Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Papst Franziskus hat einen Brief an alle Eheleute geschrieben. Veröffentlicht wurde er am Fest der Heiligen Familie, dem 26. Dezember 2021. Als Anlass wird die schwierige Situation genannt, der die Ehepaare und Familien angesichts der anhaltenden Pandemie auf der ganzen Welt ausgesetzt sind. Die heutigen Herausforderungen müssten aus dem christlichen Glauben heraus bewältigt werden.

Das Dokument stellt verschiedene Impulse zusammen, die Papst Franziskus den Eheleuten im Lauf seines Pontifikats mit auf den Weg gegeben hat. Zitiert werden Äußerungen des Papstes aus den vergangenen neun Jahren, Ansprachen, Botschaften, Katechesen, die Enzyklika Fratelli tutti, das Apostolische Schreiben Evangelii gaudium, das Apostolische Schreiben Patris corde und vor allem das Nachsynodale Apostolische Schreiben Amoris laetitia. So gesehen hat der Brief vor allem pastoralen Charakter.

Doch das ganze Schreiben zielt auf das Ehesakrament ab. Die christlichen Eheleute sollten sich der Gnade dieses Sakraments bewusst werden und sie im täglichen Leben verwirklichen. Ehe könne heute nur gelingen, wenn die Ehepartner ständig aus dieser Quelle schöpften. „Die Berufung zur Ehe beinhaltet die Aufgabe, ein wankendes – aber aufgrund seiner sakramentalen Wirklichkeit dennoch sicheres – Schiff auf einer manchmal rauen See zu steuern. Wie oft würdet Ihr, wie die Apostel, am liebsten sagen oder vielmehr schreien: ‚Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?‘ (Mk 4,38). Vergessen wir nicht, dass durch das Sakrament der Ehe Jesus in diesem Boot anwesend ist. Er sorgt für Euch, er ist immer bei Euch, auch wenn das Boot in stürmischer See auf- und niedergeht“, so der Papst.

Mit allem Nachdruck ruft er die Eheleute zur Vergebung auf, die allein Krisen zu überwinden und zerbrochene Beziehungen wiederherzustellen vermag. „Vergesst nicht, dass die Vergebung alle Wunden heilt“, so Papst Franziskus. „Gegenseitiges Verzeihen ist das Ergebnis einer inneren Entscheidung, die im Gebet, in der Beziehung zu Gott, reift, als ein Geschenk der Gnade, mit der Christus die Eheleute erfüllt, wenn sie ihn handeln lassen, wenn sie sich an ihn wenden. Christus ‚wohnt‘ in Eurer Ehe und wartet darauf, dass Ihr ihm Euer Herz öffnet, damit er Euch mit der Kraft seiner Liebe beistehen kann, wie den Jüngern im Boot. Unsere menschliche Liebe ist schwach, sie braucht die Kraft der treuen Liebe Jesu. Mit ihm könnt Ihr ein ‚Haus auf Fels‘ (Mt 7,24) errichten.“

Was Papst Franziskus schreibt, entspringt einer betrachtenden Theologie, einer tiefen Theologie, die pastoral ausgerichtet ist. Es ist einfach zu kurz gegriffen, wenn kirchliche Medien schreiben: „Papst Franziskus ist kein Theologe. Er ist Seelsorger.“ So wird Benedikt XVI. als Professor auf dem Stuhl Petri dargestellt, Franziskus aber als Pfarrer. Es ist genauso abwegig, Papst Franziskus die theologische Kompetenz abzusprechen wie Benedikt XVI. das pastorale Gespür. Niemand kann ein guter Seelsorger sein, wenn er nicht auf einer soliden Theologie aufbaut, und niemand kann ein guter Theologe sein, wenn er nicht auf die Menschen ausgerichtet ist. Wir sollten diese beiden Pontifikate nicht leichtfertig abwerten, sondern sie in ihrer jeweiligen Bedeutung für den heilsgeschichtlichen Weg der Kirche anerkennen. Auch der Brief an die Eheleute ist wieder ein wunderbares Geschenk, ein leuchtender Mosaikstein des katholischen Glaubens. Lassen wir ihn fruchtbar werden!

Liebe Leser, wir freuen uns, die russisch-orthodoxen Holzskulpturen vorstellen zu können, ein Beitrag zur Ökumene, aber auch ein Impuls zur bevorstehenden Fastenzeit. Aufrichtig sagen wir Ihnen Vergelt’s Gott für Ihre Spenden und wünschen Ihnen Gottes reichsten Segen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
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Brief des Heiligen Vaters Franziskus an die Ehepaare anlässlich des „Familienjahres Amoris laetitia“

Liebe Eheleute in aller Welt!

Den Brief des Papstes an die Eheleute geben wir im Wortlaut wieder. Wir wollen damit unterstreichen, dass ein Schreiben noch so schön sein kann, doch muss es gelesen und betrachtet werden, damit es eine Wirkung erzielen und die Familien in ihrem Bemühen stärken kann. Das Anliegen von Papst Franziskus besteht gerade darin, die kirchliche Lehre auch für die heutige Zeit verständlich zu machen. Es ist eindrucksvoll, wie er auf die Tatsache eingeht, dass eheliche Beziehung zerbrechen können und dass dieses Zerbrechen viel Leid mit sich bringt. Doch rückt er in keiner Weise vom Ideal der unauflöslichen Ehe ab, sondern zeigt die konkreten Wege auf, die beschritten werden müssen, damit vertrauenswürdige Liebe und glückliches Zusammenleben gelingen können, wie Gebet, Vergebung und Dialog, vor allem aber der ständige Blick auf Jesus.

Von Papst Franziskus

Anlässlich des Familienjahres „Amoris laetitia“ wende ich mich an Euch, um Euch meine ganze Zuneigung und Verbundenheit in dieser besonderen Zeit, in der wir leben, auszudrücken. Ich habe immer für die Familien gebetet, aber noch mehr während der Pandemie, die alle auf eine harte Probe gestellt hat, insbesondere die Schwächsten.

Der Moment, den wir gerade erleben, veranlasst mich, auf einen jeden Menschen, jedes Ehepaar und jede Familie in Demut, mit Zuneigung und mit offenen Armen zuzugehen – in den Situationen, in denen Ihr Euch befindet.

Wir müssen Gewohntes verlassen

Dieser besondere Kontext lädt uns ein, die Worte zu leben, mit denen der Herr Abraham auffordert, seine Heimat und sein Vaterhaus zu verlassen und in ein unbekanntes Land aufzubrechen, das er selbst ihm zeigen wird (vgl. Gen 12,1). Auch wir haben mehr denn je die Ungewissheit, die Einsamkeit, den Verlust geliebter Menschen erlebt, und wir waren gezwungen, von unseren Sicherheiten und „Kontrollbereichen“, von unseren üblichen Gewohnheiten und Wünschen abzulassen, um uns nicht nur um das Wohl unserer eigenen Familie, sondern auch um das Wohl der Gesellschaft zu kümmern, das ebenfalls von unserem persönlichen Verhalten abhängt.

Die Beziehung zu Gott prägt uns, sie begleitet und mobilisiert uns Menschen und sie hilft uns letztlich, „unsere Heimat zu verlassen“, oft mit einer gewissen Angst und Furcht vor dem Unbekannten. Aus unserem christlichen Glauben heraus wissen wir jedoch, dass wir nicht allein sind, weil Gott in uns, mit uns und mitten unter uns ist: in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeits- oder Studienplatz, in der Stadt, in der wir leben.

Wie Abraham verlässt jeder der Ehegatten gleichsam sein eigenes Land, da er den Ruf zur ehelichen Liebe verspürt und sich entschließt, sich dem anderen vorbehaltlos zu schenken. So impliziert bereits die Verlobung ein Verlassen des eigenen Terrains, denn sie verlangt, dass man sich gemeinsam auf den Weg begibt, der zur Ehe führt. In den verschiedenen Lebensumständen wie dem Älterwerden, dem Kinderbekommen, der Arbeit und der Krankheit, bedeutet die Verpflichtung, die man füreinander eingegangen ist, dass ein jeder seine Gewohnheiten, seine Sicherheiten und seine Bequemlichkeit verlassen und sich in das Land begeben muss, das Gott verheißt: zu zweien in Christus zu sein, zwei in einem. Ein Leben, ein „Wir“ in der Liebesgemeinschaft mit Jesus, der in jedem Augenblick Eurer Existenz lebendig gegenwärtig ist. Gott begleitet Euch, er liebt Euch bedingungslos, Ihr seid nicht allein!

Die Eltern offenbaren den Kindern die Liebe Christi

Liebe Eheleute, seid Euch dessen bewusst, dass Eure Kinder – vor allem die kleinen – Euch aufmerksam beobachten und von Euch das Zeugnis einer starken und vertrauenswürdigen Liebe erwarten. „Wie wichtig ist es doch für die jungen Menschen, mit eigenen Augen die Liebe Christi zu sehen, die in der Liebe von Ehepaaren lebendig und gegenwärtig ist, die mit ihrem konkreten Leben bezeugen, dass Liebe für immer möglich ist!"[1]typo3/#_ftn1 Kinder sind ein Geschenk, immer, sie verändern jede Familie. Sie sehnen sich nach Liebe, Anerkennung, Wertschätzung und Vertrauen. Eure Vaterschaft und Mutterschaft verlangen von Euch, produktiv zu sein, damit Ihr Euren Kindern die Freude schenken könnt, zu entdecken, dass sie Kinder Gottes sind, Kinder eines Vaters, der sie vom ersten Augenblick an zärtlich geliebt hat und sie jeden Tag bei der Hand nimmt. Diese Entdeckung kann Euren Kindern den Glauben und die Fähigkeit geben, auf Gott zu vertrauen.

Gewiss, es ist keineswegs einfach, Kinder zu erziehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass auch sie uns erziehen. Der erste Bereich, wo Erziehung geschieht, ist nach wie vor die Familie mit ihren kleinen Gesten, die mehr sagen als Worte. Erziehen heißt vor allem, Wachstumsprozesse zu begleiten, in vielerlei Hinsicht präsent zu sein, damit sich die Kinder jederzeit auf ihre Eltern verlassen können. Der Erzieher ist ein Mensch, der in einem geistigen Sinne „zeugt“ und sich vor allem ganz in diese Beziehung „hineingibt“. Es ist wichtig, dass Ihr als Vater und als Mutter die Beziehung zu euren Kindern auf der Grundlage einer Autorität aufbaut, die Ihr euch Tag für Tag verdient habt. Sie brauchen eine Sicherheit, die ihnen hilft, Vertrauen in Euch zu haben, in die Schönheit Eures Lebens, in die Gewissheit, niemals allein zu sein, komme was wolle.

Übernehmt Mitverantwortung in der Familienpastoral

Andererseits ist, wie ich bereits erwähnt habe, das Bewusstsein für die Identität und den Auftrag der Laien in der Kirche und in der Gesellschaft gewachsen. Ihr habt den Auftrag, die Gesellschaft durch Eure Präsenz in der Arbeitswelt zu verändern und dafür zu sorgen, dass die Bedürfnisse der Familien berücksichtigt werden. Auch die Ehepaare sollten die Initiative ergreifen (primerear)[2] in der Pfarrei und in der Diözese mit ihren Unternehmungen und ihrer Kreativität ganz im Sinne einer Komplementarität der Charismen und Berufungen als Ausdruck der kirchlichen Gemeinschaft. So braucht es „Eheleute an der Seite der Seelsorger, um mit anderen Familien zu gehen, um denen zu helfen, die schwächer sind, um zu verkünden, dass Christus sich auch in Schwierigkeiten gegenwärtig macht“.[3]

Deshalb fordere ich Euch, liebe Eheleute, auf, Euch in der Kirche zu engagieren, insbesondere in der Familienpastoral, denn „die Mitverantwortung für die Mission ruft [...] die Eheleute und die geweihten Amtsträger, besonders die Bischöfe, zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit bei der Pflege und Betreuung der Hauskirchen auf“.[4] Denkt daran, dass die Familie die „grundlegende Zelle der Gesellschaft“ ist (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 66). Die Ehe ist wirklich ein Projekt zum Aufbau einer „Kultur der Begegnung“ (Enzyklika Fratelli tutti, 216). Aus diesem Grund sind die Familien gefordert, Brücken zwischen den Generationen zu bauen, um die für die Menschheit wesentlichen Werte weiterzugeben. Es bedarf einer neuen Kreativität, um angesichts der heutigen Herausforderungen die Werte zum Ausdruck zu bringen, die uns als Volk in unseren Gesellschaften und in der Kirche, dem Volk Gottes, formen.

Täglich aus der Gnade des Ehesakramentes leben

Die Berufung zur Ehe beinhaltet die Aufgabe, ein wankendes – aber aufgrund seiner sakramentalen Wirklichkeit dennoch sicheres – Schiff auf einer manchmal rauen See zu steuern. Wie oft würdet Ihr, wie die Apostel, am liebsten sagen oder vielmehr schreien: „Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“ (Mk 4,38). Vergessen wir nicht, dass durch das Sakrament der Ehe Jesus in diesem Boot anwesend ist. Er sorgt für Euch, er ist immer bei Euch, auch wenn das Boot in stürmischer See auf- und niedergeht. An einer anderen Stelle des Evangeliums sehen die Jünger Jesus inmitten großer Schwierigkeiten, inmitten des Sturms, auf sich zukommen und sie nehmen ihn zu sich ins Boot; so lasst auch Ihr, wenn der Sturm wütet, Jesus in Euer Boot steigen, denn als er zu ihnen ins Boot stieg, legte sich der Wind (vgl. Mk 6,51). Es ist wichtig, dass Ihr gemeinsam auf Jesus schaut. Nur so werdet Ihr in Frieden sein, Konflikte überwinden und Lösungen für viele Eurer Probleme finden. Nicht, weil sie verschwinden, sondern weil Ihr sie dann aus einer anderen Perspektive sehen könnt.

Nur wenn Ihr Euch den Händen des Herrn überlasst, werdet Ihr in der Lage sein, das scheinbar Unmögliche zu leben. Dazu müsst Ihr Eure Zerbrechlichkeit und Ohnmacht, die Ihr angesichts so vieler Situationen um euch herum erlebt, anerkennen, zugleich aber dürft Ihr sicher sein, dass auf diese Weise die Kraft Christi in eurer Schwachheit offenbar wird (vgl. 2 Kor 12,9). Gerade mitten im Sturm erkannten die Apostel das Königtum und die Göttlichkeit Jesu und lernten, ihm zu vertrauen.

Den Dialog in der Familie pflegen

Ich möchte die Gelegenheit nutzen und im Lichte dieser Bibelstellen über einige Probleme und Chancen nachdenken, die den Familien in dieser Zeit der Pandemie begegnet sind. So hat man zum Beispiel mehr Zeit miteinander verbracht, und das war eine einzigartige Gelegenheit, den Dialog in der Familie zu pflegen. Natürlich erfordert dies eine gehörige Portion Geduld; es ist nicht einfach, den ganzen Tag zusammen zu sein, wenn man im selben Haus arbeiten, lernen, sich erholen und ausruhen muss. Lasst Euch von der Müdigkeit nicht unterkriegen, die Kraft der Liebe befähige Euch, mehr auf den anderen – den Ehepartner, die Kinder – zu schauen als auf die eigenen Schwierigkeiten. Erinnert Euch an das, was ich euch in Amoris laetitia (vgl. Nr. 90-119) geschrieben habe, wo ich Bezug genommen habe auf den paulinischen Hymnus über die Liebe (vgl. 1 Kor 13,1-13). Bittet die Heilige Familie inständig um diese Gabe; lest erneut diesen Lobpreis der Liebe, auf dass sie Eure Entscheidungen und Euer Handeln inspirieren möge (vgl. Röm 8,15; Gal 4,6).

Auf diese Weise ist das Zusammensein keine Buße, sondern eine Zuflucht inmitten aller Unbilden. Die Familie möge ein Ort des Willkommens und des Verständnisses sein. Bewahrt im Herzen den Rat, den ich den Brautleuten in drei Worten mit auf den Weg gegeben habe: „,Darf ich?‘, ,danke‘ und ,entschuldige‘“.[5] Und bei Konflikten lasse man niemals den „Tag zu Ende gehen, ohne Frieden in der Familie zu schließen“.[6] Schämt Euch nicht, gemeinsam vor dem in der Eucharistie gegenwärtigen Jesus zu knien, um Momente des Friedens zu erleben und einen Blick voller Zärtlichkeit und Güte auszutauschen. Oder die Hand des anderen zu nehmen, wenn er ein bisschen verärgert ist, um ihm ein vertrauliches Lächeln zu entlocken. Vielleicht wollt Ihr abends vor dem Einschlafen gemeinsam ein kurzes Gebet an Jesus richten, der immer bei Euch ist.

Die Vergebung heilt alle Wunden

Dennoch, für einige Paare war das enge Zusammenleben, zu dem sie in der Quarantänezeit gezwungen waren, besonders schwierig. Bereits bestehende Probleme verschärften sich und führten zu Konflikten, die nahezu unerträglich wurden. Viele erlebten gar das Zerbrechen ihrer Beziehung aufgrund einer Krise, die nicht überwunden werden konnte. Auch diesen Menschen möchte ich meine Verbundenheit und Zuneigung ausdrücken.

Das Zerbrechen einer ehelichen Beziehung bringt viel Leid mit sich, weil sich so vieles, was man sich vornimmt, nicht erfüllt; das fehlende Verständnis führt zu Streit und Wunden, die nicht leicht zu heilen sind. Auch den Kindern bleibt das Leid nicht erspart, wenn sie sehen, dass ihre Eltern nicht mehr zusammen sind. Versäumt es auch dann nicht, Hilfe zu suchen, sodass die Konflikte irgendwie überwunden werden können und nicht noch mehr Schmerz für Euch und Eure Kinder verursachen. Jesus, der Herr, wird Euch in seiner unendlichen Barmherzigkeit eingeben, wie Ihr in all den Schwierigkeiten und all dem Kummer weiterkommt. Unterlasst es nicht, zu ihm zu beten und bei ihm Zuflucht und das Licht zu suchen, das den Weg erhellt. Zudem sei Euch die Gemeinschaft der Kirche ein „Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben“ (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 47).

Vergesst nicht, dass die Vergebung alle Wunden heilt. Gegenseitiges Verzeihen ist das Ergebnis einer inneren Entscheidung, die im Gebet, in der Beziehung zu Gott, reift, als ein Geschenk der Gnade, mit der Christus die Eheleute erfüllt, wenn sie ihn handeln lassen, wenn sie sich an ihn wenden. Christus „wohnt in“ Eurer Ehe und wartet darauf, dass Ihr ihm Euer Herz öffnet, damit er Euch mit der Kraft seiner Liebe beistehen kann, wie den Jüngern im Boot. Unsere menschliche Liebe ist schwach, sie braucht die Kraft der treuen Liebe Jesu. Mit ihm könnt Ihr ein „Haus auf Fels“ (Mt 7,24) errichten.

Wort an die jungen Menschen

Lasst mich in diesem Zusammenhang ein Wort an die jungen Menschen richten, die sich auf die Ehe vorbereiten. War es schon vor der Pandemie für die Verlobten schwierig, eine Zukunft zu planen, weil es nicht leicht war, einen festen Arbeitsplatz zu finden, so hat sich die Situation am Arbeitsmarkt jetzt noch verschärft. Ich lade daher die Verlobten ein, sich nicht entmutigen zu lassen und den „schöpferischen Mut“ des heiligen Josef an den Tag zu legen, dem ich in diesem ihm gewidmeten Jahr in besonderer Weise gedenken wollte. So dürft auch Ihr, wenn es darum geht, den Weg der Ehe zu beschreiten, auch wenn Ihr nur über geringe Mittel verfügt, immer auf die Vorsehung vertrauen, denn „manchmal sind es gerade die Schwierigkeiten, die bei jedem von uns Ressourcen zum Vorschein bringen, von denen wir nicht einmal dachten, dass wir sie besäßen“ (Apostolisches Schreiben Patris corde, 5). Zögert nicht, bei Euren Familien und Freunden, in der Kirche und in der Pfarrei Halt zu suchen, um das zukünftige Ehe- und Familienleben zu leben und von denen zu lernen, die den Weg, den Ihr beginnt, bereits beschritten haben.

Gruß an die Großväter und Großmütter

Bevor ich diesen Brief beschließe, möchte ich einen besonderen Gruß an die Großväter und Großmütter richten, die während der Zeit der Isolation nicht in der Lage waren, ihre Enkelkinder zu sehen und mit ihnen zusammen zu sein, an die älteren Menschen, die besonders stark unter der Einsamkeit litten. Die Familie kann nicht auf die Großeltern verzichten, sie sind das lebendige Gedächtnis der Menschheit, und „diese Erinnerung kann dazu beitragen, eine menschlichere, gastlichere Welt zu schaffen“.[7]

Der heilige Josef möge in allen Familien den schöpferischen Mut wecken, den wir in diesem Epochenwechsel, den wir gerade erleben, so dringend brauchen. Die Gottesmutter begleite Euch in Eurer Ehe bei der Gestaltung einer „Kultur der Begegnung“, die wir so dringend brauchen, um die Widrigkeiten und Widerstände zu überwinden, die unsere Zeit verdunkeln. Die vielen Herausforderungen können denen, die wissen, dass sie mit dem Herrn unterwegs sind, nicht die Freude rauben. Lebt Eure Berufung intensiv. Lasst nicht zu, dass eine traurige Mine Eure Gesichter trübt. Dein Ehepartner braucht Dein Lächeln. Eure Kinder brauchen Eure ermutigenden Blicke. Die Hirten und die anderen Familien brauchen Eure Präsenz und Eure Freude: die Freude, die vom Herrn kommt!

Ich grüße Euch von Herzen und ermutige Euch, die Mission, die Jesus uns anvertraut hat, fortzuführen und am Gebet und am „Brechen des Brotes“ (Apg 2,42) festzuhalten. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten; ich bete jeden Tag für Euch.

Mit brüderlichen Grüßen,

FRANZISKUS

Rom, Sankt Johannes im Lateran, am 26. Dezember 2021, Fest der Heiligen Familie

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Videobotschaft zum Forum „Wo stehen wir mit Amoris laetitia?“ (9. Juni 2021).
[2] Vgl. Apost. Schreiben Evangelii gaudium, 24.
[3] Videobotschaft zum Forum „Wo stehen wir mit Amoris laetitia?“ (9. Juni 2021).
[4] Ebd.
[5] Ansprache an die Familien, die im „Jahr des Glaubens“ nach Rom gepilgert sind (26. Oktober 2013); vgl. Nachsyn. Apost. Schreib. Amoris laetitia, 133.
[6] Katechese vom 13. Mai 2015. Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Amoris laetitia, 104.
[7] Botschaft anlässlich des 1. Welttages der Großeltern und älteren Menschen „Ich bin alle Tage mit dir“ (31. Mai 2021).

Nicht die Machbarkeit rettet, sondern die Annahme Gottes

Ehe und Familie am Scheideweg

Prof. Dr. Dr. Ralph Weimann (geb. 1976), promoviert in Theologie und Bioethik, trifft in seinem Beitrag die nüchterne Feststellung, dass sich die moderne Gesellschaft immer weiter vom christlichen Menschenbild und von den Idealen der christlichen Ehe und Familie entfernt. Die Welt ist vom Wahn ergriffen, vollkommene Herrschaft über das Leben ausüben zu wollen. Die Faszination der Macht und des Machbaren hat in Politik und Gesetzgebung die Oberhand gewonnen. Der Mensch wird ganz vom „Willen zur Macht“ her verstanden, wie ihn schon Nietzsche beschrieben hat, losgekettet von Gott. Als Christen sind wir berufen, unseren Werten treu zu bleiben und uns einzugestehen, dass ein „Anschluss“ an die heutige Zeit nicht möglich ist. Es wäre die Quadratur des Kreises. Die Kirche würde scheitern, wie auch die Welt auf diesem Weg, wie Weimann schreibt, in die Irre geht.

Von Ralph Weimann

Das Thema Ehe und Familie tritt immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Dabei scheint in Gesellschaft und Politik längst das Verständnis abhandengekommen zu sein, was Ehe und Familie ist, worauf sie eigentlich gründen und warum sie so wichtig für die Gesellschaft und natürlich auch für die Kirche sind. Bei Ehe und Familie geht es nicht um eine zeit- oder kulturbedingte Lebensform, die nach Belieben verändert und neu definiert werden kann, vielmehr geht es um jene vitale Existenzgrundlage, ohne die weder Staat noch Gesellschaft auf Dauer bestehen können. Deswegen ist auch für die Kirche die Familie von großer Bedeutung. Diese Aussagen mögen auf den ersten Blick und angesichts der zahlreichen Krisen, Herausforderungen und Spannungen übertrieben wirken, bestätigen sich aber gerade in unserer Zeit.

Die Brisanz des Themas Ehe und Familie zeigt sich beispielsweise im Hinblick auf den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, wie auch in vielen Vorstößen auf europäischer Ebene, grundlegende Prinzipien völlig neu und im Gegensatz zum Bisherigen festzulegen. Diese spiegelt sich exemplarisch in der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron wider, der am 19. Januar 2022 im Europaparlament ein starkes und unabhängiges Europa forderte. In diesem Kontext unterstrich er explizit den Schutz der Umwelt und die „Anerkennung des Rechts auf Abtreibung."[1] Dem grundlegendsten Menschenrecht, dem Recht auf Leben, wird in einer ohnehin schon problematischen demographischen Entwicklung weniger Bedeutung zugemessen als dem Umweltschutz. Im Gegenteil, Ungeborenen wird das fundamentalste aller Rechte, das Recht auf Leben, abgesprochen. Damit sind die Ausführungen bereits im Zentrum des Problems angekommen, das vielen Menschen nicht einmal bewusst zu sein scheint, denn sonst würde sich mehr Widerstand regen, wenn die unantastbare Würde des menschlichen Lebens angetastet wird. Die Grundlagen, auf denen die Gesellschaft steht, scheinen verloren gegangen zu sein.

Papst Johannes Paul II. hatte bereits 1995 in seinem Lehrschreiben Evangelium vitae aufgezeigt, dass eine Wohlstandsgesellschaft dazu tendiert, egoistischen Prinzipien zu folgen, denen eine perverse Freiheitsvorstellung zugrunde liegt. Sie führen zu „einer absoluten Macht über die anderen und gegen die anderen."[2] Dies bezeichnete der Papst als „Kultur des Todes“, die der wahren Freiheit den Rücken kehrt und sich zum Sklaven der Sünde macht.[3]

Eine solche Kultur des Todes steht im Gegensatz zum Leben und damit im Gegensatz zum Ursprung allen Lebens: Gott. Sie steht aber auch im Gegensatz zu Ehe und Familie, denn wenn die Heiligkeit und der Wert des menschlichen Lebens – von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod – nicht respektiert werden, dann kann auch schwerlich Ehe und Familie Anerkennung finden. Daher lohnt es sich, darauf zunächst einen Blick zu richten.

1. Schöpfungsordnung – Menschenbild

Mit dem Wort „Schöpfung“ haben heute nicht wenige Schwierigkeiten. In einer von Technik und wissenschaftlichem Fortschritt dominierten Gesellschaft werden selbst grundlegende Lebensvollzüge vom Kriterium der Machbarkeit bestimmt. Dieser Logik folgend, wird menschliches Leben im Reagenzglas erzeugt als Resultat technischen Könnens und anstelle von schöpferischer Liebe. Diese Tendenz zeigt sich ebenso in der Gender Ideologie,[4] aber auch in der Euthanasie, durch die das Recht auf Selbstbestimmung und „Freiheit“ für das Ende des Lebens in Anspruch genommen wird. Diese Entwicklungen, die nicht nur in der Gesellschaft Akzeptanz finden, sondern sogar in Gesetze Eingang gefunden haben, lassen deutlich werden, wie weit dieser Prozess bereits fortgeschritten ist. Das Leben wird antastbar, es ist der Verfügungsmacht des Menschen unterstellt.

Das biblische Menschenbild ist dem diametral entgegengesetzt.[5] Es geht nicht um Beherrschen, Machbarkeit und Macht, sondern um die Annahme und Verwaltung jener Wirklichkeit, die von Gott geschaffen und allen Menschen anvertraut ist. Der Mensch ist nicht sein eigener Gott, sondern er kommt von Gott und geht zu Gott. Die Grundversuchung des Menschen wird schon im Buch Genesis beschrieben. Durch sie ging nicht nur die ursprüngliche Ordnung und Harmonie verloren, was die Kirche als Erb- oder Ursünde bezeichnet, sondern durch sie kam auch der Tod in die Welt. Darauf hebt die biblische Erzählung ab. Die Schlange – also der Teufel – verführte den Menschen, indem er versprach, er könne selbst wie Gott werden (vgl. Gen 3,5). Diese Versuchung wiederholt sich auf unterschiedliche Weise zu allen Zeiten der Geschichte, der Mensch möchte nicht Abbild Gottes sein, sondern wie Gott. Zugleich endet dies zu allen Zeiten mit dem Verlust der Harmonie, der Ordnung, was schließlich zum Tod führt. – Mit anderen Worten, das Einzige, was den Menschen am Leben erhält, ist die Verbindung zum Ursprung: zu Gott. Die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes hatte in einer bemerkenswerten Aussage darauf hingewiesen, dass das Geschöpf ohne den Schöpfer ins Nichts fällt.[6] Wenn der Mensch aus der Gottesbeziehung herausfällt, dann versteht er sich nicht mehr als Geschöpf und als Verwalter, sondern er selbst beginnt über alles zu verfügen, auch über das Leben. Die Gottesferne verfinstert nicht selten auch den Verstand.

Ehe und Familie sind ebenfalls in der Schöpfungsordnung grundgelegt, denn als Mann und Frau und füreinander ist der Mensch geschaffen (vgl. Gen 1,27). Nicht im Sinne der Machbarkeit und Macht, sondern gemäß einer inneren Hinordnung aufeinander, die im Ehekonsens zum Ausdruck kommt. Wenn dieser Konsens beliebig wäre, wäre er hinfällig, denn Bindung braucht Grundlagen, auf denen diese erst Bestand haben können. Werden diese Grundlagen nicht anerkannt, dann baut der Mensch auf Sand (vgl. Mt 7,24-27).

Die Ehe, wie sie die katholische Kirche in Übereinstimmung mit der Schöpfungsordnung und der Offenbarung definiert, als eine Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, ist die Grundlage für die Familie. Die Familie erwächst aus den Ehepartnern zusammen mit den Kindern.[7] Weil diese Ordnung der Schöpfung vom Schöpfer eingeschrieben ist, leitet die Kirche daraus eine Feststellung ab, die gerade für unsere Zeit von fundamentaler Bedeutung ist oder sein müsste: „Diese Gemeinschaft geht jeder Anerkennung durch die öffentliche Autorität voraus; sie ist ihr vorgegeben. Man muss sie als die normale Beziehungsgrundlage betrachten, von der aus die verschiedenen Verwandtschaftsformen zu würdigen sind."[8] Die Kirche bekräftigt mit dieser Aussage jene Ordnung, die uns gegeben ist und aus der sich die Würde des Menschen herleitet. Dabei ist die Schöpfungsordnung nicht als eine abstrakte Größe zu verstehen, sondern hat göttlichen Ursprung und ist Ausdruck der Liebe Gottes, die jedem Menschen, weil er Abbild Gottes ist, eingeschrieben ist. „Jeder Mensch ist Träger dieser Würde, die ihm nicht genommen werden kann. […] Der gegenseitige Respekt füreinander ist immer Ausdruck dieser Würde."[9] Ehe und Familie folgen dieser Ordnung; sie ist – im wahren Sinn des Wortes – ursprünglich.

2. Die Abwendung von Gott und der Verlust der Harmonie

Es ist ein Paradox: Ökologie und Umweltschutz sind in aller Munde, wie auch die Worte des französischen Präsidenten bestätigten. Sie werden explizit als Priorität angegeben und große Mengen an Fördergeldern werden dafür zur Verfügung gestellt, selbst inmitten einer Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, die seinesgleichen sucht, wie nicht zuletzt die Inflation deutlich macht. Und doch will man von einer Schöpfungsordnung nichts hören. Wer sich darauf beruft, sieht sich dem Vorwurf des „Biologismus“ ausgesetzt, er vertrete längst überkommende Vorstellungen. Erschreckend ist dabei, dass diese Diskrepanz und Widersprüchlichkeit immer weniger Menschen aufzufallen scheint und sich die Gesellschaft auf diese Weise von der tragenden Grundlage entfernt.

So wird der Hybris des Menschen immer weiterer Raum gegeben, die Machbarkeit rückt an die Stelle der Schöpfung, selbst Ehe und Familie werden neu definiert. Dem aufmerksamen Beobachter dieser Entwicklung kommt die Philosophie von Friedrich Nietzsche in den Sinn. Seine moralisierende Kritik der Moral war von dem Schlagwort einer „Umwertung aller Werte“ geprägt. Diese These hatte er in Verbindung mit der Theorie des Willens zur Macht entwickelt, die nun zur treibenden Kraft werde und alle bestehenden Werte zerstöre (umwerte), wobei sie selbst zum obersten Wert avanciere.

Eine solche Tendenz ist zurzeit in Politik und Gesellschaft deutlich festzustellen. Rationale Begründungen treten in den Hintergrund, solide Argumentationen im Hinblick auf das Gute – für Staat und Gesellschaft – werden nicht mehr geführt, wohl aber werden neue Forderungen der Machbarkeit erhoben, deren einziges Fundament der Wille zur Macht zu sein scheint. Auch wenn ein Blick in die Geschichte – vor allem in das vergangene Jahrhundert – zeigt, wie so etwas gewöhnlich endet, ist die Öffnung der Büchse der Pandora eine stets attraktive Versuchung. Das Versprechen: „Ihr werdet wie Gott“ (Gen 3,5) übt immer Faszination aus, vor allem auf die Mächtigen und auf die Macher.

Aus diesem Kontext heraus wird verständlich, warum es Ehe und Familie – so, wie die katholische Kirche diese versteht und wie sie der Schöpfungsordnung entsprechen – es heute so schwer haben. Die Abwendung von Gott, von seinen Geboten und schließlich auch von seiner Ordnung führt dazu, diese durch eine neue Ordnung zu ersetzen, die damit aber nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Es wäre eine schwerwiegende Selbsttäuschung, auf dieser Ebene Kompromisse zu schließen, denn niemand kann zugleich Gott dienen und dem Mammon (vgl. Mt 6,24).

3. Steter Tropfen höhlt den Stein – der Scheideweg

In den letzten Jahrzehnten hat ein Prozess eingesetzt, der sich in dem Sprichwort zusammenfassen lässt: „Steter Tropfen höhlt den Stein.“ Selbst innerkirchlich wurde und wird versucht, den „Anschluss“ an die Welt nicht zu verlieren. So entstand die Quadratur des Kreises, die nur scheitern konnte. Auch wenn für einige Jahre und Jahrzehnte ein Spagat zwischen beiden Ansätzen zu gelingen schien, zeigen sich immer deutlicher die daraus resultierenden Konsequenzen. Davon betroffen ist auch der Schutz von Ehe und Familie im christlichen Sinn. Einer „Umwertung aller Werte“ folgend, werden sie nicht mehr als Keimzelle der Gesellschaft, sondern als Krebszelle gesehen, die den veränderten Lebenswirklichkeiten anzupassen sind.[10] Leihmutterschaft soll ermöglicht werden, Abtreibung durch Werbung gefördert, Ehe und Familie werden gemäß der Prämisse der Machbarkeit und bestimmt vom Willen zur Macht neu definiert.

In dieser Situation ist es die Aufgabe der katholischen Kirche, die Stimme zu erheben und die Menschen darauf hinzuweisen, dass der Weg ohne Gott in die Irre führt und im Chaos endet. Nicht die Machbarkeit rettet, sondern die Annahme Gottes, durch die sich das Verständnis von Ehe und Familie erschließt. Darauf hatte Papst Johannes Paul II. im Brief an die Familien von 1994 hingewiesen, er schrieb: „Das ,tiefe Geheimnis‘, das Sakrament der Liebe und des Lebens, das seinen Anfang in der Schöpfung und in der Erlösung hat und dessen Garant der Bräutigam Christus ist, hat in der modernen Denkweise seine tiefsten Wurzeln verloren. Es ist in uns und rings um uns bedroht. Möge das in der Kirche begangene Jahr der Familie für die Eheleute zu einer geeigneten Gelegenheit werden, es wiederzuentdecken und sich kraftvoll, mutig und mit Begeisterung wieder dazu zu bekennen."[11]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Vgl. Macron pocht auf ein starkes und unabhängiges Europa, 19.1.2022, in: www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/macron-pocht-auf-starkes-und-unabhaengiges-europa-17739504.html [21.1.2022].
[2] Johannes Paul II.: Enzyklika Evangelium vitae, 25.3.1995, in: www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html [21.1.2022] 20.
[3] Vgl. ebd.
[4] Franziskus: Nachapostolisches Schreiben Amoris laetitia, 19.3.2016, in: www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html [21.1.2022] 56.
[5] Dazu vgl. ausführlich Ralph Weimann: Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft. Ethische Probleme der PID, Paderborn 2015, 106-160.
[6] Vgl. GS 36.
[7] Dies ist deutlich im Katechismus der Katholischen Kirche beschrieben: Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München 2003, 2202.
[8] Ebd.
[9] Markus Graulich/Ralph Weimann: Im Glauben das „Ja“ wagen. Auf dem Weg zur Ehe, Freiburg i. Br. 2015, 20.
[10] Dazu vgl. Bernhard Müller: Wider das Leben, 3.1.2022, in: www.faz.net/aktuell/politik/inland/familienpolitik-der-ampel-gegen-die-familie-aus-vater-mutter-kindern-17712030.html [21.1.2022].
[11] Johannes Paul II.: Brief an die Familien, 2.2. 1994, in: www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/1994/documents/hf_jp-ii_let_02021994_families.html [21.1.2022], 19.

Warum ist „Humanae vitae“ heute so wichtig?

Manipulation des Körpers

Das Jahrbuch der Theologie des Leibes 2020 trägt den Titel „Amor. Als Abbild Gottes schuf er ihn“ (Be&Be Heiligenkreuz). Den größten Teil des Buches macht die Abhandlung von Prof. Dr. Michael Maria Waldstein über die „Theologie des Leibes“ Johannes Pauls II. aus. Angesichts der zunehmenden technischen Manipulation des menschlichen Körpers trete die prophetische Dimension der Enzyklika Humanae vitae immer deutlicher hervor. Waldstein ist verheiratet, Vater von acht Kindern und lebt mit seiner Frau in Steubenville. An der dortigen Franciscan University lehrt er Bibelwissenschaft. Nachfolgend ein Zwischenresümee (S.182).

Von Michael Maria Waldstein

Zusammenfassend ist der Zweck der Theologie des Leibes, den Leib gegen seine Entfremdung von der Person im kartesischen Rationalismus zu verteidigen. Positiv ausgedrückt, ist der Zweck, den göttlichen Plan für die menschliche eheliche Liebe zu veranschaulichen sowie die Gutartigkeit und Schönheit des gesamten sexuellen Bereichs im Gegensatz zu seiner Verbilligung in der „objektiven, wissenschaftlichen“ Sichtweise der Natur zu zeigen. Der Plan Gottes und seine Erneuerung durch Christus, den Erlöser, ist tief in die Leiblichkeit des Menschen als eine vorgegebene Sprache der Selbsthingabe und Fruchtbarkeit eingeprägt. Für den Menschen bedeutet die authentische Lebensweise der Sexualität, die bräutliche Liebe in Übereinstimmung mit dieser Wahrheit der Sprache des Leibes zu sprechen: Wahre menschliche Erfüllung im sexuellen Bereich kann nur gefunden werden, wenn man diesem göttlichen Plan für die menschliche Liebe folgt. Deshalb ist die Verteidigung von Humanae vitae so wichtig, wichtig für das Wohl der menschlichen Person.

„Das wesentliche Problem, das die Enzyklika vorlegt, ist der Gesichtspunkt der authentischen Entwicklung des Menschen; diese Entwicklung misst man in der Tat grundsätzlich nach der Ethik und nicht bloß nach der Technik“ (vgl. Johannes Paul II.: Letzte Mittwochskatechese zur Theologie des Leibes, 133,3).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die hl. Therese von Lisieux und ihre Sehnsucht nach dem Priestertum

Meine Berufung ist die Liebe

Sr. Dr. Theresia Mende OP ist Dominikanerin im Kloster Wettenhausen. 2015 wurde sie Mitarbeiterin am Institut für Neuevangelisierung im Bistum Augsburg, 2018 übernahm sie die Leitung des Instituts, welche sie bis 2021 innehatte. Ihre Namenspatronin ist die hl. Therese von Lisieux, die sie sehr verehrt. Im Rahmen des Jubiläumsjahres „50 Jahre Theresienwerk“ geht sie der Frage nach: „Die Berufung der hl. Therese von Lisieux, eine Berufung für heute?“ In ihrem Beitrag greift sie auch das Thema Frauenpriestertum auf, das von den Teilnehmern des „Synodalen Weges“ in Deutschland heftig diskutiert wird. Von Befürwortern der Öffnung des Priesteramtes für Frauen wird zuweilen die hl. Therese von Lisieux vereinnahmt, da sich in ihren Briefen und autobiografischen Schriften eine große Sehnsucht nach dem Priestertum widerspiegelt. Sr. Theresia betrachtet diese Frage im Licht des Selbstverständnisses der hl. Therese, die nach langem Ringen um ihren Platz in Welt und Kirche zu dem Ergebnis gekommen war: „Meine Berufung ist die Liebe!“

Von Sr. Theresia Mende OP

Wenn ich an Therese von Lisieux denke, kommt mir Elija in den Sinn. „Ein Prophet wie Feuer“, so bezeichnet ihn der alttestamentliche Weisheitslehrer Jesus Sirach (Sir 48,1). In der Tat, mit ihm hat die Karmelitin Therese von Lisieux das innere Feuer gemeinsam: von einer unbändigen, überschäumenden geistlichen Kraft erfüllt, bricht sich trotz aller Schwere leidvoller Erfahrungen eine tiefe Liebe zu Gott und den Menschen im Leben dieser jungen Karmelitin Bahn. Wie glühende Lava, die die verkrustete Decke erstarrten Gesteins sprengt und mit Urgewalt nach außen dringt, bricht sie aus Therese hervor: stark, leuchtend, alles sprengend, was sich ihr an frommen Konventionen entgegenstellt, und formt sich nach einem langen Ringen mit überbordenden Wünschen und Träumen zu dem, was sie ihre Berufung nennt: „Ja, ich habe meinen Platz in der Kirche gefunden, und diesen Platz, mein Gott, den hast du mir geschenkt. … im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein … so werde ich alles sein."[1]

Brief der hl. Therese vom 8. September 1896

Im folgenden Beitrag anlässlich des 125. Gedenkens an den Todestag der Heiligen (30. September 1897) möchte ich dieser feurigen Berufung nachgehen und die Frage stellen, was sie für uns Christen heute im 21. Jahrhundert zu bedeuten hat. Die Ausgangsbasis meiner Überlegungen ist ein Brief Thereses an ihre Mitschwester Marie du Sacré-Coeur, die zugleich ihre älteste leibliche Schwester ist. Therese hatte Anfang September 1896 Exerzitien gemacht, in deren Verlauf ihr tiefe Einsichten zu ihrer Berufung geschenkt wurden. Diese fasste sie in dem o.g. Brief an Marie du Sacré-Coeur zusammen, den sie auf den 8. September, den 6. Jahrestag ihrer Profess, datierte.

Der Text ist weitgehend in Form einer Zwiesprache mit Jesus abgefasst. Zunächst trägt Therese Jesus ihre „ans Unendliche grenzenden Wünsche und Hoffnungen“ (SS 197) vor. Zwar sollte ihr, so räumt sie ein, ihre Berufung, Karmelitin, Braut Jesu und in Vereinigung mit ihm auch Mutter der Seelen zu sein, genügen. „Und doch ist dem nicht so“ (SS 198), schreibt sie frei heraus. Sie fühle noch andere Berufungen in sich: „die Berufung zum KRIEGER, zum PRIESTER, zum APOSTEL, zum KIRCHENLEHRER, zum MARTYRER; kurz, ich spüre das Bedürfnis, den Wunsch, für dich, Jesus, die heroischsten Werke allesamt zu vollbringen … Ich spüre in meiner Seele den Mut eines KREUZFAHRERS, eines PÄPSTLICHEN SOLDATEN; zur Verteidigung der Kirche möchte ich auf dem Schlachtfeld sterben“ (SS 198). Und einige Zeilen später fügt sie noch ihre Sehnsucht nach der Berufung zum „PROPHETEN“ und „MISSIONAR“ hinzu.

Ans Unendliche grenzende Wünsche

Ist das Vermessenheit? Größenwahn? Die Phantasien eines überspannten jungen Menschen? Wer Therese kennt, ihr Leben, ihre feurige geistliche Kraft und schließlich auch ihre tiefe Demut, mit der sie aufrichtig und freudig ihren Platz als unbedeutende Karmelitin, als Kind vor Gott, „als kleiner Vogel“ vor dem großen Adler (SS 204ff.), wie sie sich selbst gerne bezeichnet, einnimmt, der kommt zu einem anderen Urteil. Denn nicht ohne inneres Ringen mit all ihren hochfliegenden und, wie sie selbst sagt, „ans Unendliche grenzenden Wünschen und Hoffnungen“ (SS 197) tritt sie an diesen ihren Platz zurück. Zugleich erkennt sie in ihm das größte Mysterium eines christlichen Lebens und insbesondere eines Lebens unter dem speziellen Ruf Gottes in den Orden des Karmel und begreift, dass diese Berufung alle anderen Berufungen, die sie so sehr ersehnt, umgreift, von innen her belebt und erst möglich macht und vor allem, dass allein diese Berufung ihre Sehnsucht, „alles zu sein“, wirklich erfüllen kann. – Betrachten wir nun zuerst das Ringen Thereses mit ihren verschiedenen Berufungswünschen, um dann den Durchbruch zu der ihr eigenen Berufung nachzuvollziehen.

Die Sehnsucht nach dem Priestertum

Als erstes spricht Therese über das Priestertum: „Mit welcher Liebe trüge ich dich, o Jesus, in meinen Händen, wenn auf mein Wort hin du vom Himmel herabstiegest! Mit welcher Liebe reichte ich dich den Seelen!“ (SS 198). Thereses Wunsch nach dem Priestertum steht sicher an der ersten Stelle all ihrer Berufungsträume. Und doch haben ihre Worte nichts gemein mit den Forderungen nach dem Priestertum der Frau, wie sie gegenwärtig in vielen kirchlichen Kreisen und nicht zuletzt im Rahmen des Synodalen Weges erhoben werden.

Thereses Wunsch nach dem Priestertum entspringt zunächst einmal ihrer tiefen Liebe zu Jesus Christus sowie einem rein geistlichen Verständnis priesterlicher Vollmacht: „Mit welcher Liebe trüge ich dich, o Jesus, in meinen Händen, wenn auf mein Wort hin du vom Himmel herabstiegest.“ Das sind die Worte einer Verliebten. Sie lassen nichts erkennen von dem Emanzipationsstreben, von dem die heutigen Diskussionen um das Priestertum der Frau erfüllt sind. Ein solches liegt völlig außerhalb ihres Horizonts. Therese ist weit davon entfernt, für eine Position in der Kirche zu kämpfen, von der sie meint, dass sie ihr zustehe. Es geht ihr nicht um Geltung ihrer Person, vielmehr ist ihre Motivation reine Liebe und Ehrfurcht vor dem großen Mysterium der Eucharistie: „Mit welcher Liebe trüge ich dich … in meinen Händen!“ Therese sieht das Priestertum als das, was es in Wirklichkeit ist: als ein Sakrament, d.h. als ein Geschehen, in dem sich das Ungeheuerliche und Unausdenkbare ereignet: Gott steigt vom Himmel auf die Erde herab, um in den eucharistischen Gaben von Wein und Brot durch die ganze Geschichte hindurch in dieser Welt real präsent zu sein, und dies auf das Wort von Menschen hin, denen er selbst die Vollmacht dazu gegeben hat. Man spürt geradezu das Erschauern in ihren Worten über die Größe des Mysteriums und über das Unfassbare einer Vollmacht, die nur Gott einem Menschen verleihen kann, die also ein Geschenk der Gnade ist, auf das es keinen menschlichen Anspruch gibt.

Das missionarische Herz Thereses

Eine zweite Motivation für ihre Sehnsucht nach dem Priestertum ist das missionarische Herz Thereses, das sie drängt, allen Menschen Jesus zu bringen: „Mit welcher Liebe reichte ich dich den Seelen!“ (SS 198), schreibt sie. Auch diese Äußerung lässt erkennen, dass Therese jeder Gedanke an eine Emanzipation der Frau, jedes Streben nach Einfluss oder Macht in der Kirche, nach Eroberung eines Amtes, das ihr vermeintlich willkürlich verschlossen bleibt, völlig fern liegt.

So können wir sagen: Die Vereinnahmung Thereses von Lisieux als frühe Vorkämpferin für das Priestertum der Frau, wie sie heute zuweilen versucht wird,[2] verfehlt die wahre Intention dieser Heiligen. Dies zeigt sich auch gleich im nächsten Satz, in dem Therese nicht verbissen das Priestertum der Frau fordert, sondern aus Ehrfurcht vor der Würde jenes Amtes ausdrücklich von ihrem Wunsch danach Abstand nimmt: „Jedoch so sehr ich wünschte, Priester zu sein, so bewundere und beneide ich dennoch die Demut des Hl. Franz von Assisi und spüre in mir die Berufung, ihn nachzuahmen, indem ich die erhabene Würde des Priestertums ausschlage“ (SS 198).

Zeugnis für das Evangelium bis zur Hingabe des Lebens

Anschließend spricht Therese über ihren Wunsch, Prophet, Kirchenlehrer, Apostel und Missionar zu sein. Wie Propheten und Kirchenlehrer möchte sie „die Seelen erleuchten“ und wie Apostel und Missionare die Welt durcheilen, die Botschaft von Jesus Christus verkünden und sein „glorreiches Kreuz in den Heidenländern aufpflanzen“ (SS 198). Doch rudert sie gleich wieder zurück: es genüge ihr nicht, eine einzige Mission zu erfüllen, sie verlange danach, das Evangelium in allen fünf Erdteilen gleichzeitig zu verkünden und vor allem nicht nur für einige Jahre Missionar zu sein, sondern „möchte es gewesen sein vom Anbeginn der Welt und es bleiben bis ans Ende der Zeiten“ (SS 198). Am Ende kommt sie noch auf ihre Sehnsucht nach dem Martyrium zu sprechen. Dieses sei schon der Traum ihrer Jugend gewesen und habe sich dann in der Zelle des Karmel noch verstärkt. Doch auch dieser Traum wächst ins Unendliche, denn, so Therese, sie könne sich nicht darauf beschränken, nur eine Art von Marter zu erleiden, vielmehr sehne sie sich danach, alle Arten von Marter zu erdulden, die den Blutzeugen jemals zugefügt worden sind.

Man kann solche Äußerungen als Ausfluss einer überspannten Phantasie einer jungen Frau abtun, deren seelische Kraft sie drängt, aus den engen Grenzen ihrer kleinen Welt eines klausurierten Klosters auszubrechen. Der folgende Satz, in den ihre Ausführungen dann münden, scheint dies zu bestätigen: „Jesus, Jesus, wollte ich alle meine Wünsche niederschreiben, ich müsste mir dein Buch des Lebens ausleihen, da sind die Taten aller Heiligen aufgezeichnet, und diese Taten möchte ich für dich vollbracht haben“ (SS 199).

„Torheit“ eines liebenden Herzens

Aber man kann solche Äußerungen auch als „Torheit“ eines liebenden Herzens verstehen, das aufgrund einer räumlich und zeitlich ins Unendliche ausgreifenden Sehnsucht letztendlich zu einer geradezu mystischen Wahrheit der eigenen Berufung vorstößt. Therese selbst spricht im Blick auf diese ihre überschwänglichen Äußerungen von „Torheit“ und stellt am Ende die Frage: „O mein Jesus, was antwortest du nun auf alle meine Torheiten?“ Und dann schwingt sie sich zu einer wahrhaft verblüffenden Aussage auf, die in ihrer Demut ein unendlich kindliches Vertrauen sowie zugleich eine unerschrockene Kühnheit verrät: „Gibt es wohl eine kleinere, ohnmächtigere Seele als die meine?! Doch gerade um meiner Schwachheit willen hat es dir gefallen, meine kleinen kindlichen Wünsche zu erfüllen, und heute willst du andere Wünsche erfüllen, die größer sind als das Weltall“ (SS 199).

Dann beschreibt Therese die Entdeckung ihrer ureigenen Berufung als eine, die all die genannten Berufungen zum Priester, Apostel, Prophet, Kirchenlehrer, Missionar und Märtyrer umgreift, übersteigt und von innen her Leben einhaucht. Sie berichtet: Es seien ihr mitten in ihrer sehnsuchtsvollen Suche die Kapitel 12 und 13 des ersten Korintherbriefes in die Hände gefallen. Das Gleichnis von der Kirche als Leib mit vielen Gliedern, von denen jedes einzelne seine unverzichtbare Aufgabe im Leib erfüllt (1 Kor 12,12-31), habe ihr zwar eingeleuchtet, habe aber ihr Sehnen noch nicht stillen können. Dann sei sie beim Weiterlesen endlich auf den Schlüssel ihrer Berufung gestoßen. In 1 Kor 12,31 fordere der Apostel die Korinther auf, zwar nach den vollkommensten Gaben zu streben, weise aber zugleich auf einen noch vorzüglicheren Weg hin, der alle Gnadengaben übersteigt: auf den Weg der Liebe. Die vollkommensten Gnadengaben seien wertlos ohne die Liebe. Die Liebe allein sei der vorzügliche Weg, der mit Sicherheit zu Gott führt.

Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein

Endlich, so jubelt Therese, habe sie beim Lesen dieser Worte ihre innere Ruhe gefunden. In keinem der Glieder des Leibes Christi, die Paulus schildert, konnte sie sich wiedererkennen. Sie empfand sie nur als Einengung ihrer Berufung, denn sie wollte ja am liebsten alle Berufungen in sich vereinen, wollte alles sein. Doch die Liebe gab ihr nun den Schlüssel zu ihrer Berufung. „Ich begriff, daß wenn die Kirche einen aus verschiedenen Gliedern bestehenden Leib hat, ihr auch das notwendigste, das edelste von allen nicht fehlt; ich begriff, daß die Kirche ein Herz hat und daß dieses Herz von LIEBE BRENNT. Ich erkannte, dass die Liebe allein die Glieder der Kirche in Tätigkeit setzt; und würde die Liebe erlöschen, so würden die Apostel das Evangelium nicht mehr verkünden, die Martyrer sich weigern, ihr Blut zu vergießen. Ich begriff, daß die LIEBE ALLE BERUFUNGEN IN SICH SCHLIESST, DASS DIE LIEBE ALLES IST, DASS SIE ALLE ZEITEN UND ORTE UMSPANNT, MIT EINEM WORT, DASS SIE EWIG IST! Da rief ich im Übermaß meiner überschäumenden Freude: O Jesus, meine Liebe, endlich habe ich meine Berufung gefunden, MEINE BERUFUNG IST DIE LIEBE! Ja, ich habe meinen Platz in der Kirche gefunden, und diesen Platz, mein Gott, hast du mir geschenkt, im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein. So werde ich alles sein“ (200f.).

Die Liebe also ist der Schlüssel ihrer Berufung. Die Liebe allein kann ihre Sehnsucht, alle Berufungen gleichzeitig in sich zu vereinen und damit alles zu sein, stillen. Denn die Liebe ist der innere Kern, das Herz einer jeden Berufung, ohne die sie nicht existieren würde. Die Liebe ist ihre Zentrifugalkraft, ohne die alle Berufungen wirkungslos blieben.

Der „kleine Weg“ im Alltag

Doch muss man ehrlichkeitshalber die Frage stellen: Wie lässt sich denn eine solche Berufung, im Herzen der Kirche die Liebe zu sein, überhaupt realisieren? Oder ist sie vielleicht nur ein schönes Gedankenkonstrukt, das die junge Karmelitin aus einer ebenfalls gedanklich konstruierten psychisch-geistigen Notlage herauszuführen vermochte?

Auch hierzu hat sich Therese konkrete Gedanken gemacht, die sie dann in ihrem Leben bis zur letzten Konsequenz umsetzte. Diese Realisierung ihrer Berufung zur Liebe, die man auch ihren „kleinen Weg“ nennt, hatte für Therese durchaus nichts mit lieblich-süßlicher Romantik zu tun. Sie wurde im Gegenteil für sie harte Alltagsrealität, die Tag für Tag alle ihre geistlichen Kräfte forderte und mit viel Selbstüberwindung, ja Selbstverleugnung einherging.

So bietet sie sich zuallererst der Liebe Jesu als Opfer an.[3] Das bedeutet für sie totale Hingabe als überschäumend Liebende an ihren Geliebten. Denn aufrichtige Liebe verlangt nach Opfern und in letzter Konsequenz nach dem Opfer meiner selbst: „damit die Liebe vollkommen befriedigt werde, muss sie sich erniedrigen, sich bis zum Nichts hinab erniedrigen und dieses Nichts in Feuer umwandeln“ (SS 201).

Doch Therese weiß andererseits auch um ihre Ohnmacht, ihr Kleinsein und ihre Schwäche. So nennt sie sich selbst „ein Kind der Kirche“ und die Kirche eine Königin (SS 202). Das Kind vermag nichts Großes zu leisten; es hat keine glänzenden Werke vorzuweisen; es kann nicht als Apostel das Evangelium verkünden und nicht als Märtyrer sein Blut vergießen. „Aber was tut’s“, wirft sie mit der entwaffnenden Freiheit eines Kindes ein, „seine Brüder arbeiten an seiner Stelle, und es selbst, das kleine Kind, es hält sich ganz nahe beim Thron des Königs und der Königin, es liebt für seine Brüder, die kämpfen (SS 202).

Lieben für die Brüder, die kämpfen

Dieses Lieben für die Brüder, die kämpfen, realisiert sich für Therese in den kleinen, verborgenen, scheinbar unbedeutenden Opfern des Alltags. Therese nennt sie „Blumen streuen“: „Ich habe kein anderes Mittel, dir meine Liebe zu beweisen, als Blumen zu streuen, das heißt, ich will mir kein einziges kleines Opfer entgehen lassen, keinen Blick, kein Wort, will die geringfügigsten Handlungen benutzen und sie aus Liebe tun. Aus Liebe will ich leiden und aus Liebe sogar mich freuen, so werde ich Blumen vor deinen Thron streuen. […] Blumen streuend werde ich singen […]; singen werde ich, auch wenn ich meine Blumen mitten aus den Dornen pflücken muß“ (SS 203). Es ist eine überschäumende Liebe, von der Therese von Lisieux beseelt gewesen sein muss, dass sie solche Worte aussprechen und entsprechend ihrer auch handeln konnte. Sie hat nach jenem Durchbruch während der Exerzitien 1896, bei dem sie ihre Berufung, im Herzen der Kirche die Liebe zu sein, erkannt und angenommen hatte, ihr Leben konsequent zu einem einzigen Opfer der Liebe gemacht, das sie Jesus ohne Zögern und ohne Vorbehalte, Tag für Tag freudig und mutig darbrachte. Bis hinein in die letzte Phase ihres Lebens, als sie einen schweren Leidensweg durch eine schmerzvolle Krankheit und eine tiefe geistliche Nacht gehen musste, blieb sie ihrer Berufung treu. So stirbt sie mit einem Aufblick zum Kreuz und mit den Worten auf den Lippen: „Oh, ich liebe ihn … Mein Gott … ich liebe Dich!"[4]

Ein Prophet wie Feuer

An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die Ausgangsbemerkung zurückkommen, dass ich mich beim Denken an Therese von Lisieux an den Propheten Elija erinnert fühlte, über den Jesus Sirach sagt, er sei „ein Prophet wie Feuer“ (Sir 48,1). Es scheint ja auf den ersten Blick absolut nichts Verbindendes zwischen den beiden Personen zu geben. Auf der einen Seite steht der machtvoll, selbstbewusst und öffentlich vor Königen und dem ganzen Volk auftretende Prophet, auf der anderen Seite die junge, scheinbar unbedeutende und total im Verborgenen lebenden Karmelitin, die sich selbst ein kleines Nichts nennt. Lediglich die Tatsache, dass Elija als Vater und Inspirator des Karmelordens gilt, scheint die beiden zu verbinden.

Aber dennoch gibt es eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen Elija und Therese. Das unerschrockene Auftreten des Propheten vor dem abtrünnigen König Ahab, das er mit den Worten legitimiert: „So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, in dessen Dienst ich stehe (1 Kön 17,1), sein leidenschaftlicher Kampf für die Anerkennung des wahren Gottes auf dem Karmel und seine geheimnisvolle Begegnung mit Gott auf dem Horeb lassen etwas erahnen von einer tiefen inneren Glut, die diesen Propheten mit seinem Gott verbindet. Äußerlich scheint das alles zwar weit entfernt von dem Auftreten und Wirken jener jungen Frau aus dem französischen Karmel fast dreitausend Jahre später. Doch innerlich verbindet die beiden die gleiche von Gott geschenkte Glut, das Feuer einer innigen Gottesbeziehung, das den Menschen dazu drängt, sich selbstlos und bedingungslos, in Großherzigkeit und in totaler Selbstvergessenheit an Gott hinzugeben. „Ein Prophet wie Feuer“, sagt Jesus Sirach über Elija, „eine Karmelitin wie Feuer“, könnten wir über Therese von Lisieux sagen. Das Feuer einer von Gott geschenkten Liebe verbindet Menschen aller Zeiten und aller Kulturen, wenn sie sich nur Gott öffnen und von ihm in Dienst nehmen lassen.

Berufung für uns Christen heute

Zuletzt möchte ich noch auf die eingangs angedeutete Frage eingehen, was die Berufung Thereses, im Herzen der Kirche, ihrer Mutter, die Liebe zu sein, für uns Christen heute im 21. Jahrhundert bedeutet. Können auch wir heute eine solche Berufung leben und wie könnte das aussehen?

1. Die grundlegende Voraussetzung für diese Berufung ist es, die Kirche als „Mutter“ zu betrachten, anzunehmen und zu lieben. Das mag heute schwerer fallen, wo seit Jahren die Aufdeckung von Missbrauchsskandalen und anderen Schwächen auf allen Ebenen die Institution Kirche gewaltig schüttelt. Hinzu kommt, dass viele Katholiken, von den Medien angeregt, nicht selten in eine bewusste kritische Distanz zur Kirche treten. Dazu ist zu sagen: Solange die Kirche aus Menschen besteht, wird sie in der Tat immer eine dunkle, sündige Seite haben und diese mag ungeheuer schmerzen. Doch gerade dann dürfen wir von Therese lernen und wie sie den Blick auf die Kirche als Mutter werfen. Eine Mutter ist ein Mensch, der wie alle Menschen auch Fehler hat, aber dennoch Mutter bleibt für ihre Kinder und dadurch bei aller Unvollkommenheit eine liebende Beziehung zwischen beiden ermöglicht. So bleibt die Kirche unsere Mutter, auch wenn sie aus sündigen Menschen besteht, die ihr Wesen verdunkeln. Sie bleibt unsere Mutter, weil Jesus selbst sie gestiftet und unter dem Kreuz ihr seine eigene Mutter zur Mutter gegeben hat.

2. Auf dieser Basis ist es jedem Christen möglich, die Berufung Thereses, im Herzen der Kirche die Liebe zu sein, auch heute zu leben. Es braucht dazu keinen besonderen Status und kein Amt, weder in der Hierarchie der Kirche noch sonstwo im Gottesvolk; es braucht dazu keine besonderen Fähigkeiten, keine spezielle Ausbildung, ja noch nicht einmal eine besondere Heiligkeit. Es braucht dazu „einfach nur“ – und doch ist das so schwer! – die Demut, an dem Platz, an dem ich stehe, in den kleinen Tätigkeiten und den verborgenen Opfern, die der Alltag mir beschert, Gott das Opfer meiner Liebe darzubringen und so den Menschen die Gnade zu erwirken, die sie zu Gott zu führen vermag. Doch nur so kann die Kirche von innen her wachsen und gesunden und ein Ort des wahren Friedens werden, den nur Gott zu schenken vermag.

Versuchen wir es, mit Therese von Lisieux als Fürsprecherin im Himmel und als Schwester im Glauben auf der Erde, diese einfache und doch schwere, jedoch frohmachende Berufung, in der Mitte der Kirche die Liebe zu sein, zu leben. Dann wird sich erfüllen, was Therese voller Überzeugung schreibt: „Ein Herz, das sich Gott schenkt, verliert seine natürliche Zärtlichkeit nicht, im Gegenteil, diese Zärtlichkeit wächst, je reiner und göttlicher sie wird“ (SS 225).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Therese v. Kinde Jesu: Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text, übersetzt von Otto Iserland und Cornelia Capol, Vorwort von Hans Urs von Balthasar, Johannesverlag Einsiedeln, 9. Aufl. 1981, 201f. Alle weit. Zitate aus den Selbstbiographischen Schriften werden direkt im Text mit SS und der Seitenzahl hinter dem Zitat ausgewiesen.
[2] So zum Beispiel Josefa Theresia Münch (*1930) in verschiedenen Veröffentlichungen.
[3] „Ich bin nur ein Kind, ein schwaches, ohnmächtiges, aber gerade meine Ohnmacht verleiht mir die Kühnheit, mich deiner Liebe, o Jesus, als Opfer anzubieten“ (SS 201).
[4] Therese Martin: Ich gehe ins Leben ein. Letzte Gespräche der Heiligen von Lisieux, Leutesdorf, 5. Aufl. 1998, 267.

Das Erbe der Konvertiten Erik Peterson, Heinrich Schlier und Dietrich von Hildebrand

Herausragende Gestalten des 20. Jahrhunderts

Studiendirektor Jakob Knab (geb. 1951) bringt das leuchtende Zeugnis der drei Professoren Erik Peterson, Heinrich Schlier und Dietrich von Hildebrand in Erinnerung. Sie entstammten alle der Welt des Protestantismus, folgten als suchende Wissenschaftler aber ihrer intellektuellen Sehnsucht nach Wahrheit und fanden so den Weg zur katholischen Kirche. Gerade in den Bereichen der biblischen Theologie und der Philosophie war es ihnen wichtig, sich an einem Fundament orientieren zu können, das dem Zeitgeist zu widerstehen vermag. Was die drei Konvertiten verbindet, ist die Klarheit, mit der sie die nationalsozialistische Ideologie durchschauten und sich weltanschaulichen Abwegen widersetzten.

Von Jakob Knab

Vor nunmehr hundert Jahren gelangte Theodor Haecker zu der Überzeugung: „Die Sache des Christentums wird praktisch in noch höherem Grade durch die Personen entschieden, als durch die Systeme. Die katholische Kirche lehrt durch göttliche Gnade und Verheißung das wahre Glaubenssystem, das ist unerschütterlich wahr; aber das allein und ohne die Person wäre doch nur tönend Erz und eine klingende Schelle, hätte sie nicht so heilige Seelen wie Newman."[1] Freilich: Als das Deutsche Literaturarchiv Marbach im Sommer 1989 dem Konvertiten und Kulturphilosophen Theodor Haecker eine Ausstellung widmete, hielt ein bürgerlicher Kritiker trocken fest: „Dass heute ein kompromissloser Geist von der deutschen katholischen Kirche angezogen sein könnte, ist kaum vorstellbar."[2]

Erik Peterson – namhafter Professor der evangelischen Theologie

Ebenfalls vor gut 100 Jahren bekundete Erik Peterson, seinerzeit ein namhafter Professor der evangelischen Theologie, seine Bereitschaft gegenüber Theodor Haecker, die Korrekturen von dessen Übertragung von Newmans Grammar of Assent [Zustimmungslehre] mitzulesen. Doch nach wenigen Wochen musste er einräumen: „Ich habe auch wirklich einiges gelesen, aber dann packte mich die Angst, ich könne konvertieren, so sehr, dass ich alles liegen ließ…“ Aber er werde, wenn er seine seelische Erregtheit überwunden habe, vor dem nötigen Schritt nicht zurückscheuen – „wenn Gottes Gnade es will“. Schließlich, am 1. Mai 1922, musste Erik Peterson seinem Weggefährten Theodor Haecker gestehen: „Ach, ich fühle mich so unglücklich unter dieser Theologie, wo jeder Professor eine Privatauffassung vom christlichen Glauben hat, die er einer richtungslos gewordenen Philosophie, einer ahnungslos gewordenen Wissenschaft, ephemeren Erlebnissen und abstrakten Ansprüchen entnimmt. Man bildet sich ein, man verkünde den christlichen Glauben und man doziert doch nur den Bodensatz der Weisheit jeweiliger Generationen."[3]

Erik Peterson kannte Theodor Haecker seit 1918 und stand im Briefwechsel mit ihm. Er hatte in Göttingen das Studium der protestantischen Theologie abgeschlossen und wurde dort 1920 promoviert. Seinerzeit teilte er Haecker mit, für Newman habe er schon seit Jahren eine große Verehrung und er trage sich mit der Absicht, über ihn und die englische Kirche seiner Zeit eine Vorlesung zu halten. Er kaufte sich eine sechsbändige Ausgabe von Newmans Predigten („Parochial and Plain Sermons“).

In der jungen Weimarer Republik trübte Adolf von Harnack, der Großmeister der protestantischen Theologie, das intellektuelle Klima, als er sein Werk Marcion (1921) veröffentlichte[4] und darin die Verbannung des Alten Testamentes aus dem Kanon der Heiligen Schrift forderte. Für Harnack galt Marcion als „der erste Protestant“.[5] Deshalb verlangte er, endlich das Erbe Marcions zu vollstrecken und die Christenheit von der Last des Alten Testamentes zu befreien. Harnack machte Marcion unter den gebildeten Protestanten hoffähig. Angesichts seines Einflusses im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich leistete er einen ideengeschichtlichen Beitrag zur Ausbreitung judenfeindlicher Gesinnung. Im Juli 1928 zog Peterson diese Trennlinie zum Kulturprotestantismus: „An Harnacks Marcion ist dieses besonders lehrreich, dass ein Protestantismus, der jeden Zusammenhang mit der katholischen Kirche ablehnt, notwendig zu einer Erneuerung der geradezu ‚urbildlichen‘ Lösung des Markion kommt."[6] Nach seinen Auseinandersetzungen mit den seinerzeit eminenten protestantischen Theologen Karl Barth und Adolf von Harnack konvertierte Erik Peterson an Weihnachten 1930 zur katholischen Kirche. Im Sommer 1932 warnte er auf den Salzburger Hochschulwochen vor der damals schon um sich greifenden rassistischen Judenfeindschaft und betonte: „Keine Macht der Welt wird das Judentum ausrotten können."[7]

Schon in seiner Kleinschrift „Was ist Theologie?“ (1925) hatte Peterson die Kontroverse mit der sog. „dialektischen Theologie“ gesucht. Als entscheidendes Gegenargument wurde ein Wort des Kirchenlehrers Ambrosius angeführt: Non in dialectica complacuit Deo salvum facere populum suum. – „Nicht auf dem Wege der Dialektik gefiel es Gott, sein Volk zu erlösen.“ Dieses Zitat ist durch Newman berühmt geworden. Er hatte es als Motto auf die Titelseite seiner „Grammar of Assent“ [Zustimmungslehre] gesetzt. Schon Jahre vor seiner Konversion war er davon beeindruckt, da er „eine große Abneigung gegen papierene Logik“ hegte, wie er in der „Apologia pro vita sua“ schreibt. Das Denken, das zum Handeln führt oder zur Wandlung eines Standpunkts, ist für Newman immer eine Sache des ganzen Menschen. Und für Erik Peterson war das Wort des heiligen Paulus, er fülle in seinen Leiden den Rest der Trübsale Christi aus (Kol 1, 24), die existenzielle Leitlinie seiner zerklüfteten Lebensgeschichte.

Heinrich Schlier – Mitglied der Bekennenden Kirche

Heinrich Schlier wurde am 31. März 1900 in Neuburg an der Donau geboren. Ab 1930 war er Dozent für Neues Testament in Marburg und in Halle an der Saale. Da er der Bekennenden Kirche angehörte, wurde ihm die venia legendi an einer staatlichen Universität entzogen. 1935 wurde ihm die Leitung der Kirchlichen Hochschule Wuppertal übertragen. Im Dezember 1936 ließ die Gestapo diese Hochschule endgültig schließen. 1937 wurde er daraufhin Pfarrer der Bekenntnisgemeinde in Wuppertal-Elberfeld. Schlier hatte von 1945 bis 1952 in Bonn den einstigen Lehrstuhl Petersons inne. Am 25. Oktober 1953 vollzog Heinrich Schlier in Rom im Beisein von Erik Peterson (1890-1960) den Übertritt in die römisch-katholische Kirche. Peterson stand also in wörtlichem wie übertragenem Sinn bei diesem Schritt Pate. Nur noch eine Handvoll Kundiger wissen, dass bereits 1932 seine Schwester Paula (1899-1977) konvertiert war. Mit ihr stand er zeitlebens in Kontakt; er schätzte ihre poetischen Neigungen und ihre Einbildungskraft. Ihre mystischen Erlebnisse und Visionen fanden auch Niederschlag in ihrem dichterischen Werk: „Die mystische Rose“ (1949), „Maria, das große Zeichen der Endzeit“ (1970).

Etliche Jahre später blickte Schlier zurück: „Katholischer Geist begegnete mir Jahre hindurch natürlich auch aus katholischen Schriften. Ich will nicht verschweigen, daß ich mir schon früh und oft jene kleinen Traktate kaufte, die im Vorraum einer Kirche angeboten wurden, und von vielen Gewinn hatte. Die Wahrheit nimmt ja mannigfache, oft rechte bescheidene Formen an. Andererseits hatte frühzeitig – ich glaube seit 1927 las ich es regelmäßig – das Hochland mein Interesse und klärte mir manche Fragen. Des [Jean-Pierre] Camus „Weisheit des Franz von Sales“, Möhler, Newman, der frühe Theodor Haecker, Bernanos, Claudel und die viel zu wenig bekannten Aufsätze und Abhandlungen Erik Petersons waren die sehr verschiedenartigen Angeln des Heiligen Geistes."[8]

Von protestantischer Seite begegnete man seiner Konversion mit Unverständnis, mitunter mit Anfeindung, was noch dadurch verstärkt wurde, dass man ihm von katholischer Seite unverhohlen zujubelte. Heinrich Schlier verdient uneingeschränkte Anerkennung für sein Lebenswerk, die Grundzüge einer paulinischen Theologie zu erkunden und zu erhellen.

Dietrich von Hildebrand – Verteidiger der Wahrheit

Noch in der Phase eines mitunter überschwänglichen Reformeifers im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils rief der seinerzeit namhafte Gelehrte Dietrich von Hildebrand zum Abwehrkampf auf; denn ein trojanisches Pferd sei in die Stadt Gottes[9] eingedrungen: „Was hat einen Kardinal Newman in die Kirche geführt, der diesen Schritt auf Grund seiner Liebe zu seinen anglikanischen Freunden nur schweren Herzens tat, wenn nicht die Einsicht, dass die Kirche immer die Wahrheit gegen alle Häretiker verteidigt hat und dass die Lehre der Kirche – trotz ihrer Entwicklung zu immer expliziteren Formulierungen – unbefleckt und sieghaft unverändert geblieben ist?“ Freilich: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ – das wusste auch der Konvertit Hildebrand. Es folgte seine Streitschrift „Der verwüstete Weinberg“ (1973). Sein Aufschrei galt dem Zustand der Kirche, er knüpfte an den Klagegesang des Psalmisten über die Zerstörung Jerusalems an.

Wer war dieser wortgewaltige Gottesgelehrte? Denn die wenigsten Leser werden mit dem Eintrag im LThK („Hildebrand vertrat eine realistische Epistemologie, eine objektivistische Ontologie und Wertlehre und eine personalistische Metaphysik der Gemeinschaft“) etwas anfangen können. Dietrich von Hildebrand wurde 1889 in Florenz geboren. Sein Vater war Adolf von Hildebrand, einer der führenden Bildhauer seiner Zeit (u.a. Wittelsbacher Brunnen in München).

Schon bei der ersten Begegnung im Jahre 1907 fühlte sich Dietrich in Bann gezogen von dem überragenden Geist und der persönlichen Ausstrahlung des genialen und intuitiven Denkers Max Scheler.[10] Der wissbegierige und hochbegabte Student Dietrich von Hildebrand suchte nach Wahrheit und Gewissheit, er schaute auch auf zu dem Göttinger Gelehrten Edmund Husserl. An der dortigen Universität lernte er im Frühjahr 1909 die Studentin Gretchen Denck kennen, die Frau, die er schließlich im Mai 1912 in Wien heiraten sollte; wie Dietrich war sie nominell protestantisch. Am Karsamstag 1914 wurde das Ehepaar in der Franziskanerkirche in München in die katholische Kirche aufgenommen.

In den Jahren des Ersten Weltkrieges wurde der große Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster sein Mentor; er warnte ihn vor den Gefahren des preußischen Militarismus und des deutschen Nationalismus. Dietrich von Hildebrand war begeistert von Papst Benedikt XV., der die kriegführenden Mächte ermahnte, mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Im Kriegsjahr 1917 kam es zu einer ersten Begegnung zwischen Hildebrand und dem Nuntius Eugenio Pacelli. In der jungen Weimarer Republik fand Hildebrand Kontakt zu Carl Muth, dem Herausgeber der Zeitschrift Hochland. Früh durchschaute er den antichristlichen und rassistischen Ungeist der NS-Ideologie; im März 1933, sechs Wochen nach der Machtergreifung Hitlers, ging er ins politische Exil. Im Juli 1933 begann in Wien die Zusammenarbeit mit dem umtriebigen Publizisten Klaus Dohrn. Dessen jüngere Schwester war Herta Dohrn (1912–2014), die im August 1941 den später als Mitglied der „Weißen Rose“ hingerichteten Christoph Probst heiraten sollte. Dohrn wurde der leitende Redakteur der Zeitschrift „Der christliche Ständestaat“. In Wien begegnete er auch dem künftigen Weggefährten Johannes Maria Oesterreicher. In einem Schreiben an den „Führer“ bezeichnete Franz von Papen, der deutsche Botschafter in Wien, Dietrich von Hildebrand als den „schlimmsten Feind des Reiches in Österreich“. Nach dem sog. „Anschluss“ musste Hildebrand mit seiner Frau in die USA fliehen; auch Oesterreicher gelang die Flucht in die USA.

Dank der Unterstützung und Fürsprache von Jacques Maritain wurde Dietrich von Hildebrand als Professor an die Fordham University, der Hochschule der Jesuiten in New York, berufen. Sein lebenslanges Nachdenken und Wirken galt der christlich begründeten Werteethik; er fand Beachtung und Gehör. Aus der Feder von Joseph Kardinal Ratzinger stammt diese erhabene Würdigung: „Wenn in Zukunft einmal die intellektuelle Geschichte der katholischen Kirche des 20. Jahrhunderts geschrieben wird, wird der Name Dietrich von Hildebrand unter den Gestalten unserer Zeit herausragend sein."[11]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
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[1] Theodor Haecker: Nachwort des Übersetzers; in: Philosophie des Glaubens (Grammar of Assent) von John Henry Kardinal Newman, ins Deutsche übertragen von Theodor Haecker, München 1921, 444.
[2] FAZ vom 20. Mai 1989; hier zitiert nach Gisbert Kranz: Jugend unterm Hakenkreuz. Erinnerungen eines ganz normalen Katholiken, Augsburg 2007, 154.
[3] Sehr empfehlenswert: Marius Reiser, Erik Peterson (1890-1960) als Leser John Henry Newmans, in: Im Wandel treu. John Henry Kardinal Newman, hg. von Barbara Nichtweiß, Mainz 2011, 53ff.
[4] Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 1921.
[5] Hans Küng: Die Kirche, München 1977, 292.
[6] Erik Peterson: Theologische Traktate, hg. von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1994, 256, Anm. 13.
[7] Erik Peterson: Die Kirche aus Juden und Heiden (1933); hier zitiert nach Hans Maier: Deutschland. Wegmarken seiner Geschichte, München 2021, 148.
[8] Heinrich Schlier: Kurze Rechenschaft, in: Karl Hardt SJ (Hg.): Bekenntnis zur katholischen Kirche, Würzburg 1955, 172.
[9] Dietrich von Hildebrand: Das trojanische Pferd in der Stadt Gottes, Regensburg 1969, 260 f.
[10] Siehe hierzu Alice von Hildebrand: Die Seele eines Löwen. Dietrich von Hildebrand, Düsseldorf 2003.
[11] Joseph Kardinal Ratzinger: Vorwort, in: Hildebrand: Seele eines Löwen, 3.

Zum Heimgang von Alice von Hildebrand

Im Alter von fast 99 Jahren ist Alice von Hildebrand am 14. Januar 2022 in New Rochelle in den USA gestorben. Geboren am 11. März 1923 in Brüssel kam sie ebenfalls als Flüchtling in die USA und wuchs an der Seite von Dietrich von Hildebrand zu einer einflussreichen Philosophin und Theologin heran. 1912 hatte Dietrich von Hildebrand Margarete Denck geheiratet und war 1938 mit seiner Familie, d.h. mit seiner Frau, seinem Sohn Franz und seiner Schwiegertochter, über die Schweiz, Frankreich, Portugal und Brasilien in die USA geflohen. Nach Margaretes Tod im Jahr 1957 heiratete er dort 1959 die 34 Jahre jüngere Alice Jourdain, die bei ihm studiert hatte und sich nach seinem Tod im Jahr 1977 mit großem Engagement für sein Vermächtnis einsetzte. Das von ihr ins Leben gerufene Hildebrand-Projekt veröffentlichte aus Anlass ihres Todes einen Nachruf in englischer Sprache – www.hildebrandproject.org/about/alice-von-hildebrand – In deutscher Übersetzung findet sich eine gekürzte Form auf Wikipedia (Alice von Hildebrand), die wir nachfolgend widergeben.

Von Hildebrand-Projekt/Wikipedia

Als Kriegsflüchtling kam Alice Jourdain 1940 nach New York City. Sie lernte den Philosophen und Theologen Dietrich von Hildebrand an der Jesuiten-Hochschule Fordham University in New York kennen und studierte Philosophie an der Fordham University. Später wurde sie die Assistentin, ab 1959 Ehefrau, von Dietrich von Hildebrand und arbeitete mit ihm bei der Abfassung einiger seiner Bücher zusammen.

Ab 1947 unterrichtete sie am Hunter College in New York City und war bis 1984 37 Jahre lang Professorin für Philosophie. Danach war sie als Rednerin in Südamerika, Kanada, in fünfunddreißig US-Bundesstaaten und vielen europäischen Ländern engagiert. Neben ihrer langjährigen Tätigkeit am Hunter College unterrichtete sie auch an mehreren anderen Einrichtungen, darunter am Katechetischen Institut in Dunwoody, NY, an der Franciscan University of Steubenville (wo sie viele Jahre lang Mitglied des Kuratoriums war), am Thomas-More-College in Rom, am Ave Maria College in Michigan und am Notre Dame Institute in Arlington, VA (heute Notre Dame Graduate School of Christendom College).

Alice von Hildebrand war als Lektorin und Schriftstellerin tätig. Zu ihren Werken zählen: „The Privilege of Being a Woman“ (2002) sowie „The Soul of a Lion: The Life of Dietrich von Hildebrand“ (2000), eine Biografie ihres verstorbenen Ehemannes. Sie veröffentlichte zahlreiche Beiträge, die in Zeitschriften und Magazinen wie The New Oxford Review, Homiletic and Pastoral Review, Crisis Magazine und This Rock erschienen. Zudem war sie für die Catholic News Agency sowie für EWTN-Fernsehen tätig.

Im Jahr 2004 rief sie gemeinsam mit mehreren Schülern ihres Mannes das Dietrich von Hildebrand Legacy Project (www.hildebrandlegacy.org) ins Leben, um die langfristige Förderung und Verbreitung des Lebens und Denkens ihres Mannes sicherzustellen. Das Hildebrand-Projekt hat die persönliche Unterstützung von Papst Benedikt XVI. sowie einer Reihe von philosophischen und theologischen Wissenschaftlern, Politikern und Philanthropen.

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Impuls des Chefarztes der Malteser Klinik von Weckbecker

Heilfasten hellt die Seele auf

1954 wurde bei Bad Brückenau in der Röhn die Malteser Klinik von Weckbecker eröffnet. Der Gründer und Namensgeber der Klinik, Dr. med. Erich von Weckbecker (1920–2005), wandte sich, geprägt durch eigene Krankheit in Jugend- und Studienzeit und motiviert durch Genesung dank traditioneller Heilmethoden, der Naturheilkunde zu und entwickelte sein bis heute gültiges Vier-Säulen-Konzept: 1. Heilfasten und Diätetik, 2. Bewegung und Entspannung, 3. Wassertherapie nach Kneipp und 4. Spiritualität. Dabei wird wissenschaftlich anerkannte Naturheilkunde kombiniert mit moderner Schulmedizin eingesetzt. Dr. Rainer Matejka (geb. 1957) ist seit 2016 Chefarzt der Malteser Klinik von Weckbecker.

Interview mit Rainer Matejka

Herr Dr. Matejka, worin besteht der Ansatz der von Ihnen geleiteten Malteser Klinik von Weckbecker?

Eine aktuelle Gesundheitsstudie mit knapp 160.000 Teilnehmern verzeichnet eine deutliche Zunahme von depressiven Symptomen, Ängsten sowie Stress. Die Auslöser sind vielfältig, reichen von sozialer Isolation über Existenzsorgen bis hin zum Verlust des festen Lebensrhythmus. Bei vielen Menschen führt die aktuelle Stressbelastung zu Schlafproblemen, scheinbar grundlosen Schmerzen, Infektanfälligkeit, nervenden Ohrgeräuschen, Verdauungsbeschwerden und zu Herz-Kreislauf-Belastungen wie Bluthochdruck. Dank „Psychosomatik“ wissen wir Ärzte gut Bescheid, warum eine Vielzahl körperlicher Beschwerden durch psychische Belastung nicht nur verstärkt, sondern sogar ausgelöst werden kann. Deshalb hat die Weltgesundheitsorganisation Stress auch zu einem der wichtigsten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts erklärt. Was vielen dabei nicht bewusst ist: Es gibt auch den umgekehrten Weg. Die Linderung körperlicher Beschwerden entlastet die Psyche – und das geht oft sehr rasch, schon in wenigen Tagen. Wir stellen den Menschen als Ganzes ins Zentrum der Behandlung. Unter anderem behandeln wir durch den Körper per Heilfasten auch die Psyche.

Warum ist gerade das Heilfasten so wichtig?

Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben nachgewiesen, dass bei depressiver Verstimmung bestimmte Hirn-Botenstoffe in geringerer Menge vorhanden sind. Diese so genannten Neurotransmitter sind für die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen notwendig. Ein Ungleichgewicht hat folglich Einfluss auf das Gefühlsleben, Denken und Handeln von uns Menschen.

Und dieses Ungleichgewicht der Botenstoffe kann durch Heilfasten ausgleichen werden?

Tatsächlich gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie der Mensch Einfluss auf den Hirnbotenstoffwechsel nehmen kann. Kurzfristig stehen uns Ärzte dazu spezielle Medikamente zur Verfügung. Langfristiger und verträglicher helfen gerade bei leichteren und mittelschweren Formen depressiver Episoden die Veränderungen des Lebensstils. Eine der bekanntesten Möglichkeiten ist Sport. Wir wissen schon lange: wer regelmäßig Sport treibt, kann nicht nur das Risiko verringern, an einer Depression zu erkranken, sondern auch in akuten Phasen eine Verbesserung der Symptome herbeiführen – und damit selbst zur Genesung beitragen. Ähnliche deutliche Effekte konnten wir hier in der Klinik auch für das Heilfasten beobachten.

Das Fasten wirkt sich also auf die psychische Verfassung des Menschen aus?

Der positive Effekt des Heilfastens sowohl vorbeugend als auch akut bei psychischen Belastungen lässt sich auf gleich mehrere Faktoren zurückführen:

Auf neurophysiologischer Ebene werden beim Fasten vermehrt Überträgerstoffe ausgeschüttet. Zahlreiche unsere Patienten berichten uns vom sog. „Fasten-High“, welches sie nach einigen Tagen des freiwilligen Verzichts auf feste Nahrung erleben. Die vermehrte Ausschüttung der Überträgerstoffe im Gehirn wirkt angstlösend, stimmungsaufhellend und schmerzlindernd.

Hinzu kommt: der veränderte Leistungsanspruch während des Fastens an sich selbst und die verlängerten Ruhephasen führen zur Entlastung des vegetativen Nervensystems. Der Puls verlangsamt sich. Der Blutdruck sinkt. Die Bronchien weiten sich. Der Schlaf wird tiefer und erholsamer.

Und drittens: Auf der geistigen Ebene fördert Fasten Antrieb und Motivation. Der Gedanke „Ich faste und fühle mich besser“ setzt bei vielen unseren Patienten eine positive Kettenreaktion in Gang. Sie überwinden während des Aufenthalts das Gefühl der Passivität und Hilflosigkeit, erlangen spürbar mehr Zuversicht und Selbstvertrauen.

Welche Rolle spielt das geistliche Angebot in Ihrer Klinik?

Als Haus des Malteserordens ist die spirituelle Dimension des Fastens integraler Bestandteil unserer Angebote und wird in vielfältigen Kursangeboten, Gottesdiensten und Einzelgesprächen durch das Seelsorge-Team begleitet.

Kontakt: Malteser Klinik von Weckbecker (Sabrina Seifert/Christoph Hartmann), Rupprechtstr. 20, 97769 Bad Brückenau, Tel. +49 (9741) 83- 807, Mobil: +49 151 20 98 36 97, Mail: sabrina.seifert@malteser.org – www.weckbecker.com

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Die geheimnisvolle Welt der christlichen Holzskulpturen in Russland

Brücke zwischen Ost- und Westkirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist bekannt für ihre Ikonen. Eine andere Form der darstellenden Kunst kennt sie nicht, so jedenfalls ist die allgemeine Vorstellung von der Ostkirche. Pfarrer Erich Maria Fink stellt die eindrucksvollen Holzschnitzereien vor, die sich ab dem 14. Jahrhundert in ganz Russland verbreitet haben, eine geheimnisvolle Welt, die fast in jeder orthodoxen Kirche präsent war, doch ab dem 19. Jahrhundert durch das Eingreifen der staatlichen Religionsbehörden fast völlig ausgelöscht wurde. Trotzdem bilden die verbliebenen Zeugnisse eine mächtige Brücke zwischen der katholischen Kirche des Westens und der orthodoxen Kirche in Russland.

Von Erich Maria Fink

Die nordöstlichste katholische Kirche Europas steht in dem Ort Rebinina (Rjabinino) im Westural. Sie ist Unserer Lieben Frau von Fatima geweiht und hat eine Besonderheit, die auf einzigartige Weise zum Titel des Gotteshauses passt. Es handelt sich um ein Museum für die Opfer politischer Repression, das die Kulturabteilung des dortigen Landkreises Tscherdyn im Sockelgeschoß der Kirche eingerichtet hat. Bezeichnenderweise wurde das Museum am 13. Oktober 2017 im Rahmen der Feierlichkeiten des Jubiläums „100 Jahre Fatima“ eröffnet. Die Ankündigung von Verfolgungen und Unterdrückungen durch ein künftiges atheistisches Regime in Russland war bekanntlich Teil des Geheimnisses, das die Gottesmutter den drei Seherkindern am 13. Juli 1917 geoffenbart hatte. Das Thema des Gulag, der Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion, hängt also unmittelbar mit der Fatima-Botschaft zusammen.

Foto-Ausstellung orthodoxer Kunst in einer katholischen Kirche

Das Museum ist offiziell in das Programm der Exkursionen integriert, die von der Gebietshauptstadt Perm oder von Beresniki aus, der zweigrößten Stadt der Permer Region, in den nördlichen Ural durchgeführt werden. Ziel sind vor allem die Kulturgüter von Tscherdyn sowie die Gedenkstätten für Michael Nikitisch Romanow in Nyrob ganz im Norden. Dorthin war dieses Mitglied der Romanow-Familie Ende des 16. Jahrhunderts auf Initiative von Boris Godunow verbannt und in einem Erdloch gefangen gehalten worden. Vermutlich im Jahr 1601 fand Michael Nikitisch schließlich den Tod. Seine Verehrung als Heiliger wird von der Russisch-Orthodoxen Kirche seit einigen Jahren sehr gefördert. So wird auch das Museum in Rebinina von vielen Gruppen besucht, die an Geschichte und Kultur interessiert sind. Aus diesem Grund werden in das Museum auch regelmäßig Ausstellungen aufgenommen, die über das Thema des sowjetischen Terrors hinausgehen. Es wird allerdings darauf geachtet, dass sie vom Charakter her zum Kirchengebäude passen.

Seit August 2021 wird dort eine außergewöhnliche Foto-Ausstellung gezeigt. Thema sind die christlichen Holzskulpturen, die in russisch-orthodoxen Kirchen der Permer Region aufgestellt waren. Die meisten Originale der abgebildeten und dokumentierten Werke befinden sich in der Staatlichen Kunstgalerie von Perm. Diese wurde 1932 von den sowjetischen Machthabern in der Kathedrale der Russisch-Orthodoxen Kirche eingerichtet. Das Gotteshaus, das den Titel der Verklärung Christi trägt, soll in Kürze wieder seiner ursprünglichen Bestimmung als Bischofskirche des Permer Metropoliten zugeführt werden. Vorgesehen war der Umzug der Kunstgalerie in ein anderes Gebäude bereits für das Jahr 2016. Inzwischen wurde ein völlig neuer Bau geplant, sodass sich die Übergabe mindestens noch bis 2023 verzögert.

Einzigartige Sammlung religiöser Holzskulpturen

Bereits 1902 war am Wissenschafts- und Industriemuseum von Perm eine eigene Kunstabteilung entstanden. Doch 1922 wurde diese Abteilung als eigenes Kunstmuseum eröffnet, das 1936 in Kunstgalerie umbenannt wurde. Ausschlaggebend für die Entscheidung war die intensive Beschäftigung einiger Kunsthistoriker mit der russischen Holzschnitzkunst, deren Werke sich vor allem im Norden des Permer Gebiets erhalten hatten, also zwischen Beresniki und Nyrob. Die Sammlung von Permer Holzskulpturen ist bis heute der wichtigste Teil der Kunstgalerie. Sie umfasst etwa 400 Objekte, die aus der Zeit vom 17. bis zum frühen 20. Jahrhundert stammen.

Die beiden Gründer des Kunstmuseums, Alexander Konstantinowitsch Syropjatow und Nikolaj Nikolajewitsch Serebrennikow, waren Forscher der Kulturgeschichte des Permer Gebiets und organisierten in den 1920er Jahren zahlreiche Forschungsexpeditionen. Nikolaj Serebrennikov war der Sohn eines russisch-orthodoxen Priesters und widmete sein ganzes Leben dem Studium der russischen Kunst. Von 1923 bis 1926 unternahm er sechs Expeditionen, hauptsächlich in die nördlichen Regionen des Permer Gebiets. Auf einer dieser Forschungsreisen im Jahr 1923 stieß er auf 248 originale Holzskulpturen, die er beschlagnahmen und nach Perm bringen ließ. Sie bildeten die Grundlage der heute weltberühmten Sammlung der Permer Skulpturen. Im Rückblick dürfen wir dankbar feststellen, dass diese Werke durch die Vorgehensweise von Serebrennikow vor der weiteren Zerstörung durch die religionsfeindlichen Umtriebe der Bolschewiken bewahrt worden sind. Gleichzeitig konnten sie einer intensiven wissenschaftlichen Untersuchung zugeführt werden. Serebrennikow selbst veröffentlichte bereits 1928 ein Werk mit dem Titel „Permer Holzskulptur“. Seine Forschungsarbeit war ein entscheidender Anstoß für die ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema religiöser Holzschnitzkunst in Russland.

Dokumentation der Verbindung zur westeuropäischen Tradition

2013 brachte die Permer Kunstgalerie einen prachtvollen großformatigen Kunstband heraus. Er trägt den Titel „Permer Holzskulptur. Ende des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts“. Er umfasst 440 Seiten und ist in drei Teile gegliedert: die ersten 70 Seiten enthalten fünf wissenschaftliche Abhandlungen, die in die Thematik einführen; auf den darauffolgenden 200 Seiten sind einzigartige Fotografien der wichtigsten Skulpturen wiedergegeben, die schließlich durch eine detaillierte Beschreibung der abgebildeten Werke auf den letzten 170 Seiten ergänzt werden.

Der fünfte Beitrag im einleitenden Teil stammt von Vasilij Puzko (S. 71-75) und widmet sich dem interessanten Thema: „Die Permer Holzskulptur und die klassische europäische Tradition“. Der Beitrag baut auf den Ergebnissen von Nikolaj Serebrennikow auf und erbringt den wichtigen Nachweis, dass sich die Permer Holzskulpturen wie auch die übrige religiöse Schnitzerei in Russland auf dem Hintergrund und unter direktem Einfluss der darstellenden Kunst in der katholischen Kirche Westeuropas entwickelt hat. Denn bis heute wird die These vertreten, die Permer Skulpturen seien von vorchristlichen Götterfiguren in heidnischen Kulten inspiriert. Genauere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass es dafür keinerlei Anhaltspunkte gibt, weder kulturgeschichtlich noch inhaltlich und stilistisch.

Bedeutung der figürlichen Darstellung in der Russisch-Orthodoxen Kirche

Was die figürliche Darstellung im Raum der Russisch-Orthodoxen Kirche betrifft, tappt die Forschung immer noch weithin im Dunkeln. Doch einige Fakten stehen inzwischen fest: Skulpturen waren in Russland spätestens seit dem 14. Jahrhundert vorhanden. Vom Ende des 14. Jahrhunderts sind zunächst Heiligenreliefbilder aus Holz erhalten. In dieser Zeit entstand auch die berühmte Figur des hl. Nikolaus, die aus dem Kreml der Stadt Moschajsk stammt und nun in der Moskauer Tretjakow-Galerie ausgestellt ist. Sie erlebte unzählige Nachbildungen in ganz Russland bis hin zum Ural. Vorlage war eine Statue in der italienischen Stadt Bari, wo der Reliquienschrein des Heiligen verehrt wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Ludogoschtschenskij-Kreuz aus Nowgorod, eines der ältesten Zeugnisse religiöser Holzschnitzkunst, das die Bewohner der gleichnamigen Straße im Jahr 1359 gestiftet haben. Figuren des Erlösers, der Gottesmutter, von Engeln und Heiligen haben sich in den großen Städten wie Moskau und Nowgorod entwickelt und von da aus über ganz Russland verbreitet. Sie waren fast in jeder Kirche präsent, besonders im Russischen Norden. Heute bestätigt die Kunstgeschichte: Die Werke der religiösen Holzschnitzerei gehören zum goldenen Fundus der russischen Kunst.

Außerdem besteht inzwischen Einigkeit darüber, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche aus dogmatischen oder spirituellen Erwägungen heraus nie ein Verbot von Skulpturen in Gotteshäusern erlassen hat. Es gibt keine kanonischen Vorschriften, die sich eindeutig gegen Holzschnitzereien aussprechen würden. Im Gegenteil, wie bei der Ikonenmalerei achtete man auch bei der Schnitzerei genau darauf, die anerkannten Standards einzuhalten. Nur so ist es zu erklären, dass sich diese Tradition frei entwickeln und über sechs Jahrhunderte hindurch halten konnte. Besonders seit der Barockzeit zeigte die Russisch-Orthodoxe Kirche eine große Offenheit gegenüber der Kunst des Westens. Dies gilt für alle Bereiche, für die Musik, die Architektur, die Malerei und eben auch die plastische Kunst. Auf diesem Hintergrund haben auch die Holzskulpturen nach der frühen Phase vom 14. bis 16. Jahrhundert, die eher von strengen Formen geprägt war, ab dem 17. Jahrhundert einen neuen Aufschwung erfahren. Von da an wurde in der Schnitzkunst die Anatomie und Bewegung des menschlichen Körpers stärker betont.

Verbot und Auslöschung einer jahrhundertealten Kultur

Warum aber sind inzwischen fast alle Holzstatuen aus den russisch-orthodoxen Kirchen verschwunden? Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte: Im 8. und 9. Jahrhundert wurde die Ostkirche vom Byzantinischen Bilderstreit erschüttert. Als dieser Streit durch das siebte Ökumenische Konzil von Nicäa im Jahr 787 geklärt und auf der Synode von Konstantinopel 843 endgültig beigelegt werden konnte, wurde die Ikonographie zu einem wesentlichen Bestandteil ostkirchlichen Lebens. Nach der Kirchenspaltung fand die orthodoxe Kirche in der Sanktionierung der Ikonenverehrung ein zentrales Element ihrer Identität. Gleichzeitig setzte sie sich gegen die plastische Darstellung in der religiösen Kunst ab, obwohl diese Frage auf den genannten Synoden gar nicht behandelt worden war.

Die wohlwollende Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche gegenüber Skulpturen hatte neben der spirituellen auch eine kirchenpolitische Dimension. Man darf annehmen, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche darin auch ihre Eigenständigkeit gegenüber Konstantinopel zeigen wollte. Dieses Bemühen hatte mit der Errichtung des Moskauer Patriarchats im Jahr 1589 seinen deutlichsten Ausdruck gefunden. Peter der Große aber, Zar und erster Kaiser des Russischen Reichs, schaffte das Patriarchat faktisch wieder ab, als er nach dem Tod von Patriarch Adrian im Jahr 1700 den Patriarchenstuhl nicht wieder besetzen ließ. 1721 übertrug er die höchste Leitung der Kirche einem Heiligen Synod, dem ein staatlicher Oberprokuror vorstand. Damit wurde die Kirche dem Staat unterstellt.

Peter I., der Russland in eine neue Zeit führen wollte, nahm gegenüber Skulpturen eine widersprüchliche Haltung ein. Einerseits brachte er Figuren aus dem Ausland mit und schenkte beispielsweise der Stadt Rjasan eine Skulptur von „Christus im Kerker“. Andererseits betrachtete er die Holzfiguren als Ausdruck des „alten Russlands“, das es zu überwinden galt. Bereits in seinem zweiten Dekret widmete sich der Heilige Synod der Frage der Holzschnitzkunst. Am 21. Mai 1722 verbot er, „Ikonen in Kirchen schnitzen oder verschlissen, aushöhlen oder formen zu lassen“. Bezeichnenderweise hieß es in dem Dekret: „Dieser Brauch hat sich von Ungläubigen nach Russland eingeschlichen, insbesondere von den Römern und ihren nachfolgenden, ausländischen Polen.“ Hinter dem Verbot standen also politische Präferenzen und keine pastoralen oder dogmatischen Überlegungen. Zwar ließ Theophan Prokopowitsch, der Erzbischof von Nowgorod und Vizepräsident des Heiligen Synod, gleichzeitig wichtigster Berater Peters des Großen in kirchenpolitischen Angelegenheiten, in St. Petersburg 12.000 Holzstatuen verbrennen, doch konnten diese Maßnahmen weder die Skulpturen verdrängen, noch eine neue Blüte der plastischen Kunst verhindern. Erst neue Dekrete vom 30. November 1832 und vom 2. April 1835 sowie weltliche Gesetze zeigten Ende des 19. Jahrhunderts Wirkung. Was im 20. Jahrhundert an Werken noch vorhanden war, fiel den Zerstörungen durch das Sowjetregime zum Opfer.

Verbindung zur künstlerischen Tradition der katholischen Kirche

Ein unvoreingenommener Blick in die Geschichte der religiösen Holzskulpturen in Russland lässt eine sehr enge Verbindung der Russisch-Orthodoxen Kirche mit künstlerischen Traditionen der katholischen Kirche in Westeuropa erkennen. Die russischen Künstler haben auf verschiedene Arten von Vorlagen zurückgegriffen, zum einen auf direkte Vorbilder, die nach Russland gebracht worden waren, zum anderen auf Zeichnungen und Stiche in ausländischen wie heimischen Publikationen. Bei ihren Werken handelt es sich um eindrucksvolle Zeugnisse christlicher Spiritualität, welche sich vielfach von ihren klassischen Originalen losgelöst und den lokalen Gegebenheiten angepasst haben. Im Ural nehmen die biblischen Gestalten zudem Gesichtszüge unterschiedlicher Völker an wie die der Tataren, Komi und Wikinger. Insgesamt bringen die Skulpturen eine tiefe Gläubigkeit zum Ausdruck, vor allem eine existentielle Ergriffenheit vom Geheimnis der Erlösung durch den Sohn Gottes, der um des Menschen willen in die tiefsten Abgründe menschlichen Leidens hinabgestiegen ist. Gleichzeitig strahlen die Figuren der Engel und Heiligen eine Haltung der Anbetung und Hingabe aus, in die der Betrachter unweigerlich hineingenommen wird.

Im 17. Jahrhundert setzte sich in Russland der Brauch durch, die Ikonostasen an ihrer Spitze mit einer figürlichen Kreuzigungsgruppe abzuschließen. Vorbild war das Triumphkreuz, das in den mittelalterlichen Kirchen des Westens über dem Eingangsbogen zum Chorraum angebracht und meist von weiteren Figuren begleitet war. Beim Übergang von der Romanik zur Gotik im 13. Jahrhundert nahm das Kreuz die Kennzeichen des leidenden Christus mit Dornenkrone an. Auch die Skulpturen im Permer Gebiet orientieren sich an diesem Typus und weisen eindeutig europäische Züge auf. Dazu gehören die übereinanderliegenden Füße des Gekreuzigten, die Komposition mit Figuren weiterer Personen, vor allem von Maria und Johannes, oder dekorative Elemente wie Muscheln, Ranken, Palmen, Akanthusblätter und Weintrauben. Es lässt sich nachweisen, dass den russischen Schnitzereien entsprechende Kupfergussmodelle und Kupferstiche europäischen Ursprungs zugrunde liegen.

Auch die Skulpturen des leidenden Christus gehen auf westliche Prototypen zurück. Unter dem Einfluss von Mystikern wie Bernhard von Clairvaux, Bonaventura und Gertrud von Helfta fand die Verehrung der Leiden Christi Eingang in die darstellende Kunst. Eine niederländische Skulptur aus dem späten 15. Jahrhundert zeigt einen halbnackten Christus, der mit gefesselten Händen und Füßen auf einem Stein in einem Kerker sitzt. Franziskaner und Zisterzienser verbreiteten das Bild eines nackten, dornengekrönten Christus, der mit seiner rechten Hand die Wange stützt und dessen Arm auf dem Knie aufruht. Vorlage war eine spätgotische Figur in Krakau, die 1510 in Lippersdorf in Sachsen nachgebildet wurde. Wahrscheinlich gelangte die Darstellung durch eine europäische Gravur nach Russland, wo sie sich zu einer der populärsten Skulpturen des leidenden Heilands entwickelte und auch zahlreiche Kirchen des Permer Gebiets schmückte.

Viele andere polychrome Holzfiguren aus dem Permer Gebiet sind typologisch vergleichbar mit italienischen Holzskulpturen des 15. und 16. Jahrhunderts und mit Statuen, die im 16. und 17. Jahrhundert in Kirchen Estlands zu finden waren.

Anknüpfungspunkt für den ökumenischen Austausch

Die geheimnisvolle Welt der christlichen Holzskulpturen hat das religiöse Leben in Russland über Jahrhunderte hinweg geprägt. Beinahe wäre dieser Bereich kirchlicher Kunst völlig ausgelöscht worden. Zum Glück hat sich an verschiedenen Orten, jedoch auf einzigartige Weise im fernen Ural, eine große Zahl dieser Schätze bis in die Gegenwart erhalten. In diesem Erbe dürfen wir auch eine besondere Berufung erblicken. Denn die historischen Verbindungen, von denen die erhaltenen Skulpturen zeugen, bilden eine wertvolle Brücke zwischen Ost- und Westkirche. Sie bringen Berührungspunkte in Erinnerung, an denen heute ein ökumenischer Austausch ansetzen kann.

Literatur-Anmerkungen:
• Publikation in deutscher Sprache zum Thema der religiösen Holzskulpturen in Russland: Marianne Stößl (Hg.): Verbotene Bilder. Heiligenfiguren aus Russland, Hirmer Verlag, München 2006, 271 Seiten.

• Der von der Staatlichen Kunstgalerie Perm herausgegebene und von Olga Michajlowna Wlasowa erarbeitete großformatige Kunstband mit dem Titel „Permer Holzskulptur. Ende des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts“ ist zu finden unter ISBN 978-5-904508-31-9: Власова Ольга Михайловна, Пермская деревянная скульптура конца XVII – начала XX века. Коллекция Пермской государственной художественной галереи, Moskau 2013, 440 Seiten.

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Vorbilder aus allen Jahrhunderten

Heilige Ehepaare

Prälat Prof. Dr. Helmut Moll (geb. 1944) stellt auf 48 Seiten mehr als 60 christliche Ehepaare aus allen Jahrhunderten vor,[1] die im Ehe- und Familienleben sowie in ihrer weltlichen Arbeit zur Heiligkeit gereift sind und auch für heute Vorbildcharakter haben. Dank Resilienz pflegten sie eine gelungene Kommunikation, lebten die Treue und lösten auftretende Konflikte mit ihren Kindern gewaltlos.

Was den deutschen Sprachraum betrifft, sind in die Schrift biographisch aufgenommen das frühchristliche Ehepaar Chrysanthus und Daria (Erzbistum Köln), die mittelalterlichen Paare Richard und Wunna – sie waren die Eltern ihrer heiligen Kinder Willibald, Wunibald und Walburga (Bistum Eichstätt), Kaiser Heinrich II. und Kunigunde (Bamberg/Luxemburg), Stephan II. (Ungarn) und Gisela in Passau mit ihrem hl. Sohn Emerich sowie Bruder Klaus und Dorothea aus der Schweiz, schließlich das neuzeitliche Ehepaar Kaiser Karl I. von Österreich und Kaiserin Zita, der Prinzessin von Bourbon-Parma (Le Mans), aber auch die Ehepaare Louis und Zelie Martin mit ihrer hl. Tochter Sr. Therese vom Kinde Jesus (Frankreich) und Beltrame Quattrocchi (Italien).

Eine Geschenkidee besonders für Brautpaare zur Ehevorbereitung und Hochzeit oder für Eheleute anlässlich von Ehejubiläen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2022
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[1]typo3/#_ftn1 Helmut Moll: Selige und heilige Ehepaare. Mit einem Vorwort von Christoph Kardinal Schönborn, Augsburg, 3. Aufl. 2020, 48 Seiten, geheftet, DIN A5, ISBN 978-3-940879-48-6

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