Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Als einen „Ökumene-Schub“ hat Kurt Kardinal Koch die Begegnungen von Papst Franziskus mit hochrangigen Vertretern der Orthodoxen Kirche in Zypern und Griechenland bezeichnet. Als langjähriger Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen hatte er im Vorfeld an der Vorbereitung der Treffen wesentlich mitgewirkt und schließlich den Papst auf seiner Apostolischen Reise vom 2. bis 6. Dezember 2021 selbst begleitet.

Mit seiner Ansprache, die Papst Franziskus am 3. Dezember 2021 in der Orthodoxen Kathedrale von Nikosia vor dem Orthodoxen Erzbischof von Zypern, Chrysostomos II., und den Mitgliedern des Heiligen Synod gehalten hat, hinterlässt er ein historisches Erbe für den weiteren ökumenischen Dialog zwischen Ost- und Westkirche. Die Flüchtlingslager auf Lesbos hatte er schon fünf Jahren zuvor einmal besucht und sicherlich war die Aufmerksamkeit, die er den Migranten widmete, ein wichtiges Element dieser seiner 35. Auslandsreise. Doch der Hauptbeweggrund, warum er sich kurz vor seinem 85. Geburtstag in dieser adventlichen Zeit auf den Weg machte, war das Bedürfnis, seine orthodoxen Brüder und Schwestern zu treffen und seinem Pontifikat einen unvergesslichen Stempel ökumenischer Geschwisterlichkeit aufzuprägen. Natürlich konnte er damit sein Augenmerk auch auf diesen „Schiffbruch der Zivilisation“ lenken, wie er das Flüchtlingsdrama der heutigen Zeit bezeichnete. Denn er wollte seinen orthodoxen Brüdern und Schwestern zeigen, dass sie mit diesen Herausforderungen nicht allein dastehen, sondern von der katholischen Kirche unterstützt werden.

Die Rede, die er tags darauf bei der Begegnung mit dem Orthodoxen Erzbischof Hieronymus II. in Athen gehalten hat, ist nicht weniger bedeutsam. Darin zitierte er den inzwischen 90-jährigen Griechisch-Orthodoxen Titular-Metropoliten von Pergamon, Ioannis Zizioulas. Der große Dominikaner-Gelehrte Yves Congar (1904-1995) hatte Zizioulas schon vor 40 Jahren als „einen der originellsten und tiefsten Theologen unserer Epoche“ bezeichnet. Damals lehrte Zizioulas in Schottland, zunächst in Edinburgh und dann in Glasgow, 14 Jahre lang Systematische Theologie. Später wurde er Präsident der Athener Akademie und Leiter des Büros des Ökumenischen Patriarchats in Athen. Lange Jahre war er Co-Vorsitzender der Orthodox-Anglikanischen Dialogkommission und übernahm schließlich die Leitung der orthodoxen Delegation in der Gemischten Internationalen Kommission für den Theologischen Dialog zwischen der katholischen Kirche und den orientalisch-orthodoxen Kirchen.

Zizioulas ist auch in der Orthodoxie als einer der bedeutendsten Theologen anerkannt, der mit seiner sog. „Eucharistischen Ekklesiologie“ eine neue Grundlage für die Ökumene zwischen Ost- und Westkirche gelegt hat. Sein Ansatz besteht darin, dass er das Wesen der Kirche vom Bischofsamt und von der Eucharistie her definiert. Wo eine Ortskirche um den Bischof versammelt Eucharistie feiert, konstituiert sich Kirche und ist sie vollkommen verwirklicht. Auf dem Weg der Synodalität vernetzen sich die Ortskirchen zur Universalkirche und fügen sich zum einen Leib Christi zusammen. Dieser Weg der Synodalität bedarf eines Primats (Protos, Primus, Erster). Doch nicht von ihm her konstituiert sich die Kirche, vielmehr ist er Diener ihrer Einheit, so Zizioulas. An dieser Vision orientiert sich auch Papst Franziskus.

Liebe Leser, es ist unglaublich, was für ein dichtes Programm Papst Franziskus bewältigt, wie unermüdlich er sein oberstes Hirtenamt ausübt. Begleiten wir ihn mit intensivem Gebet und glaubensvoller Treue! Wir danken Ihnen für die großherzige Unterstützung unseres Apostolats und wünschen Ihnen Gottes reichsten Segen für das Neue Jahr 2022, vor allem Zuversicht und Frieden im Herzen, der sich durch die ungestümen Auseinandersetzungen unserer Tage nicht erschüttern lässt. Möge uns Maria, die Königin des Friedens, in Einheit zusammenführen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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Die Barnabas-Rede von Papst Franziskus in Zypern

„Unsere Kirche führt ihre Kinder mit Zärtlichkeit zusammen“

In seiner Ansprache am 3. Dezember 2021 in der Orthodoxen Kathedrale von Nicosia vor dem Orthodoxen Erzbischof von Zypern, Chrysostomos II., und den Mitgliedern des Heiligen Synod schüttet Papst Franziskus sein Herz aus, offen und ehrlich. Einen Tag später bittet er in Athen um Vergebung „für die Fehler, die so viele Katholiken begangen haben“, für „Handlungen und Entscheidungen, die wenig oder gar nichts mit Jesus und dem Evangelium zu tun haben“. Nun will er nach vorne blicken.

Von Papst Franziskus

Eure Seligkeit, liebe Bischöfe des Heiligen Synod, ich freue mich, unter euch zu sein, und ich bin dankbar für die herzliche Aufnahme. Ich danke Ihnen, lieber Bruder, für Ihre Worte, für Ihre Offenheit des Herzens und für Ihr Engagement, den Dialog unter uns zu fördern. Ich möchte die Priester, Diakone und alle Gläubigen der orthodoxen Kirche Zyperns grüßen und dabei besonders an die Mönche und Nonnen denken, die durch ihr Gebet den Glauben aller läutern und erheben.

Die Gnade, hier zu sein, erinnert mich daran, dass wir einen gemeinsamen apostolischen Ursprung haben: Paulus zog durch Zypern und kam danach nach Rom. Wir entstammen also demselben apostolischen Eifer, und ein einziger Weg verbindet uns, nämlich der des Evangeliums. Es freut mich zu sehen, dass wir den gleichen Weg gehen, auf der Suche nach immer größerer Geschwisterlichkeit und vollständiger Einheit.

In diesem Teil des Heiligen Landes, der die Gnade jener Orte am Mittelmeerraum ausstrahlt, ist es ganz natürlich, an viele Episoden und Figuren der Bibel zu denken. Unter ihnen möchte ich wieder auf den heiligen Barnabas verweisen und einige Aspekte hervorheben, die uns auf unserem Weg leiten können.

Barnabas: Trost und Ermahnung

„Josef, […] der von den Aposteln Barnabas […] genannt wurde“ (Apg 4,36). So wird er in der Apostelgeschichte vorgestellt. Wir kennen und verehren ihn unter seinem Beinamen, der so bezeichnend für seine Person war. Das Wort Barnabas bedeutet sowohl „Sohn des Trostes“ als auch „Sohn der Ermahnung“. Es ist schön, dass in seiner Gestalt beide Eigenschaften, die für die Verkündigung des Evangeliums unerlässlich sind, miteinander verschmelzen. Jeder echte Trost kann nämlich nicht auf der Gefühlsebene bleiben, sondern muss in eine Ermahnung übersetzt werden, die die Freiheit zum Guten hinführt. Gleichzeitig kann sich jede Ermahnung im Glauben nur auf die tröstende Gegenwart Gottes stützen und von brüderlicher Liebe begleitet sein.

So ermahnt Barnabas, der Sohn des Trostes, uns, seine Brüder, dieselbe Sendung zu übernehmen, den Menschen das Evangelium zu bringen, und lädt uns ein zu verstehen, dass die Verkündigung nicht nur auf allgemeinen Ermahnungen, auf der Wiederholung von Geboten und zu beachtenden Normen beruhen kann, wie es oft geschehen ist. Sie muss dem Weg der persönlichen Begegnung folgen und auf die Fragen der Menschen, auf ihre existenziellen Bedürfnisse achten. Um Kinder des Trostes zu sein, muss man, bevor man etwas sagt, zuhören, sich in Frage stellen lassen, den anderen entdecken, teilen. Denn das Evangelium wird durch Gemeinschaft weitergegeben. Das ist es, was wir als Katholiken in den kommenden Jahren leben wollen, indem wir die synodale Dimension wiederentdecken, die für das Kirche-Sein konstitutiv ist. Und dabei haben wir das Bedürfnis, noch intensiver mit euch, liebe Brüder, zusammenzuarbeiten, die ihr uns durch die Erfahrung eurer Synodalität wirklich helfen könnt. Ich danke euch für eure brüderliche Zusammenarbeit, die auch durch eure aktive Teilnahme an der Gemeinsamen Internationalen Kommission für den theologischen Dialog zwischen der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche zum Ausdruck kommt.

Überwindung der vielen Vorurteile

Ich hoffe aufrichtig, dass die Möglichkeiten, einander zu begegnen, sich besser kennenzulernen, viele Vorurteile abzubauen und den Glaubenserfahrungen der anderen offen zuzuhören, zunehmen werden. Es wird für jeden von uns eine anregende Ermutigung sein, es besser zu machen, und wird uns beiden geistigen Trost spenden. Der Apostel Paulus, von dem wir abstammen, spricht oft vom Trost, und es ist gut vorstellbar, dass Barnabas, der Sohn des Trostes, die Inspiration für einige seiner Worte war, wie zum Beispiel für jene Empfehlung zu Beginn des zweiten Korintherbriefes, dass wir einander mit demselben Trost trösten sollen, mit dem wir von Gott getröstet worden sind (vgl. 2 Kor 1,3-5). In diesem Sinne, liebe Brüder, möchte ich euch meiner Gebete und der Nähe meinerseits und der katholischen Kirche zu euch versichern, sowohl in den schmerzlichsten Problemen, die euch bedrücken, als auch in den schönsten und kühnsten Hoffnungen, die euch beseelen. Eure Traurigkeit und eure Freuden gehören zu uns, wir empfinden sie, als wären sie die unseren! Und wir spüren auch, dass wir eure Gebete sehr nötig haben.

Keine Verabsolutierung bestimmter Sitten und Gebräuche

Dann – als ein zweiter Aspekt – wird der heilige Barnabas in der Apostelgeschichte als „ein Levit, gebürtig aus Zypern“ (Apg 4,36) vorgestellt. Der Text fügt keine weiteren Einzelheiten hinzu, weder über sein Aussehen noch über seine Person, aber gleich danach wird Barnabas durch eine bedeutungsreiche Handlung von ihm offenbart: er „verkaufte einen Acker, der ihm gehörte, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen“ (V. 37). Diese großartige Geste deutet darauf hin, dass auch wir, um die Fülle der Einheit zu fördern, den Mut haben müssen, das Irdische abzulegen, auch wenn es kostbar ist, wenn wir die Gemeinschaft und Sendung neu beleben wollen. Ich spreche sicher nicht von dem, was heilig ist und uns hilft, dem Herrn zu begegnen, sondern von der Gefahr der Verabsolutierung bestimmter Sitten und Gebräuche, die nicht wesentlich sind, um den Glauben zu leben. Lassen wir uns nicht von der Angst lähmen, uns zu öffnen und mutige Zeichen zu setzen, geben wir uns nicht jener „Unversöhnlichkeit der Unterschiede“ hin, die sich nicht im Evangelium widerspiegelt! Wir dürfen nicht zulassen, dass die Traditionen im Sinne eines kulturellen Erbes gegenüber der Tradierung der Botschaft Jesu die Oberhand gewinnen. Diese ermutigt uns, Barnabas nachzuahmen, alles, auch das Gute, zurückzulassen, was die Fülle der Gemeinschaft, den Vorrang der Liebe und die Notwendigkeit der Einheit beeinträchtigen kann.

Barnabas legte den Aposteln seine Habseligkeiten zu Füßen und fand somit Einlass in ihre Herzen. Auch wir sind vom Herrn eingeladen, uns als Teil desselben Leibes wiederzuentdecken und uns zu den Füßen unserer Brüder und Schwestern niederzubeugen. Sicherlich hat die Geschichte auf dem Gebiet unserer Beziehungen tiefe Gräben zwischen uns aufgerissen, aber der Heilige Geist will, dass wir uns in Demut und Respekt wieder einander annähern. Er lädt uns ein, uns nicht mit den Spaltungen der Vergangenheit abzufinden und gemeinsam das Feld des Reiches Gottes geduldig, eifrig und tatkräftig zu bestellen. Denn wenn wir abstrakte Theorien beiseitelassen und Seite an Seite zusammenarbeiten, zum Beispiel in der Nächstenliebe, in der Erziehung, in der Förderung der Menschenwürde, werden wir den Bruder und die Schwester wiederentdecken und die Gemeinschaft wird von selbst reifen, zum Lob Gottes. Jeder wird seine eigene Art und seinen eigenen Stil beibehalten, aber mit der Zeit wird unsere gemeinsame Arbeit mehr Harmonie schaffen und sich als fruchtbar erweisen. So wie diese Mittelmeerländer durch die respektvolle und geduldige Arbeit der Menschen verschönert wurden, so wollen wir mit Gottes Hilfe und demütiger Beharrlichkeit unsere apostolische Gemeinschaft pflegen!

Gemeinschaft durch Opfer und Prüfungen

Eine gute Frucht ist zum Beispiel das, was hier auf Zypern in der Kirche der Allheiligen von der Goldenen Stadt geschieht. Die der Panaghia Chrysopolitissa geweihte Kirche ist heute nicht nur eine Kultstätte für verschiedene christliche Konfessionen, sondern sie wird auch von der Bevölkerung geliebt und wird oft für die Feier von Eheschließungen gewählt. Sie ist somit ein Zeichen der Gemeinschaft des Glaubens und des Lebens unter dem Blick der heiligen Mutter Gottes, die ihre Kinder versammelt. Der Komplex beherbergt auch die Säule, an der der Überlieferung zufolge der heilige Paulus neununddreißig Peitschenhiebe erlitt, weil er in Paphos den Glauben verkündete. Die Mission geht, so wie die Gemeinschaft, immer durch Opfer und Prüfungen hindurch.

Es ist gerade eine Prüfung – das ist der dritte Aspekt, den ich aus der Figur des Barnabas herauslese –, die sein Leben und die Anfänge der Ausbreitung des Evangeliums in diesen Ländern kennzeichnet. Als er mit Paulus und Markus nach Zypern zurückkehrte, traf er auf Elymas, „einen Zauberer und falschen Propheten“ (Apg 13,6), der sich ihnen böswillig widersetzte und versuchte, die geraden Wege des Herrn zu verdrehen (vgl. VV. 8.10). Auch heute mangelt es nicht an Irrtümern und Täuschungen, die uns die Vergangenheit vorgesetzt hat und die den Weg behindern. Jahrhunderte der Teilung und Distanz haben dazu geführt, dass wir uns, wenn auch unfreiwillig, nicht wenige feindselige Vorurteile gegenüber anderen angeeignet haben, Vorurteile, die oft auf unzureichenden und verzerrten Informationen beruhen und durch eine aggressive und polemische Literatur verbreitet wurden. Aber all das verzerrt den Weg Gottes, der auf Eintracht und Einheit abzielt. Liebe Brüder, die Heiligkeit des Barnabas ist auch für uns beredt! Wie oft in der Geschichte haben wir Christen uns damit beschäftigt, andere zu bekämpfen, anstatt den Weg Gottes sanftmütig anzunehmen, der danach strebt, die Spaltungen in Nächstenliebe wieder zusammenzufügen! Wie oft haben wir Vorurteile über andere übertrieben und verbreitet, anstatt die Ermahnung zu befolgen, die der Herr besonders im von Markus verfassten Evangelium, der mit Barnabas auf dieser Insel war, wiederholt: Macht euch klein, werdet einander zu Dienern (vgl. Mk 9,35; 10,43-44).

Im Geist der Mütterlichkeit der Kirche aufeinander zugehen

Seligkeit, ich war heute bewegt, als Sie in unserem Gespräch über die Mutter Kirche sprachen. Unsere Kirche ist Mutter, und eine Mutter führt ihre Kinder immer mit Zärtlichkeit zusammen. Lasst uns dieser Mutter Kirche vertrauen, die uns alle mit Geduld, Zärtlichkeit und Mut auf dem Weg des Herrn weiterführt. Um die Mütterlichkeit der Kirche zu spüren, müssen wir alle dorthin gehen, wo die Kirche Mutter ist. Wir alle, mit unseren Unterschieden, aber alle Kinder der Mutter Kirche. Danke für diese Betrachtung, die Sie heute mit mir gemacht haben.

Bitten wir den Herrn um Weisheit und Mut, seinen Wegen zu folgen und nicht den unseren. Bitten wir darum auf die Fürbitte der Heiligen. Leontios Machairas, ein Chronist aus dem 15. Jahrhundert, bezeichnete Zypern aufgrund der vielen Märtyrer und Seligen, die dieses Land im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat, als „heilige Insel“. Neben den bekanntesten und am meisten verehrten – wie Barnabas, Paulus und Markus, Epiphanios, Barbara und Spyridon – gibt es noch viele andere: unzählige Heerscharen von Heiligen, die, vereint in der einen himmlischen Kirche – der Mutter Kirche – uns aufrufen, gemeinsam dem Hafen entgegenzusegeln, nach dem wir uns alle sehnen. Von dort oben laden sie uns ein, aus Zypern, das bereits eine Brücke zwischen Ost und West ist, eine Brücke zwischen Himmel und Erde zu machen. So sei es, zur Ehre der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, zu unserem Wohl und zum Wohl aller. Danke.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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Die „Eucharistische Ekklesiologie“ des Orthodoxen Metropoliten Ioannis Zizioulas

Synodalität und Primat

Am 4. November 2015 wurde dem Griechisch-Orthodoxen Theologen Metropolit Ioannis Zizioulas (geb. 10.01.1931) durch die Ausbildungseinrichtung für Orthodoxe Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität München das Ehrendoktorat verliehen. Kurt Kardinal Koch, seit 2010 Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, hielt die Laudatio. Zizioulas gilt als einer der bedeutendsten Theologen für die Ökumene zwischen Ost- und Westkirche. Kardinal Koch stellt seinen ekklesiologischen Ansatz vor. Ein Auszug aus der Laudatio.

Von Kurt Kardinal Koch

Das orthodoxe Verständnis von Kirche lässt sich zweifellos am adäquatesten als eucharistische Ekklesiologie beschreiben, die vor allem von russischen Exilstheologen wie Nicholas Afanasjev in Paris nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt worden ist, und zwar bewusst im Gegensatz zu dem von ihnen behaupteten Zentralismus des Papsttums in der Römisch-katholischen Kirche. Gemäß der eucharistischen Ekklesiologie in orthodoxer Sicht ist die Kirche Jesu Christi in jeder um ihren Bischof versammelten Ortskirche, in der die Eucharistie gefeiert wird, gegenwärtig und verwirklicht. Die mit ihrem Bischof Eucharistie feiernde Ortskirche ist Repräsentation, Aktualisation und Realisation der einen Kirche am konkreten Ort.

Grundlagen bei den Kirchenvätern

Nach Metropolit Ioannis Zizioulas finden sich die Grundlagen der eucharistischen Ekklesiologie in der patristischen Tradition und noch grundlegender in der Heiligen Schrift, vor allem bei Paulus, der im Ersten Brief an die Korinther die Kirche als eucharistische synaxis (Versammlung) beschreibt: „wenn ihr als Gemeinde zusammenkommt“. In dieser bedeutungsvollen Aussage erblickt Zizioulas das Fundament für Verständnis und Vollzug der Eucharistie in der Apostolischen Zeit und folgert aus ihr eine grundlegende Identität der zur Eucharistie versammelten Gemeinschaft der Gemeinde mit der Kirche. Die Eucharistie ist nicht einfach ein vereinzelter liturgischer Akt und auch nicht einfach eines der sieben Sakramente, sondern ist konstitutiv für das Sein der Kirche selbst. Die Kirche ist in der Eucharistie begründet, und aus der Eucharistie entsteht Kirche, wie diese theologische Grundüberzeugung der Washingtoner katholische Theologe Paul McPartlan in seiner Dissertation über die eucharistische Ekklesiologie von John Zizioulas im Vergleich mit derjenigen von Henri de Lubac bereits im Titel treffend zum Ausdruck gebracht hat: „The Eucharist makes the Church.“ („Die Eucharistie macht die Kirche.“)[1]

Eucharistie und Bischofsamt

Die charakteristische Weiterentwicklung der der Orthodoxie gemeinsamen eucharistischen Ekklesiologie bei Metropolit Ioannis besteht in der herausragenden Bedeutung, die in seiner ekklesiologischen Sicht dem Bischof zukommt: Der Bischof bildet so sehr den Mittelpunkt der eucharistischen Ekklesiologie, dass man von einer episkopozentrischen Sicht sprechen muss, wie Metropolit Ioannis selbst betont: „The Church is a community with a specific structure, and this structure is episcopocentric.“ („Die Kirche ist eine Gemeinschaft mit einer spezifischen Struktur, und diese Struktur ist bischofszentriert.“)[2] Die Zentralität des Bischofsamtes hat Zizioulas deutlich ins theologische Bewusstsein gebracht mit der englischen Übersetzung seiner ursprünglich griechisch verfassten Dissertation: „Eucharist, Bishop, Church“ („Eucharistie, Bischof, Kirche“).

Im Unterschied zur Pariser Exilstheologie betont Zizioulas sehr stark die Rolle des Bischofs in der Liturgie und versteht von daher die Ortskirche als die um den Bischof versammelte eucharistische Gemeinde. Als Vorsteher in der Liturgie erweist sich der Bischof als diejenige Person, in der die Einheit der Kirche dargestellt und gewährt wird. Dabei stützt sich Zizioulas wiederum auf Paulus, der bei der Zusammenkunft der eucharistischen Gemeinschaft zwischen dem Vorsteher und denjenigen unterscheidet, die mit Amen antworten. Diese Konzeption eines harmonischen Miteinanders zwischen dem Bischof, der der Erste ist, und den anderen Gliedern der Kirche sieht Zizioulas sodann vor allem in der Ekklesiologie des heiligen Ignatius von Antiochien grundgelegt, dessen Sicht er dahingehend zusammenfasst, dass für Ignatius die Kirche in ihrer Fülle erscheint, „wenn der Bischof zusammen mit seinen Presbytern, Diakonen und dem Kirchenvolk anwesend ist, um die Eucharistie zu feiern“.

Communio von Ortskirchen

Die enge Zusammenschau von Kirche, Eucharistie und Bischofsamt hat wichtige Konsequenzen, die auch in ökumenischer Sicht von Bedeutung sind. An erster Stelle folgt aus der zentralen Rolle des Bischofs, dass die eucharistische Ekklesiologie von Metropolit Ioannis eine streng ortskirchliche Theologie ist. Wenn die Kirche Jesu Christi in der Eucharistie zum Ausdruck kommt, in der der Bischof im Kreis der Priester und Diakone den Vorsitz hat, dann ist die Ortskirche, die von einem Bischof geleitet wird, nicht einfach ein Teil der Universalkirche, sondern selbst Kirche im gehaltvollen Sinn. Jede Ortskirche, die mit ihrem Bischof Eucharistie feiert, ist ganz Kirche, der darüber hinaus nichts fehlt. Dies bedeutet auf der anderen Seite jedoch nicht, dass die einzelne Ortskirche in sich isoliert wäre oder es sein dürfte, sie steht vielmehr in Beziehung mit den anderen Ortskirchen, so dass die Universalkirche als Gemeinschaft von Kirchen, als Communio von Ortskirchen zu verstehen ist und darin die Essenz der Konziliarität gegeben ist. Die Rolle des Bischofs besteht deshalb nicht nur darin, dass er der Eucharistie in der Ortskirche vorsteht, sondern dass er auch die Beziehung zu den anderen Ortskirchen ermöglicht. In diesem Sinn ist er Bindeglied der Kirche auf der Weltebene, gleichsam Bindeglied der Katholizität der Kirche.

Der Bischof bildet zweitens auch deshalb die Grundlage der eucharistischen Ekklesiologie, weil er der Garant der Einheit der Ortskirche ist, und zwar in konsequenter Weise. Wie in Christus „nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener“ ist (Kol 3,11), so vereint der Bischof, in dem Christus abgebildet ist, in seiner Person als Haupt die ganze Ortskirche, indem er die sozialen, nationalen und anderen Unterschiede zu überwinden versucht. Damit der Bischof diese Aufgabe wahrnehmen kann, muss jenes Prinzip in Geltung sein, das bereits in der Zeit des heiligen Ignatius von Antiochien bezeugt ist, das in Kanon 8 des Ersten Ökumenischen Konzils festgeschrieben ist und das besagt, dass es in ein- und derselben Stadt nicht mehr als einen Bischof geben kann. Dieses Prinzip hält Metropolit Ioannis für die Kirche auf der lokalen Ebene für schlechterdings entscheidend; es ist denn auch innerhalb der Orthodoxie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Ehrfurcht beachtet worden.

In der neueren Zeit aber werden in der orthodoxen Diaspora in der gleichen Diözese mehrere orthodoxe Bischöfe aus verschiedenen Jurisdiktionen eingesetzt, so dass diese parallelen Jurisdiktionen den fundamentalen Grundsatz orthodoxer Ekklesiologie in Frage stellen. Metropolit Ioannis hat diese Verletzung des fundamentalen ekklesiologischen Prinzips orthodoxer Ekklesiologie immer wieder angemahnt, und zwar mit deutlichen Worten in seiner Eröffnungsansprache bei der IV. Vorkonzilaren Pan-orthodoxen Konferenz von Chambésy im Jahre 2009: „Schwerlich könnte jemand zweifeln, dass der gegenwärtige Modus der Organisation der orthodoxen Diaspora aus kanonischer und ekklesiologischer Sicht ernsthaft krankt."[3] Mit diesem Hinweis soll nur verdeutlicht werden, dass die eucharistische Ekklesiologie des Metropoliten von Pergamon nicht nur eine große Herausforderung im ökumenischen Dialog mit der katholischen Kirche darstellt, sondern sich aus ihr auch kritische Anfragen an die Praxis der orthodoxen Kirche selbst ergeben.

Von daher beginnt man zu verstehen, dass die theologische Dissertation des Metropoliten Ioannis von einigen Professoren an der Theologischen Fakultät in Athen offensichtlich als Dynamit unter dem Fundament der Orthodoxie empfunden und deshalb zunächst abgelehnt worden ist, um sie dann freilich später mit der höchsten Note zu bewerten. An dieses Ereignis darf man wohl an der Theologischen Fakultät in München erinnern, weil Zizioulas hier einen Leidensgenossen in der Gestalt von Papst Benedikt XVI. hat, dessen Dissertation vom Zweitgutachter abgelehnt worden ist und mit ihrem ganzen Umfang erst in der Zeit seines petrinischen Dienstes veröffentlicht worden ist.

Ökumenische Fruchtbarkeit der Ekklesiologie von Zizioulas

Nicht nur auf der lokalen, sondern auch auf der regionalen und universalen Ebene bildet die Kirche in der Sicht von Ioannis Zizioulas einen ungeteilten Leib, sofern die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Ortskirchen in der Zusammenkunft der Bischöfe zu einer Synode zum Ausdruck kommt. In diesem Sinn erblickt Zizioulas in der Pentarchie in der Alten Kirche jenes Prinzip, das die Einheit der Kirche auf der regionalen und universalen Ebene ausdrückt. Bei diesem synodalen System ist es von grundlegender Bedeutung, dass jede Synode einen Ersten, einen protos, braucht, dass aber auch der Erste unter den Bischöfen eine Synode braucht, und zwar mit der Konsequenz, dass der Erste nicht über der Synode steht und die Synode nicht ohne ihren Ersten bestehen kann. Von daher wird deutlich, dass Metropolit Ioannis in der Art und Weise, wie die katholische Kirche das Petrusamt versteht und vollzieht, eine Verletzung dieses elementaren Prinzips sieht. Denn in orthodoxer Sicht ist auf der Grundlage der Eucharistischen Ekklesiologie auch der Bischof von Rom Vorsteher einer Ortskirche, von der er dazu befähigt ist, auf regionaler und universaler Ebene Mitglied der Synode zu sein. Auf der anderen Seite macht sich Zizioulas auch dafür stark, dass die Kirche auch auf der universalen Ebene einen protos braucht, um von daher einen ökumenischen Konsens bei der Frage des Primats des Bischofs von Rom zu finden.

Mit dem Aufzeigen dieser vielfältigen Perspektiven der Eucharistischen Ekklesiologie von Metropolit Ioannis dürfte sichtbar geworden sein, welchen Einfluss sie im ökumenischen Dialog zwischen der Katholischen und Orthodoxen Kirche ausgeübt haben und es weiterhin tun. Man findet sie vor allem im gemeinsamen Dialog-Dokument von Ravenna aus dem Jahre 2007 mit dem Titel „Ekklesiologische und kanonische Konsequenzen der sakramentalen Natur der Kirche. Kirchliche Communio, Konziliarität und Autorität“ wieder. In diesem Dokument ist nicht nur festgehalten, dass die Kirche auf allen Ebenen, auch auf der universalen Ebene, einen protos braucht und Synodalität und Primat in dem Sinne wechselseitig voneinander abhängig sind, dass der Primat immer im Kontext der Konziliarität und diese im Kontext des Primates betrachtet werden muss. Im Ravenna-Dokument findet sich vielmehr auch eine theologische Beschreibung der Kirche ganz im Geist der eucharistischen Ekklesiologie von Ioannis Zizioulas: „Die Kirche Gottes existiert dort, wo es eine Gemeinde gibt, die in der Eucharistie versammelt wird unter dem Vorsitz – direkt oder durch seine Priester – eines legitim in die apostolische Sukzession geweihten Bischofs, der den von den Aposteln empfangenen Glauben in Communio mit den anderen Bischöfen und ihren Kirchen lehrt."[4]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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[1] P. McPartlan: The Eucharist makes the Church. Henri de Lubac et John Zizioulas in dialogue, Edinburg 1993.
[2] J. Zizioulas: Eucharist, Bishop, Church: The Unity of the Church in the Divine Eucharist and the Bishop During the First Three Centuries, Masschusetts 2001, 7.
[3] Eröffnungsansprache des Vorsitzenden der IV. Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz von Chambésy/Genf, Metropolit Ioannis von Pergamon (08.06.2009), in: A. Kallis: Auf dem Weg zu einem Heiligen und Großen Konzil. Ein Quellen- und Arbeitsbuch zur orthodoxen Ekklesiologie, Münster 2013, 594-599, zit. 597.
[4] Gemeinsame Internationale Kommission für den theologischen Dialog zwischen der Römisch-katholischen und der Orthodoxen Kirche: Ekklesiologische und kanonische Konsequenzen der sakramentalen Natur der Kirche. Kirchliche Communio, Konziliarität und Autorität, in: J. Oeldemann u.a. (Hg.): Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte Interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 4: 2001-2010, Paderborn-Leipzig 2012, 833-848, zit. 838.  

„Ein leuchtender, in ganzer Fülle gelebter Kommentar zum Evangelium“

Hl. Theresia von Lisieux: Expertin der „Wissenschaft der Liebe“

Das „Theresienwerk“ wurde vor 50 Jahren ins Leben gerufen, um die Spiritualität der hl. Theresia von Lisieux in die Herzen der Menschen zu tragen. Aus diesem Anlass begeht das Theresienwerk 2022 ein ganzes Jubiläumsjahr, das wir mit einer Artikelserie begleiten. Zu Beginn lassen wir Papst Benedikt XVI. zu Wort kommen, der seine Katechese bei der Generalaudienz am 6. April 2011 der hl. Theresia von Lisieux gewidmet hat. Mit seinen Katechesen über Heilige schenkte Benedikt XVI. der Kirche einen besonderen Schatz. Es ging ihm nicht um beeindruckende Biografien, sondern darum, was uns diese Heiligen über den Glauben der Kirche lehren. Er stellte heraus, inwiefern ihr Leben eine Katechese darstellt bzw. einen Beitrag zum vertieften Verständnis der Lehre der Kirche leistet. Auf wunderbare Weise arbeitete er die entscheidenden Impulse heraus, die vom Lebenszeugnis der hl. Theresia von Lisieux ausgehen. Dreieinhalb Wochen nach dieser Katechese, nämlich am 1. Mai 2011, sprach Benedikt XVI. seinen Vorgänger Johannes Paul II. selig, der die hl. Theresia von Lisieux zur Kirchenlehrerin erhoben hatte.

Von Papst Benedikt XVI.

Heute möchte ich über die hl. Theresia von Lisieux, Theresia vom Kinde Jesus und vom heiligen Antlitz, sprechen. Sie hat nur 24 Jahre in dieser Welt gelebt, am Ende des 19. Jahrhunderts, und ein sehr einfaches und verborgenes Leben geführt, ist aber nach ihrem Tod und der Veröffentlichung ihrer Schriften zu einer der bekanntesten und beliebtesten Heiligen geworden. Die „kleine Theresia“ lässt nicht nach, den einfachen Seelen, den Kleinen, den Armen und den Leidenden zu helfen, die zu ihr beten, aber sie hat auch die ganze Kirche mit ihrer tiefen geistlichen Lehre erleuchtet. Daher hat der ehrwürdige Diener Gottes Papst Johannes Paul II. ihr 1997 den Titel der Kirchenlehrerin verliehen, zusätzlich zu dem der Patronin der Missionen, den sie bereits 1927 von Pius XI. erhalten hatte. Mein geliebter Vorgänger bezeichnete sie als „Expertin der ,scientia amoris‘“ (Novo millennio ineunte, 42).

Eine wunderbare Liebesgeschichte

Diese „Wissenschaft“, die in der Liebe die ganze Wahrheit des Glaubens erstrahlen sieht, fasst Theresia vor allem in ihrer Lebensbeschreibung in Worte, die ein Jahr nach ihrem Tod unter dem Titel Geschichte einer Seele veröffentlicht wurde. Dieses Buch war sofort sehr erfolgreich, wurde in viele Sprachen übersetzt und in der ganzen Welt verbreitet. Ich möchte euch einladen, diesen kleinen und doch so großen Schatz wiederzuentdecken, diesen leuchtenden, in ganzer Fülle gelebten Kommentar zum Evangelium! Die Geschichte einer Seele ist in der Tat eine wunderbare Liebesgeschichte, die mit einer solchen Wahrhaftigkeit, Einfachheit und Frische erzählt wird, dass sie den Leser einfach faszinieren muss! Aber welche Liebe hat Theresias ganzes Leben, von der Kindheit bis zum Tod, erfüllt? Liebe Freunde, diese Liebe hat ein Antlitz, sie hat einen Namen: Jesus! Die Heilige spricht unablässig von Jesus. Ich möchte also die großen Abschnitte ihres Lebens nachvollziehen, um in das Herz ihrer Lehre einzutreten.

„Meine vollständige innere Wandlung“

Theresia wird am 2. Januar 1873 in Alençon, einer Stadt in der Normandie in Frankreich, geboren. Sie ist die jüngste Tochter von Louis und Zélie Martin, vorbildlichen Eheleuten und Eltern, die am 19. Oktober 2008 gemeinsam seliggesprochen wurden. Sie hatten neun Kinder; vier von ihnen starben bereits in zartem Alter. Übrig blieben fünf Töchter, die alle Ordensfrauen wurden. Mit vier Jahren wurde Theresia vom Tod ihrer Mutter zutiefst getroffen (Ms A, 13r; vgl. Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele und weitere Selbstzeugnisse, gesammelt, übersetzt und eingeleitet von Otto Karrer, München 1952, S. 34-36). Der Vater zog daraufhin mit den Töchtern in die Stadt Lisieux, wo sich das ganze Leben der Heiligen abspielen wird. Später wurde Theresia, die von einem schweren Nervenleiden befallen wurde, durch eine göttliche Gnade geheilt, die sie selbst als das „Lächeln der seligsten Jungfrau“ bezeichnet (29v-30v; ebd. S. 61). Dann empfing sie die Erstkommunion, die sie zutiefst erlebte (35r; vgl. ebd., S.70-72), und stellte den eucharistischen Jesus in den Mittelpunkt ihrer Existenz. Die „Weihnachtsgnade“ von 1886 ist die große Wende, die sie als „meine vollständige innere Wandlung“ bezeichnet (44v-45r; ebd., S. 85): Sie wird von ihrer kindlichen Überempfindlichkeit geheilt und beginnt voranzuschreiten, „wie ein Riese seinen Weg läuft“.

Erfahrung der geistlichen Mutterschaft

Im Alter von 14 Jahren nähert sich Theresia immer mehr mit großem Glauben dem gekreuzigten Jesus und nimmt sich des scheinbar aussichtslosen Falles eines zum Tode verurteilten und unbußfertigen Verbrechers an (45v-46v; ebd., S.88-89). „Um jeden Preis wollte ich die Sünder dem ewigen Verderben entreißen“, schreibt die Heilige in der Gewissheit, dass ihr Gebet ihn dem erlösenden Blut Christi zugeführt hätte. Es ist ihre erste und grundlegende Erfahrung der geistlichen Mutterschaft. „So sehr vertraue ich auf deine [Jesu] grenzenlose Barmherzigkeit“, schreibt sie (ebd., S. 88). Wie die Gottesmutter Maria liebt, glaubt und hofft die junge Theresia „mit dem Herzen einer Mutter“ (vgl. PR 6/10r).

Im November 1887 begibt sich Theresia zusammen mit ihrem Vater und der Schwester Céline auf eine Pilgerreise nach Rom (55v-67r; vgl. ebd., S. 107-124). Der Höhepunkt ist für sie die Audienz bei Papst Leo XIII., den sie um Erlaubnis bittet, mit 15 Jahren in den Karmel von Lisieux eintreten zu dürfen. Ein Jahr später wird ihr Wunsch Wirklichkeit: Sie wird Karmelitin, „um Seelen zu retten und besonders für die Priester zu beten“ (69v; ebd., S. 130). Gleichzeitig beginnt auch die schmerzhafte und demütigende Geisteskrankheit ihres Vaters. Dieser große Schmerz bringt Theresia dazu, das Antlitz Jesu in seinem Leiden zu betrachten (71rv; vgl. ebd., S. 133). So bringt sie durch ihren Ordensnamen – Schwester Theresia vom Kinde Jesus und vom heiligen Antlitz – ihren ganzen Lebensplan zum Ausdruck, vereint mit den zentralen Geheimnissen der Menschwerdung und der Erlösung.

Vermählung mit Christus in der „Kleinheit“

Ihre Ordensprofess am Fest Mariä Geburt, dem 8. September 1890, ist für sie eine wahre geistliche Vermählung in der „Kleinheit“ nach dem Evangelium, für die sie das Symbol der Blume gebraucht. Sie schreibt: „Mariä Geburt, welch schönes Fest für die Vermählung mit Christus! Das kleine Kind Maria brachte dem kleinen Jesus seine kleine Blume dar“ (77r; ebd., S. 145). Ordensfrau zu sein bedeutet für Theresia, Braut Christi und Mutter der Seelen zu sein (vgl. Ms B, 2v). Am selben Tag schreibt die Heilige ein Gebet, das die ganze Ausrichtung ihres Lebens darlegt: Sie bittet Jesus um das Geschenk seiner grenzenlosen Liebe; sie bittet darum, die Kleinste zu sein, und vor allem bittet sie um das Heil aller Menschen: „Keine Seele soll heute in die Verdammnis geraten“ (Pr 2). Von großer Bedeutung ist ihre Weihe an die barmherzige Liebe, die sie am Dreifaltigkeitssonntag des Jahres 1895 vornimmt (Ms A, 83v-84r; Pr 6; vgl. ebd., S. 160-161). An dieser Weihe lässt Theresia, die bereits stellvertretende Novizenmeisterin ist, ihre Mitschwestern sofort teilhaben.

Tiefe Vereinigung mit dem Leiden Jesu

1896, zehn Jahre nach der „Weihnachtsgnade“, kommt die „Ostergnade“, die Theresias letzten Lebensabschnitt eröffnet: der Beginn ihres Leidens in tiefer Vereinigung mit dem Leiden Jesu. Es ist ein leibliches Leiden in Form der Krankheit, die sie durch große Leiden zum Tod führen wird, vor allem aber ein Leiden der Seele in Form einer äußerst schmerzlichen Glaubensprüfung (Ms C, 4v-7v). Mit Maria beim Kreuz Jesu lebt Theresia damals einen heroischen Glauben, wie Licht in der Finsternis, die in ihre Seele eindringt. Die Karmelitin ist sich bewusst, dass sie diese große Prüfung für das Heil aller glaubenslosen Menschen der modernen Welt lebt, die sie „Brüder“ nennt. Daher lebt sie die geschwisterliche Liebe noch intensiver (8r-33v; vgl. ebd., S. 169-190): zu den Schwestern ihrer Gemeinschaft, zu den Missionaren, ihren geistlichen Brüdern, zu den Priestern und zu allen Menschen, besonders den Fernstehenden. Sie wird wirklich zu einer „universalen Schwester“! Ihre sanfte und lächelnde Liebe ist Ausdruck der tiefen Freude, deren Geheimnis sie uns offenbart: „Jesus, dich zu lieben ist meine Freude“ (P 45/7). Mitten in diesem Leiden lebt die Heilige die größte Liebe in den kleinsten Dingen des Alltags und erfüllt so ihre Berufung, im Herzen der Kirche die Liebe zu sein (vgl. Ms B, 3v; vgl. ebd., S. 232).

Theresia stirbt am Abend des 30. September 1897 mit den einfachen Worten „Mein Gott, ich liebe Dich!“; ihr Blick ist auf das Kreuz gerichtet, das sie in Händen hält. Diese letzten Worte der Heiligen sind der Schlüssel zu ihrer ganzen Lehre, zu ihrer Auslegung des Evangeliums. Die Liebesbekundung, die sie in ihrem letzten Atemzug machte, war gleichsam der ständige Atem ihrer Seele, ihr Herzschlag. Die einfachen Worte „Jesus, ich liebe dich“ stehen im Mittelpunkt all ihrer Schriften. Die Liebe zu Jesus nimmt sie in die allerheiligste Dreifaltigkeit hinein. Sie schreibt: „Ach du weißt, dass ich dich liebe, göttlicher Jesus, / Der Geist der Liebe entflammt mich mit seinem Feuer, / In der Liebe zu dir ziehe ich den Vater an“ (P 17/2).

Die „Wissenschaft der Heiligen“

Liebe Freunde, gemeinsam mit der hl. Theresia vom Kinde Jesus sollten auch wir dem Herrn jeden Tag immer wieder sagen können, dass wir aus der Liebe zu ihm und zu den anderen leben und in der Schule der Heiligen lernen wollen, wahrhaft und vollkommen zu lieben. Theresia ist eine der „Kleinen“ des Evangeliums, die sich von Gott in die Tiefen seines Geheimnisses führen lassen. Sie ist eine Führerin für alle, besonders für jene, die im Gottesvolk den Dienst der Theologen ausüben. Mit Demut und Liebe, Glauben und Hoffnung dringt Theresia unablässig in das Herz der Heiligen Schrift vor, die das Geheimnis Christi enthält.

Und eine solche Lektüre der Bibel, von der „Wissenschaft der Liebe“ genährt, steht nicht im Gegensatz zur akademischen Wissenschaft. Die „Wissenschaft der Heiligen“, von der sie selbst am Ende der Geschichte einer Seele spricht, ist die höchste Wissenschaft. „Alle Heiligen haben dies begriffen, vielleicht am besten solche, die die Welt mit der Predigt des Evangeliums erhellten. Der hl. Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes vom Kreuz, die hl. Theresia und so viele Gottesfreunde – schöpften sie nicht aus dem Gebete ihre ganze erhabene Weisheit, das Entzücken der größten Geister?“ (Ms C, 36r; ebd., S. 220-221). Die Eucharistie, vom Evangelium untrennbar, ist für Theresia das Sakrament der göttlichen Liebe, die sich bis zum Äußersten erniedrigt, um uns zu Gott zu erheben. In ihrem letzten Brief schreibt die Heilige über ein Bild, auf dem das Jesuskind in der geweihten Hostie dargestellt ist, diese einfachen Worte: „Ich kann einen Gott, der für mich so klein geworden ist, nicht fürchten! (…) Ich liebe ihn! Denn er ist nichts als Liebe und Barmherzigkeit!“ (LT 266).

Der kleine Weg des Vertrauens und der Liebe

Im Evangelium entdeckt Theresia vor allem die Barmherzigkeit Jesu. Sie sagt sogar: „Er hat mir seine unendliche Barmherzigkeit geschenkt; durch sie betrachte und verehre ich die anderen göttlichen Vollkommenheiten! (…) Dann erscheinen mir alle strahlend vor Liebe, und selbst die Gerechtigkeit – vielleicht noch mehr als jede andere – scheint mir mit Liebe bekleidet“ (Ms A, 84r). So drückt sie sich auch am Ende der Geschichte einer Seele aus: „Ich brauche nur das heilige Evangelium aufzuschlagen, da weht mir der Duft des Lebens Jesu entgegen, und ich weiß, wohin ich mich wenden soll. Nicht auf den ersten Platz stürze ich mich – zum untersten eile ich. (…) Selbst wenn ich alle möglichen Verbrechen auf dem Gewissen hätte, ich glaube, mein Vertrauen wäre doch nicht geringer: mit einem vom Schmerz der Reue gebrochenen Herzen eilte ich in die Arme meines Erlösers. Ich weiß, er liebte den verlorenen Sohn“ (Ms C, 36v-37r; ebd., S. 221-222).

„Vertrauen und Liebe“ sind also der Schlusspunkt ihrer Lebensbeschreibung, zwei Worte, die ihren ganzen Weg der Heiligkeit wie Leuchtfeuer erhellt haben, um andere auf demselben „kleinen Weg des Vertrauens und der Liebe“, der geistlichen Kindschaft zu leiten (vgl. Ms C, 2v-3r; LT 226): ein Vertrauen wie das eines Kindes, das sich in die Hände Gottes fallen lässt.

Dieses Vertrauen ist nicht zu trennen vom starken, radikalen Einsatz der wahren Liebe, der immerwährenden Selbsthingabe, wie die Heilige mit Blick auf Maria sagt: „Zu lieben heißt, alles hinzuschenken, sich selbst hinzuschenken“ (Warum ich dich liebe, o Maria, P 54/22). So zeigt Theresia uns allen, dass das christliche Leben darin besteht, die Taufgnade durch die völlige Selbsthingabe an die Liebe des Vaters in Fülle zu leben, um wie Christus im Feuer des Heiligen Geistes seine Liebe zu allen Menschen zu leben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Größte katholische Kirche auf der Arabischen Halbinsel eingeweiht

Unsere Liebe Frau von Arabien

Am 10. Dezember 2021 ist die katholische Kathedrale Unserer Lieben Frau von Arabien im Königreich Bahrain mit der Feier einer heiligen Messe durch Kardinal Luis Antonio Tagle eingeweiht worden. An der feierlichen Veranstaltung auf dem Inselstaat im Persischen Golf, die nach der offiziellen Eröffnung durch Scheich Abdullah bin Hamad Al Khalifa stattfand, nahm unter anderem Bischof Paul Hinder teil, Apostolischer Vikar für Nord-arabien, sowie Erzbischof Eugene Nugent, Apostolischer Nuntius in Bahrain und Kuwait.

Von CNA Deutsch

Der neue Dom ist das größte Kirchenbauprojekt auf der Arabischen Halbinsel. Die Bauzeit dauerte fast sieben Jahre. Die Kirche befindet sich in Awali, etwa 23 Kilometer südlich von Manama, der Hauptstadt des Inselstaats Bahrain. Die neue Kathedrale in Form eines Zelts verfügt über 2300 Sitzplätze, zwei Kapellen und Veranstaltungsräume. Auch das 2012 errichtete Apostolische Vikariat für das Nördliche Arabien hat dort seinen Sitz. Das Zentrum kann auch von anderen christlichen Konfessionen genutzt werden.

„Die neue Kathedrale ist ein wichtiger Schritt in den Beziehungen zwischen Kirche und Staat, und sie zeugt auch von der wachsenden Zahl der Katholiken auf der Arabischen Halbinsel“, erklärte Regina Lynch, Projektdirektorin am Sitz der internationalen Zentrale von Kirche in Not in Königstein im Taunus. „Bisher gab es nur fünf offiziell anerkannte Kirchen für die Gläubigen in einer Region, die fast so groß ist wie Deutschland und Frankreich zusammen.“

In Bahrain, wo etwa 90.000 Katholiken leben, existierten bislang nur eine Kirche in der Hauptstadt Manama und eine Kapelle in einem Vorort. Dort mussten über das Wochenende bislang 25 heilige Messen gefeiert werden, um allen Gläubigen die Teilnahme zu ermöglichen. Die Gottesdienste waren stets überfüllt.

Im Jahr 2007 bat Bischof Camillo Ballin, damals Apostolischer Vikar von Kuwait, den Heiligen Stuhl um die Einführung eines Festtages zu Ehren der Jungfrau Maria mit dem Titel „Unsere Liebe Frau von Arabien“ gebeten. Im Jahr 2011 erklärte der Heilige Stuhl die Gottesmutter von Arabien offiziell zur Patronin der beiden Vikariate auf der arabischen Halbinsel.

Im Königreich Bahrain gibt es seit den 1930er Jahren eine lokale katholische Gemeinde, zu der vor allem ausländische Gastarbeiter gehören. Nach Angaben des Vikariats umfasst die katholische Gemeinde derzeit 150.000 Gläubige, vor allem aus Indien und den Philippinen. In den letzten Jahrzehnten und bis heute gab es nur zwei Kirchen im Land, und der Mangel an Gotteshäusern, in denen Liturgien gefeiert und Sakramente gespendet werden konnten, wurde immer deutlicher spürbar. Angesichts dieser Situation schenkte König Hamad bin Isa Al Khalifa dem Vikariat ein 9.000 Quadratmeter großes Grundstück in der Gemeinde Awali für den Bau einer neuen Kirche.

Am 19. Mai 2014 überreichte König Hamad bin Isa bei seinem Besuch im Vatikan Papst Franziskus persönlich ein Modell der im Bau befindlichen Kathedrale und am vergangenen 25. November lud König Ahmad bin Isa Papst Franziskus offiziell zu einem Besuch in Bahrain ein. Für den Leiter des Bauprojekts, Dompfarrer Saji Thomas, ist das neue Gotteshaus „ein Paradebeispiel für religiöse Harmonie und Toleranz und ein großartiges Beispiel für friedliche Koexistenz“, wie er gegenüber Kirche in Not erklärte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Anmerkung zu einer Grundsatzentscheidung des „Synodalen Weges“

Homosexualität im Licht der Bibel

Der „Synodale Weg“, auf dem die deutschen Bischöfe zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken unterwegs sind, beschäftigt sich auch mit der Sexualmoral der Kirche. Das Synodalforum IV steht unter dem Thema „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“. Ein wichtiges Ziel dieses Forums besteht darin, homosexuelle Partnerschaften als etwas Gottgefälliges anzuerkennen, insofern sie ihre Sexualität in einer Beziehung leben, „die auf Treue, Dauer und Ausschließlichkeit hin angelegt ist“. Als Begründung werden theologische Voten ins Feld geführt, die behaupten, die biblische Verurteilung von aktiv gelebter Homosexualität hätte für solche Beziehungen keine Gültigkeit, da die biblischen Autoren ein solches Zusammenleben gar nicht im Blick gehabt hätten. Dazu nimmt Paul Josef Kardinal Cordes Stellung.[1]

Von Paul Josef Kardinal Cordes

Der Glaubenskongregation des Apostolischen Stuhles war die Frage vorgelegt worden, ob gleichgeschlechtliche Paare kirchlich gesegnet werden dürfen. Ihre Antwort (22.02.2021) weckte vor allem in Deutschland lautstarken Widerspruch. Man versicherte, einer kirchlichen Verurteilung der Homosexualität fehle jedes biblische Fundament. Universitäre Lehrer hätten wissenschaftlich erwiesen, der Heiligen Schrift sei die Sündhaftigkeit heutiger homosexueller Beziehung unbekannt. Das Internet sekundierte willfährig – auch seitens der Katholiken.

• Ilse Müllner, Prof. für Katholische Theologie der Universität Kassel, befand: „An keiner Stelle verurteilt die Bibel Homosexualität.“ Sie konnte diese These im Portal der Deutschen Bischofskonferenz katholisch.de (10.08.2018) unkommentiert verbreiten.

• Nach Ulrich Berges, Katholischer Alttestamentler an der Universität Bonn, kennt das Alte Testament homosexuellen Verkehr nur als Akt der Demütigung. Ihn so zu verstehen, sei überhaupt nicht vergleichbar mit der heutigen Form freier Lebensbeziehung. Die Bibel könne demnach – etwa im Buch Leviticus – heutiges homosexuelles Tun „nicht verbieten, weil sie das gar nicht kennt“ (Domradio Köln, 24.03.2021).

• Die FAZ echote rasch, dass „kein seriöser Bibelwissenschaftler einzelne negative Aussagen zur Homosexualität im Alten oder Neuen Testament für geeignet hält, die römische Position zur Homosexualität zu rechtfertigen“ (26.03.2021).

• Der deutsche „Synodale Weg“ stieß bei seiner zweiten Vollversammlung in Frankfurt (02.10.2021) nochmal in dasselbe Horn. Er votierte einmal für die kirchliche Segnung gleichgeschlechtlich Lebender. Ferner nötigte er die katholische Kirche, sie müsse Raum geben für praktizierte Homosexualität. Rechte Pastoral strebe nach der „Akzeptanz einer selbstbestimmten Lebensentscheidung“. Die geistliche Begleitung der Gläubigen solle demnach „grundsätzlich auf die positive Integration der sexuellen Orientierung in die Person abzielen und nicht das Verdrängen oder Unterdrücken der sexuellen Orientierung fördern“ (Synodalforum IV: Grundtext 5,6f.).

Die angeführten Theoreme korrespondieren mit der gängigen öffentlichen Meinung wie der staatlichen Gesetzgebung. Auch erbrachte das empirische Aufdecken bioethischer Wurzeln – sie bleiben freilich schon seitens der Wissenschaft in vielem Diskussionsmaterial – eine neue Bewertung gleichgeschlechtlicher Neigungen. Doch kirchliche Pastoral kann sich nicht von gesellschaftlichen Maximen leiten lassen. Sie hat nach bindenden Glaubensdaten zu fragen. Sie ist demnach genötigt, den von Gott geoffenbarten Umgang mit der Homosexualität wissenschaftlich-exegetisch – sine ira et studio (unvoreingenommen) – zu prüfen. Auf diesem Fundament muss dann auch das inkriminierte Reskript der Glaubenskongregation bewertet werden.

Hermeneutik

Zunächst ist für den Verpflichtungsanspruch aller biblischer Forderungen zu unterscheiden zwischen theologisch-seinsmäßig ausgerichteten Weisungen und solchen, die sich partikulär auf äußerlichen Lebensstil und die Kirchen-Etikette beziehen-[2] Erstere sind nicht funktional für das menschliche Miteinander der Gemeinde festgehalten, sondern haben personal-ontische Qualitäten. Sie sind darum über alle zeitliche Beschränkung hinaus von fortbestehender Gültigkeit. Wer ihre Dauer leugnete, übersähe, dass Geschichte wohl Kultur und Kenntnis, aber nicht das Wesen des Menschen verändert. Er würde ferner den tief-existentiellen Anspruch von Gottes Heilswort verkennen oder banalisieren. Wenn demnach ein Universitätslehrer etwa die Aussagen des Apostels zur Homosexualität mit denen über kulturelle und rituelle Praktiken gleichsetzt – man versucht es gar, indem man Pauli Ächtung der Homosexualität (Röm 1,26) als ebenbürtig behauptet mit seinem Verbot langer Haare für den Mann und des unverhüllten Gebetes der Frau beim Gottesdienst (1 Kor 11,2ff.) – so irrt er hermeneutisch und verführt pastoral.

Verblüffend ist ferner die professorale Behauptung, die biblische Verurteilung betreffe eine prinzipiell andere Form von Homosexualität: Heute meine sie eine auf Dauer angelegte Liebesbeziehung von Menschen gleichen Geschlechts; eine solche aber sei im Altertum unbekannt gewesen. Über das Fehlen einer verlässlichen Begründung dieses Axioms hinaus ist hier auch logischer Widerspruch einzulegen: Numerische Vermehrung eines sündigen Aktes gibt diesem keine neue moralische Qualifizierung. Auch dem Kleptomanen bleibt der Diebstahl verboten.

„Sodom und Gomorra“

Judentum und Christentum sind nach Gottes Willen durch Personen, durch deren Geschichte und durch markante Begebenheiten entstanden. Ihr Glaubensverständnis und ihr Geist wurden von Tradiertem und neu Erfahrenem geformt. In ihnen bildete sich die unverbrüchliche Dauerhaftigkeit des Wortes Gottes heraus, und sie trägt sich in ihnen durch. Für fundamental Stiftendes und ontisch-existentiell Bindendes gibt es weder Vergessen noch ein Verfallsdatum. So etwa der biblische Bericht über die Zerstörung von „Sodom und Gomorra“, der als elementarer biblischer Anknüpfungspunkt für die Verurteilung der Homosexualität gilt.[3]

Der Autor dieser jahwistischen Erzählung hat schon vor Beginn den Grund für das Strafgericht aufgedeckt – und zwar von Jahwe selbst: „Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja, das ist laut geworden, und ihre Sünde, ja, die ist schwer“ (Gen 18,20). Mit dem Fachausdruck der Rechtssprache „Klageruf“ ist das Gerichtsverfahren über Sodom eröffnet. Abraham tritt danach in bewegender Hartnäckigkeit als Advokat gegen die anstehende Maßregelung ein; er verhandelt, um die Vernichtung der Stadt abzuwenden (Gen 18,23-32). Dies Zwischenstück ist besonders aufschlussreich; es legt dar, dass das anschließende Gericht über Sodom als wirklich gerechtes anzusehen ist. Auch wenn erst im Fortgang des Prozesses der biblische Text die Art der Sünde erläutert, wurde sie schon praktiziert, lange bevor die Bewohner der Stadt schließlich das Gastrecht verletzten. Völlig unzutreffend ist darum der Versuch, „Sodoms Sünde“ lediglich als anstößigen Umgang mit Fremden zu deuten. Solche Exegese missachtet den Anfang der Perikope, auch wenn erst im Fortgang des Prozesses die Art der Sünde benannt wird: Es ist die Perversität der „Männer von Sodom, jung und alt“, die von Lot die Herausgabe der jungen Männer fordern: „Bring sie heraus zu uns, dass wir mit ihnen Geschlechtsverkehr haben“ (Gen 19,4f.).

In dem alten Kulturland Kanaan waren – nach Kennern der Antike – geschlechtliche Verirrungen stark verbreitet. Widernatürliche Unzucht hatte um sich gegriffen durch die erotisch-orgiastischen Kulte von Baal und Astarte. Solcher Gier war der israelische Immigrant Lot, der Neffe Abrahams, nun wegen seiner himmlischen Gäste ausgesetzt – gewiss „blühende Jünglinge, deren Schönheit die böse Lust besonders reizte“.[4] Wohl darf im Kontext die Heiligkeit des Gastrechts nicht ausgeklammert werden. Der Spezialist Gerhard von Rad erwägt jedoch, dass diese Rechtsverletzung erst „sekundär auf Sodom als den Sitz aller Sünden bezogen worden“ sei.[5] Wer die Weisung der Perikope auf die Schutzpflicht gegenüber Fremden reduziert, übersieht die eingangs genannte auslösende Provokation Jahwes und den gleichfalls genannten Grund für seine Inspektion: die „schwere Sünde“. Ihretwegen vollzieht er sein Gericht, indem der „auf Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer regnen ließ“ (Gen 19,24). So avanciert „Sodom“ wegen seiner abartigen Ausschweifungen an nicht wenigen Stellen der biblischen Bücher zum Muster tiefster Verkommenheit.

In der Tat ist es demnach unerklärlich, dass Professoren den Lehrgehalt dieser Kapitel verschweigen und für göttliches Verbot von Homosexualität diesbezügliche direkte Einzelverse der Bibel fordern. Gerade diese Sachkenner müssten doch den eigentlichen Grund für Jahwes „Hingehen und Sehen“ ans Licht heben. Dann hätte sich ihnen der wahre Grund für das Klagegeschrei gezeigt: „Sodom“ als Sünde der geschlechtlichen Verirrung. Und sie suchten nicht länger nach Einzelversen; denn ihre Gott-Widrigkeit ist in der Bibel durchgängig ein Anknüpfungspunkt für alle Verderbtheit – weit über eine punktuelle Aussage hinaus. Sammelwerke verzeichnen eine Fülle von biblischen Verweisen – AT: Jes 1,9f.; Jer 23,14; 49,18; 3 Mos 20,13; 5 Mos 29,22; NT: Mt 10,15; Röm 9,29; 2 Petr 2,6; Judasbrief 7; Offb 11,8. Obwohl bei diesen Schriftstellen in „Sodom“ nicht immer sexueller Frevel erkennbar wird, bleiben jüngste exegetische Behauptungen ungedeckt, wenn sie Sodoms Sünde banalisieren und falschem Sozialverhalten zuordnen. Sodoms Vergehen wird hingegen für biblisches Denken als „Sitz aller Sünden“ bezeichnet.[6]

„Entehrende Leidenschaften“

Als neutestamentlicher Festpunkt für die gebotene Klärung sind die bekannten Verse des Römerbriefs fundamental (Röm 1,18-28).[7] Der Apostel legt in ihnen dar, dass die Menschheit in sittlicher Verwirrung und Auflehnung lebt. Ein Beispiel aus der Welt der Heiden ist deren korrumpierte Geschlechtlichkeit. Sie hat sich in der AKATHARSIA (Unreinheit) verfangen, die nach juden-christlichem Urteil in der heidnischen Sexualisierung des öffentlichen und privaten Lebens besteht. Mit ihr verbindet sich die EPITHYMIA, das selbstsüchtige Begehren. Es beherrscht den Menschen von innen her. Der Apostel scheut sich nicht, diese schändlichen Leidenschaften beim Namen zu nennen: der perverse gleichgeschlechtliche Verkehr von Frauen oder von Männern. So prangert Paulus gezielt widernatürliches Sexualverhalten von Menschen an (Röm 1,26-28), das auch als Sodomie bezeichnet wird. Der bedeutende katholische Exeget Heinrich Schlier gibt in seiner Erklärung dieser Passage des Römerbriefs die Gründe an für die sexuelle Perversion der Triebe: Gott habe die Heiden blind gemacht wegen ihres Ungehorsams und Undanks gegen den Schöpfer. Deren sexuelle Abartigkeit sei also nicht einfach historisch, psychologisch oder soziologisch zu historisieren; in ihr zeige sich vielmehr, wie Gott selbst die Selbst- und Weltvergötterung des Menschen immer bestrafe. Gottlosigkeit schlage um in die Selbstentehrung des Menschen. Angesichts dieses vorurteilsfreien Befundes verblüfft die Chuzpe, mit der die Leugner des paulinischen Verdikts es aus der Welt schaffen: Sie behaupten, es könne keine Sündenanzeige sein; erst im 2. Teil seines Briefes mache der Apostel ethische Angaben, der erste Teil sei rein illustrativ ohne Verpflichtungscharakter.

 Alle Zitate und Anspielungen auf den Vers 27 des Römerbriefes, die sich in den neun Bänden des unvergleichlichen biblischen Standardwerks „Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament“ finden lassen, zeigen die Gottwidrigkeit der Homosexualität an.[8] Für renommierte Exegeten spricht Paulus von ihr als von „Abgrund geschlechtlicher Liebe“ (Albrecht Oepke); „Folgen vom Missbrauch des sonst gepriesenen menschlichen Körpers“ (Herbert Preisker); Verkehrung der „Wahrheit Gottes“ (Hans Wolfgang Heidland); „sexuelle Verderbtheit“ (Wilhelm Michaelis); „Abfall von Gott“ (Herbert Braun).

Nur Flatteure versuchen, Analyse und Schuldspruch des Völkerapostels in unsern zeitgenössischen Mainstream einzuebnen. Judentum und Christentum sollen sich angeblich Jahrhunderte lang geirrt haben. Erst der aufgeklärte Zeitgenosse verstehe die Bibel zutreffend. Hingegen hat eine äußerst aktive LGBT-Lobby ganze Arbeit getan, die Sünde hoffähig gemacht und der halben Welt Sand in die Augen gestreut.

Homosexualität ist Gott-widrig

Unbestritten ist, dass der Katholik, dessen sexuelles Begehren sich auf das gleiche Geschlecht richtet, eine individuelle pastorale Zuwendung der Kirche verdient; dies räumt die Glaubenskongregation in der eingangs erwähnten „Antwort“ ausdrücklich ein. Doch ist Neigung nicht gleich Vollzug; des einen kann der Mensch nicht leicht Herr werden, das andere untersteht seiner freien Entscheidung. Homosexuelles Ausleben wird indes von Buchstaben und Geist der Offenbarung Gottes als Gott-Widrigkeit qualifiziert. Durch Segnen auf sie die Gnade Gottes herabrufen zu wollen, wäre wahrhaft abseitig.

Im Genesis-Bericht bringt diese „Sünde, ja sie ist schwer,“ Jahwe selbst dazu, gegen sie einzuschreiten. Der Römerbrief sieht den Grund solcher Perversion in einem fatalen Tausch: Gott wird im Ungehorsam und Undank preisgegeben und an seine Stelle tritt die Apotheose (Verherrlichung) des Menschen. Was für die Antike galt, ist wahr für unsere Zeit, für die sensible Mahner „Gottesfinsternis“ (Martin Buber) oder „Gott-Vergessenheit“ (Joseph Ratzinger) beklagen. Demnach haben Glaubender und Kirche die dringliche Pflicht, nicht Permissivismus, sondern Gottes Rechte festzuhalten und zu verkündigen. Seine Heilsgeschichte belegt, dass unser wahres Heil im Sohn des ewigen Vaters bereitliegt. Die Sündhaftigkeit der Homosexualität hingegen zu leugnen oder gar Gottes Segen für ihre gott-widrige Praxis anzubieten, steht zu Gott und seiner Offenbarung in frontalem Widerspruch.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Paul Josef Kardinal Cordes: Wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig. Glaubensimpulse nach sechzig Priesterjahren, Be+Be Verlag Heiligenkreuz 2021, Hardcover, 384 Seiten, Euro 24,90, ISBN 978-3-903602-38-0 – www. klosterladen-heiligenkreuz.at/
[2] H. Schürmann in J. Ratzinger: Prinzipien christlicher Moral, Einsiedeln 1973, 25ff.
[3] Vgl. Gen 18 und 19, hier gedeutet nach G. von Rad: Das erste Buch Mose (3), Göttingen 1958, 183-192.
[4] Ebd. 185.
[5] Ebd. 185.
[6] Ebd. 185.
[7] Ich folge der Exegese von H. Schlier: Der Römerbrief, Freiburg 1977, z. St.
[8] ThWNT, X.I, Stuttgart 1978, 807.

Entwicklung „neuer“ Menschenrechte (Teil 9)

Gibt es ein Recht auf „homosexuelle Elternschaft“?

Mit einem Beitrag über das von höchster richterlicher Autorität in Europa eingeforderte Recht homosexueller Paare auf Elternschaft schließen wir die Artikelreihe zum Thema „neuer Menschenrechte“ ab. Der französische Rechtswissenschaftler Grégor Puppinck macht darauf aufmerksam, dass heute ein neues Menschenbild etabliert wird, das im eindeutigen Widerspruch zur Wirklichkeit und zur menschlichen Vernunft steht.[1] Doch durch eine neue Rechtsdefinition, die sich allein am Willen des Individuums orientiert und die Natur des Menschen ignoriert, werden Politik, Gesellschaft und jeder Einzelne dazu gezwungen, diese Fiktion als Wirklichkeit anzuerkennen. Ein erschreckendes Szenario. Mit deutlichen Worten spricht Puppinck davon, dass die Begriffe Elternschaft, Abstammung und Familie völlig neu definiert werden, unter anderem mit dem Ziel, dass Kinder nach Belieben „fabriziert und verhökert“ werden können. Ohne Angst vor der Homosexuellen-Lobby sollten wir Christen das Ansinnen der neuen Menschenrechte zurückweisen und uns für die Rechte der Kinder und Schwächsten einsetzen.

Von Grégor Puppinck

Wenn krankheitsbedingte Unfruchtbarkeit kein Grund ist, dass jemand sein Recht auf ein Kind nicht mithilfe von Adoption oder Reproduktionsmedizin verwirklichen dürfen soll, so gilt dasselbe neuerdings auch für die Homosexualität. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat dementsprechend ein Prinzip der Gleichwertigkeit im Hinblick auf das „Familienleben“ zwischen hetero- und homosexuellen Paaren verkündet,[2] demzufolge die letzteren in den Genuss desselben Schutzes kommen müssen, der den Familien zugestanden wird. Was das Recht auf Kinder betrifft, so hat der Gerichtshof mit der knappen Mehrheit von zehn gegen sieben Stimmen[3] eine Konventionsverletzung darin erblickt, wenn die Möglichkeit der Adoption eines Kindes, das vom Partner in die Beziehung mitgebracht wird, nur verschiedengeschlechtlichen Paaren offensteht. Um eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, müsse man – so die Ansicht des EGMR – zuerst mithilfe wissenschaftlicher Untersuchungen „beweisen, dass ein gleichgeschlechtliches Paar unter keinen Umständen für ein Kind sorgen könne“.[4] Dementsprechend fegte der EGMR auch die Einwände der belangten Regierung mit der pauschalen Bemerkung vom Tisch, diese sei „nicht in der Lage … nachzuweisen, dass es für ein Kind schädlich sein könne, von einem homosexuellen Paar erzogen zu werden oder zwei rechtlich anerkannte Mütter oder Väter zu haben“.[5] Die behauptete Gleichwertigkeit hat fortan den Charakter eines unumstößlichen Grundsatzes, der seinerseits weder bewiesen wird, noch einer Beweisführung bedarf. Der Gerichtshof könnte demnächst noch weitere Schritte in diese Richtung setzen, nachdem er eine Reihe von weiteren Beschwerden zur Entscheidung angenommen hat, die den Wunsch nach „homosexueller Elternschaft“ noch weiter vorantreiben sollen. So wenden sich beispielsweise zwei Frauen an den Gerichtshof, von denen die eine ein Kind in ihrem Leib trägt, das mithilfe einer Eizelle der anderen Frau und dem Sperma eines anonymen Spenders in vitro gezeugt wurde;[6] sie beschweren sich darüber, dass sie nicht beide als Mütter des Kindes anerkannt werden und betrachten dies als eine Diskriminierung aufgrund ihrer Homosexualität, während es ihnen andererseits kein Unrecht scheint, dem Kind seinen Vater wegzunehmen. Was diese beiden Frauen letzten Endes bekämpfen, ist, dass die Natur – die heterosexuell ist – heute überhaupt noch als Anknüpfungspunkt für menschliche Gesetze herangezogen wird; dies bezeichnen sie mit dem Begriff der Heteronormativität, was letztlich nichts anderes sagen will, als dass die Natur homophob ist.

Diese Art von Beschwerden gelangt nicht zufällig an den Gerichtshof; sie werden häufig von pressure groups sorgfältig geplant, die dabei auf informelle Unterstützung im Inneren der Instanzen zählen können. Es ist interessant und wohl auch erlaubt, die kleinen Anekdoten zu erzählen, die sich hinter den großen Entwicklungen verbergen; dies hilft auch, sich von einem Fatalismus zu lösen, der glauben machen will, dass es sich hier um einen unvermeidlichen Fortschritt der Geschichte handeln soll – in Wirklichkeit ist diese Entwicklung größtenteils das Ergebnis der Machtverhältnisse. Aber diese Mächte sind von ganz verschiedener Art: der Zeitgeist zählt dazu, aber auch der technologische Fortschritt, die wirtschaftlichen Interessen, die Tätigkeit von Aktivisten, oder auch die intellektuellen Trends.

So wurde etwa auch bei der Entscheidung in der Rechtssache Schalk und Kopf, die bei der Ausdehnung des Rechts auf Achtung des Familienlebens zugunsten homosexueller Paare eine entscheidende Rolle spielte, nichts dem Zufall überlassen. Eine erste signifikante Tatsache ist das Datum der Entscheidung: die Verhandlung wurde auf den 25. Februar 2010 festgelegt, während das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung des Europarats gerade zwei Grundlagentexte über „Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Gender-Identität"[7] zur baldigen Beschlussfassung berieten. Ein anderes Faktum ist, dass es, was nur sehr selten vorkommt, einer nicht direkt am Verfahren beteiligten Gruppe gestattet wurde, im Namen der LGBT-Lobby vor dem Gerichtshof ein Plädoyer zu halten – nämlich genau derselben Vereinigung, die schon an der Ausarbeitung der Empfehlungen des Europarats führend beteiligt gewesen war. Noch merkwürdiger: aus Gründen, die unerklärt blieben, wurde der Öffentlichkeit nur wenige Tage vor der öffentlichen Verhandlung mitgeteilt,[8] dass dieses Beschwerdeverfahren beim Gerichtshof anhängig war; die Staaten und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich der Anerkennung der homosexuellen Ehe vielleicht hätten widersetzen wollen, hatten damit von vornherein keine Möglichkeit, ihren Standpunkt zu Gehör zu bringen. Die LGBT-Lobby, die direkt an der Inszenierung dieses Verfahrens beteiligt war, traf somit auf keinen Gegner. Zu guter Letzt wurde, obwohl die Entscheidung des Gerichtshofs einen völlig neuen, in seinen Auswirkungen sehr weitreichenden Grundsatz postuliert, im Gegensatz zur üblichen Vorgangsweise in solchen Fällen darauf verzichtet, die Zuständigkeit für dieses Verfahren an eine Große Kammer zu übertragen.[9] Wie im Fall der Leihmutterschaft musste es handstreichartig gehen. Wir könnten viele weitere derartige Beispiele nennen.

Wie bei allen neuen Rechten, die gegen die Natur gerichtet sind, setzt die Anerkennung eines Rechtes auf ein Kind die Subjektivierung der Wirklichkeit voraus – in diesem Fall betrifft sie den Begriff der Abstammung.

Subjektivierung der Abstammung

Die beabsichtigte Schaffung eines Rechts auf ein Kind setzt voraus, dass der menschenrechtliche Diskurs Schritt für Schritt die rechtliche Elternschaft von den Gegebenheiten der Biologie löst und neue subjektive Begrifflichkeiten in die Debatte einschleust, die an die Stelle der Wirklichkeit treten können. Die solcherart bewirkte Unterscheidung zwischen dem Recht und der Wirklichkeit erlaubt es dem menschlichen Willen, die materielle Wirklichkeit mithilfe des Rechts zu überwinden. Die voneinander abhängigen Wirklichkeiten der Biologie, der Abstammung und der Familie werden ersetzt durch subjektive und von den Gegebenheiten unabhängige Begriffe wie „elterliche Bindung“, „Wunschelternteil“, „soziale Elternschaft“, oder „Familienleben“. Das „Wunschkind“ ist Gegenstand eines „elternschaftlichen Projekts“. Die eigentlichen Eltern des Kindes sind hingegen nur noch vulgäre „biologische Eltern“, „Spender“ von Ei- und Samenzellen, oder gar – im Fall einer Leihmutter – eine bloße „Austrägerin“. Da es hier darum geht, einem biologischen Artefakt, einer fälschlich behaupteten Abstammung und dem bloßen Anschein einer Familie rechtliche Geltung zu verschaffen, hat der EGMR keine andere Wahl, als sich diese neuen Begrifflichkeiten zu erfinden. Diese haben keinen anderen Inhalt als jenen, den der individuelle Wille für sie festlegt: um zum „Wunschelternteil“ zu werden, genügt es, dies zu wollen. Wenn man aber solche subjektiven Begrifflichkeiten und ihre unbegrenzte Ausdehnung rechtlich gelten lässt, so akzeptiert man damit, dass sich das Recht von der Wirklichkeit ablöst, um letztlich nur noch vom subjektiven Willen abzuhängen, und verschafft diesem Willen mithilfe des Rechts den falschen Anschein, die Wirklichkeit zu sein. Das Kind aber, das mithilfe der Leihmutterschaft fabriziert und verhökert wird bzw. von einem anonym bleibenden Vater abstammt, wird ungefragt zum Gegenstand dieser Manipulationen, weshalb es notwendig ist, es zu verteidigen, indem man die Wirklichkeit in Erinnerung bringt.

Hiergegen wird mitunter vorgebracht, dass die Adoption und die Reproduktionsmedizin schon vor langer Zeit die Abstammung von der Biologie getrennt haben und dass das Familienrecht der Fiktion und dem bloßen Schein immer schon einen gewissen Raum gegeben habe, um so einen Anschein zu wahren. Das ist gewiss richtig, doch stellt auch in diesen Fällen die Natur das Modell dar, dem man sich angleichen muss, damit die fiktionale Abstammung wenigstens den Anschein der Wahrheit erhält. Dies war der Grund, weshalb Adoption und In-vitro-Zeugung bis vor kurzem noch verheirateten heterosexuellen Paaren im fortpflanzungsfähigen Alter vorbehalten waren. Doch auch hier verliert die Natur ihren normativen Charakter, was allen möglichen Spielarten der „Elternschaft“ die Bahn bricht, vor allem natürlich der „homosexuellen Elternschaft“ (ein weiterer Begriff, der die leibliche Wirklichkeit des Menschen leugnet), die durch Adoption.[10] künstliche Zeugung[11] und Leihmutterschaft verwirklicht wird.

Wie jedes dieser widernatürlichen neuen Rechte gerät auch das Recht auf ein Kind sofort mit dem Naturrecht in Konflikt, hier insbesondere mit dem Recht jedes Kindes, „seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden“.[12] Der Gerichtshof wurde schon von vielen Personen angerufen, die das Geheimnis ihres Ursprungs lüften wollten, und hat bei diesen Gelegenheiten stets das „Recht auf Kenntnis seiner Vorfahren“ anerkannt, das aus dem „Recht auf Identität“ fließt, welches seinerseits wieder ein Bestandteil des Rechtes auf Achtung des Privatlebens ist.[13] Zugleich aber beschränkt er dieses Recht, um dadurch die Rechte Dritter zu schützen, insbesondere der Frau, die ein Kind anonym zur Welt bringt.[14] Zumindest aber hat der Gerichtshof anerkannt, dass das Fehlen eines Verfahrens, das es erlaubt, die Aufhebung des Geheimnisses oder die Mitteilung nicht personenbezogener Informationen über die eigene Herkunft zu fordern, eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens darstellt.[15]

Die Person muss demnach wenigstens die Möglichkeit haben, nach ihrer Herkunft zu fragen, aber sie hat nicht ein Recht, diese zu kennen. Obwohl also der Gerichtshof die Wichtigkeit der biologischen Abstammung anerkennt, so hält er Abstammung und Biologie doch sorgfältig auseinander und unterstreicht dadurch, dass die biologische Abstammung nur gilt, wenn ihre Kenntnis rechtlich durchsetzbar ist.[16] Dies zeigt sich darin, dass der Gerichtshof die biologischen Eltern von Kindern, die mittels heterologer In-vitro-Zeugung oder Leihmutterschaft zur Welt kommen, schlichtweg ignoriert. Eine weitergehende Anerkennung des wahrhaft naturrechtlichen Rechts auf Kenntnis des eigenen Ursprungs würde die Praxis der Adoption und noch mehr jene der medizinisch unterstützten Fortpflanzung infrage stellen – und damit auch ganz kategorisch das Recht auf ein Kind. Einmal mehr ist es das Kind, das den Preis für das Wunschdenken der Erwachsenen zu zahlen hat.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Grégor Puppinck: Der denaturierte Mensch und seine Rechte, Be+Be 2021, HC, 274 S., Euro 21,90, ISBN 978-3-903602-07-6 – Bestell-Tel. 0043- 2258-8703-400; E-Mail: bestellung @bebeverlag.at – Webseite: www.klosterladen-heiligenkreuz.at
[2] EGMR: Schalk und Kopf gegen Österreich, 30141 /04, 24. Juni 2010.
[3] EGMR: X. und andere gegen Österreich [GC], 19010/07, 19. Februar 2013.
[4] Ibid., § 142.
[5] Ibid., § 146.
[6] Ein auf diesem Sachverhalt beruhendes Beschwerdeverfahren, R.F. und andere gegen Deutschland, 46808/16, war bei Abschluss dieses Manuskripts beim EGMR anhängig.
[7] Empfehlung des Ministerkommittees CM/Rec (2015) 5, Maßnahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und der Gender-Identität, vom 31. März 2010 und Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates 1728 (2010) hinsichtlich der Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung und der Geschlechtsidentität vom 29. April 2010. Der Autor nahm an den Beratungen über die Empfehlung des Ministerkommittees als Vertreter des Hl. Stuhls teil.
[8] Üblicherweise werden solche Beschwerdesachen mehrere Monate vor einer eventuellen öffentlichen Verhandlung, und zeitgleich mit der Mitteilung an die Regierung des betroffenen Mitgliedstaats, auch der Öffentlichkeit bekanntgegeben.
[9] Entscheidung vom 22. November 2010; Mitteilung Nr. 906 v. 29. November 2010.
[10] EGMR: E.B. gegen Frankreich [GC], 43546/02, 22. Januar 2008; X. und andere gegen Österreich [GC], 19010/07, 19. Februar 2013.
[11] EGMR: D. und B. gegen Österreich, 40597/12, 31. Oktober 2017.
[12] Konvention über die Rechte des Kindes, Art. 7 (1).
[13] EGMR: Jäggi gegen Schweiz, 58757/00, 13. Juli 2006, § 37.
[14] EGMR: Odièvre gegen Frankreich [GC], 42326/ 98, 13. Februar 2003. Ebenso EGMR: Konstantinidis gegen Griechenland, 58809/09, 3. April 2014, § 52: „Die Bestimmung der Elternschaft kann erhebliche Auswirkungen nicht nur auf das Privat- und Familienleben der nahen Verwandten des Betroffenen und dritter Personen haben, sondern auch auf ihre Vermögensverhältnisse.“
[15] EGMR: Godelli gegen Italien, 33783/09, 25. September 2012.
[16] EGMR: Menesson gegen Frankreich, 65192/11, 26. Juni 2014.

Der erste Band der Trilogie „Damit Liebe gelingt“ ist ab sofort erhältlich

Was Partnerschaft lebendig hält

Alles schon gehört, alles bekannt, alles kein Problem. Unzählige Bücher schon im Regal. Was ist bei „Damit Liebe gelingt"[1] anders? Der große Erfahrungsschatz des Autors. Kurt Reinbacher, glücklich verheiratet, Vater von vier Kindern, Psychotherapeut und seit bald 30 Jahren in der Fortbildung von Ehepaaren tätig, hat all sein Wissen komprimiert, strukturiert und mit Erfahrungsberichten gespickt, in dieses Buch einfließen lassen.

Referat Ehe und Familie Salzburg

Der erste Band der Trilogie „Damit Liebe gelingt“ ist ab sofort erhältlich. Unter dem Sub-Titel „Was die Partnerschaft lebendig hält“ gibt der Autor, Kurt Reinbacher, hilfreiche und wertvolle Tipps für junge und ältere Paare.

Der thematische Bogen spannt sich vom Kennenlernen des „richtigen“ Partners, über die Kunst der guten Kommunikation, das Verständnis der eigenen Herkunft über das erfüllte Erleben der Sexualität, bis hin zu den christlichen Grundlagen der Beziehung und mündet ein in Rituale der Versöhnung. Zu jedem Themenbereich, gibt es praxiserprobte Übungen und Anregungen für das Gespräch zu zweit. Ein echter Wegbegleiter für Paare!

Zum Beispiel: Wir haben immer wieder Konflikte und Auseinandersetzungen, die oft auch eskalieren. Wie geht das praktisch, sich zu versöhnen? Gibt es da hilfreiche Schritte? Oder: Wir leiden an unserer Unterschiedlichkeit. Mein Mann zieht sich immer wieder in seine „Höhle“ zurück und schweigt. Meine Frau nervt mit ihrem dauernden Gerede.  Welche Wege und Hilfen gibt es zur Ergänzung? Oder: Ich kann mit meinem Partner nicht reden. Er versteht mich einfach nicht. Was braucht es für eine gute Kommunikation? Gibt es da hilfreiche Tipps?

Auf diese und viele andere Fragen finden sie in diesem Buch praktische Antworten und Lösungsansätze. Besonders hilfreich und ermutigend sind die vielen Erfahrungen und Beispiele von Paaren. Sie erzählen ganz konkret und hilfreich aus ihrem Leben. Das macht Lust auf Ehe und Familie!

Dem Autor ist es gelungen, wesentliche Aspekte der Beziehung wie mit einem Scheinwerfer auszuleuchten und den Paaren am Weg ihrer Partnerschaft ein echtes Rüstzeug zum Gelingen mitzugeben. Ein wertvolles Geschenk besonders für Brautleute!

Freuen Sie sich auf Band 2 und Band 3. Band 2 trägt den Untertitel: „Was die Familie lebendig hält“. Es geht um Fragen der Erziehung, die Lösung von Konflikten und Krisen, die Heilung tiefliegender Wunden u.v.m. Band 3 schließlich gibt unter dem Titel „Was den Glauben lebendig hält“ Hilfen und Tipps für einen erfüllten Weg in der Beziehung mit Gott. Was bedeuten die Sakramente? Was sagt mir mein Gewissen? Gibt es eine Richtschnur für den Glauben? Was sind eigentlich Tugenden?, u.a.m.

Kurt Reinbacher ist Theologe und Psychotherapeut in eigener Praxis (Existenzanalyse und Logotherapie). Verheiratet und Vater von vier Kindern ist er seit 1993 Mitarbeiter im Referat für Ehe und Familie der Erzdiözese Salzburg. Er leitet die „Salzburger Akademie für Ehe und Familie“, die er im Jahr 2000 entwickelte. Neben anderen Aufgaben fällt auch das viertägige Seminar „Es ist Zeit für ein Gespräch“ in seinen Aufgabenbereich, an dem bereits über 700 Paare teilgenommen haben. Seit 2008 wirkt er über die Diözesangrenzen hinaus für die „Initiative christliche Familie“ der österreichischen Bischofskonferenz.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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[1] Kurt Reinbacher: Damit Liebe gelingt. Was die Partnerschaft lebendig hält, Verlag ehefamiliebuch 2021, kartonierter Einband, 220 Seiten, Euro 18,80 – Bestellung: info@ehefamiliebuch.at – www.ehefamiliebuch.at

Niederlassung der „Marianischen Gemeinschaft Oase des Friedens“ in Medjugorje

Geistliche Oase für die Pilger

Die „Marianische Gemeinschaft Oase des Friedens“ ist aus der Medjugorje-Bewegung heraus entstanden. Gegründet wurde sie im Jahr 1987 von dem Passionistenpater Gianni Sgreva. Ausgerechnet in Medjugorje wurde der Gemeinschaft vom zuständigen Bischof in Mostar die öffentliche pastorale Tätigkeit untersagt. Auch das Allerheiligste durfte in ihrer Kapelle nicht mehr aufbewahrt und zur Anbetung ausgesetzt werden. Erst Erzbischof Henryk Hoser (1942-2021), der von Papst Franziskus im Februar 2017 zum Sonderbeauftragten und im Mai 2018 zum Apostolischen Visitator für Medjugorje ernannt worden war, setzte diesem leidvollen Zustand ein Ende. Am 8. März 2020 feierte er als Zeichen der Versöhnung selbst in der Kapelle eine heilige Messe und brachte das Allerheiligste in die Niederlassung zurück. Seitdem darf sich die Gemeinschaft auch wieder der Pilgerbetreuung widmen und das Haus zu einer geistlichen Oase werden lassen. Ein Zeugnis von Sr. Myriam der Eucharistie, einer Schweizerin mit kroatischer Abstammung, mit bürgerlichem Namen Monika Krcmar.

Von Sr. Myriam der Eucharistie cmop

Großes Glück und tiefe Dankbarkeit beseelten uns, als am 8. März 2020 das Allerheiligste Altarsakrament in unsere Niederlassung der Oase des Friedens in Medjugorje zurückkehrte. In unserer Gemeinschaft versuchen wir, dem Ruf des Herrn zu folgen, bei Ihm zu sein und uns von Ihm verwandeln zu lassen, um dann fruchtbare Kanäle für die Mission zu sein. So ist der Tabernakel das Zentrum unseres Hauses. Dort wohnt der lebendige Gott, den wir lieben, suchen und anbeten. In Medjugorje mussten wir lange auf ihn warten. Doch nun ist er da, der „Emmanuel“ – „Gott mit uns“.

Aufrufe der Königin des Friedens

Die „Marianische Gemeinschaft Oase des Friedens“ ist als Antwort auf die Botschaften der Königin des Friedens in Medjugorje entstanden. Brüder und Schwestern aus aller Welt folgen den Aufrufen der Gottesmutter und wollen sich ihr zur Verfügung stellen, damit sie ihre Pläne für den Frieden verwirklichen kann. Eine Grundsäule unseres Lebens ist das gemeinschaftliche Fürbittgebet um den Frieden und die ewige Anbetung des Herrn in der Eucharistie. In unserem Haus in Medjgugorje fehlte uns viele Jahre hindurch diese eucharistische Gegenwart. Für die Heilige Messe und die eucharistische Anbetung gingen wir immer in die Pfarrei, sei es am Morgen in die kroatische oder am Abend in die internationale Messe. Zur Anbetungsstunde, die jeder von uns täglich hält, besuchten wir wiederum die Anbetungskapelle der Pfarrei, wohin wir uns am Nachmittag zu Fuß, mit dem Fahrrad oder Auto begaben. Das gemeinschaftliche Stundengebet und den Rosenkranz beteten wir vor einer Ikone unseres Herrn oder dem Kreuz in unserer Hauskapelle.

„Gelobt sei, der da kommt…!“

Dies änderte sich erst, als Papst Franziskus Erzbischof Henryk Hoser als Apostolischen Visitator für Medjugorje einsetzte. Dieser sollte sich um die Pastoral am Gnadenort kümmern. So hat er mit seinen Mitarbeitern auch unsere Gemeinschaft besucht und geprüft. Schließlich erhielten wir per Dekret die Erlaubnis, in unserer Hauskapelle wieder die heilige Messe zu feiern und die Anbetung zu halten. Welch große Freude! Auch in der Außenkapelle dürfen für Pilgergruppen Messen gelesen und Anbetungsstunden gehalten werden.

Die Jahre ohne Eucharistie in unserer Niederlassung haben wir als echte Prüfung empfunden. Doch der Herr war sehr wirksam und gnadenvoll an unserer Seite. Medjugorje ist ein Gnadenort, an dem man die Kraft des Gebetes spüren kann. Gleichzeitig hat uns der Mangel der eucharistischen Gegenwart im Haus gelehrt, den Herrn auf andere Art und Weise zu entdecken und zu erfahren. Der Herr ist besonders gegenwärtig in seinem Wort. Und so können wir Ihm begegnen, wenn wir im Heiligen Geist das Wort Gottes lesen und meditieren. Er ist aber auch gegenwärtig, wenn wir andächtig vor einem Bild, das ihn darstellt, beten. Er ist auch in unseren Brüdern und Schwestern und in seiner Schöpfung gegenwärtig. Und so haben wir uns all die Jahre hindurch darin geübt, den Herrn überall zu suchen und zu entdecken. Und wir machten die Erfahrung Seiner Gegenwart auch in Seiner „Abwesenheit“.

Ausdruck der Zärtlichkeit Gottes

Am 8. März 2020 war es dann so weit, dass Erzbischof Hoser bei uns die heilige Messe zelebrierte, gefolgt von einer kurzen Anbetung. Seit diesem Tag haben wir die eucharistische Präsenz wieder in unserem Haus. Es ist schwierig in Worten auszudrücken, was wir in diesen Tagen empfunden haben. Wir waren erfüllt von überfließender Dankbarkeit, aber auch von einem tiefen Staunen darüber, wie Gott alles lenkt. Am darauffolgenden Tag begann der offizielle Lockdown in Italien und es war nicht mehr möglich, öffentlich die heilige Messe zu feiern. Bei uns war es genau umgekehrt, wir konnten wieder feiern, anbeten und loben. Dies haben wir auch als Sendung empfunden, noch mehr um das Ende der Pandemie zu beten. Wir hatten zwei Priester im Haus und hielten intensives Fürbittgebet. Selbst in Medjugorje war die Pfarrei wegen Corona geschlossen. Erzbischof Hoser war am 9. März abgereist und konnte nicht mehr zurückkommen. Umso mehr haben wir die Feier mit ihm am 8. März 2020 als ganz besonderen Ausdruck der Zärtlichkeit Gottes verstanden.

An Pfingsten 2019 hatten wir den Herrn um ein Wort gebeten. Denn wir sehnten uns sehr danach, Jesus in der Eucharistie bei uns zu haben. Der Tabernakel ist für uns das Herz, die Quelle und das Ziel all unseres Tuns. Da wurden wir auf eine sehr treffende Stelle im Johannesevangelium geführt:

„Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein. … Die Engel sagten zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie antwortete ihnen: Man hat meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wohin man ihn gelegt hat. … Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? … Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Maria von Magdala ging zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie richtete aus, was er ihr gesagt hatte“ (Joh 20,11-18).

Es war ein Wort des Trostes, der Verheißung und der Bestätigung, dass Er, Jesus, lebendig, allgegenwärtig ist und dass ER uns nicht „fehlt“. Als wir dann ein Jahr später den Termin vereinbarten und genau der 8. März frei war, also der Internationale Tag der Frau, sahen wir Schwestern auch darin einen schönen Wink des Herrn. Es war, als wollte er uns Frauen in unserer Ausdauer, in unserm Glauben, in unserem Verharren und Suchen Seines Angesichts bekräftigen.

Durch Läuterung zu neuer Blüte

Jetzt ist er da, unter uns. Irgendwie war dieses Datum ein Triumph. Doch durch die Pandemie ging dieser Triumph unmittelbar in eine neue große Prüfung über. Der Herr will uns läutern und uns von jeder Anhänglichkeit an menschliche und weltliche Ehre befreien. Seine Gegenwart genügt. Er ist unsere Stärke, Liebe und Wegzehrung. Unsere zwei Priester konnten während der Pandemie auch anderen Gemeinschaften in Medjugorje sakramental beistehen. Dies hat die Liebesbande unter uns verstärkt. 

Das Dekret, das uns die Eucharistie gewährt, wurde „per experimentum“ ausgestellt. Unter Begleitung von Erzbischof Hoser sollte sichtbar werden, auf welche Art und Weise wir in der pastoralen Betreuung der Pilger mit der Pfarrei zusammenwirken können. Dies jedoch war im Covid-Jahr nicht möglich, da kaum Pilger nach Medjugorje kamen. So wurde das Dekret um weitere zwei Jahre verlängert. So wird derzeit in unserer Hauskapelle jeden Tag für die Gemeinschaft die heilige Messe gefeiert und die Brüder und Schwestern pflegen den ganzen Tag über die eucharistische Anbetung. In der Außenkapelle, die von den Pilgern sehr geliebt wird, dürfen Gruppen nach Absprache die heilige Messe feiern und gegebenenfalls mit einer Anbetungsstunde verbinden.

 Wir hoffen, dass Pilgerreisen bald wieder ohne Einschränkungen möglich sein werden und die Muttergottes vielen Menschen die Gnade erflehen und vermitteln kann, ihrem Sohn zu begegnen. Er ist der Friedensfürst und in Ihm wird uns Versöhnung und Frieden geschenkt. Und in unserer Niederlassung können die Pilger besondere Momente des Gebetes und der Besinnung erleben.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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„Kirche in Not“ initiiert die Aktion „Red Wednesday“ für verfolgte Christen

„Es wird immer gefährlicher, Christ zu sein“

Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ (ACN) hat rund um den letzten Mittwoch im November die Aktion „Red Wednesday“ („Roter Mittwoch“) ins Leben gerufen, um auf das Schicksal verfolgter Christen weltweit aufmerksam zu machen. Äußeres Zeichen ist die rote Beleuchtung von Kirchen und öffentlichen Gebäuden. Die Aktion verzeichnet weltweit immer mehr Zulauf. Auch in Deutschland haben sich im November 2021 zahlreiche Pfarrgemeinden und Kirchen beteiligt, darunter die Kathedralen Passau und Paderborn. „Kirche in Not“ Deutschland hat rund um den „Red Wednesday“ drei Veranstaltungen organisiert, bei denen Glaubenszeugen aus erster Hand über die Situation verfolgter Christen informierten. Zu den Gästen bei den „Abenden der Zeugen“ zählte der italienische Afrikamissionar Pater Pier Luigi Maccalli, der zwei Jahre lang von Islamisten in der Sahara als Geisel festgehalten worden war. Florian Ripka, der Geschäftsführer von „Kirche in Not“ Deutschland, zeigt sich sehr zufrieden mit der Aktion „Red Wednesday“ und weist auf die zunehmende Gefährdung von Christen weltweit hin.

Von KIRCHE IN NOT

Erinnerung an das Blut der Märtyrer

Wie kam es zur Aktion „Red Wednesday“?

Florian Ripka: „Kirche in Not“ hat den „Red Wednesday“ 2015 erstmals gestartet. Die Idee dazu kam aus Brasilien. Kirchen, öffentliche Gebäude in aller Welt wurden seither in rotes Licht getaucht – in Erinnerung an das Blut der Märtyrer. Dazu zählen z.B. der Trevi-Brunnen oder das Kolosseum in Rom, die Basilika Sacré-Coeur in Paris, das österreichische Parlament u.v.m.

Auch in Deutschland haben 2021 rund um den 24. November über 120 Kirchen mitgemacht, in 80 Pfarreien fanden Gottesdienste und Andachten statt. Außerdem haben wir zusammen mit anderen Engagierten zu drei „Abenden der Zeugen“ in Neumarkt in der Oberpfalz, Passau und Düsseldorf eingeladen. Und ich bin sicher: 2022 geht noch mehr! Schon jetzt laden wir Pfarreien und Interessierte sehr herzlich ein, sich zu beteiligen.

Welche Entwicklungen in Sachen Christenverfolgung stellen Sie aktuell fest?

Auch wenn das Thema nicht viele Schlagzeilen macht: Christenverfolgung findet statt, Tag für Tag. Christen, aber auch andere religiöse Gruppen, leiden unter dschihadistischem Terror, autoritären Regimen wie in China oder einem erstarkenden Nationalismus, der das Christentum als „kulturfremd“ ansieht. Ein Beispiel dafür ist der Hindu-Nationalismus in Indien, dessen Anhänger immer gewalttätiger werden.

Große Sorgen machen wir uns aktuell um die Länder in Subsahara-Afrika. Dort explodiert der Terror. Christenverfolgung findet mittlerweile auch digital statt. Ein Beispiel sind Massenüberwachungssysteme. Auch hier steht wieder einmal China an vorderster Front.

Es wird immer gefährlicher, Christ zu sein: Das zeigt auch eine aktuelle Erhebung der OSZE. Demnach ist die Zahl der Hassverbrechen gegen Christen und christliche Einrichtungen im Vergleich zum Vorjahr um 70 Prozent gestiegen. Noch höher ist der Anstieg bei antisemitischen Gewaltverbrechen. Wer für verfolgte Christen betet, darf Religionsfreiheit insgesamt nicht vergessen.

Neuer Bericht von „Kirche in Not“ über misshandelte Christinnen

„Kirche in Not“ gibt alle zwei Jahre einen Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ heraus. Verwässert das nicht den Einsatz für verfolgte Christen?

Ganz und gar nicht! Wir sollten da immer redlich sein: Wo Christen verfolgt werden, werden auch andere religiöse Gruppen verfolgt. Darum dokumentieren wir in unserem Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ Verstöße gegen die Religionsfreiheit und die Menschenrechtslage in 196 Ländern weltweit.

Im Januar 2022 legen wir einen neuen Bericht vor mit dem Titel „Hört ihre Schreie“. Er weist auf das Schicksal christlicher Frauen hin: In zahlreichen Weltregionen wird ihnen Gewalt angetan, sie werden zwangsverheiratet, versklavt und zur Konversion gezwungen.

Alle reden über Menschenrechte, Religionsfreiheit fristet demgegenüber oft ein Schattendasein. Das kann so nicht bleiben. Deshalb suchen wir den Dialog mit Politik und Öffentlichkeit.

Es kursieren immer wieder unterschiedliche Zahlen, wie viele Christen von Verfolgung betroffen sind. Wie beziffern Sie das?

Zahlen mögen griffig sein, aber sie suggerieren auch Zusammenhänge, die so nicht zutreffen. Niemand kann seriös sagen, wie viele Christen tatsächlich verfolgt sind. Auch da geht es um Glaubwürdigkeit.

Wir können aus unseren Erkenntnissen von „Religionsfreiheit weltweit“ hochrechnen: Zwei Drittel der Menschen weltweit leben in Ländern, in denen die Religionsfreiheit eingeschränkt ist. Das sind 5,2 Milliarden Menschen. Die Zahl der Christen in diesen Ländern liegt bei über 600 Millionen. Das heißt nicht, dass alle diese Gläubigen blutig verfolgt sind. Das heißt aber sehr wohl, dass sie unter Umständen leben, die ihr alltägliches und religiöses Leben beeinträchtigen.

Was kann man konkret für verfolgte Christen tun?

Wir folgen bei „Kirche in Not“ dem Dreiklang: Gebet – Information – Hilfe. Der „Red Wednesday“ schafft Aufmerksamkeit und lädt zum Gebet ein. Das Zweite ist Information, und zwar seriöse Information. Und tatkräftige Hilfe: „Kirche in Not“ fördert über 5000 Einzelprojekte pro Jahr, damit Priester, Ordensleute, Katecheten auch unter widrigen Umständen ihre Arbeit machen können.

Überlebende von Anschlägen und Entführungen berichten

Um das Leiden verfolgter Christen konkret werden zu lassen, lud „Kirche in Not“ rund um den „Red Wednesday“ 2021 zu „Abenden der Zeugen“ ein. In der Basilika St. Suitbertus in Düsseldorf-Kaiserswerth berichtete Pater Pier Luigi Maccalli über seine zweijährige Geiselhaft in der Sahara. „Das schlimmste war, keinen Kontakt zur Außenwelt haben zu können.“ Er habe jedoch auch „Geschenke“ aus dieser Zeit mitgenommen, so Maccalli: „Als Missionar in Gemeinschaft mit Gefangenen zu sein, ihr Schicksal zu teilen, das hat mich geprägt. Das größte Geschenk der Wüste aber ist die Stille – die innerliche Zeit des Gebets.“

Mitte November war der koptische Christ Kerols Lindemann auf Einladung von „Kirche in Not“ im Passauer Dom zu Gast. Von klein auf sei er von der muslimischen Mehrheit als Mensch zweiter Klasse behandelt worden, berichtete er. Zur handfesten Verfolgung wurde diese Diskriminierung für ihn in der Silvesternacht 2010, als seine Mutter und weitere Verwandte Opfer eines Bombenanschlags auf eine Kirche wurden. Erschüttert habe ihn vor allem, wie schnell der Staat die Spuren des Attentats beseitigt habe, anstatt die Schuldigen zu suchen. „Die Feuerwehr hat alle Spuren weggespült“, erinnerte sich Lindemann. „Das Blut meiner Mutter verschwand im Abfluss.“

Weitere Infos und Tipps zur Gestaltung des „Red Wednesday“: www.redwednesday.kirche-in-not.de – Studie „Religionsfreiheit weltweit 2021“ von „Kirche in Not“: www.religionsfreiheit-weltweit.de

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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Das Überleben der Konvertitin Annie Kraus in der NS-Zeit

Hilfe im katholischen Milieu

Die Jüdin Annie Kraus konnte die Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime in Deutschland überleben, da sie bei couragierten Katholiken Zuflucht und Unterstützung fand. Nach dem Krieg legte sie ein beherztes Zeugnis von diesem „anderen Deutschland“ ab, das es auch gegeben und ihr das Leben gerettet habe. Der Historiker und Ausstellungskurator Andreas Mix zeichnet den aufrüttelnden Lebensweg dieser außergewöhnlichen, doch bisher wenig beachteten Frau nach. Wie zahlreiche andere Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die vielfach miteinander vernetzt waren, konvertierte sie aus Überzeugung zur katholischen Kirche. Andreas Mix, derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin tätig, hat seinen Aufsatz über Annie Kraus aus dem Jahr 2003 aktualisiert und unter Berücksichtigung neuerer Literatur erweitert.[1]

Von Andreas Mix

Annie Kraus wurde am 14. Juni 1900 in Hamburg geboren.[2] Ihre Eltern, der Kaufmann Ludwig Kraus und seine Frau Olga Kraus, geb. Eisler, waren Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Vermutlich genoss sie keine jüdisch-religiöse Erziehung, denn ihr Abitur erwarb Annie Kraus 1920 an der reformpädagogisch orientierten Höheren Mädchenschule von Jakob Loewenberg in Hamburg. Sie studierte Philosophie in Hamburg, Marburg, Freiburg und Berlin; in Paris und Oxford belegte sie Sprachkurse. In Freiburg gehörte sie zu den Schülerinnen von Edmund Husserl und hatte Kontakt zu Hannah Arendt; in Marburg besuchte sie Vorlesungen von Martin Heidegger.[3] Seit 1927 lebte Annie Kraus in Berlin. Nach Abschluss ihres Studiums 1929 arbeitete sie als Sprachlehrerin und Übersetzerin. Bereits zu diesem Zeitpunkt unterhielt sie Kontakte zu zahlreichen katholischen Intellektuellen. Zu ihnen gehörten der Münchener Theologe und Pädagoge Romano Guardini, der spätere Philosophie-Professor Josef Pieper aus Münster und der Journalist Waldemar Gurian. Zu ihren Bekannten zählten zahlreiche Konvertiten – etwa der protestantische Theologe Erik Peterson, der 1930 zum Katholizismus übertrat, die Schriftstellerin Gertrud von le Fort und der Münchener Philosophie-Professor Dietrich von Hildebrand.[4] Annie Kraus unterhielt jedoch auch Beziehungen zu aktivistisch-antidemokratischen Katholiken wie dem Staatsrechtler Carl Schmitt oder dem Journalisten Paul Adams, die antijüdische Ressentiments hegten und sich nach 1933 politisch exponierten. Für Schmitt, den sie 1924 über ihren Cousin Georg Eisler kennengelernt hatte, arbeitete Annie Kraus ab 1928 als Bibliothekarin und Sekretärin.[5] Schmitt, der berufsbedingt aus Bonn in die Reichshauptstadt gezogen war, schätzte „Fräulein Kraus“ als „nett und freundlich“, besuchte mit ihr regelmäßig Cafés, Restaurants oder Kinovorstellungen, als seine erkrankte Ehefrau in San Remo weilte. Zugleich machte er sie in seinen Tagebüchern verächtlich („diese dumme Henne“) und äußerte antisemitische Ressentiments („wie alle Juden berechnend und streberisch“)-[6]

Die antijüdische Gesetzgebung nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten schränkte die Erwerbsmöglichkeiten von Annie Kraus sukzessive ein. Schmitt brach den Kontakt 1934 aus opportunistischen Gründen ab. Zunächst konnten ihre Übersetzungen von theologischen Werken aus dem Französischen noch in österreichischen Verlagen erscheinen.[7] Unter einem Pseudonym veröffentlichte sie auch Beiträge in der Wochenzeitschrift „Der christliche Ständestaat“, der in Wien herausgegebenen Zeitschrift der christlich-konservativen österreichischen Opposition gegen den Nationalsozialismus. Nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich 1938 fielen auch diese Publikations- und Erwerbsmöglichkeiten aus.

Helmuth Plessner, der wegen seiner jüdischen Herkunft Deutschland 1933 verlassen musste und an der Universität von Groningen lehrte, setzte sich 1939 für die Publikation zweier Aufsätze von Annie Kraus in niederländischen Fachzeitschriften ein.[8] Nach Kriegsbeginn lebte sie praktisch von ihrem Vermögen und der „heimlichen Unterstützung durch Freunde“.[9] Zu ihnen gehörte ihre Vermieterin, die 1887 geborene Gertrud Kaulitz. Die beiden Frauen hatten sich vermutlich in der Lessing-Hochschule in Dahlem kennengelernt.[10] In Kaulitz‘ Wohnung in der Dueringzeile 33b (heute Eiderstedter Weg) in Berlin-Schlachtensee lebte sie seit 1936 zur Untermiete. Kaulitz, die ihren Lebensunterhalt als Klavierlehrerin und durch Mieteinkünfte bestritt, war es auch, die Annie Kraus dazu riet, in den Untergrund abzutauchen, um sich der drohenden Deportation zu entziehen. Ab Oktober 1941 war für die Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich verboten. Im gleichen Monat setzten die ersten Deportationen in das Ghetto Litzmannstadt und in das Baltikum ein. Als Ledige, ohne Kontakte zur jüdischen Gemeinde und ohne Arbeitsplatz in einem als kriegswichtig geltenden Rüstungsbetrieb, erhielt Annie Kraus bereits im Januar 1942 die Aufforderung, sich für einen Transport „in den Osten“ zu melden. Auf Anraten ihrer Vermieterin entzog sie sich dem Befehl. Ihr Verschwinden inszenierte sie mit Hilfe von Gertrud Kaulitz als Selbstmord. „Ich selbst bin mit einem Weekendkoffer, einem Rucksack und meiner Schreibmaschine in die Illegalität gegangen“, erinnerte sich Annie Kraus.[11] Fortan war sie auf die Unterstützung anderer Personen angewiesen.

Hilfe aus dem „Solf-Kreis“

Seit den sechziger Jahren wird in der Bundesrepublik der „Solf-Kreis“, eine offene Gruppe von Kritikern und Gegnern Hitlers, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus gerechnet.[12] Im Haus von Hanna Solf in Berlin, der Witwe des 1936 verstorbenen deutschen Botschafters in Tokio, Dr. Wilhelm Solf, trafen sich vornehmlich aktive und ehemalige Mitarbeiter des Auswärtigen Amts zu einem informellen Gesprächskreis. Die Beteiligten unterhielten Kontakte zu deutschen Emigranten in der Schweiz, zum Kreisauer-Kreis und zum militärischen Widerstand. Dass Mitglieder aus dem „Solf-Kreis“ Hilfe für untergetauchte Juden leisteten, wird in der Literatur zwar erwähnt, ohne dass jedoch konkrete Hilfeleistungen benannt werden.[13]

Annie Kraus fand zunächst für knapp sechs Wochen Unterkunft bei Gräfin Lagi Ballestrem in der Bregenzer Str. 12 in Berlin-Wilmersdorf.[14] Wie der Kontakt zwischen den beiden Frauen zustande kam, ist nicht bekannt. Gräfin Lagi Ballestrem, die Tochter von Hanna Solf, war 1938 aus Schanghai nach Deutschland zurückgekehrt. Gemeinsam mit ihrer Mutter unterstützte sie Juden bei der Emigration, indem sie ihnen Ausreisegenehmigungen und Visa besorgte. Als die Emigration aus Deutschland unmöglich wurde, halfen Ballestrem und Solf den Verfolgten bei Fluchtversuchen und der Vermittlung von Verstecken.

Materielle Unterstützung und Unterkunft erhielt Annie Kraus in den folgenden Monaten auch von weiteren Gästen aus dem Haus von Hanna Solf. Zu den Personen, die Annie Kraus beherbergten, gehörte der Legationsrat Dr. Richard Kuenzer. Der 1875 geborene Kuenzer war bereits 1923 aus dem diplomatischen Dienst ausgeschieden. Er unterhielt intensive Kontakte zu deutschen Emigranten in der Schweiz, unter anderem zum Zentrumspolitiker und ehemaligen Reichskanzler Joseph Wirth. Kuenzer nutzte diese Beziehungen, um Verfolgten bei Fluchtversuchen zu helfen. Darüber hinaus unterstützte er nach Aussage von Annie Kraus zahlreiche Juden durch materielle Hilfen: „Er lud mich zum Essen ein, um mit mir Hilfemöglichkeiten für andere Juden zu besprechen, die ihm am Herzen lagen. Er beherbergte mich unter größter eigener Gefahr fast eine Woche lang. Er veranstaltete Geldkollekten für mich – und ich weiß, daß ich nur ein Fall unter vielen, vielen anderen war."[15]

Mit dem katholischen Geistlichen Dr. Friedrich Erxleben versteckte ein weiteres Mitglied aus dem „Solf-Kreis“ Annie Kraus.[16] Erxleben war Priester in der Invalidenhaussiedlung in Hohen Neuendorf am nördlichen Stadtrand von Berlin, wo er – vermutlich mit Wissen des Kommandanten Oberst Wilhelm Staehle – untergetauchten Juden Quartier gewährte. Obwohl Erxleben im Frühjahr 1942 wegen regimekritischer Äußerungen von der Gestapo verhaftet worden war, beherbergte er Annie Kraus eine Woche lang in der Invalidenhaussiedlung.

Materielle Unterstützung erhielt sie von dem ehemaligen Diplomaten Graf Albrecht von Bernstorff.[17] Als Mitarbeiter und späterer Mitinhaber der Berliner Privatbank A. E. Wassermann unterstützte er Juden bei der Auswanderung und dem Transfer ihres Vermögens. Wie sein Bekannter Kuenzer nutzte Bernstorff dabei Kontakte zu deutschen Emigranten in der Schweiz.

In das Netz der Hilfe, das der „Solf-Kreis“ geknüpft hatte, wurde Annie Kraus integriert. Trotz der Gefahr, der sie als „Illegale“ dabei ausgesetzt war, und ihrem Aussehen, das „nicht gegen die jüdische Abstammung zeugte“, wie eine ihrer Helferinnen nach 1945 urteilte,[18] beteiligte sie sich an der Vermittlung von Quartieren für untergetauchte Juden und der Beschaffung von falschen Dokumenten, die den Verfolgten zum Bezug von Lebensmitteln und zur Legitimation bei Straßenrazzien der Polizei verhalfen. Materielle Hilfeleistungen vermittelte sie aber nicht nur für untergetauchte Juden, sondern auch für bei der Firma Telefunken in Berlin beschäftigte russische und polnische Zwangsarbeiterinnen.[19]

Max Josef Metzger und das Piusstift in Berlin-Wedding

Zu den Teilnehmern der Zusammenkünfte im Hause von Hanna Solf in der Alsenstraße in Berlin-Wannsee gehörte auch Dr. Max Josef Metzger. Der 1887 im badischen Schopfheim geborene Priester hatte als Feldgeistlicher am Ersten Weltkrieg teilgenommen, bevor er 1917 zu einer entschieden pazifistischen Haltung fand.[20] Metzger gehörte zu den Gründungsmitgliedern des 1919 ins Leben gerufenen Friedensbundes der deutschen Katholiken. In den zwanziger Jahren nahm er an mehreren internationalen Friedenskongressen teil. Die von Metzger gegründete Christkönigsgesellschaft, eine von Priestern und Laien getragene Missions- und Hilfsgemeinschaft, bezog 1927 in Meitingen bei Augsburg ihr Stammhaus. In den 1930er Jahren wandte sich Metzger verstärkt der ökumenischen Arbeit zu. In Vortragsreisen, die ihn durch ganz Deutschland führten, warb Metzger für die 1938 von ihm initiierte Una Sancta-Bewegung, ein theologischer Arbeits- und Gebetskreis, der im Angesicht des heraufziehenden Kriegs eine Verständigung und Annäherung zwischen den christlichen Kirchen anstrebte.

Der nationalsozialistischen Herrschaft stand Metzger anfangs zurückhaltend gegenüber. Wegen öffentlicher Kritik an der nationalsozialistischen Weltanschauung wurde er 1934 kurzzeitig interniert. Nach dem Attentat auf Hitler im Bürgerbräukeller am 8. November 1939 verhaftete ihn die Augsburger Gestapo erneut für vier Wochen. Metzger übersiedelte daraufhin 1940 nach Berlin. In der Willdenowstr. 8 im Arbeiterviertel Wedding führte die Christkönigsgesellschaft mit dem Piusstift seit 1936 eine Außenstelle. In Berlin glaubte sich Metzger offenbar vor Verfolgungsmaßnahmen besser geschützt als in Meitingen. Im Frühjahr 1942 wurde er von Hanna Solf zu einer Zusammenkunft in ihrem Haus eingeladen, um über die Una Sancta vorzutragen. Dabei lernte Metzger Bernstorff und Kuenzer kennen. Vermutlich vermittelte sein „badischer Landsmann“ (Metzger) Kuenzer den Kontakt zwischen dem Geistlichen und Annie Kraus.

In unmittelbarer Nähe zum Piusstift fand Annie Kraus im Frühsommer 1942 eine Unterkunft bei Anna Winkler, der Haushälterin von Max Josef Metzger, die in der Willdenowstraße 7 wohnte.[21] Annie Kraus verkehrte in den folgenden Monaten regelmäßig im Stift. Materielle Unterstützung in Form von Geld- und Lebensmittelhilfen erfuhr sie von Metzger, der Oberin Sophia Hauser und den anderen Stiftsschwestern. Zwischen Metzger und Kraus entwickelte sich rasch eine enge freundschaftliche Beziehung. Von ihrem „väterlichen Freund“ ließ sich Annie Kraus im Juni 1942 unter Anteilnahme der Stiftsschwestern taufen.[22] Kraus zufolge unterstützte Metzger noch „eine Reihe von konvertierten und nicht konvertierten Juden aufs Tatkräftigste“, indem er ihnen Obdach, Lebensmittel und falsche Ausweise vermittelte.[23] Metzger unterhielt dabei außer zum „Solf-Kreis“ noch Kontakte zu weiteren Personen in Berlin, die Hilfe für Verfolgte leisteten. Zu ihnen gehörten der katholische Geistliche und Dichter Ernst Thrasolt, mit dem Metzger freundschaftlich verbunden war, und der Rechtsanwalt Dr. Franz Kaufmann, den Metzger durch seine Arbeit für die Una Sancta kennengelernt hatte. In seinem Haus in Schildow am nördlichen Stadtrand von Berlin versteckte Thrasolt Juden. Kaufmann, der zum Protestantismus konvertiert und durch seine „privilegierte Mischehe“ vor der Deportation geschützt war, beschaffte und verteilte falsche Dokumente für untergetauchte Juden. Nachdem die Gestapo Personen, die von ihm mit Ausweisen versorgt worden waren, gefasst hatte, wurde Kaufmann im August 1943 verhaftet und im Februar des darauffolgenden Jahres ohne ein Gerichtsverfahren erschossen. In die „karitativen Bemühungen“ von Metzger, Thrasolt und Kaufmann war Annie Kraus als „helfendes Glied“ eingeschaltet.[24]

Wie für alle Untergetauchten erwies sich die ständige Suche nach neuen Quartieren als größtes Problem für Annie Kraus. Verfolgte zu beherbergen, war mit erheblichem Risiko verbunden, besonders wenn sie, wie Metzger, bereits wegen oppositionellen Verhaltens aufgefallen waren. Wiederholt musste Annie Kraus daher ihre Unterkunft wechseln. Auf Vermittlung von Metzger fand sie mehrere Monate bei Maria George in der Reinickendorfer Str. 25 in Berlin-Wedding Quartier. George, eine ehemalige Lehrerin, arbeitete als Sekretärin bei der St. Paulus-Gemeinde der Dominikaner in der Oldenburger Straße in Berlin-Tiergarten.[25] Maria George machte Annie Kraus mit Marie de Garrey bekannt, einer französischen Staatsbürgerin, die ihr versprach, Papiere für eine Ausreise nach Frankreich zu besorgen. Vermutlich wollte Annie Kraus dort bei Bekannten aus ihrer Studienzeit untertauchen. Sie brachte die geforderte Summe auf, doch die versprochenen Dokumente erhielt sie nicht. In der Angst, dass es sich bei de Garrey um eine Agentin der Gestapo handeln könnte, gab Annie Kraus daraufhin das Versteck bei Maria George auf. 

Unterschlupf fand Annie Kraus auch bei Maria Helfferich in Bornim bei Potsdam.[26] Wie der Kontakt zwischen ihr und Annie Kraus zustande kam, ist nicht bekannt. Kontakte unterhielt Annie Kraus außerdem zu ihrer ehemaligen Vermieterin Gertrud Kaulitz. Mit ihrer Schwester Margarete unterstützte sie Annie Kraus regelmäßig mit Lebensmitteln und Geld.[27] In der Wohnung in der Dueringzeile versteckten die Schwestern Kaulitz seit 1942 das Ehepaar Lucie und Ernst Nachmann und zeitweilig noch weitere Juden. Maria Helfferich war ebenfalls an weiteren Hilfeleistungen für untergetauchte Juden beteiligt. 

Überleben in Durach und Schattwald

Im Frühjahr 1943 verließ Annie Kraus Berlin. Die Anonymität der Großstadt bot ihr einerseits eine relative Bewegungsfreiheit; andererseits bestand die Gefahr, bei Straßenrazzien der Polizei oder durch Spitzel entdeckt zu werden. Eine weitere Bedrohung stellten die verstärkten Luftangriffe der Alliierten dar, denn als „Illegale“ hatte Annie Kraus keinen Zugang zu den öffentlichen Luftschutzkellern.

Max Josef Metzger vermittelte Annie Kraus bei dem Priester Anton Fischer in Durach im bayerischen Allgäu ein neues Versteck. Metzger kannte Fischer von seinen Vortragsreisen für die Una Sancta. Fischer war seit 1935 wiederholt von der Polizei verhört und verwarnt worden, unter anderem, weil er Kontakte zu Juden in der Schweiz unterhielt.[28] In einem Brief vom 7. Mai 1943 kündigte Metzger ihm den „Besuch von einer mir sehr lieben Konvertitin“ an, die Erfahrung als Stenotypistin und Übersetzerin von französischer Literatur besäße.[29] Für die Reise muss Annie Kraus mit falschen Ausweisen ausgestattet gewesen sein, die ihr vermutlich aus dem „Solf-Kreis“ vermittelt wurden. Im Pfarrhaus von Anton Fischer konnte Annie Kraus für einige Wochen untertauchen. Von Durach aus suchte sie Kontakt zu den Schwestern im Stammhaus der Christkönigsgesellschaft in Meitingen. Nach der Verhaftung von Max Josef Metzger in Berlin Ende Juni 1943 wurde das Haus von der Gestapo durchsucht und observiert, so dass es kein sicheres Versteck mehr bot.[30] Nachdem ein Grenzübertritt nach Frankreich gescheitert war und auch der Lehrer Otto Rieseberg in Donaueschingen, ein Bekannter aus der Freiburger Studienzeit, Annie Kraus keine Unterkunft garantieren konnte, vermittelte Anton Fischer sie an eine Gastwirtin in Schattwald in Nordtirol. Ab August 1943 lebte Annie Kraus bei Therese Fritz im Wirtshaus „Zur Post“.[31] Therese Fritz wusste, dass ihr Gast als Jüdin verfolgt wurde. In dem Ort, der damals etwa 300 Einwohner zählte, meldete sich Annie Kraus beim Bürgermeister, ohne sich jedoch polizeilich registrieren zu lassen. Bis zum Kriegsende gelang es ihr damit, sich vor weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu schützen. Noch mehrmals verließ Annie Kraus Schattwald auf der Suche nach anderen Unterkunftsmöglichkeiten und Dokumenten. Ihre Hilfe für andere Verfolgte setzte sie auch in Österreich fort. In Dornbirn im Vorarlberg wurde sie im März 1944 beim Versuch, zwei verwandte russische Zwangsarbeiterinnen zusammenzubringen, kurzzeitig verhaftet, ohne dass dabei ihre Identität festgestellt werden konnte.[32] Materiell unterstützt wurde Annie Kraus, die als „Illegale“ keine Lebensmittel- und Kleidermarken bezog, von Therese Fritz und von Bekannten aus Berlin wie Maria George.

Die Verhaftung von Max Josef Metzger und die Zerschlagung des „Solf-Kreises“

Wenige Wochen nachdem Annie Kraus Berlin Richtung Süddeutschland verlassen hatte, wurde Max Josef Metzger nach einer Denunziation verhaftet.[33] Die Schwedin Dagmar Imgart hatte angeboten, ein von Metzger verfasstes „Friedensmemorandum“ an den protestantischen Bischof von Uppsala weiterzuleiten. Metzger kannte ihn wie auch Dagmar Imgart durch seine Arbeit für die Una Sancta. Imgart war eine Agentin der Gestapo, die Metzger am 29. Juni 1943 verhaftete. Unter dem Vorwurf der „Judenbegünstigung“ wurden außerdem noch die Schwestern Bernharda Herzog und die Oberin Sophia Hauser, die sich zu dem Zeitpunkt in Meitingen aufhielt, inhaftiert, nach vier Wochen jedoch wieder freigelassen.[34] In schriftlichen Stellungnahmen räumte Metzger vor Prozessbeginn seine Beziehungen zu Hanna Solf und ihrem Kreis ein. Dabei erwähnte er auch Richard Kuenzers Verbindungen zu Emigranten in der Schweiz. Vermutlich gelang der Gestapo durch Metzgers Aussagen der Einbruch in den „Solf-Kreis“.[35] Am 5. Juli 1943 wurde Kuenzer verhaftet, am 30. Juli Bernstorff. Im September 1943 schleuste die Gestapo einen Spitzel in das Haus von Hanna Solf ein. Im Januar 1944 wurden sie und ihre Tochter Lagi Ballestrem verhaftet, im Mai Friedrich Erxleben.

Max Josef Metzger wurde am 14. Oktober 1943 vor dem Volksgerichtshof in Berlin angeklagt. Sein „Friedensmemorandum“, ein Verfassungsentwurf für einen zukünftigen deutschen Bundesstaat, brachte ihm den Vorwurf des Hochverrats und der Feindbegünstigung ein. Seine Hilfe für Verfolgte blieb der Gestapo unbekannt; „Judenbegünstigung“ war kein Punkt der Anklage. Metzger wurde zum Tode verurteilt und am 17. April 1944 in Brandenburg hingerichtet.[36]

Die Ermittlungen der Gestapo zum „Solf-Kreis“ zogen sich bis in den Herbst 1944. Die Angeklagten wurden in Gefängnissen in Berlin und teilweise in Konzentrationslagern inhaftiert. Im November 1944 wurde schließlich die Anklage gegen Hanna Solf, Lagi Ballestrem, Friedrich Erxleben, Richard Kuenzer und Albrecht Bernstorff wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Hochverrat erhoben. Ihre Hilfe für Verfolgte vermochten die Angeklagten gegenüber der Gestapo offenbar zu verheimlichen. Zur mehrfach verschobenen und schließlich auf den 8. Februar 1945 festgesetzten Verhandlung vor dem Volksgerichtshof kam es nicht mehr, da das Gerichtsgebäude durch Bombenangriffe schwer beschädigt und der Vorsitzende Richter Roland Freisler dabei getötet worden war. Während Solf, Ballestrem und Erxleben vor Kriegsende freigelassen oder von Alliierten befreit wurden, erschoss ein SS-Kommando Kuenzer und Bernstorff unmittelbar vor der Befreiung Berlins Ende April 1945.[37]

„Stillen Ruhm laut verkünden“ – Annie Kraus‘ Umgang mit der Verfolgung nach 1945

Nach der über dreijährigen Zeit in der Illegalität war Annie Kraus nicht nur mittellos, sondern auch gesundheitlich so schwer geschädigt, dass sie praktisch erwerbsunfähig war. Sie lebte zunächst weiter in Schattwald, wo sie ihre schriftstellerische Tätigkeit wiederaufnahm und sich um die Veröffentlichung ihrer Arbeiten bemühte. 1948 publizierte sie eine Studie über den Existenzialismus und eine theologische Schrift „Über die Dummheit“.[38] Eine im gleichen Jahr veröffentlichte Exegese der „Vierten Bitte des Vaterunser“ widmete sie Anton Fischer.[39] Festanstellungen als Stenotypistin in Innsbruck musste Annie Kraus aus Gesundheitsgründen wieder aufgeben.[40] Als freie Korrespondentin arbeitete sie von 1950 bis 1954 für den Bayerischen Rundfunk in Österreich. Trotz ihrer angespannten finanziellen Lage setzte sich Annie Kraus in den Nachkriegsjahren für ihre Helfer ein. Maria Helfferich, Maria George und die Schwestern des Piusstifts in Berlin unterstützte sie mit Lebensmittelsendungen.[41] Annie Kraus erneuerte auch ihre Kontakte zu zahlreichen katholischen Intellektuellen. Gegenüber Exilanten verteidigte sie dabei die Deutschen vehement gegen den Vorwurf der Kollektivschuld. In einem 1947 an Waldemar Gurian adressierten Brief betonte sie, dass „nicht mehr der Moment“ sei, „auf Deutschland Steine zu werfen“.[42] Der Bitte Gurians, der seit 1937 in den USA lebte, über ihre Erlebnisse als „Getauchte“ zu berichten, folgt sie unter der selbst gestellten Aufgabe, Zeugnis vom „anderen Deutschland“ abzulegen: „Weiß ich doch inzwischen, daß im Ausland leider in keiner Weise hinreichend bekannt ist, welch unerhörte Leistungen des Widerstandes, z.B. in der individuellen Betreuung politisch und rassisch Verfolgter, seinerzeit in ganz Deutschland und Berlin, wo ich im ersten Jahr meines ‚Untertauchens‘ lebte, vollbracht worden sind. In jenen Jahren ist das ‚andere Deutschland‘ so sichtbar geworden und so strahlend erglänzt, daß ich zu sagen wage: es wiegt das Grauen des Übrigen auf. Dieses andere Deutschland ist eine Realität, vor der alles Übrige, von dem das Ausland mehr Notiz nimmt, vergeht, wie das Nichts des Bösen vor dem Funken der Liebe – was wiederum keineswegs heißen soll, daß jenes andere Deutschland quantitativ so gering war. Ich selbst habe es in allen Schichten erlebt… Sie wollten helfen und trösten – und waren doch selber bereits durch ihr bloßes Dasein ein großer Trost und das Wahrzeichen des wirklichen Vorhandenseins eines anderen, echten, guten Deutschlands, von dem gerade wir ‚Getauchte‘ so herrliche Proben erleben durften und für die Zeugnis abzulegen unsere unabdingbare Verpflichtung ist. Niemals können wir ja die Dankesschuld diesem Deutschland gegenüber, das es gab und gibt, abtragen – niemals! Aber Zeugnis ablegen, das müssen wir.[43]

Annie Kraus erwähnte dabei nicht nur das Engagement der „intellektuellen Personen“ aus dem „Solf-Kreis“, sondern hob ausdrücklich die Hilfe von „Portiersfrauen und Weddingbewohnern“ hervor. Obwohl sie selbst Unterstützung fast ausschließlich aus dem katholischen Milieu erhalten hatte, würdigte sie gleichermaßen den Einsatz von „Ungläubigen“ wie den der Schwestern Kaulitz. Ihren Erlebnissen in der Zeit der Verfolgung schrieb die überzeugte Katholikin Kraus einen christlich-martyrologischen Sinn zu. Dabei setzte sie sich auch für „irregeleitete Nazis“ ein, die ihr gleichsam als Hitlers Opfer erschienen; eine Darstellung, die durchaus der Selbstwahrnehmung der Mehrheit der deutschen Gesellschaft nach dem Kriegsende entsprach. In diesem Zusammenhang verwandte sich Kraus ausdrücklich für Carl Schmitt, der sie „plötzlich nach vielen Jahren“ grüßen ließ „mit der Bitte, diesen Gruß anzunehmen“.[44] Gurian hatte seinen akademischen Lehrer und ehemaligen Mentor 1934 aus dem Schweizer Exil als „Kronjurist des Dritten Reiches“ bezeichnet und dessen öffentliche Rechtfertigung des staatlichen Terrors als Opportunismus gegenüber den neuen Machthabern gebrandmarkt. Dieser Einsatz für Schmitt, dem Annie Kraus „siebenmal siebzigmal“ vergeben wollte, wurde ihr jedoch schlecht gedankt. Im Tagebuch verhöhnte Schmitt seine ehemalige Sekretärin und ihre Arbeit mit den „vielen Worten über ‚Demut‘“: „Und soviel, Gertrud von Le Fort in Verehrung gewidmetes ‚Über die Dummheit‘ zu lesen, tut mir von Annie Kraus wegen richtig weh. Sie tut wie ein kleiner Würgeengel und gehört doch gar nicht in die Gesellschaft der Prosecutoren und Accusatoren, und wenn es an mir lag und ich dazu beigetragen habe, daß sie nun doch hineingeraten ist, so bereue ich das. Jetzt sehe ich sie also auf dem hohen Roß der christlichen Demut daher [kommen]…"[45] Kraus‘ Essay „Über die Dummheit“, in dem sie Dummheit als „Stumpfheit des Herzens“ charakterisierte, traf Schmitt persönlich, sah er darin doch eine Kritik an seinem Verhalten in der NS-Zeit. Dennoch blieb Kraus ihm verbunden und vermittelte noch 1983 den Kontakt zu ihrem Cousin Georg Eisler, von dem sich Schmitt 1933 wegen dessen jüdischer Herkunft ebenfalls abgewandt hatte.[46]

Annie Kraus zog 1953 von Schattwald nach Innsbruck, wo sie Anschluss an den Kreis um den Theologen Karl Rahner fand. Sie veröffentlichte theologische Schriften und übersetzte Arbeiten aus dem Französischen.[47] Mit einer Studie über den Begriff der Dummheit bei Thomas von Aquin promovierte sie im Alter von 67 Jahren bei Rahner.[48] Als er 1968 an die Universität Münster berufen wurde, folgte ihm Annie Kraus. Zum Christkönigsinstitut in Meitingen hielt sie auch nach 1945 Kontakt und veröffentlichte dort mehrfach kleinere Arbeiten.[49] Über die Umstände ihres Überlebens in der Illegalität äußerte sich Annie Kraus jedoch nur einmal öffentlich. Im Januar 1959 setzte sie sich mit einem Schreiben an den Berliner Innensenator Joachim Lipschitz für die Ehrung von Anna Winkler, Maria George und der Schwestern Gertrud und Margarete Kaulitz als „unbesungene Heldinnen“ und deren materielle Unterstützung ein.[50] Dabei erwähnte sie auch die Namen von weiteren Personen, die an Hilfeleistungen für untergetauchte Juden beteiligt waren. Maria George und Gertrud Kaulitz starben, bevor das Ehrungsverfahren beendet war. Die in der DDR lebende Maria Helfferich wurde in das Vorhaben des Westberliner Senats nicht mit einbezogen. Allein Margarete Kaulitz und Margarete Kühnel, die an Hilfeleistungen für andere Verfolgte beteiligt waren, wurden aufgrund von Annie Kraus‘ Aussagen 1966 vom Berliner Senat als „unbesungene Heldinnen“ geehrt. Annie Kraus verstarb am 21. März 1991 in Münster.[51]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
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[1] Ergänzte und aktualisierte Fassung des Aufsatzes: Hilfe im katholischen Milieu – das Überleben der Konvertitin Annie Kraus, veröffentlicht in: Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, hg. von Wolfgang Benz, München 2003, 131-142.
[2] Der Darstellung liegen die Entschädigungsakten von Annie Kraus im Entschädigungsamt Berlin (künftig Entschädigungsakte) und die Akten „Unbesungene Helden“ (künftig UH-Akten), ebenfalls Entschädigungsamt Berlin, zugrunde. Die Akten wurden 2002 im Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin im Rahmen eines Projekts zur Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland ausgewertet und befinden sich heute im Landesarchiv Berlin, B-Rep 004 (Senatsinnenverwaltung) und B-Rep 078 (Entschädigungsamt).
[3] Waltraud Herbstrith: Dr. Annie Kraus – Opfer der Nazis, in Hamburg befreundet mit Max und Else Gordon-Stein, in: Edith Steins Unterstützer. Bekannte und unbekannte Helfer während der NS-Diktatur, hg. von Waltraud Herbstrith, Münster 2006, 56f.
[4] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. B 65-68.
[5] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 10; Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, 165, 231, 234.
[6] Carl Schmitt: Tagebücher 1925-1929, hg. von Martin Tielke und Gerd Giesler, Berlin 2018, 230, 238, 318.
[7] Kraus übersetzte: Raissa Gertrud Maritain: Der Engel der Schule, Salzburg 1935; Réginald Garrigou-Lagrange: Der Sinn für das Geheimnis und das Hell-Dunkle des Geistes, Paderborn, Wien, Zürich 1937.
[8] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. B 61.
[9] Ebd., Bl. M 5, C 6; UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 3f.
[10] Dirk Jordan: Stille Heldinnen in Schlachtensee – Die Schwestern Kaulitz aus dem Eiderstedter Weg, o. J. Druckfassung: docplayer.org/60113423-Frau-gertrud-kaulitz.html (Abruf 11. Nov. 2021)
[11] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. D 3, Aussage Annie Kraus am 8. März 1953.
[12] Lagi Ballestrem-Solf: Tea party, in: We survived. Fourteen histories of the hidden and hunted of Nazi Germany, hg. von Eric H. Boehm: Santa Barbara, 1966, 130-149; Irmgard von der Lühe: Elisabeth von Thadden. Ein Schicksal in unserer Zeit, Düsseldorf-Köln 1966; Heinz David Leuner: Als Mitleid ein Verbrechen war. Deutschlands stille Helden, Wiesbaden 1967, 165.
[13] Hugo Stehkämper: Protest, Opposition und Widerstand im Umkreis der (untergegangenen) Zentrumspartei, in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hg. von Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, München-Zürich 19862, 893; Hermann Graml: Solf-Kreis, in: Lexikon des deutschen Widerstandes, hg. von Wolfgang Benz und Walter H. Pehle, Frankfurt a. M. 1994, 298-300; Knut Hansen: Albrecht Graf von Bernstorff. Diplomat und Bankier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1996, 252f., 255.
[14] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. C 21, Gräfin Ballestrem am 20. September 1954; UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 5.
[15] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 6.
[16] Ebd., Bl. 5: Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz unter Mitwirkung der Diözesanarchive, bearbeitet von Ulrich von Hehl, Mainz 1984, Sp. 251f.; Ger van Roon: Wilhelm Staehle. Ein Leben auf der Grenze 1877-1945, München 1969, 31-34, 41f. Erxleben führte Staehle in den „Solf-Kreis“ ein.
[17] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 5.
[18] Entschädigungsakte 1690476: Annie Kraus, Bl. C 15, Maria Helfferich am 1. Sept. 1952.
[19] Ebd., Bl. C 3, 5-7, 11f., 15, Maria Helfferich am 11. Sept. 1952, Martha Reimann am 28. Aug. 1952, Gertrud Kaulitz am 8. Sept. 1952, Sophia Hauser, Maria George am 12. Juni 1946, Hanna Solf am 27. Juni 1946, Maria Helfferich am 1. Sept. 1952.
[20] Marianne Möhring: Täter des Wortes. Max Josef Metzger. Leben und Wirken, Meitingen-Freising 1966; Klaus Drobisch: Wider den Krieg. Dokumentarbericht über Leben und Sterben des katholischen Geistlichen Dr. Max Josef Metzger, Berlin (O) 1970, 7-94; Franz Posset: Krieg und Christentum. Katholische Friedensbewegung zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des Werkes von Max Josef Metzger, Meitingen-Freiburg 1978; Karl Kardinal Lehmann: Der Priester Max Josef Metzger. Gestapo-Haft und Todesurteil, Berlin 2016; Ludwig Rendle: Max Josef Metzger. Gerechter Friede statt Gerechter Krieg. Ein Pionier der Friedensbewegung, Ostfildern 2021.
[21] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 3, 7; Entschädigungsakte 1690476: Annie Kraus, Bl. C 5, C 7, Martha Reimann am 28. Aug. 1952, Sophia Hauser.
[22] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 6f.; Archiv des Christkönigs-Institut M 13.3.1.: Nachruf von Martha Reimann auf Annie Kraus vom 16. April 1991.
[23] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 7.
[24] Ebd., Bl. 7.; Kurt R. Grossmann: Die unbesungenen Helden. Menschen in Deutschlands dunklen Tagen, Berlin 1957, 81-85; Werner Oehme: Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933-1945. Neunundzwanzig Lebensbilder, Berlin 19853, 121-125.
[25] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 3, 7; Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. C 2, C 11, Maria George am 6. Sept. 1952 und am 12. Juni 1946.
[26] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 3, 7; Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. C 3, C 15, Maria Helfferich am 11. Sept. 1952 und 1. Sept. 1952.
[27] UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 3, 7; Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. C 6, Gertrud Kaulitz am 8. Sept. 1952; UH-Akte 1475: Gertrud Kaulitz, Bl. 52.
[28] Priester unter Hitlers Terror, Sp. 68f.
[29] Archiv Christkönigs-Institut M 6.8.4., Metzger an Fischer am 7. Mai 1943. Fischer an Metzger am 12. Mai 1943.
[30] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. C 4, C 14, Martha Reimann am 28. Aug. 1952, Anton Fischer am 26. Juni 1946; Martha-Gertrudis Reimann: Vater Paulus. Erinnerungen und Erlebnisse aus der dritten Gefangenschaftszeit, in: Max Josef Metzger, Auf dem Weg zu einem Friedenskonzil, hg. von Rupert Fenneburg und Rainer Öhlschläger, Stuttgart 1987, 64f.
[31] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. C 8, C 22 u.36, Otto Rieseberg am 1. Sept. 1952. C 22, C 36, Therese Fritz am 18. Sept. 1954, Alois Rief am 10. Nov. 1954.
[32] Ebd., Bl. C 5, C 8, Gertrud Reimann am 28. Aug. 1952, Otto Rieseberg am 1. Sept. 1952.
[33] Drobisch: Krieg, 79-86; Reimann: Vater Paulus, 66-74.
[34] Annemarie Weiß: Streiflichter aus der dritten und letzten Gefangenschaft des Priesters Dr. Max Josef Metzger, in: Hugo Otto, Annemarie Weiß, Martha-Gertrudis Reimann: Dr. Max Josef Metzger. Beiträge zum Gedenken, Freiburg 1986, 229 f.; Reimann: Vater Paulus, 65. Die Hintergründe für ihre Verhaftung und Freilassung sind unbekannt.
[35] Max Josef Metzger, Christuszeuge in einer zerrissenen Welt. Briefe und Dokumente aus der Gefangenschaft 1934-1944, Neuausgabe hrsg. und eingeleitet von Klaus Kienzler, Freiburg-Basel-Wien 1991, 249-253, 289f.; Hansen: Bernstorff, 263f.
[36] Das „Friedensmemorandum“, die Anklage und das Urteil gegen Metzger sind abgedruckt in: Drobisch: Krieg, 113f., 150-159.
[37] Von der Lühe: Thadden, 261; Ballestrem-Solf: Tea party, 145-148; Hansen: Bernstorff, 265-272.
[38] Annie Kraus: Fülle und Verrat der Zeit. Zum Begriff der existenziellen Situation, Graz-Wien-Salzburg 1948; Dies.: Über die Dummheit, Frankfurt a. M. 1948.
[39] „Dem hochwürdigen Herrn Pfarrer Anton Fischer in Durach in tiefer Verehrung und Dankbarkeit“, in: Dies.: Die Vierte Bitte, Frankfurt a. M. 1948, 1.
[40] Entschädigungsakte Reg.-Nr. 1690476: Annie Kraus, Bl. M 5, Bl. 47f.
[41] Ebd., Bl. C 15, Maria Helfferich am 1. Sept. 1952; UH-Akte 934: Margarete Kühnel, Bl. 8.
[42] Ebd., Bl. 5. Der Brief ist abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 20. Juli 2007, 35.
[43] Ebd., Bl. 5f.
[44] Ebd., Bl. 10.
[45] Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1958, erweiterte, berichtigte und kommentierte Neuausgabe, hg. von Gerd Giesler und Martin Tielke, Berlin 2015, 155.
[46] Die Briefe von Annie Kraus an Schmitt sind abgedruckt in: Reinhard Mehring: Die Hamburger Verlegerfamilie Eisler und Carl Schmitt, Plettenberg 2009, 27f.; Mehring: Schmitt, 318f., 575.
[47] Annie Kraus: Vom Wesen und Ursprung der Dummheit, Köln-Olten 1961; Dies.: Über den Hochmut, Frankfurt a. M. 1966; Das Mysterium des Todes, Frankfurt a. M. 1955; Christkönigs-Institut Archiv M 13.3.1.: Nachruf von Martha Reimann auf Annie Kraus vom 16. April 1991 vom Informationsdienst des Christkönigs-Instituts; Entschädigungsakte Reg.-Nr. 160476: Annie Kraus, Bl. M 90.
[48] Dies.: Der Begriff der Dummheit bei Thomas von Aquin und seine Spiegelung in Sprache und Kultur, Münster 1971.
[49] Dies.: Tu das, so wirst du leben!, Meitingen-Freising 1969; Dies.: Zeit der Liebe, Meitingen-Freising 1970.
[50] UH-Akte 934: Margarete Kühne, Bl. 3f., 43; UH-Akte 1475: Margarete Kaulitz, Bl. 52; Dennis Riffel: Unbesungene Helden – Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007.
[51] Bernhard Gervirk: Annie Kraus – ungewöhnliche Frau – leidgeprüfte Autorin, in: Edith Steins Unterstützer, 129 f. (Nachruf aus der Münsterländischen Volkszeitung 1991).

Ohne Scheuklappen und Vorverurteilungen

Christentum bedeutet Entscheidung

Zur Feier von 500 Jahren Martinsmünster und 90. Jahrtag der Heiligsprechung Alberts des Großen hielt der Augsburger Bischof Dr. Bertram Meier am 12. Dezember 2021, dem dritten Adventssonntag, im Martinsmünster Lauingen einen Festgottesdienst mit Predigt. Er ging von großen Glaubenszeugen während des Dritten Reichs aus und stellte das Projekt „Menschliche Bibliothek“ vor. Auszüge aus seiner Predigt.

Von Bischof Bertram Meier

„Freut Euch im Herrn zu jeder Zeit!“ Damit ist auch unsere Zeit, diese schwierige Zeit zunehmender Orientierungslosigkeit gemeint! Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein? So fragte der überzeugte Christ Helmuth James von Moltke mitten im 2. Weltkrieg in Nazi-Deutschland. Diese Frage ist heute, wenn auch Gott sei Dank nicht unter solch dramatischen Umständen, ebenso aktuell. … Wie kann in dieser Zeit das Christentum ein Rettungsanker sein? Diese Frage Moltkes, des Begründers des sog. Kreisauer Kreises, einer Gruppe von Männern und Frauen, die sich Gedanken über die Neuordnung Deutschlands nach dem Nationalsozialismus machten, muss uns auch heute beschäftigen. Helmuth James von Moltke ließ sich vom NS-Regime nicht korrumpieren, er gab für seine Treue zum Evangelium sein Leben und wurde wegen seines gewaltlosen Widerstandes mit erst 38 Jahren am 23. Januar 1945 hingerichtet, am 2. Februar folgte ihm sein Freund und Gesprächspartner, der Jesuit Alfred Delp, durch den Tod ins ewige Leben nach. …

„Christentum bedeutet Entscheidung“ – mit diesem Satz begann der frisch promovierte Theologe Dietrich Bonhoeffer seine erste Predigt: er war gerade mal 19 Jahre alt (1925). 20 Jahre später starb er am Galgen im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz. Wir hoffen und beten, dass uns ein solcher Lebensweg erspart bleibe. Der Wahrheit dieses Satzes müssen wir uns dennoch stellen. Bestimmt könnten wir Geschichten erzählen von uns oder Angehörigen, für die irgendwann im Leben die Entscheidung für Christus eine Weggabelung wurde; wenn das auch nicht immer dramatisch ist, ein Einschnitt bleibt es allemal. …

Ein Projekt, das vor gut 20 Jahren in Kopenhagen begann und sich inzwischen in über 80 Ländern ausgebreitet hat: 1999 hatte der dänische Journalist und Sozialaktivist Ronni Abergel die Idee zur „Human Library“, zu einer „Menschlichen Bibliothek“. Denn in seinem Beruf erlebte er immer wieder, wie sehr sich Menschen durch einmal erworbene, aber nie wirklich überprüfte Vorurteile leiten lassen. Anders-Denkende, Anders-Sprachige, Anders-Glaubende, Menschen mit anderer Hautfarbe, aus anderen kulturellen Milieus, mit gebrochener Biografie, körperlichen oder geistigen Einschränkungen, kurz: Menschen, die irgendwie auffallen, sind nicht selten gesellschaftliche Außenseiter; leicht werden sie auch zu Sündenböcken und Feindbildern. Deshalb kam Abergel auf die Idee, dass man Gespräche mit solchen Menschen anbieten könnte wie Bücher in einer Leihbücherei. Während der Aktionsmonate der „Menschlichen Bibliothek“ stehen also täglich neue Titel („Open Books of Today“) auf einer Schiefertafel. Das sind Menschen, mit denen Interessierte 30 Minuten kostenlos sprechen und sie alles fragen dürfen – vorausgesetzt, es geschieht mit Respekt und Anstand. Eigens ausgebildete „Bibliothekare“ kümmern sich dabei um „Leser“ und „Bücher“, auch ein professioneller Psychologe ist stets vor Ort.

Denn bei „Buchtiteln“ wie: Kind von Drogenabhängigen; Obdachloser; Asylbewerberin; MS-Kranke; Schwarzer; jung Verwitwete; chronisch Depressiver usw. kann es schon passieren, dass es zu seelischen Erschütterungen kommt. Um deutlich zu machen, worum es ihm geht, ließ Ronni Abergel für sich und seine MitarbeiterInnen auch eine Art Arbeitskleidung herstellen. Auf einem T-Shirt steht schlicht die Aufforderung: Unjudge someone – zu Deutsch etwa: Ent-urteile jemanden! Dieses Wort gibt es eigentlich nicht, doch bringt es die Idee des Projektes auf den Punkt.

Selbst wenn wir als Kinder und Jugendliche vorgefasste Urteile übernehmen, um mit der komplexen Wirklichkeit zurechtzukommen und die Welt um uns herum zu „sortieren“, tragen wir spätestens als Erwachsene die Verantwortung für unberechtigte Vorbehalte und Scheuklappen, mit denen wir durchs Leben gehen. Besonders für Christen gilt: Sobald wir uns bei Vorverurteilungen ertappen, sollten wir sie im Lichte des Evangeliums überprüfen. Früher nannte man das Gewissenserforschung und gab ihr einen festen Platz am Abend vor dem Einschlafen – eine Aufwärmübung fürs tägliche Christsein.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 1/Januar 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

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