausdrücklich auf die Vorsehung und sind im Deutschen Bücherverzeichnis, 6. Band, 2. Hälfte (1806-1808), ausgewiesen.
[3] Über die übliche Zitationsweise hinaus wird die Position in der Hierarchie und die Konfessionszugehörigkeit angegeben, da diese Angaben von Relevanz sind:
– J. Beck: Weltkrieg und Vorsehung. Ein Gespräch, Köln-Mainz 1918 (kath. Professor).
– W. Dederichs: Der Krieg im Lichte der Vorsehung, Paderborn 1914 (kath. Kaplan).
– K. Delbrück: Göttliche Vorsehung oder Zufall im gegenwärtigen Kriege?, Halle 1915 (ev. Pfarrer).
– G. Eßer: Krieg und göttliche Vorsehung, Hamm 1915 (Professor für kath. Dogmatik).
– M. Gatterer: Gottes Vorsehung und der Krieg, Kalksburg 1916 (Jesuit).
– J. C. Gspann: Blutiger Weltkrieg und gütige Vorsehung, Regensburg 1915 (Professor für kath. Dogmatik).
– F. v. Hartmann: Die göttliche Vorsehung. Hirtenbrief, Köln 1915 (Kardinal u. Erzbischof von Köln).
– Ph. Horbach, Gebet und Vorsehung in Kriegsnot oder: Wie verträgt sich der Glaube an die Erhörbarkeit des Gebetes mit dem Glauben an die göttliche
Vorsehung? (= Näher, mein Gott zu dir, 3), Hamburg 1914 (ev. Pfarrer).
– A. Huber: Die göttliche Vorsehung (= Die Kreuzesfahne im Völkerkrieg 9), Freiburg 21915 (Diözesanpräses und
Dompräbendar).
– C. Schreiber: Der Krieg und die Vorsehung Gottes. Feldpostbrief an unsere Soldaten und die Daheimgebliebenen, Fulda 1915 (kath. Professor).
[4] Vgl. Dederichs: Der Krieg, 5-7, 9; Delbrück: Göttliche Vorsehung, 5; Eßer: Krieg, 139, 144; Gatterer: Gottes Vorsehung, 5, 19; Gspann: Blutiger Weltkrieg, 10, 28; Hartmann: Die göttliche Vorsehung, 4; Horbach: Gebet, 5f.; Huber: Die göttliche Vorsehung, 99f., 108; Schreiber: Der Krieg, 2f.
[5] Gatterer spricht in diesem Jahr immer wieder in fast schon gequält anmutender Weise vom schrecklichen Krieg und wann dieser endlich aufhöre (vgl. Gottes Vorsehung, 5, 14, 19, 26, 29, 33).
[6] Dederichs: Der Krieg, 9, 36.
[7] Hartmann: Die göttliche Vorsehung, 12.
[8] Horbach: Gebet, 19.
[9] Gspann: Blutiger Weltkrieg, 41. Ähnlich Eßer: Krieg, 140, 149; Gatterer: Gottes Vorsehung, 37; Schreiber: Der Krieg, 6. Am zurückhaltendsten urteilt noch Huber: Die göttliche Vorsehung, 100f.
[10] Vgl. Eßer: Krieg, 145, 147, 157.
[11] Dederichs: Der Krieg, 33.
[12] Horbach: Gebet, 22.
[13] Ebd., 22f.
[14] Delbrück: Gottes Vorsehung, 10, 11.
[15] Gspann: Blutiger Weltkrieg, 50-53.
[16] Vgl. Pressel: Die Kriegspredigt, 337. Die Veröffentlichung erfolgte im Jahr 1967.
[17] Vgl. Wischmann: Führung, 18.
[18] Vgl. Dederichs: Der Krieg, 11-20; Eßer: Krieg, 159; Gatterer: Gottes Vorsehung, 25; Gspann: Blutiger Weltkrieg, 43-48; Huber: Die göttliche Vorsehung, 102; Schreiber: Der Krieg, 11.
[19] Vgl. Dederichs: Der Krieg (dort besonders das 3. Kapitel „Der Krieg ein Erwecker“, 21-34); Delbrück: Göttliche Vorsehung, 27f.; Eßer: Krieg, 153f., 159f.; Gatterer: Gottes Vorsehung, 24f., 29f., 34; Gspann: Blutiger Weltkrieg, 33-40; Hartmann: Die göttliche Vorsehung, 12; Horbach: Gebet, 21; Huber: Die göttliche Vorsehung, 99, 103, 108-116; Schreiber: Der Krieg, 5, 12f.
[20] Vgl. Gatterer: Gottes Vorsehung, 31; Gspann: Blutiger Weltkrieg, 18f.; Hartmann: Die göttliche Vorsehung, 10; Schreiber: Der Krieg, 8.
[21] Dederichs: Der Krieg, 38.
[22] Delbrück: Göttliche Vorsehung, 29.
[23] Dederichs: Der Krieg, 32.
[24] Vgl. Horbach: Gebet, 19-25.
[25] Huber: Die göttliche Vorsehung, 104.
[26] Vgl. Schreiber: Der Krieg, 4f., 9f. Er geht auf die richtige Zuordnung von Zeit und Ewigkeit, Freiheitsentscheidungen des Menschen und das Gottesbild ein.
[27] Beck: Weltkrieg und Vorsehung, 3.
[28] Er nennt den Krieg einen von den Staatsoberhäuptern organisierten Menschenmord, eine Menschenschlächterei. „Leute, die einander nie etwas zuleide getan haben, müssen sich gegenseitig totschießen – und die ‚liebevolle göttliche Vorsehung‘ lässt das geschehen“ (ebd., 4).
[29] Gott ist kein Polizeidirektor, der nach Art des Zeus bei Unrecht seine Donnerkeile schleudert. Beck verweist auf den Selbstwiderspruch jener, „die sich heiser schreien nach Demokratie, Autonomie, Freiheit“ (ebd., 9), welche aber die Ersten sind, die nach dem intervenierenden Polizistengott rufen, sobald Leid über sie kommt.
[30] Ebd., 11.
[31] Der Student nimmt sich vor, den damals im Gebrauch stehenden Katechismus von Petrus Canisius wieder zu studieren und die Sakramente zu empfangen (vgl. ebd., 19f.).
[32] Vgl. Wiechert: „Das einfache Leben“, in: Sämtliche Werke, 618.
Weihbischof Florian Wörner am 125. Todestag der hl. Therese von Lisieux
Die Liebe der heiligen Therese zum Wort Gottes
Am 1. Oktober 2022 feierte der Augsburger Weihbischof Florian Wörner in Altötting einen Festgottesdienst zu Ehren der hl. Therese von Lisieux, der von Radio Horeb live übertragen wurde. Bei seiner Ansprache ging er zunächst auf die Spiritualität des Kindseins bzw. auf den „kleinen Weg“ ein, wie ihn die hl. Therese „vom Kinde Jesus“ der Welt als Erbe hinterlassen hat. Ähnlich stellte er auf dem Hintergrund ihres Leidensweges einen Bezug zu ihrem zweiten Namenszusatz her, nämlich „vom heiligen Antlitz“. Schließlich zeigte er die Basis auf, welche den Nährboden für die gesamte Spiritualität der hl. Therese bildete, nämlich ihre intensive Beschäftigung mit dem Wort Gottes. Nachfolgend dieser dritte Teil seiner Predigt.
Von Weihbischof Florian Wörner, Augsburg
Die hl. Therese von Lisieux war von einer tiefen Liebe zum Wort Gottes durchdrungen. Während ihrer Zeit im Karmel, die ja nur neun Jahre dauerte, wollte sie gar nicht mehr viel lesen, ausgenommen die Heilige Schrift. Und mit ihr beschäftigte sie sich sehr intensiv. Sie hatte regelrecht Hunger nach dem Wort Gottes und war neugierig darauf, darin immer wieder Neues zu entdecken, Gott besser kennen- und liebenzulernen und tiefer zu verstehen, welchen Weg er mit ihr gehen möchte.
In diesem Zusammenhang kommt mir eine Formulierung in der Deutung des Gleichnisses Jesu von der Aussaat und den verschiedenen Ackerböden in den Sinn (Lk 8,4-15). Der Same ist das Wort Gottes, das unterschiedliche Aufnahme findet. „Auf guten Boden ist der Samen bei denen gefallen, die das Wort mit gutem und aufrichtigem Herzen hören, daran festhalten und Frucht bringen in Geduld“, sagt Jesus (Lk 8,15). Das griechische Wort für „Geduld“ lautet „Hypomone“, es bedeutet „Standhaftigkeit“, „Ausdauer“, „Geduld“. Wörtlich übersetzt aber heißt es „Darunterbleiben“. Wer sich beständig unter das Wort Gottes stellt und „darunterbleibt“, der wird fähig, Schwierigkeiten und Nöte auszuhalten, im gläubigen Wissen darum, dass der Herr und sein Heil das letzte Wort haben.
Als ich vor zehn Jahren im Augsburger Dom die Bischofsweihe empfing, hielten zwei Diakone, wie es in der Liturgie der Bischofsweihe vorgesehen ist, während des Weihegebets das aufgeschlagene Evangeliar über meinem Kopf. Für mich heißt das, dass ich mich beständig unter das Wort Gottes stelle. Ich stehe nicht über ihm. Das ist eine wichtige Botschaft für unsere Zeit, für unsere Kirche, gerade auch hier in Deutschland mit Blick auf den „Synodalen Weg“: Wir stehen nicht über dem Wort Gottes, wir tun vielmehr gut daran, darunter zu bleiben, es beständig zu lesen, zu betrachten, auf es zu hören, ihm zu gehorchen und zu folgen und dabei die Erfahrung zu machen, dass einem immer mehr aufgeht, dass man im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe und in der Freude wächst.
„Mit Ausdauer darunterbleiben“ – genau darin geht uns die hl. Therese mit gutem Beispiel voran. Wenn man ihre Worte und Gebete hört oder liest, spürt man, wie alles vom Wort Gottes und einer tiefen Kenntnis der Heiligen Schrift durchdrungen ist. Sie wusste bestens Bescheid, übrigens auch über die Inhalte des Katechismus. Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Menschen von diesem Format in unseren kirchlichen Gremien und in der Synodal-Versammlung in Deutschland dabeihätten. Dann kämen wir zu anderen Ergebnissen.
Das Wort Gottes lieben, unter ihm stehen und „darunterbleiben“ – und wer so das Wort Gottes über sich hat, der ist bestens behütet, geht den richtigen Weg und kann anderen Orientierung geben. Der hl. Papst Johannes Paul II. hat die hl. Therese vor 25 Jahren zur Kirchenlehrerin erhoben, sie, die niemals an einer Universität Theologie studiert, geschweige denn doziert hat, sie, die keinen Doktor- oder Professorentitel innehatte und uns doch eine so reiche, tiefe und großartige Lehre hinterließ, genährt durch die intensive Beschäftigung mit dem Wort Gottes und der Liebe zu ihm.
Darin dürfen wir eine besonders wertvolle und schöne Rose erblicken, die uns die hl. Therese vom Himmel her schenken will, die Liebe zum Wort Gottes, die dazu führt, dass man sich darunter stellt und geduldig darunterbleibt, um so die Erfahrung zu machen, wie man darin Nahrung findet, Gott und seine Wege immer besser verstehen und lieben lernt und anderen Orientierung geben kann.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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John Henry Newmans Freunde: Fritz Hartnagel, Reinhold Schneider, Paul Stern
Zeugnis des Gewissens
Die großen Gestalten des deutschen Widerstands gegen die Nazi-Herrschaft haben der Nachwelt ein unauslöschliches Zeugnis von der Macht des Gewissens hinterlassen. Und manche von ihnen schöpften aus einer gemeinsamen Quelle, nämlich der „herrlichen Welt“ des hl. John Henry Newman. Das hat Studiendirektor Jakob Knab aus Kaufbeuren mit seiner lebenslangen Forschungsarbeit nachgewiesen. Drei Persönlichkeiten stellt er vor: Es ist zunächst Fritz Hartnagel (1917-2001), der Verlobte von Sophie Scholl, deren umfangreicher Briefwechsel erst nach seinem Tod öffentlich bekannt geworden ist. Nach dem Krieg war Hartnagel Richter geworden, unterstützte Kriegsdienstverweigerer und wandte sich engagiert gegen den „Wahnsinn des atomaren Wettrüstens“. Reinhold Schneider (1903-1956) war gerade noch der Hinrichtung entkommen und stieg nach den Schrecken des Dritten Reichs in den Augen vieler zum „Gewissen der Nation“ auf. Der gebürtige Jude Paul Stern (1888-1944) schließlich, der zum katholischen Glauben gefunden hatte, starb in den Gaskammern von Auschwitz.
Von Jakob Knab
Die Pastorentochter Susanne Hirzel, Sophie Scholls Jugendfreundin, blickte vier Jahrzehnte später zurück auf den Frühsommer 1941: „Sophie hingegen las unaufhörlich und reichte mir eines Tages ein Buch von Kardinal Newman. ‚Was? Den kennst Du nicht? Da steht dir eine herrliche Welt bevor!‘"[1]
Als sich am 20. Mai 1942 – wenige Wochen zuvor hatte Sophie Scholl ihr Studium an der Universität München begonnen – Sophie Scholl und ihr Verlobter Fritz Hartnagel[2] in München zum letzten Mal sahen, da schenkte sie ihm zum Abschied auch zwei Bände mit Predigten von John Henry Newman.
Im Juni 1942, als die Wehrmacht zwischen Kursk und Taganrog die große Sommeroffensive begann, wurde Oberleutnant Hartnagel an die Ostfront nach Mariupol am Asowschen Meer abkommandiert. Seine Nachrichteneinheit gehörte zur 6. Armee, die auf dem Weg nach Stalingrad Hitlers Eroberungspolitik willig vollstreckte.
Hartnagels Briefe aus dem Donbas 1942
Ende Juni 1942 wurde das erste Flugblatt der Weißen Rose verschickt. Damals war Sophie Scholl noch nicht eingeweiht, dass ihr Bruder Hans und sein vertrauter Freund Alexander Schmorell die beiden Verfasser waren. Zur selben Zeit sah Hartnagel am Südabschnitt der Ostfront die Leichen sowjetischer Kriegsgefangener, die vor Erschöpfung zusammengebrochen und von ihren deutschen Bewachern erschossen worden waren, und er hörte von Massenexekutionen an der jüdischen Bevölkerung. In einem Brief an Sophie, geschrieben am 26. Juni 1942 im Ostteil des Donez-Beckens, klagte er: „Es ist erschreckend, mit welcher zynischer Kaltschnäuzigkeit mein Kommandeur von der Abschlachtung sämtlicher Juden des besetzten Rußland erzählt und dabei von der Gerechtigkeit dieser Handlungsweise vollkommen überzeugt ist. Ich saß mit klopfendem Herzen dabei. Oh wie froh war ich, als ich wieder allein auf meinem Feldbett lag und zu Dir und meinem Gebet flüchten konnte."[3]
Hartnagel sprach in diesem Brief auch von den Quellen seiner inneren Kraft. Denn im Sommer 1942 entdeckte auch er die „herrliche Welt“ des John Henry Newman.[4] Die Anstöße zu dieser Lektüre, von der Hartnagel jede Zeile in sich aufnahm wie „Tropfen eines kostbaren Getränks"[5], waren von Sophie Scholl gekommen. Newman hinterließ bei ihm offenkundige Spuren; denn wenige Tage nach jenen judenfeindlichen Entgleisungen seines Vorgesetzten schrieb er an seine liebe Sophie: „Welcher Irrtum ist es, die Natur zum Maßstab unseres Handelns zu machen und ihre Grausamkeit als ‚groß‘ zu bezeichnen."[6]
Auch die folgenden Zeilen, geschrieben Anfang Juli 1942, sind Frucht seiner New-man-Lektüre: „Wir aber wissen, von wem wir erschaffen sind, und daß wir zu unserem Schöpfer in einem verpflichtenden Verhältnis stehen. Uns ist mit dem Gewissen die Fähigkeit gegeben Gutes von Bösem zu unterscheiden."[7]
Ein genauer Textvergleich zeigt, dass Hartnagel in diesen für ihn entscheidenden Tagen Newmans Predigt „Das Zeugnis des Gewissens"[8] las. Newman entfaltet hier – ausgehend von einer Paulusstelle[9] – die Leitmotive seiner Lehre vom Gewissen: „Unserer Natur nach sind wir, was wir sind: voller Sünden und verdorben."[10] Und er fährt fort: „Der Mensch tut Gutes und Böses. … Wenn gute Werke ein Zeugnis des Glaubens sind, dann sind Sünden ein noch viel überzeugenderer Beweis, dass der Glaube fehlt."[11] Hartnagel schließt seinen Brief an die „liebe Sofie“ mit der Einsicht: „Diesen Geheimnissen müssen wir unsere Vernunft unterwerfen und uns zum Glauben bekennen."[12]
Er knüpft hier nahezu wörtlich an Newman an, der Glauben als „Unterwerfen des Intellekts unter Geheimnisse“ sieht.[13]
Die Spannung und die „weltanschauliche“ Distanz zwischen Innenwelt und Außenwelt könnten kaum größer sein: Wenn Newman von der Kanzel der Universitätskirche St. Mary the Virgin in Oxford predigte, dann empfanden dies seine Zuhörer als ein Gipfelerlebnis des menschlichen Geistes. Newman sprach vom Gewissen, er verkündete die Botschaft von der Innerlichkeit des Menschen und von einer Berührung durch jene Wahrheit, die von Gott her kommt. Wie einst die Gelehrten in Oxford, so war hundert Jahre später Hartnagel von der Erhabenheit der Predigten Newmans fasziniert.
Hartnagels Außenwelt hingegen war die grausame Realität des Vernichtungskrieges. Auf dem Vormarsch nach Stalingrad sah Hartnagel abgründiges Elend, verursacht von mörderischem Rassenwahn, Ausrottung und Krieg. Im Angesicht des deutschen Vernichtungskrieges wurde so aus dem einst militärbegeisterten Offizier ein Gegner der Hitler-Diktatur. Er gewann humane Orientierung und Mitgefühl (compassion); er verschloss nicht die Augen vor dem Elend des Krieges. Seine Umkehr und Gesinnungsänderung verdankte er auch jener Lektüre, deren entscheidende Anstöße von Sophie Scholl ausgegangen waren.
„Allein den Betern kann es noch gelingen“
Im Advent 1942 las Christoph Probst von der Weißen Rose Reinhold Schneiders Buch „Macht und Gnade“. Als Probst in der Einleitung auf jenen Satz von den Menschen stieß, die „sich opfernd und scheiternd, für das Endgültige zeugten und zugleich für das Volk“, konnte er nicht ahnen, dass er selbst nur wenige Wochen später dieses Zeugnis des Gewissens ablegen würde. Denn für den katholischen Schriftsteller Schneider war die Seele des Menschen in einem höheren Sinne Schauplatz der Geschichte, als es die Schlachtfelder sind. Wenige Tage vor seiner Verhaftung im Februar 1943 las auch Willi Graf von der Weißen Rose einige Aufsätze aus „Macht und Gnade“. Bei der Lektüre ahnte Graf nach eigenem Bekunden Dinge, die verborgen waren. „Es ist eigentümlich, welche überragende Bedeutung Schneider für uns gewonnen hat, er ist wohl einer der ganz wenigen Menschen, die uns Wesentliches zu sagen haben."[14]
Für Reinhold Schneider war die quälende Suche nach Sinn und Wahrheit die existenzielle Leitlinie; er deutete Geschichte als Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. In seiner angeborenen Schwermut steckte freilich nicht nur eine erdrückende Dunkelheit, sondern auch die prophetische Hellsicht. Im Jahr 1936 hatte er zurückgefunden zu seinem angestammten katholischen Glauben. In diesem Jahr verfasste er jenes auch heute noch aktuelle Sonett: „Allein den Betern kann es noch gelingen, / das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten / und diese Welt den richtenden Gewalten / durch ein geheiligt Leben abzuringen.“ In der Zeit der Hitler-Diktatur gaben diese tiefsinnigen Zeilen ungezählten Menschen Mut, Kraft und Zuversicht.
Reinhold Schneider – Prophet in finsterer Zeit
Im Jahr 1938 erschien die Szenenfolge „Las Casas vor Karl V“, in welcher Unterdrückung, Rassenwahn und falsch verstandene Religiosität angeprangert wurden. Zehn Jahre nach dem Ende des NS-Regimes schaute er zerknirscht zurück auf die Judenpogrome vom 9./10. November 1938: „Am Tage des Synagogensturmes hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, daß das nicht geschah. Aber was tat ich selbst? Als ich von den Bränden, Plünderungen, Gräueln hörte, verschloss ich mich in meinem Arbeitszimmer, zu feige, um mich dem Geschehenden zu stellen und etwas zu sagen."[15]
Reinhold Schneider war ein einsamer Rufer; er war ein „Prophet in finsterer Zeit“ (Erich Przywara). Im Sonett „Der Antichrist“ hielt er diese Einsichten fest: „Erst wenn er aufwärts fahren will ins Licht / Wird ihn der Blitzstrahl aus dem höchsten Kreis / Ins Dunkel schleudern, wo er ausgegangen.“ Wegen seines Sonettbandes „Das Gottesreich in der Zeit“ (1942), von einem Pfarrer heimlich gedruckt und verbreitet, wurde er im April 1945 des Hochverrats angeklagt. Allein das Ende der NS-Gewaltherrschaft am 8. Mai 1945 rettete sein Leben.
Im Blick auf die Deutschen hegte er die – vergebliche – Zuversicht, „ein Volk zu sehen auf der Heimkehr zu Gott“. Weiterhin erhob er mahnend seine Stimme. Am 9. Oktober 1945, zum 100. Jahrestag von John Henry Newmans Aufnahme in die Kirche, hielt Reinhold Schneider in Freiburg den Vortrag „Newmans Entscheidung“.
Im Vorwort seines Buches „Weltreich und Gottesreich“ (1946) hielt der Autor dazu fest: „In viel höher gelegener, reiner Landschaft hat Newman die Zwietracht der beiden Reiche erlitten und überwunden. (…) Und zugleich stand Newman, der Bekenner, hellsten Bewusstseins in seinem Tag: er sah die Macht des Teufels heranstürmen mit einem gewaltigen Anspruch auf die Zukunft, eine Zeit, die er selber nicht mehr erleben werde, und der Bekenner hatte den Mut, im schroffsten Widerspruch zu den Vorstellungen und Hoffnungen seiner Zeitgenossen diese Macht als eine teuflische zu benennen. Durch seine Wende, sein Bekenntnis, sein Leben machte Newman den Feind sichtbar; wir meinen den großen Glaubensstreiter, den unerbittlichen Erwecker der Gewissen am Ende seines Lebens schon deutlich von einer Herrlichkeit umleuchtet zu sehen, die nicht von dieser Welt ist."[16]
Auszüge aus Schneiders Vortrag sollen die existenzielle Entschiedenheit und inhaltliche Tiefe belegen: „Nicht mehr auf den Trost komme es an beim Predigen, sondern auf die Erweckung des Verlangens nach Heiligkeit. (…) Als Newman 1833 auf Sizilien lebensgefährlich erkrankte, versicherte er zugleich: ,Ich werde nicht sterben, denn ich habe nicht gegen das Licht gesündigt. Ich habe ein Werk in England zu vollbringen.‘“
Schneider blickte auf Newmans Leben als das eines redlichen und begnadeten Dieners des Herrn, eines von furchtbarer Wahrhaftigkeit umleuchteten Mannes, der sich der Wahrheit entgegen kämpfte: „Das Wort des heiligen Augustinus: Securus judicat orbis terrarum, ruhevoll urteilt der Erdkreis, erleuchtete ihn wie ein Blitz. (…) Einsam wollte er auch sterben, als er den Tod fühlte, dem er so lange entgegengelebt hatte: ‚I can meet my end alone‘ sagte er den Priestern, die bei ihm ausharren wollten. Er wusste: er hatte nicht gegen das Licht gesündigt und würde darum nicht sterben in Ewigkeit.“
Gewissen der Nation – Gegner der Wiederbewaffnung
In der unmittelbaren Nachkriegszeit galt Reinhold Schneider als das „Gewissen der Nation“; zwei Jahre nach Stauffenbergs missglücktem Staatsstreich tat er im Gedenkwort zum 20. Juli diese Einsichten kund: „Über dem Gewissen ist keine Macht des Menschen, keine Pflicht: wird es nicht gehört, so erkrankt alles Leben, und der Feind des Menschen erlangt Gewalt. Wird die Macht nicht von Menschen guten Willens behauptet, so fällt sie dem Bösen zu."[17]
Im Jahrzehnt nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft appellierte er als bekennender Antimilitarist an seine Landsleute, nicht unmittelbar nach dem letzten grausamen Krieg schon wieder mit der Aufrüstung zu beginnen, sondern mit friedlichen Mitteln auf die Wiedervereinigung Deutschlands hinzuarbeiten. Sein christlich motivierter Kampf gegen die Wiederaufrüstung sowie seine apokalyptisch gefärbte Zivilisationskritik führten in den frühen fünfziger Jahren zu polarisierenden Konflikten. Als Gegner der Wiederbewaffnung wurde er von der Kirchenpresse totgeschwiegen.[18] „Wer den Frieden will in der Geschichtswelt“, sagte Schneider am 23. September 1956, als ihm in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis verliehen wurde, „kann dem Vorwurf der Torheit nicht entgehen. Es ist fast unvermeidlich, dass er in die Gesellschaft von Narren gerät. Aber besser, auf einem Narrenschiff zu reisen als auf einem Flugzeugträger.“ Schneiders moralische Autorität kennzeichnete der Konvertit Edzard Schaper mit den Worten „Deutschland hat ein Gewissen, solange Reinhold Schneider lebt.“
In der Schwermut und Krankheit der letzten Lebensjahre war Schneider nicht mehr imstande, Hoffnung und Trost zu spenden. Seine persönlichen Aufzeichnungen „Winter in Wien“ berühren in ihrer erschütternden Aufrichtigkeit auch den heutigen Leser; im letzten Satz ist vom „apokalyptischen Reiter“ die Rede. Reinhold Schneider starb am Ostersonntag 1958.
Der gebürtige Jude Paul Stern – ein unbekannter Heiliger
Zu Newmans Freunden gehörte auch der gebürtige Jude Paul Stern. „Und ich begriff, was Freunde gesagt hatten: wenn ihnen je ein Heiliger in den Weg gekommen sei, dann sei es Paul Stern."[19] Diese Einsicht stammt von dem großen Thomas-Gelehrten Josef Pieper (1904-1997). Im Oktober 1944 endete das Leben von Paul Stern, jenem unbekannten Heiligen, in den Gaskammern von Auschwitz.
Die Parallelen zur Lebensgeschichte der Heiligen Teresia Benedicta a Cruce (Edith Stein) sind offenkundig. Ihr Leben hatte bereits 1942 in Auschwitz geendet. Wie Edith Stein stammte auch Paul Stern aus einer jüdischen Familie. Er wurde im Dezember 1888 in Köln geboren. An den Universitäten in Bonn, Freiburg und Leipzig studierte er Archäologie und Philosophie, sein vertieftes Interesse galt den Fremdsprachen. Edith Stein besuchte die Universitäten in Breslau, Göttingen und Freiburg. Eine weitere Gemeinsamkeit: Paul Stern wie auch Edith Stein übertrugen Werke von Thomas von Aquin sowie von John Henry Newman ins Deutsche. Die gelehrte Karmelitin übersetzte die „Untersuchungen über die Wahrheit“ und auch „De ente et essentia. Über das Seiende und das Wesen“. Die Konvertitin und Heilige übertrug auch Newmans „Briefe und Texte zur ersten Lebenshälfte“ sowie dessen Vorlesungen „Die Idee der Universität“ ins Deutsche.
Auf Umwegen fanden beide, Edith Stein und Paul Stern, ihren Weg zur katholischen Kirche. Paul Stern konvertierte zunächst am 8. April 1921 in der Leipziger Peterskirche zur lutherischen Konfession. Ein Taufpate war sein Übersetzerkollege Hans Nachod, ebenfalls ein konvertierter Jude. Im Juni 1938 freilich verließ Stern die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsen und wurde katholisch. Bevor Nachod im Jahr 1939 nach Amerika emigrieren konnte, war er in den KZs Dachau und Buchenwald inhaftiert. Mitte der 30er Jahre hatten Nachod und Stern „Die Summe wider die Heiden“ des Thomas von Aquin ins Deutsche übertragen; der Verleger dieser drei Bände war der jüdische Konvertit Jakob Hegner. Über die Begegnung mit dem Kirchenlehrer des Mittelalters fand Paul Stern „den Zugang zu dem wahren Verhältnis zur letzten Wahrheit, der reinen Wirklichkeit, zu Gott und zu den Heilstatsachen der Erlösung“, wie er es einmal selbst aussprach.
Als das NS-Regime die Juden zunehmend ausgrenzte und verfolgte, siedelte Edith Stein mit ihrer Schwester Rosa im November1938 in den Karmel im niederländischen Echt über. Und im September 1938 hatte Paul Stern seine Stellung am Institut für Universalgeschichte der Universität Leipzig verloren. Trost fand er bei Newman. Denn nach jenen Tagen, da ihm der Zutritt zur Universität verwehrt wurde, schrieb er seine Übersetzung von Newmans „Traum des Gerontius“ aufs Neue in einer schönen und klaren Handschrift nieder. Hier ein Auszug: „Und seines Meisters Wunden selbst / Sie brannten sich ihm ins Fleisch / Der ewigen Liebe Flamme brennt verzehrend / Eh sie verwandelt.“
Auch nach den Pogromen im November 1938 lehnte er es ab, Leipzig zu verlassen. Er musste ins „Ghetto“ ziehen, wegen seiner Ehe mit einer Nicht-Jüdin brauchte er aber den gelben Stern nicht zu tragen. Er stand weitgehend mittellos da. Seine Arbeit bestand nun darin, auf den Müllfeldern der Stadt Leipzig unter Aufsicht Metallteile aus dem Abfall zu buddeln. In dieser Notlage wurde er von den Priestern des Leipziger Oratoriums unterstützt. Dazu zählten Pfarrer Theo Gunkel, der sein Noviziat im Oratorium Birmingham verbracht hatte, Kaplan Josef Gülden, der zur Liturgischen Bewegung gehörte, sowie der Newman-Gelehrte Werner Becker. Die dortige Bibliothek war für Stern eine letzte Stätte der geistigen Zuflucht.
Im Sommer 1942 besuchte Josef Pieper die Oratorianer in Leipzig. Dort begegnete er auch Paul Stern: „Mir gegenüber saß ein heiter-gelassener Mensch, der nichts von Bitterkeit wusste, nicht einmal, so schien es, von Traurigkeit. Wir sprachen über Thomas von Aquin. Übrigens vermisse er ein wenig mein kleines Buch über die Hoffnung, das ihm abhanden gekommen sei. Doch als ich ihm dann, nicht ohne einige Beschämung, ein neues Exemplar hierher, ins Oratorium, zu schicken verspreche, winkt er ab: Ich brauche es gar nicht mehr."[20] Am 14. Januar 1944 wurde Paul Stern verhaftet und zusammen mit anderen Juden in einem Viehwagon ins KZ Theresienstadt transportiert. Am 28. Oktober 1944 begann sein letzter Weg in die Gaskammern von Auschwitz. Dort verlieren sich seine Spuren…
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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[1] Susanne Hirzel: Vom Ja zum Nein. Eine schwäbische Jugend 1933 bis 1945, Tübingen 2000, 131.
[2] Vgl. Jakob Knab: Fritz Hartnagel. Vom Wehrmachtsoffizier zum Ostermarschierer; in: Detlef Bald/Wolfram Wette (Hg.): Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges, Friedenskonzeptionen in Westdeutschland 1945-1955, Essen 2008, 123-137.
[3] Brief vom 26. Juni 1942, in: Sophie Scholl/Fritz Hartnagel: Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937-1943, hrsg. von Thomas Hartnagel, Frankfurt am Main 2005, 368.
[4] Diese Entdeckung ist folgerichtig, denn in der Neuzeit findet der augustinische Geist, der aus der Intuition und aus der persönlichen Betroffenheit heraus die Wahrheit sucht, in Newman seine volle Entfaltung. Man kann seine Lebensgeschichte und sein Werk als einen einzigen großen Kommentar zur Frage des Gewissens bezeichnen.
[5] Brief vom 30. Juli 1942, in: Briefwechsel, 382.
[6] Brief vom 4. Juli 1942, in: Briefwechsel, 374.
[7] Ebd., in: Briefwechsel, 375.
[8] John Henry Kardinal Newman: Zur Philosophie und Theologie des Glaubens, I. Teil (= Ausgewählte Werke, hrsg. von Matthias Laros), Mainz 1936.
[9] „Das ist unser Ruhm, das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfalt (des Herzens) und Aufrichtigkeit vor Gott – nicht in fleischlicher Weisheit, sondern in Gnade Gottes – in dieser Welt, und vorzüglich bei Euch, gehandelt haben“ (2 Kor 1,12).
[10] Newman: Zur Philosophie, 135.
[11] Newman: Zur Philosophie, 142.
[12] Brief vom 4. Juli 1942, in: Briefwechsel, 375.
[13] Newman: Zur Philosophie, 154.
[14] Willi Graf, München: Schreiben an Marita Herfeldt vom 2. Februar 1943.
[15] Reinhold Schneider: Verhüllter Tag. Bekenntnis eines Lebens, Freiburg 1954, 40.
[16] Reinhold Schneider: Vorwort, in: Ders.: Weltreich und Gottesreich, München 1946, 10f.
[17] Reinhold Schneider: Gedenkwort zum 20. Juli, Freiburg i. Breisgau 1947, 19f.
[18] Weiterführend hierzu Anselm Doering-Manteuffel: Kirche, Katholiken und die Wiederbewaffnung in den frühen fünfziger Jahren. Zum Umfeld des „Falles Reinhold Schneider“; in: Ekkehard Blattmann/Klaus Mönig (Hg.): Über den „Fall Reinhold Schneider“, München 1990, 7-26.
[19] Josef Pieper: Noch wusste es niemand. Autobiografische Aufzeichnungen 1904-1945, München 1976, 125.
[20] Josef Pieper: Noch wusste es niemand, 124f.
Das Ulrichsjubiläum als Impuls für das „Apostolat des Ohres“
Der demütige Stil Gottes
Mit einem feierlichen Gottesdienst in der Kirche St. Ulrich von Seeg im Allgäu eröffnete der Augsburger Bischof Dr. Bertram Meier am 28. Oktober 2022 offiziell den Weg der geistlichen Vorbereitung auf das große diözesanweite Ulrich-Doppeljubiläum 2023/24. Musikalisch wurde die Heilige Messe von den Augsburger Domsingknaben gestaltet. Bischof Meier predigte über das Jubiläumsmotto „Mit dem Ohr des Herzens“ und rief dazu auf, eine hörende Kirche zu werden, offen füreinander, an erster Stelle aber für Gott. Nach dem Vorbild des hl. Ulrich lasse er sich Weisung und Richtung vom Papst geben und höre bei seinen Entscheidungen besonders auch auf die Stimme seines Gewissens. Zur Vorbereitung auf das „Doppeljubiläum 1100 Jahre Bischofsweihe und 1050 Jahre Tod des hl. Ulrich“ wird bis Juni 2023 an jedem letzten Freitag im Monat jeweils um 18.30 Uhr in Seeg eine Heilige Messe gefeiert. Alle diese Gottesdienste werden von K-TV live übertragen.
Von Bischof Bertram Meier, Augsburg
Über dem großen Ulrichdoppeljubiläum steht das Motto: Mit dem Ohr des Herzens hören. Um das Hören soll es gehen! Was wir doch nicht alles hören? Was da nicht alles auf uns einströmt? Nachrichten und Informationen rund um die Uhr. Newsletter, Social Media und Internet. So viele Stimmen, Meinungen und Statements: Welche ist richtig? Was ist nur Fake-News? Wo lassen wir uns täuschen? Wir sehen und hören viel… Aber hören wir auch wirklich zu?
Kleinkarierte Muster unseres Glaubens und Denkens überwinden
Die Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine und der daraus folgende Krieg, Angst vor Inflation und Rezession, Knappheit von Gas, Energie und Strom: Dies und vieles andere mehr nimmt uns mächtig in Beschlag. Es hat uns im Griff. Die Stimmung pendelt zwischen Depression und Aggression.
Da verschwindet plötzlich anderes sich sonst wichtig gebärdendes Stimmengewirr, das unsere Ohren und Herzen zustopft. Menschen in existentiellen Notlagen rücken auf einmal ins Zentrum, global, europäisch, deutsch und auch hier bei uns vor Ort in Bayern. Wir merken: Es reicht nicht, den schwäbischen Schrebergarten zu pflegen. Die Kirchturmpolitik allein kann es nicht sein. Jetzt haben wir eine große Chance: Wir können die oft kleinkarierten Muster unseres Glaubens und Denkens überwinden, die Weite und Tiefe des Lebens aufspüren; ja, wir müssen über unsere eigenen Grenzen hinauswachsen.
Vom Papst empfing der hl. Ulrich Richtung und Weisung
Der hl. Ulrich war ein solcher Mensch, den es nicht in Wittislingen, Dillingen und St. Gallen gehalten hat. Er ist immer wieder über die Alpen nach Rom gereist – weniger um die kulinarischen Spezialitäten zu genießen, sondern um sich an den Gräbern der Apostelfürsten Petrus und Paulus geistlich zu stärken: Der Papst war für seinen Hirtendienst Direktion und Inspiration, der Nachfolger Petri gab seinem Dienst als Bischof von Augsburg Richtung und Weisung. Auch sonst war der hl. Ulrich viel unterwegs. Er wirkte als Reisender in Sachen Christus. Wo immer er hinkam, war Ulrich zunächst einmal ein Hörender. Er hörte auf die Nöte seiner Diözesanen. Auf seinen Reisen gab es stets eine Armenspeisung. Im Bistum hörte er auf die Anliegen seiner Priester und hielt Synoden ab, bei denen er sich über wichtige Fragen der Seelsorge und der Liturgie beriet.
Ein berühmter Arzt, der gewohnt war, seelische Wunden zu heilen, wurde mit der Frage konfrontiert, was denn das größte Bedürfnis der Menschen sei. Er antwortete: „der grenzenlose Wunsch, gehört zu werden“, Gehör zu finden, auf ein offenes Ohr zu stoßen. Ein Wunsch, der häufig verborgen bleibt, der aber jeden herausfordert, der berufen ist, Erzieher oder Ausbilder zu sein, oder der auf je eigene Weise die Rolle eines Kommunikators hat: Eltern und Lehrer, Hirten und pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Informationsfachleute und die vielen, die im sozialen und politischen Bereich tätig sind.
Die Initiative liegt bei Gott, nicht bei uns Menschen
Aus der Bibel lernen wir, dass Hören nicht nur die Bedeutung einer akustischen Wahrnehmung hat. Hören ist wesentlich verbunden mit der dialogischen Beziehung zwischen Gott und Mensch. Das erste Gebot in der Bibel fängt mit den Worten an: Schma Jisrael Horch Israel! Israel höre! – Die Initiative liegt bei Gott, nicht bei uns Menschen, die wir selbst gern das große Wort führen und andere mit unseren Worten mitunter „zumüllen“. Das Hören entspricht dem demütigen Stil Gottes. Es ist jenes Handeln, das Gott erlaubt, sich als der zu offenbaren, der im Sprechen den Menschen nach seinem Bild schafft und ihn im Hören als Gesprächspartner anerkennt. Gott hat uns Menschen gern. Deshalb richtet er sein Wort an uns. Er „neigt sein Ohr“ uns zu, um uns anzuhören. Wenn Gott schweigt und zuhört, dann hat der Mensch das Wort. Dann betet er.
Schauen wir auf uns! Wir alle haben Ohren, aber auch dem, der ein perfektes Gehör hat, gelingt es zuweilen nicht, dem anderen zuzuhören und ihn oder sie anzuhören. Es gibt eine innere Taubheit, die schlimmer ist als die Schwäche der Sinnesorgane. Denn der wahre Sitz des Hörens ist das Herz. König Salomo erwies sich – obwohl er noch sehr jung war – als weise, weil er den Herrn bat, ihm ein „hörendes Herz“ zu schenken (1 Kön 3,9). Auch der hl. Augustinus verbindet Ohren und Herz. Er wünscht sich, mit dem Herzen zu hören (corde audire), die Worte nicht nur mit den Ohren aufzunehmen, sondern geistig im Herzen zu wägen: „Habt nicht das Herz in den Ohren, sondern die Ohren im Herzen!“ Und Franz von Assisi mahnte seine Minderbrüder: „Neigt das Ohr eures Herzens.“
Es dürfen sich keine ideologischen Lager bilden
Ich wünsche mir, dass wir immer mehr zu einer hörenden Kirche werden. Gerade im Hinblick auf den Synodalen Weg, auf dem wir uns in Deutschland befinden, wird es wichtig sein, einander wohlwollend zuzuhören, einander mit den jeweiligen Wünschen und Sorgen anzuhören und vor allem unser Ohr dem Wort Gottes zuzuneigen.
Papst Franziskus findet es „traurig, wenn sich auch in der Kirche ideologische Lager bilden, das Zuhören verschwindet und fruchtlose Opposition an seine Stelle tritt.“ Als Methode für gutes aufmerksames Zuhören möchte ich den evangelischen Theologen und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) zitieren: „Mit den Ohren Gottes sollen wir hören, damit wir mit dem Worte Gottes reden können.“ Und Bonhoeffer fährt fort: „Wer seinem Bruder (oder seiner Schwester) nicht zuhören kann, der wird auch bald Gott nicht mehr zuhören können.“
Gott bewahre uns vor der Taubheit gegenüber der Stimme Gottes! Synodale Kirche fängt dort an, wo wir wieder anfangen, einander das Ohr zu schenken – nicht um uns zu belauschen oder auszuhören, geschweige denn uns zu verhören, sondern damit wir uns im Hören bestärken und trösten.
Offen für alle möchte ich eine synodale Diözese formen
Als Bischof bin ich dankbar für die vielen, die ich hören darf, für die Gremien, die mir ehrliche Resonanzgruppen sind und mich beraten, für die Teams, die mir ein Echo geben. Ohne engagierte Frauen und Männer, die mir auf Augenhöhe begegnen, könnte ich meinen Dienst als Oberhirte nicht tun. Ich bitte aber auch um Verständnis, dass ich mir nicht alles, was mir gesagt und geraten wird, zu Eigen machen kann. Ein Bischof hört viel, aber die erste Instanz, deren Stimme bei seinen Entscheiden Gewicht haben muss, sind das Wort Gottes und das Gewissen, das ihm eingepflanzt ist. Ich will mit dem Herzen hören – auf Gott und auf die Gläubigen. Und ich verspreche allen, die meiner Seelsorge anvertraut sind: Gern schließe ich mich der Bitte des Königs Salomo an: Schenke Deinem Diener Bertram ein hörendes Herz. Umgekehrt erwarte ich mir die Tugend der Diskretion: Beratung macht nur Sinn, wenn sie sich paart mit Verschwiegenheit. Die lässt mitunter sehr zu wünschen übrig. Viele können nicht schweigen und wundern sich dann, wenn sie nicht mehr gehört werden. Und wohlgemerkt: Mancher, bei dem ich Rat einhole, merkt vielleicht gar nicht, dass ich ihn um seinen Rat gebeten habe.
Auf diese Weise möchte ich unser Bistum immer mehr zu einer synodalen Diözese formen. Gemeinsam machen wir uns auf einen geistlichen Weg. Gemeinsam gehen wir unser Jubiläum an.
Der hl. Ulrich ist uns dabei ein wichtiger Wegweiser. Bitten wir darum, dass durch diesen synodalen Weg, mit dem wir uns als Bistum auf das große Festjahr vorbereiten, unsere Gemeinschaft noch fester und stärker werde. „Denn die Gemeinschaft ist nicht das Resultat von Strategien und Programmen, sondern sie ist aufgebaut auf das gegenseitige Zuhören unter Brüdern und Schwestern.“ Darum geht es: „das Apostolat des Ohres“.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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„Kirche in Not“ macht am „Red Wednesday“ auf verfolgte Christen aufmerksam
Verborgenes Leid der Märtyrer von heute
Jedes Jahr Ende November werden Kirchen und öffentliche Gebäude in blutrotes Licht getaucht. Der „Red Wednesday“, den das weltweite katholische Hilfswerk „Kirche in Not“ ins Leben gerufen hat, erinnert an das Leid verfolgter Christen und macht auf Verstöße gegen die Religionsfreiheit aufmerksam. 2022 machten in Deutschland rund 130 Kirchen mit. Zentrale Veranstaltungen fanden unter anderem in den Kathedralen von Passau, Regensburg, Augsburg, Freiburg und Mainz statt. Das Gedenken an die Märtyrer von heute ist bitter nötig. Weltweit leiden Menschen, weil sie ihren Glauben nicht leben können. Florian Ripka, Geschäftsführer von „Kirche in Not“ Deutschland, weist auf die zunehmende Gefährdung von Christen weltweit hin.
Von Florian Ripka
Der „Red Wednesday“ ist eine internationale Aktion, die 2015 bei „Kirche in Not“ in Brasilien begonnen hat. Andere Länder schlossen sich an. Allein auf den Philippinen wurden an einem „Red Wednesday“ über 1000 Kirchen rot angestrahlt. Ein echtes Wagnis in einem Land, das in Teilen unter islamistischem Terror leidet. Auch in Deutschland gibt es die Aktion seit einigen Jahren – sie findet jedes Jahr mehr Resonanz. Im November 2022 machten rund 130 Pfarreien mit.
Religionsfreiheit: Ein Menschrecht zweiter Klasse?
Dieses öffentliche Zeichen am „Red Wednesday“ ist wichtiger denn je. Denn Christenverfolgung findet statt, jeden Tag. Überall dort, wo Christen verfolgt sind, ist ein Menschenrecht in hohem Maße betroffen: die Religionsfreiheit. Manchmal erweckt die fehlende öffentliche Aufmerksamkeit den Eindruck, als ob die Religionsfreiheit ein Menschenrecht zweiter Klasse sei. Aber es ist ein Gebot der Menschenwürde, dass sich Menschen frei für oder gegen den Glauben entscheiden können. Und: Gläubige dürfen nicht daran gehindert werden, ihren Glauben zu praktizieren.
Davon ist die Welt leider weit entfernt. „Kirche in Not“ bringt regelmäßig einen Bericht über die weltweite Lage der Religionsfreiheit heraus; eine Neuauflage erscheint im Frühjahr 2023. „Kirche in Not“ stellt darin fest, dass in rund einem Drittel der Länder der Welt Menschen ihre Religion nicht ungehindert ausüben können. In diesen Ländern leben rund zwei Drittel der Weltbevölkerung. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist schwer bedroht.
Ursachen der Verfolgung: Autoritäre Regime, islamistischer Terror, religiöser Nationalismus
Die Verfolgung von Christen und anderen religiösen Minderheiten hat drei Hauptursachen: Zum einen sind es autoritäre Regime wie in China oder Nordkorea, die das religiöse Leben stark einschränken. In China ist die Trennung von Staat und Religion zwar in der Verfassung verankert, doch gelten Religionen als Konkurrenz zur kommunistischen Staatsideologie. Es findet eine massive Überwachung statt.
Der chinesische Staat hat ein Sozialkreditsystem eingeführt, das jeden Bürger individuell für sein Verhalten bestraft, wenn er sich den Verordnungen der kommunistischen Partei widersetzt. Umgekehrt werden jene belohnt, die der Ideologie folgen.
Die zweite Bedrohung der Religionsfreiheit ist der islamistische Extremismus. In den Ländern der afrikanischen Sahelzone werden Menschen, die die strenge Auslegung des Islam nicht befolgen, von Dschihadisten mit dem Tode bedroht.
In Mosambik, Nigeria, Kamerun und anderswo entführen oder töten die Kämpfer jene, die ihre Weltsicht nicht akzeptieren. Ziel ist es, grenzübergreifende dschihadistische Netzwerke zu errichten und ein internationales Kalifat aufzubauen. Inzwischen reichen diese Netzwerke von Nordafrika bis über den Äquator und in den Nahen Osten bis zu den Philippinen.
Die dritte Bedrohung der Religionsfreiheit ist weniger bekannt, aber nicht weniger bedrohlich für Christen und andere religiöse Minderheiten: Es handelt sich um den ethno-religiösen Nationalismus.
Vor allem in asiatischen Staaten sind die wachsenden nationalistischen Bewegungen ein immer größeres Problem. In Ländern wie Indien, Sri Lanka oder Myanmar sind religiöse oder ethnische Minderheiten häufig Bürger zweiter Klasse. Sie werden im Beruf, im Bildungswesen und bei staatlichen Leistungen ausgegrenzt und diskriminiert.
In Indien gibt es zwar keine systematische Verfolgung durch den Staat. Religiöse Minderheiten sind aber besorgt über die Anti-Bekehrungsgesetze, die den Glaubenswechsel zu anderen Religionen als dem Hinduismus verbieten. Radikale Hin-du-Aktivisten gehen insbesondere gegen Christen vor und beschuldigen sie, Angehörige niederer Kasten mit Hilfsangeboten zur Konversion bewegen zu wollen.
Papst Franziskus: „Höfliche Verfolgung“ in Europa
Und wie steht es um die Religionsfreiheit bei uns, in Europa? Papst Franziskus prägte bereits 2016 den Begriff der „Höflichen Verfolgung“. Glaubensüberzeugungen würden demnach unter dem Deckmantel einer vorgeblichen Toleranz aus dem öffentlichen Leben in die geschlossenen Räume von Kirchen, Synagogen oder Moscheen verbannt.
Gläubige erfahren mitunter Diskriminierung und Intoleranz im Alltag. Besonders wenn es um Meinungsfreiheit in Bezug auf den Glauben geht, wächst der Druck auf Christen und Angehörige anderer Religionen stetig.
Hilfe für Verfolgte: Gebet, Information, Spende
Die Religionsfreiheit weltweit hat einen schweren Stand. Viele Christen und Angehörige anderer Religionen werden wegen ihres Glaubens bedroht und verfolgt. Was können wir tun? Die Arbeit des weltweiten Hilfswerks „Kirche in Not“ steht auf drei Säulen: Gebet, Information und Spende.
„Kirche in Not“ unterstützt Jahr für Jahr rund 5000 Projekte in über 132 Ländern. In vielen Weltregionen ist es gerade die Kirche, die trotz Terror, Krieg und Verfolgung bei den Menschen bleibt. Ein Bischof aus der Zentralafrikanischen Republik bekannte gegenüber „Kirche in Not“: „Wir bleiben bei den Menschen. Unsere Beschützer von Polizei und Militär sind schon lange verschwunden und haben uns geraten, ebenso wegzugehen. Aber was ist dann mit unseren Leuten? Wir leben mit ihnen und wir sterben mit ihnen.“
Diesen Helden des Glaubens beizustehen: dazu ist der „Red Wednesday“ ein sichtbares Signal. Unsere Aufgabe als Christen ist es das ganze Jahr über, für unsere bedrängten Glaubensgeschwister zu beten und ihre Last ein wenig leichter zu machen. Weitere Informationen zum „Red Wednesday“: www.kirche-in-not.de/rw
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
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700 Männer machten sich 2022 im deutschen Sprachraum mit „Exodus90“ auf den Weg
Eine außergewöhnliche Auferstehungserfahrung
„Wir sind nicht für ein bequemes Leben erschaffen worden, sondern für das Große“ (Benedikt XVI.). Unter diesem Motto verlassen immer mehr Männer, darunter auch Priester, ihre persönliche Komfortzone. Sie finden in „Exodus90“ einen wirksamen Weg aus der Gefangenschaft schlechter Gewohnheiten in eine größere „Freiheit der Kinder Gottes“. Über 700 Männer begannen im deutschen Sprachraum Anfang des Jahres 2022 mit diesem Programm und schlossen es am Ostermorgen mit einer außergewöhnlichen Auferstehungserfahrung ab. Viele berichteten, wie sie am Fest aller Feste ein befreiendes Halleluja in ihrem Herzen empfanden und eine unvergleichlich tiefe Freude verspürten. Die eigenen Leidenschaften in gesunde Bahnen gelenkt, erlebten sie echte innere Freiheit und fühlten sich wie „von oben neu geboren“.
Die vielleicht wichtigste Frucht des Programms ist wohl, dass es vielen gelingt, den oft vergeblich gefassten Vorsatz zu einem geregelten Gebetsleben durch Exodus endlich konsequent und erfolgreich umsetzen zu können. In den drei Monaten des „Exodus90“ werden darüber hinaus Kräfte und Zeit freigesetzt, die dann der Ehefrau, den Kindern und allen Menschen, die uns Männern anvertraut sind, zugutekommen.
In den „Bruderschaften“ reifen Früchte authentischer, tiefer und tragfähiger Männerfreundschaften, die für eine volle Entfaltung der Persönlichkeit äußerst wertvoll sind. Einige Männer entschlossen sich sogar für einen geistlichen Beruf. Andere wurden von Süchten und Abhängigkeiten, wie Pornokonsum und deren Folgen, befreit. Das wiederum trug zu einer besseren Kommunikationskultur in vielen Ehen und Familien bei.
Zeugnis von Dr. Michael P.W. Moos
Mit „Exodus 90“ aus der Corona-Krise
EXODUS 90 ist eine spirituelle Herausforderung für Männer, die uns in die innere Freiheit führen will. An welcher Stelle steht mein Glaube im Alltag? An welcher Stelle sollte er stehen? Seit dem Anbeginn der Welt hat Gott immer wieder Männer dazu berufen, ihm zu folgen.
Als Männer leben wir in einer Welt, die unseren Glauben permanent zu untergraben versucht. Wir werden dazu gedrängt, Arbeit, Sport, Familie, Reparaturen und vieles mehr jetzt gleich zu erledigen. Oft nehmen uns die äußeren Umstände, häufig genug nehmen wir uns aber auch selbst die Freiheit, unser Leben bewusst zu gestalten und die uns wichtigen Dinge an die erste Stelle zu setzen. Vieles scheint unaufschiebbar oder unabänderlich. Wir sind Gefangene unseres Alltags. Erst wenn dann am Ende des Tages noch Zeit übrig ist, bleibt Zeit für Gott – oft genug bleibt keine Zeit.
Exodus hat mein Leben auf den Kopf gestellt und mehr Freiheit in die ganzen alltäglichen Zwänge gebracht, so wie Gott die Israeliten aus Ägypten heraus und in das verheißene Land geführt hat.
Drei Elemente – Zeit für Gott (Gebet), Taten für Gott (Askese) und Gemeinschaft für Gott (Bruderschaft) – prägen den Weg von Exodus90. Als Teil einer Bruderschaft, die sowohl herausfordert als auch trägt und beflügelt, half sie mir, mehr der Mann zu werden, der ich in Gottes Augen sein soll.
Meine Bruderschaft von acht Männern, katholisch und nicht katholisch, ging gemeinsam diesen Weg, der uns zu echten Freunden zusammenschweißte. Die Herausforderungen des Alltags – die asketischen Übungen – waren anfangs eine Überwindung, aber sie haben mich auf das vorbereitet, was später kam. Ich habe gelernt, dass ich nicht alles im Leben kontrollieren kann und muss. Ich durfte während meines Exodus90 lernen, dass der Herr mich mit allem versorgt und mir alles zur rechten Zeit geben wird. Ich lernte dem Herrn zu vertrauen.
Der Aschermittwoch ist das Bergfest auf dem Weg des Exodus90. Kurz danach brach im März 2020 die Corona-Pandemie über uns herein. Plötzlich ging gar nichts mehr. Aber der regelmäßige Kontakt in meiner Bruderschaft zeigte mir, dass ich nicht allein war – wir halfen und stärkten uns gegenseitig, auch wenn wir unsere Bruderschaftstreffen zeitweilig nur virtuell abhalten konnten.
Die tägliche Rückbesinnung auf das rettende Eingreifen Gottes bewahrte mich davor, in der Pandemie vor Angst zu erstarren. Wenn du beständig das Handeln Gottes vor Augen hast, bist du weniger geneigt, einem kleinen Virus die Herrschaft über dein Leben oder sogar die ganze Welt zuzugestehen. Die asketischen Übungen hatten mich darauf vorbereitet, meine Bequemlichkeit aufzugeben und äußerliche Zwänge zu ertragen. Die Einschränkungen des Lockdowns waren einfach eine unerwartete weitere asketische Übung, durch die ich mich mit den Leiden Jesu verbinden konnte.
Der Leidensweg des Herrn zum Tod am Kreuz in Einsamkeit und Schmerz schien auf einmal bei den einsam sterbenden Corona-Patienten ein modernes Gesicht zu bekommen. Wo ist der Sinn in all diesem Leid? Es tat gut, meine Zweifel und Ängste in der durch Exodus90 verordneten Zeit des stillen Gebets dem Herrn vor die Füße zu legen. Meine tägliche Zeit mit Gott gab mir Zuversicht und Hoffnung, die auch angesichts von Krankheit und Tod nicht verloren ging.
Nach diesen 90 Tagen tiefer innerer Vorbereitung feierten wir ein besonders intensives Osterfest, die Auferstehung Jesu Christi – der Tod, selbst wenn er durch Corona kommt, hat nicht das letzte Wort in unserem Leben!
Zeugnis von Robert Johannigmann
Durch „Exodus 90“ zur geistlichen Berufung
Die Frage nach meiner geistlichen Berufung kam zum ersten Mal durch ein Beichtgespräch Anfang 2020 in mein Leben. Aber aufgrund der Beziehung zu meiner Freundin habe ich dieser Frage wenig Raum geschenkt und mich kaum damit beschäftigt. Im Dezember 2021 ist diese Beziehung nach vier Jahren freundschaftlich auseinander gegangen und im Januar 2022 habe ich mich zum zweiten Mal auf das Abenteuer Exodus90 eingelassen.
Im täglichen Gebet durfte ich die unbeschreibliche Liebe Gottes neu und immer intensiver erfahren und am Vorbild Christi meinem Leben eine neue Richtung geben. Exodus bietet einen Weg der Vorbereitung auf das Osterfest. Dabei verlieh mir eine starke Männergemeinschaft Ausdauer, Mut und Kraft, um im Kampf gegen meine eigenen Schwächen entscheidende Hürden zu nehmen. Eine echte und offene Männertruppe kann einen so richtig aus der Reserve holen.
Schon während des Exodus, und dann besonders nach Ostern, als ich im Gespräch Gott und in der geistlichen Leitung über einen geistlichen Beruf nachdachte, wurde ich dabei von einem überwältigenden und starken Frieden und einer tiefen Freude erfüllt. Ich konnte mit einer Leichtigkeit im Herzen und völlig ohne Verlustängste oder Sorgen um meine Zukunft meinen bisherigen Beruf als Mechatroniker kündigen und werde im Oktober 2022 ein Studium in Theologie beginnen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
„Neue Psalmen“ in Wort und Melodie
Mit Gott im Rücken
Michael Peter Fuchs stammt aus der Schweiz und hat dort als Gymnasiallehrer für Deutsch und Philosophie gearbeitet. Später zog er mit seiner Familie in eine Basisgemeinde im Norden Deutschlands. Sein Projekt „Neue Psalmen"[1] will nicht den Anspruch erheben, biblische Inspiration zu sein, sondern eine Gebetshilfe bieten.
Von Michael Peter Fuchs
Schon mein ganzes Leben lang bin ich fasziniert von diesem großen, absoluten Geheimnis, das wir „Gott“ nennen. Es hat mich sensibilisiert für die Frage, wie ich leben soll, um diesem Geheimnis näher zu kommen. Von meinen Erfahrungen mit diesem Geheimnis, mit mir und meiner Mitwelt – davon handeln meine „Neuen Psalmen“ in Wort und Melodie.
Warum „Neue Psalmen“? Mit ihnen ergänze ich das biblische Buch der Psalmen, meine Gebetsschule, um 30 weitere, „neue Psalmen“, zähle also von 151 bis 180. Formale und inhaltliche Bezüge zu den biblischen Psalmen machen jedoch deutlich, dass ich als Christ auf dem Judentum gegründet bin/bleibe; gleichzeitig bringe ich aber auch etwas „Neues“ ein: das Bekenntnis zu Jesus Christus. Insofern ist die Einstufung der „Neuen Psalmen“ als „neutes-tamentlich“ korrekt.
Mit den „Neuen Psalmen“ stelle ich mich nicht über die Bibel, sondern in die Bibel hinein in bester bibeldidaktischer Tradition, um deutlich zu machen: Wir alle sind eingeladen, die Bibel „weiterzuschreiben“, indem wir unsere eigenen Lebens- und Glaubensgeschichten mit denen der Bibel verbinden, weil Gott seine/ihre Geschichte mit jedem/jeder von uns auch heute schreibt. Nichts sehnlicher wünsche ich mir, als dass die „Neuen Psalmen“ einen Raum der Begegnung mit diesem absoluten Geheimnis schaffen, der zur Begegnung einlädt – mit unseren Nächsten wie mit uns selbst; einen suchend-offenen Raum, in welchem die Leser- und Zuhörerschaft der „Neuen Psalmen“ ermutigt wird, ihre eigene Gebetssprache und -melodie zu finden.
Die „Neuen Psalmen“ sind ein Projekt der Suche nach einer authentischen, glaubwürdigen Verkündigung der Frohen Botschaft in der heutigen Zeit, ein missionarisches Projekt: Allein oder begleitet von anderen Musikern mache ich mich überall dorthin auf den Weg, wo Menschen guten Willens den „Neuen Psalmen“ ihre äußeren und inneren Türen öffnen.
Ihren „Sitz im Leben“ haben die „Neuen Psalmen“ in der kath. Kirchengemeine St. Heinrich in Kiel. Im Rahmen von „Gemeindekonzerten“ in St. Heinrich, Gottesdienst-Einsätzen und Konzerten entwickelte sich das Projekt „Neue Psalmen“ in den letzten Jahren als eine „neue“ Art der Verkündigung. Es gibt die „Neuen Psalmen“ als Buch und – in Auswahl – als CD, in Schweizerdeutsch und Hochdeutsch.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 12+1/Dez.+Jan. 2022/23
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Michael Peter Fuchs: mit gott im rugge – Neue Psalmen in Schweizerdeutsch und Hochdeutsch. Als Buch (19,80 Euro) und CD (18,00 Euro) beim Autor bestellbar: Peter Fuchs, Zum Wohld 4, D-24214 Tüttendorf, peter-fuchs@gmx.de
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