Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Vertrauen ist die Grundlage für jede zwischenmenschliche Beziehung. Nur wenn Menschen einander vertrauen, kann das Zusammenleben gelingen und Liebe wachsen. Das gilt auch für die Beziehung des Menschen zu Gott. 

Ausgangspunkt des christlichen Glaubens ist das Vertrauen zum Wort Gottes, das mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Wenn jemand glaubt, dass dieses Wort die Wahrheit ist, kann er zu einer lebendigen Beziehung mit dem auferstandenen Erlöser und dem himmlischen Vater gelangen.

Jesus hat sein Wort der Kirche anvertraut und die Verantwortung einem Kreis übertragen, den er auf besondere Weise ausgewählt hat. Diese Berufenen nannte er selbst Apostel, das heißt Gesandte. Und er erklärte ihnen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Joh 20,21). Er gab ihnen die Vollmacht, in seinem Namen zu lehren: „Wer euch hört, der hört mich!“ (Lk 10,16). Aber sie sollten nicht nur Überbringer einer Botschaft sein. Vielmehr salbte er sie mit dem Heiligen Geist, denn sie sollten ihn repräsentieren und in den Sakramenten vergegenwärtigen. Durch sie wollte Jesus Christus selbst den Menschen begegnen.

„Das Priestertum heute und morgen“, so heißt unser Titelthema. Im Priestertum der Kirche lebt die Sendung der Apostel fort. Und der Lebensnerv allen priesterlichen Handelns in der Kirche ist das Vertrauen. Die Priester müssen „Diener des Vertrauens“ sein. Sie müssen so leben, dass ihnen die Menschen vertrauen können; sie müssen das Evangelium so verkünden, dass es die Menschen annehmen können; sie müssen sich im Dienst so verschenken, dass die Menschen in ihnen Christus begegnen können; sie müssen die Sakramente so feiern, dass die Menschen an die Gegenwart Gottes glauben und seiner Liebe vertrauen können.

Die Missbrauchskrise hat viel Vertrauen zerstört. Die Skandale sind genau das Gegenteil von dem, was Christus seinen Aposteln aufgetragen hat. Wie kann das verlorengegangene Vertrauen wieder zurückgewonnen werden? Diese Frage stellt sich die Kirche mit großer Dringlichkeit. Die Krise muss zu einer tiefgreifenden Reinigung und Erneuerung des priesterlichen Dienstes führen. Und es ist sicherlich angezeigt, über grundsätzliche Reformen des kirchlichen Lebens nachzudenken. Gleichzeitig gilt es ehrlich zu prüfen, ob wir in Deutschland mit unserem „Synodalen Weg“ die Weichen richtig gestellt haben. Ist die Agenda, welche im Raum steht, wirklich geeignet, Vertrauen aufzubauen, oder verfolgt sie nicht ganz andere Ziele? 

Wir haben in diesem Heft Beiträge zusammengestellt, welche Anregungen zum Titelthema bieten: Wie können Priester „Diener des Vertrauens“ sein, wie können sie leben und wirken, damit sie Vertrauen stiften? Doch gelten diese Impulse nicht nur für die Priester, sondern für alle Gläubigen. Gemeinsam sind wir berufen, den missionarischen Auftrag der Kirche zu erfüllen.

Heutzutage sind wir versucht, Themen wie Fegfeuer und Hölle auszublenden. Wir befürchten, gerade dadurch die Menschen vor den Kopf zu stoßen und ihr Vertrauen zu verlieren. Und sicher wurde in der Vergangenheit mit diesen Themen Unheil angerichtet. Der sel. Carlo Acutis aber mag ein Beispiel dafür sein, dass Menschen jeden Alters die ganze Wahrheit erfahren wollen und für Klarheit in diesen Fragen dankbar sind. Umso mehr schenken sie der Kirche Vertrauen.

Liebe Leser, mit einem aufrichtigen Vergelt’s Gott für Ihre Spenden, ohne die wir unser Apostolat nicht weiterführen können, wünschen wir Ihnen auf die Fürsprache Mariens, der Königin des Friedens, einen gesegneten Herz-Jesu-Monat Juni.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Ihr seid Christi Wohlgeruch!“ (2 Kor 2,15)

Seid Priester mit Herz!

Bei der Chrisammesse am Karmittwoch 2022 rief Bischof Dr. Bertram Meier die zahlreich im Augsburger Dom versammelten Priester und Diakone dazu auf, ihre Liebe zu Jesus Christus zu erneuern und den Duft des Evangeliums zu verbreiten. „Alle und jeden einzelnen heiße ich willkommen in der ‚sakramentalen Bruderschaft‘, wie das Zweite Vatikanische Konzil das Presbyterium eines Bistums nennt (vgl. Presbyterorum ordinis, 8)“, so Bischof Bertram. Gerade heute komme es drauf an, „einander beizustehen und als aufmerksame und feinfühlige Brüder aufeinander Acht zu geben“. Nachfolgend die leicht gekürzte Predigt des Bischofs.

Von Bischof Bertram Meier, Augsburg

Die Regel des hl. Benedikt gehört zu den großen Büchern des Abendlandes. Sie hat nicht nur das Leben vieler Generationen von Ordensleuten bis heute bestimmt; sie zählt auch zu den Stempeln, die der Kultur des christlichen Abendlandes eingeprägt wurden. Die Benediktsregel beginnt mit einem Prolog, und darin steht der Satz: „Lasst uns endlich aufstehen, die Schrift weckt uns.“ (…)

Die Menschen hungern nach dem Brot des Lebens

Es geht darum, einen neuen Anfang zu setzen, sich „aufzumachen“ im doppelten Sinn des Wortes: sich zu öffnen für die Schrift, die uns wecken will, und aufzubrechen nach dem Neuland, das es unter den Pflug zu nehmen gilt. „Es ist Zeit aufzustehen.“ Corona läuft – hoffentlich – langsam aber sicher aus. Ich danke allen, die in den vergangenen zwei Jahren nicht geschlafen haben, sondern wach geblieben sind mit der Frage: Wie können wir Jesus und seinem Evangelium Kanäle öffnen zu den Menschen, die mehr brauchen als nur innerkirchliche Debatten um Strukturen, die ein Wort des Trostes und der Ermutigung wünschen, die hungern nach dem Brot des Lebens, das nicht altbacken wird und Wegproviant ist für das Ewige Leben? Vergelt’s Gott für Euren Einsatz! Die Stunden, die Ihr dafür investiert, sind nicht umsonst. Der Herr, in dessen Dienst wir gemeinsam stehen, weiß darum. Und allen, die sich vielleicht doch haben hinreißen lassen, ein Nickerchen zu machen, ermutige ich: „Steht auf! Der Herr braucht euch!“ Gerade jetzt, wenn das öffentlich-kirchliche Leben wiedererwacht und wir auch gesellschaftlich gefordert werden, wünsche ich uns als Kirche, dass wir uns aus dem Dornröschenschlaf wachküssen lassen. Ich kenne den Prinzen, der das gerne tun. Jesus Christus ist der „Prinz“, der will, dass die Kirche neu auflebt.

Erneuerung der Weiheversprechen ist eine Liebeserklärung

So ist die Erneuerung der Weiheversprechen keine Pflichtübung, sondern eine Liebeserklärung an den, dem wir unsere Berufung verdanken. Mir kommt das tröstende Wort aus dem Alten Testament in den Sinn, mit dem Jahwe sein müde gewordenes und deprimiertes Volk aufrichtete: „Ich werde an die Liebe deiner Brautzeit denken“ (Jer 2,2). Diesen Zuspruch schenkt der Herr uns, jedem einzelnen persönlich, wenn wir unser „Adsum“, „Ich bin bereit“, voreinander und miteinander erneuern. Ist es nicht ermutigend, wenn aus dem „Adsum“ ein „Adsumus“ wird, aus dem einsamen Solisten ein mächtiger Chor, aus dem Einzelkämpfer auf verlorenem Posten ein Team mit einem gemeinsamen Ziel? Baut es nicht auf, dass wir gerade heute bei der Chrisammesse hautnah spüren dürfen: Ich bin mit meiner Berufung nicht allein. Neben mir stehen noch andere in der gleichen Reihe. Ich wünsche mir, dass Ihr nicht nur bei diesem Anlass so eng zusammensteht, sondern auch in den alltäglichen Sorgen und Belastungen Eures Dienstes zueinandersteht, einander beisteht und als aufmerksame und feinfühlige Brüder aufeinander Acht gebt. Paulus schrieb: „Achtet auf eure Berufung, Brüder!“ (1 Kor 1,26). An Timotheus richtete er die Bitte: „Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteilgeworden ist. Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“ (2 Tim 1,6f.).

Das Sein kommt vor dem Tun

Ich weiß, dass diese hehren Worte oft die tägliche Erfahrung zu widerlegen scheint. Ich bin mir auch bewusst, dass manche von Euch den Eindruck haben, eher im Steinbruch als im Weinberg des Herrn eingesetzt zu sein. Dennoch gibt es einen Weg, um den uns Anvertrauten „Schmuck zu geben statt Schmutz, Freudenöl statt Trauerkleid, Jubellied statt Verzweiflung“ (Jes 61,3a). Liebe Mitbrüder, keine Angst! Ihr müsst nichts Neues tun, Ihr sollt vielmehr in ganz neuer Weise sein! Wichtiger als das, was wir tun, ist das, was wir sind. Wie sollen wir das verstehen? Lasst es mich an einer Begebenheit verdeutlichen. Zwei christliche Missionare, die sich in Indien vergeblich abgemüht hatten, Menschen für Christus zu gewinnen, wandten sich in ihrer Ratlosigkeit an Mahatma Gandhi und fragten, was sie falsch gemacht hätten. Gandhi antwortete: „Ihr müsstet mehr nach der Bergpredigt duften.“ Damit ist etwas angesprochen, was schon Paulus von seinem missionarischen Wirken sagte: „Gott verbreitet durch uns den Duft der Erkenntnis Christi an allen Orten. (…) Denn wir sind Christi Wohlgeruch für Gott unter denen, die gerettet werden, wie unter denen, die verloren gehen“ (2 Kor 2,14f). Wonach duften wir? Die Weihrauchschwaden in den Kirchenschiffen und das edle Aftershave in den Pfarrbüros sind noch keine Garantie dafür, dass wir Christi Wohlgeruch sind.

Ihr seid Christi Wohlgeruch

Pater Rupert Mayer, der Apostel Münchens, war ein Wohlgeruch Christi weit über die Grenzen der Bayernmetropole hinaus. Wer ihm begegnete, kam mit Christus in Berührung. In seiner Nähe konnte man den Geist des Evangeliums einatmen wie einen lebensspendenden Duft. Wie hat er das geschafft? Hören wir Pater Rupert Mayer selbst: „Es muss Wärme von uns ausgehen, den Menschen muss es in unserer Nähe wohl sein, und sie müssen fühlen, dass der Grund dazu in unserer Verbindung mit Gott liegt.“

Der „Knackpunkt“ ist die Verbindung zum Herrn. Nur wenn wir mit ihm verbunden sind, können wir ihn ausstrahlen. Ansonsten blenden wir uns selbst. Gerade unter Klerikern gibt es die Gefahr des Narzissmus. Nur wenn der Herr den ersten Platz einnimmt, bekommt anderes den rechten Rang: die Menschen, die ganz nahe mit uns leben und arbeiten; die Frauen und Männer, die wir seelsorglich begleiten; die Aufgaben und Pflichten, die uns binden; die Hobbies, die uns Ausgleich bieten sollen; die ganz menschlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte, um die auch ein Priester weiß und wissen darf.

Je tiefer und enger wir mit Christus verbunden sind, umso intensiver werden wir seinen „Duft“ verbreiten. Könnte es an der mangelnden Vertrautheit mit Christus liegen, dass in der Kirche insgesamt, aber auch in unseren Gemeinden oft dicke Luft herrscht, Luft, die abgestanden ist und stickig?! Könnte es auch an uns selber liegen, wenn es bei uns manchmal stinkt, wenn andere uns den Rücken kehren, weil sie bei uns nicht frei durchatmen können?! Einer unserer Mitbrüder sagt oft: Wer in das Geheimnis Gottes eingetaucht ist, taucht automatisch bei den Menschen auf. Also: Nicht abtauchen, sondern auftauchen!

Mischt euch unter die Menschen!

Es gibt so viel Gutes in der Kirche, gerade in den Pfarreien, Verbänden und Gemeinschaften. Leider findet es wenig öffentliche Beachtung oder es wird selbstverständlich genommen. Deshalb, liebe Brüder: Tut Gutes und macht es bekannt! Da könnt Ihr vielleicht an der „Basis“ mehr punkten als wir „da oben“ als Bischöfe. Wir Bischöfe sind derzeit weniger Werbeträger als vielmehr Zielscheibe. Wir müssen unsere Existenz begründen und unser Tun beglaubigen. Deshalb sage ich mir immer wieder: Bertram, zeige Dein Herz! Und ich bitte auch Euch: Liebe Brüder, seid Priester mit Herz, seid Diakone der Herzen! Besonders die Dekane und Pfarrer lade ich ein: Klopft an die Türen der Landratsämter und Rathäuser, seid nahe bei den Vereinen, besucht Stammtische und Kaffeekränzchen über den kirchlichen Tellerrand hinaus! Knüpft Kontakte zu Politikern und Honoratioren! Jetzt ist die Zeit, neu anzufangen. Bildet Koalitionen: Wichtige Partner sind die neuen Pfarrgemeinderäte. Nehmt sie ernst! Ruft ihre Kompetenzen ab! Mischt Euch unter die Menschen! Besucht die Redaktionen der lokalen Zeitungen und anderer Medien, versucht dort Themen zu setzen! Es passiert so viel Gutes, wacht auf und redet darüber! Das fällt nicht unter „Eigenlob stinkt“, sondern unter die Rubrik: Das Evangelium duftet.

Evangelisierung und geistliches Leben haben Priorität

Liebe Brüder! Wir sind Christi Wohlgeruch. Unter diesem Anspruch steht unser Sein und unsere Sendung, noch ehe wir Pläne schmieden und Projekte starten. Das Sein kommt vor dem Tun, das Mysterium vor der Aktion, die Evangelisation vor der Administration, das geistliche Leben vor der Bürokratie. Diese Priorität scheint sich umgekehrt zu haben: Tun vor dem Sein, Struktur vor Spiritualität. Da hat sich etwas verschoben. Ergebnis: Was als Dienstleistung gedacht war (z.B. Finanzen, Recht und IT), hat sich aufgeschwungen, das Zepter zu schwingen über das kirchliche Leben. Helfen wir mit, uns aus diesem Korsett zu befreien und wieder wesentlich zu werden. Mich beschleicht das Gefühl, dass wir mehr Energie aufwenden, um unsere Bilanzen nach dem Handelsgesetzbuch zu gestalten, als uns mit der Frage zu befassen: Was macht eigentlich die katholische Kirche aus? Was ist der Kern der katholischen Glaubenslehre, worin liegen unsere moralischen Maßstäbe, an denen wir nicht rütteln sollten? Die Leute erwarten von uns weniger eine perfekte Verwaltung, dafür mehr seelsorgerliche Begleitung. Enttäuschen wir sie nicht!

Wo wir Christi Duft verbreiten, da wird um uns herum ein Kraftfeld neuen Lebens entstehen, das die Leute hineinzieht in den Dunstkreis des Herrn. Wie könnte es duften, wenn sich Christi Wohlgeruch ausbreitete ausgehend von uns Priestern und Diakonen auf die vielen Hauptberuflichen und Ehrenamtlichen hinein in unsere Pfarrgemeinden, Orden, geistlichen Gemeinschaften, Gruppen, Kreise und nicht zuletzt in die Familien! (…) Eine Welt, in der nicht nur giftige Stickoxyde die Luft verschmutzen und Krankheiten erregen, sondern auch geistige Gifte die Atmosphäre belasten und zersetzend wirken auf die Seelen besonders der Kinder und Jugendlichen – diese Welt braucht Christi Wohlgeruch, sie braucht Christen mit Ausstrahlung. In ihrem Dunstkreis fühlen sich die Menschen wohl. (…) Öffnen wir unsere Herzen für Christus, damit wir selbst Boten des Herrn werden, die seinen Wohlgeruch verbreiten, den Duft der Wahrheit, des Lebens und der Liebe. Dafür lohnt es sich, vom Schlaf aufzustehen. Die Schrift weckt uns: Ihr seid Christi Wohlgeruch!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
  

Vier Grundpfeiler des priesterlichen Lebens

Gottes Stil ist Nähe

Drei Tage lang beschäftigte sich eine Konferenz im Vatikan mit dem Weihepriestertum, insbesondere mit Fehlentwicklungen beim priesterlichen Amtsverständnis. Ziel war es, aus verschiedenen Perspektiven ein neues Bild vom Priester zu zeichnen. Zum Auftakt am 17. Februar 2022 hielt Papst Franziskus selbst einen langen Vortrag. Er ging von seinen persönlichen Erfahrungen aus und legte gleichsam eine Quintessenz aus seinen 52 Priesterjahren vor. Zunächst wandte er sich sowohl gegen ein Vorauseilen nach vorn als auch gegen eine Rückkehr in die Vergangenheit. Beides sei eine Flucht, die keinen Beitrag zur Lösung gegenwärtiger Probleme liefern könne. Ein solides Fundament sehe er in einer vierfachen „Nähe“ des Priesters, und zwar zu Gott, zum Bischof, untereinander und zum Volk Gottes. So könne es auch heute Berufungen geben und eine erfüllte Verwirklichung des priesterlichen Zölibats. Papst Franziskus bekräftigte: „Der Zölibat ist ein Geschenk, das die lateinische Kirche hütet.“ Auszüge aus der Ansprache des Papstes.

Von Papst Franziskus

Ich spüre, dass Jesus uns in diesem Moment der Geschichte erneut einlädt, „hinauszufahren“ (vgl. Lk 5,4), im Vertrauen darauf, dass er der Herr der Geschichte ist und dass wir, von ihm geleitet, in der Lage sein werden, den Horizont zu erkennen, den wir durchlaufen müssen.

Den Willen Gottes zu erkennen bedeutet, zu lernen, die Wirklichkeit mit den Augen des Herrn zu deuten, ohne dass es notwendig ist, dem auszuweichen, was unserem Volk dort widerfährt, wo es lebt; ohne die Angst, die uns dazu bringt, einen schnellen und beruhigenden Ausweg zu suchen, der sich von der Ideologie des Augenblicks oder von einer vorgefertigten Antwort leiten lässt. Beide sind nicht in der Lage, die schwierigsten und sogar dunkelsten Momente unserer Geschichte zu bewältigen. Diese beiden Wege würden dazu führen, unsere Geschichte als Kirche zu verleugnen, „die ruhmreich ist, insofern sie eine Geschichte der Opfer, der Hoffnung, des täglichen Ringens, des im Dienst aufgeriebenen Lebens, der Beständigkeit in mühevoller Arbeit ist“ (Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium, 96).

In diesem Zusammenhang ist auch das priesterliche Leben von dieser Herausforderung betroffen; ein Symptom dafür ist die Berufungskrise, von der unsere Gemeinschaften mancherorts heimgesucht werden. Es ist jedoch auch wahr, dass dies oft dem Fehlen eines ansteckenden apostolischen Eifers in den Gemeinschaften geschuldet ist, was bedeutet, dass sie keine Begeisterung wecken und wenig Anziehungskraft haben: funktionale Gemeinschaften zum Beispiel, die gut organisiert sind, aber ohne Begeisterung, alles ist dort in Ordnung, aber es fehlt das Feuer des Geistes. Wo es Leben, Eifer und den Wunsch gibt, Christus zu den Mitmenschen zu bringen, entstehen echte Berufungen. Selbst in Pfarreien, in denen die Priester nicht sehr engagiert und freudig sind, ist es das geschwisterliche und glühende Gemeinschaftsleben, das den Wunsch weckt, sich ganz Gott und der Verkündigung des Evangeliums zu weihen, vor allem, wenn diese lebendige Gemeinschaft eindringlich um Berufungen betet und den Mut hat, ihren jungen Menschen einen Weg besonderer Hingabe vorzuschlagen.

Vier Arten von Nähe

Deshalb möchte ich mich auf das konzentrieren, was ich für das Leben eines Priesters heute für entscheidend halte, und dabei berücksichtigen, was Paulus sagt: „In ihm – das heißt in Christus – wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn“ (Eph 2,21).

Um zu bestehen, braucht jede Konstruktion, so denke ich, solide Fundamente; deshalb möchte ich über die Haltungen sprechen, die der Person des Priesters Festigkeit verleihen; ich möchte über die vier Grundpfeiler unseres priesterlichen Lebens sprechen, die wir „vier Arten von Nähe“ nennen wollen, weil sie dem Stil Gottes folgen, der im Letzen ein Stil der Nähe ist (vgl. Dtn 4,7). Er selbst definiert sich gegenüber dem Volk so: „Sagt mir, welchem Volk sind seine Götter so nahe wie ich euch?“ Gottes Stil ist Nähe, eine besondere Nähe, Mitgefühl und Zärtlichkeit. Diese drei Worte bestimmen das Leben eines Priesters und auch das eines Christen, denn sie entsprechen genau dem Stil Gottes: Nähe, Mitgefühl und Zärtlichkeit.

Ich glaube, dass diese vier Säulen, diese vier Arten der Nähe auf praktische, konkrete und hoffnungsvolle Weise dazu beitragen können, das Geschenk und die Fruchtbarkeit, die uns einst versprochen wurden, wieder zu beleben, dieses Geschenk am Leben zu erhalten.

1. Nähe zu Gott

Die erste Art ist die Nähe zum Herrn, der vielfach nahe ist. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ – das ist die Stelle, wo das Johannesevangelium vom „bleiben“ spricht. „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten“ (Joh 15,5-7).

Der Priester ist vor allem eingeladen, diese Nähe, diese Intimität mit Gott zu pflegen, und aus dieser Beziehung wird er all die nötige Kraft für seinen Dienst schöpfen können. Die Beziehung zu Gott ist gewissermaßen das Pfropfreis, das uns in einer fruchtbaren Verbindung hält. Ohne eine nennenswerte Beziehung zum Herrn wird unser Dienst ganz sicher steril werden. Die Nähe zu Jesus, der Kontakt mit seinem Wort, ermöglicht es uns, unser Leben mit dem seinem in Bezug zu setzen und zu lernen, an nichts, was uns widerfährt, Anstoß zu nehmen und uns vor den „Skandalen“ zu schützen.

Viele Krisen im Leben eines Priesters haben ihren Ursprung gerade in einem unzureichenden Gebetsleben, in einem Mangel an Intimität mit dem Herrn, in einer Reduzierung des geistlichen Lebens auf bloß äußerliche religiöse Praxis. Das will auch bei der Ausbildung unterschieden werden: Geistliches Leben ist das eine, religiöse Praxis das andere. „Wie steht es um dein geistliches Leben?“ – „Gut, gut. Ich meditiere morgens, ich bete den Rosenkranz, ich bete das Brevier und all das … ich mache alles.“ Nein, das ist religiöse Praxis. Aber wie steht es um dein geistliches Leben? Ich erinnere mich an wichtige Momente in meinem Leben, wo die Nähe zum Herrn entscheidend dazu beitrug, dass ich mich auf den Beinen halten konnte, in dunklen Zeiten. Ohne die Intimität des Gebetes, des geistlichen Lebens, der konkreten Nähe zu Gott durch das Hören des Wortes, die Feier der Eucharistie, die Stille der Anbetung, das Sich-Anvertrauen an Maria, die weise Begleitung durch einen Seelenführer, das Sakrament der Versöhnung, ohne diese konkreten Arten der Nähe ist ein Priester sozusagen nur ein müder Arbeiter, der nicht in den Genuss der Wohltaten für die Freunde des Herrn kommt. Ein Priester, der betet, ist ein Sohn, der sich ständig daran erinnert, dass er ein Sohn ist und dass er einen Vater hat, der ihn liebt. Ein Priester, der betet, ist ein Sohn, der sich in die Nähe des Herrn begibt.

Die Nähe zu Gott ermöglicht es dem Priester, mit dem Schmerz in unserem Herzen in Kontakt zu treten, der, wenn er angenommen wird, uns so weit entwaffnet, dass eine Begegnung möglich wird. Das Gebet, das wie ein Feuer das priesterliche Leben beseelt, ist der Schrei eines zerbrochenen und zerschlagenen Herzens, das – so sagt uns das Wort Gottes – der Herr nicht verschmäht (vgl. Ps 51,19). „Die aufschrien, hat der Herr erhört, er hat sie all ihren Nöten entrissen. Nahe ist der Herr den zerbrochenen Herzen, und dem zerschlagenen Geist bringt er Hilfe“ (Ps 34,18-19).

Ein Priester braucht ein Herz, das genügend Weite besitzt, um dem Schmerz der ihm anvertrauten Menschen Raum zu geben und gleichzeitig als Wächter die Morgenröte der Gnade Gottes anzukündigen, die sich gerade in diesem Schmerz zeigt. In der Gegenwart des Herrn das eigene Elend zu umarmen, anzunehmen und ihm darzubringen, wird gewiss die beste Schule sein, um nach und nach all dem Elend und dem Schmerz, denen er in seinem Dienst täglich begegnen wird, immer mehr Raum zu geben, bis er dem Herzen Christi gleicht. Und das bereitet den Priester auch auf eine andere Nähe vor: die zum Volk Gottes. In seiner Nähe zu Gott verstärkt der Priester die Nähe zu seinem Volk; und umgekehrt lebt er in der Nähe zu seinem Volk auch die Nähe zu seinem Herrn.

Johannes der Täufer sagte: „Er muss wachsen, ich aber geringer werden“ (Joh 3,30). Die Intimität mit Gott macht all dies möglich, denn im Gebet erfährt man, dass man in seinen Augen groß ist, und dann ist es für die Priester, die dem Herrn nahestehen, kein Problem mehr, in den Augen der Welt klein zu werden. Und dort, in dieser Nähe, ist es nicht mehr beängstigend, dem gekreuzigten Jesus ähnlich zu werden, so wie es im Ritus der Priesterweihe von uns verlangt wird. Das ist etwas sehr Schönes, aber oft vergessen wir es.

2. Nähe zum Bischof

Die zweite Nähe, die Nähe zum Bischof, wurde lange Zeit nur einseitig wahrgenommen. Als Kirche haben wir allzu oft, auch heute noch, den Gehorsam nicht dem Evangelium entsprechend interpretiert. Der Gehorsam ist keine disziplinäre Beifügung, sondern das stärkste Wesensmerkmal der Bande, die uns als Gemeinschaft vereinen. Gehorchen, in diesem Fall dem Bischof, bedeutet zu lernen, zuzuhören und sich daran zu erinnern, dass niemand den Anspruch erheben kann, den Willen Gottes zu kennen, und dass dieser nur durch Unterscheidung verstanden werden kann. Gehorsam ist also das Hören auf den Willen Gottes, der nur in einer festen Beziehung erkannt werden kann.

Der Bischof ist kein Schulaufseher, er ist kein Aufpasser, er ist ein Vater, und er sollte diese Nähe geben. Der Bischof muss versuchen, sich so zu verhalten, da er sonst die Priester entfremdet oder nur die ehrgeizigen unter ihnen anzieht. Der Bischof, wer auch immer er sein mag, bleibt für jeden Priester und für jede Teilkirche ein Bindeglied, das hilft, den Willen Gottes zu erkennen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Bischof selbst nur dann ein Werkzeug dieser Unterscheidung sein kann, wenn auch er auf die Wirklichkeit seiner Priester und des ihm anvertrauten heiligen Gottesvolkes hört. In Evangelii gaudium habe ich geschrieben: „Wir müssen uns in der Kunst des Zuhörens üben, die mehr ist als Hören. In der Verständigung mit den anderen steht an erster Stelle die Fähigkeit des Herzens, welche die Nähe möglich macht, ohne die es keine wahre geistliche Begegnung geben kann. Zuhören hilft uns, die passende Geste und das passende Wort zu finden, die uns aus der bequemen Position des Zuschauers herausholen. Nur auf der Grundlage dieses achtungsvollen, mitfühlenden Zuhörens ist es möglich, die Wege für ein echtes Wachstum zu finden, das Verlangen nach dem christlichen Ideal und die Sehnsucht zu wecken, voll auf die Liebe Gottes zu antworten und das Beste, das Gott im eigenen Leben ausgesät hat, zu entfalten“ (Nr. 171).

Es ist kein Zufall, dass das Böse, um die Fruchtbarkeit des kirchlichen Handelns zu zerstören, versucht, die Bande, die uns zusammenhalten, zu untergraben. Es gilt, die Bindung des Priesters an die Teilkirche, das Institut, dem er angehört, und an den Bischof zu verteidigen, und dies macht das priesterliche Leben verlässlich. Die Bindungen bewahren. Der Gehorsam ist die grundlegende Entscheidung, diejenigen anzunehmen, die als konkretes Zeichen des universalen Heilssakraments, das die Kirche ist, unsere Vorgesetzten sind. Gehorsam, der auch Konfrontation, Zuhören und in manchen Fällen auch Spannung bedeuten kann, ohne dass es jedoch zum Bruch kommt. Dies erfordert von den Priestern, für die Bischöfe zu beten und ihre Meinung respektvoll, mutig und aufrichtig zu äußern. Das verlangt auch von den Bischöfen Demut, die Fähigkeit zuzuhören, selbstkritisch zu sein und sich helfen zu lassen. Wenn wir diese Verbindung bewahren, werden wir auf unserem Weg sicher vorankommen.

3. Nähe der Priester untereinander

Die dritte Art ist die Nähe zu den anderen Priestern. Eben aus dieser Gemeinschaft mit dem Bischof ergibt sich die dritte Art von Nähe, nämlich die der brüderlichen Gemeinschaft. Jesus offenbart sich dort, wo es Brüder gibt, die bereit sind, einander zu lieben: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Wie der Gehorsam, so kann auch die Brüderlichkeit nicht als eine von außen auferlegte moralische Verpflichtung verstanden werden. Brüderlichkeit bedeutet, sich bewusst dafür zu entscheiden, mit anderen und nicht in Einsamkeit den Weg der Heiligkeit zu gehen. Heilig mit anderen. Ein afrikanisches Sprichwort sagt: „Wenn du schnell gehen willst, geh allein; wenn du weit gehen willst, geh mit anderen“. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Kirche langsam ist – und das stimmt auch –, aber mir gefällt der Gedanke, dass es sich dabei um die Langsamkeit derer handelt, die sich entschieden haben, in brüderlicher Gemeinschaft zu gehen. Auch die Geringsten zu begleiten, aber immer auf geschwisterliche Weise.

Die Merkmale der Geschwisterlichkeit sind die der Liebe. Der hl. Paulus hat uns im Ersten Brief an die Korinther (Kapitel 13) eine klare „Landkarte“ der Liebe hinterlassen und in gewissem Sinne aufgezeigt, worauf die Brüderlichkeit abzielen sollte. Erstens geht es darum, Geduld zu erlernen, d.h. die Fähigkeit, sich für andere verantwortlich zu fühlen, ihre Lasten zu tragen, in gewissem Sinne mit ihnen zu leiden. Das Gegenteil von Geduld ist Gleichgültigkeit, die Distanz, die wir zu anderen aufbauen, um ihr Leben nicht an uns heranzulassen. Viele Priester erleben eine schlimme Einsamkeit, das Gefühl des Alleinseins. Sie meinen, der Geduld und der Rücksicht anderer nicht würdig zu sein. Im Gegenteil, es scheint ihnen, dass von anderen nur Urteile kommen und nicht das Gute, nicht die Güte. Der andere ist unfähig, sich über das Gute zu freuen, das uns im Leben widerfährt, oder auch ich bin unfähig dazu, wenn ich das Gute im Leben der anderen sehe. Diese Unfähigkeit, sich über das Wohlergehen anderer, der anderen, zu freuen, ist der Neid, der unsere Lebenswelten so sehr heimsucht. Das Wort Gottes sagt uns, dass dies eine zerstörerische Haltung ist: Durch den Neid des Teufels ist die Sünde in die Welt gekommen (vgl. Weish 2,24). Der Neid ist die Tür, die Tür zur Zerstörung.

Um sich der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen, um ein „Wir-Gefühl“ zu entwickeln, brauchen wir nicht Masken zu tragen, die ein rein positives Bild von uns vermitteln. Das heißt, wir müssen nicht prahlen, wir müssen uns nicht aufblähen oder – noch schlimmer – verletzend werden. Und wir dürfen uns unseren Mitmenschen gegenüber nicht ungehörig verhalten. Denn wenn ein Priester etwas hat, dessen er sich rühmen kann, dann ist das die Barmherzigkeit des Herrn; er kennt seine eigene Sünde, sein eigenes Elend und seine eigene Begrenztheit, aber er hat erfahren, dass dort, wo die Sünde mächtig wurde, die Liebe übergroß wurde (vgl. Röm 5,20); und das ist schon seine erste frohe Botschaft.

Die brüderliche Liebe sucht nicht das Eigeninteresse, sie lässt keinen Raum für Zorn, für Groll, als ob mein Bruder mich irgendwie um irgendetwas betrogen hätte. Und wenn ich dem Elend des anderen begegne, bin ich bereit, das Böse nicht nachzutragen, es nicht zum einzigen Kriterium der Beurteilung zu machen oder gar mich über die Ungerechtigkeit zu freuen, wenn sie eben die Person betrifft, die mich leiden ließ. Wahre Liebe freut sich an der Wahrheit und hält es für eine schwere Sünde, die Wahrheit und die Würde der Brüder und Schwestern durch Verleumdung, Verunglimpfung und Klatsch anzugreifen.

Wir können sagen, dass wir lieben, wenn wir lernen, dieser Liebe, wie von Paulus beschrieben, Ausdruck zu verleihen. Und nur die, die zu lieben suchen, gehen den sicheren Weg. Diejenigen, die mit dem Kain-Syndrom leben, in der Überzeugung, nicht lieben zu können, weil sie immer das Gefühl haben, selbst nicht geliebt und nicht wertgeschätzt zu werden, nicht die richtige Anerkennung zu erfahren, leben letztlich immer wie Vagabunden, die sich nirgends zu Hause fühlen und gerade deshalb dem Bösen stärker ausgesetzt sind: der Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden. Deswegen hat die Liebe unter den Priestern eine beschützende Funktion, sich gegenseitig zu behüten.

Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass dort, wo die priesterliche Brüderlichkeit funktioniert, die Nähe der Priester untereinander, wo echte Bande der Freundschaft bestehen, es auch möglich ist, die Entscheidung für den Zölibat mit größerer Gelassenheit zu leben. Der Zölibat ist ein Geschenk, das die lateinische Kirche bewahrt, aber es ist ein Geschenk, das, wenn es als Weg der Heiligung gelebt werden soll, gesunde Beziehungen braucht, Beziehungen, die von echtem Wohlwollen und echter Güte geprägt sind und die in Christus wurzeln. Ohne Freunde und ohne Gebet kann der Zölibat zu einer unerträglichen Last werden und die Schönheit des Priesterseins entstellen.

4. Nähe zu den Menschen

Die vierte Art ist die Nähe zum Volk Gottes, zum heiligen und gläubigen Volk Gottes (vgl. Lumen gentium 8 und 12). Für jeden von uns ist die Beziehung zu Gottes heiligem Volk nicht eine Pflicht, sondern eine Gnade. „Die Liebe zu den Menschen ist eine geistliche Kraft, welche die volle Begegnung mit Gott erleichtert“ (Evangelii gaudium, 272). Deshalb ist der Platz eines jeden Priesters inmitten des Volkes, in einer Beziehung der Nähe zum Volk.

In Evangelii gaudium habe ich darauf hingewiesen, dass wir, um Verkünder des Evangeliums zu sein, auch ein geistliches Wohlgefallen daran finden müssen, „nahe am Leben der Menschen zu sein, bis zu dem Punkt, dass man entdeckt, dass dies eine Quelle höherer Freude ist. Die Mission ist eine Leidenschaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk. Wenn wir vor dem gekreuzigten Jesus verweilen, erkennen wir all seine Liebe, die uns Würde verleiht und uns trägt; wenn wir aber nicht blind sind, beginnen wir zugleich wahrzunehmen, dass dieser Blick Jesu sich weitet und sich voller Liebe und innerer Glut auf sein ganzes gläubiges Volk richtet. So entdecken wir wieder neu, dass er uns als Werkzeug nehmen will, um seinem geliebten Volk immer näher zu kommen. Jesus möchte sich der Priester bedienen, um dem heiligen und gläubigen Volk Gottes näher zu kommen. Er nimmt uns aus der Mitte des Volkes und sendet uns zum Volk, sodass unsere Identität nicht ohne diese Zugehörigkeit verstanden werden kann“ (ebd., 268). Die priesterliche Identität ist ohne Zugehörigkeit zum heiligen und gläubigen Volk Gottes nicht denkbar.

Ich bin mir sicher, dass es, um die Identität des Priestertums neu zu verstehen, heute wichtig ist, in engem Bezug zum realen Leben der Menschen zu leben, an ihrer Seite, ohne Fluchtwege. „Zuweilen verspüren wir die Versuchung, Christen zu sein, die einen sicheren Abstand zu den Wundmalen des Herrn halten. Jesus aber will, dass wir mit dem menschlichen Elend in Berührung kommen, dass wir mit dem leidenden Leib der anderen in Berührung kommen“ (ebd., 270). Die Nähe zum Volk Gottes verlangt, den Stil des Herrn weiterzuführen, der ein Stil der Nähe, des Mitgefühls und der Zärtlichkeit ist, weil er in der Lage ist, nicht wie ein Richter, sondern wie der barmherzige Samariter zu handeln, der die Wunden seines Volkes kennt, das im Stillen erfahrene Leid, die Entsagungen und Opfer, die viele Väter und Mütter auf sich nehmen, um ihren Familien ein Fortkommen zu ermöglichen, aber auch die Folgen von Gewalt, Korruption und Gleichgültigkeit, die jede Hoffnung zu ersticken drohen. Eine Nähe, die es ermöglicht, die Wunden zu salben und ein Gnadenjahr des Herrn zu verkünden (vgl. Jes 61,2).

Die Menschen möchten Hirten des Volkes und nicht Kleriker mit Standesdünkel oder „Sakral-Profis“; Hirten, die mitfühlen können und Chancen erkennen; mutige Menschen, die fähig sind, bei den Verwundeten stehenzubleiben und ihnen die Hand zu reichen; kontemplative Menschen, die in ihrer Nähe zu den Menschen angesichts der Wunden dieser Welt die Kraft der Auferstehung verkünden.

Eines der entscheidenden Merkmale unserer digitalen „Netzwerk“-Gesellschaft ist, dass das Gefühl des Verwaistseins weit verbreitet ist. Dies ist ein aktuelles Phänomen. Wir sind mit allem und jedem verbunden, aber es fehlt uns die Erfahrung der Zugehörigkeit, die viel mehr ist als eine Verbindung. Durch die Nähe des Hirten kann man eine Gemeinschaft versammeln und das Wachsen eines Gefühls der Zugehörigkeit fördern; wir gehören zum heiligen, gläubigen Volk Gottes, das dazu berufen ist, ein Zeichen des Anbruchs des Reiches Gottes in der Gegenwart der Geschichte zu sein. Wenn der Hirte in die Irre geht, sich entfernt, werden sich auch die Schafe zerstreuen und für jeden Wolf eine leichte Beute sein.

Diese Zugehörigkeit wiederum ist das Gegenmittel gegen eine Entstellung der Berufung, die daher rührt, dass man vergisst, dass das priesterliche Leben den anderen geschuldet ist – dem Herrn und den von ihm anvertrauten Menschen. Dieses Vergessen ist die Wurzel des Klerikalismus mit all seinen Folgen. Der Klerikalismus ist eine Perversion, weil er auf „Distanz“ beruht. Wenn ich an den Klerikalismus denke, denke ich auch an die Klerikalisierung der Laien: die Förderung einer kleinen Elite, die um den Priester herum auch die eigene grundlegende Sendung verfälscht (vgl. Gaudium et spes, 44), die Sendung des Laien.

Ich möchte diese Nähe zum Volk Gottes mit der Nähe zu Gott in Verbindung sehen, denn das Gebet des Hirten wird im Herzen des Volkes Gottes genährt und verkörpert. Wenn er betet, trägt der Hirte die Zeichen der Wunden und Freuden seines Volkes, die er in aller Stille dem Herrn vorlegt, damit er sie mit der Gabe des Heiligen Geistes salbe. Es ist die Hoffnung des Hirten, der darauf vertraut und dafür kämpft, dass der Herr sein Volk segne.

Diese vier Dimensionen der Nähe sind eine gute Schule für das „Spiel auf offenem Feld“, zu dem der Priester gerufen ist, ohne Angst, ohne Starrheit, ohne Einschränkung oder Verarmung der Mission. Ein priesterliches Herz weiß um die Nähe, denn der Erste, der Nähe schenken wollte, war der Herr. Er möge im Gebet zu seinen Priestern kommen, im Bischof, in den Mitbrüdern im Priesteramt und in seinem Volk. Die verschiedenen Dimensionen der Nähe des Herrn sind keine zusätzliche Aufgabe, sie sind ein Geschenk, das er macht, um die Berufung lebendig und fruchtbar zu erhalten: Nähe zu Gott, zum Bischof, zu den Mitbrüdern und zu den ihnen anvertrauten Menschen – Nähe nach dem Vorbild Gottes, der mit Mitgefühl und Zärtlichkeit nahe ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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Gibt es das glaubwürdige priesterliche Lebenszeugnis?

„In ihnen bin ich verherrlicht!“

Pater Elmar Busse (geb. 1951) ist Mitglied der Schönstatt-Bewegung und seit 1990 in der Schönstatt Jugend- und Familienarbeit tätig. Seit 2016 leitet er auch den Fachbereich Spiritualität in der Katharina Kasper Akademie der Armen Dienstmägde Jesu Christi in Dernbach. Jahrelang hat er mit Opfern von sexuellem Missbrauch gearbeitet und zu den aufgetauchten Fragen Stellung bezogen. Am 6. April 2022 hielt er in Radio Horeb einen Vortrag zum Thema: „In ihnen bin ich verherrlicht“ (Joh 17,10). Ausgehend von diesem Wort Jesu über seine Apostel ging P. Busse auf das Ringen der Kirche um Antworten auf den Missbrauchsskandal ein. Auszüge aus seinem Vortrag.

Von Elmar Busse ISch

Firmen achten darauf, dass dem Kunden nicht die Institution begegnet, sondern ein persönlich zugewiesener Kundenbetreuer. Wenn ich zum Beispiel mein online-Banking aufrufe, erscheint nach dem Einloggen auch das Bild der entsprechenden Kundenbetreuerin.

Stehen wir als Kirche für Jesus und sein Programm?

Interessant ist, dass Jesus vor 2000 Jahren schon davon ausgegangen ist, dass seine Anhänger gleichsam für ihn und sein Programm stehen, ja mehr noch: „In ihnen bin ich verherrlicht.“

Was ebenfalls auffällig ist, dass das nicht als Ziel, als Forderung, als Sehnsucht, sondern als Aussage formuliert worden ist: „In ihnen bin ich verherrlicht.“

Wenn wir uns die einfachen Fischer, die Nobodys einer besetzen römischen Kolonie vor Augen stellen, dann ist die Frage erlaubt, ob Jesus da nicht zum Hochstapler geworden ist, nicht, was seine Person betrifft, aber die seiner Jünger.

Können wir verlorenes Vertrauen wiedergewinnen?

Fragen wir uns einmal, ob wir stolz sein können, zu dieser Kirche zu gehören! In den letzten Jahren dominierte doch eher das Fremdschämen wegen weniger Verbrecher, die ihre Vertrauensstellung missbraucht haben. Und es bleibt nicht beim Fremdschämen. Es gibt viele, die die Notbremse ziehen und aus der Kirche austreten. Zu solch einem miserablen Verein wollen sie nicht mehr gehören, auch wenn sie weiterhin an Gott glauben und die vermittelten Werte hochhalten und sich an ihnen orientieren.

In der Erzdiözese Köln gibt es eine interessante Initiative. Unter dem Titel „Es gibt sie doch“ bringt dort ein kleiner engagierter Kreis von Katholiken Kurzbiografien verstorbener Priester heraus. Inzwischen ist der achte Band erschienen. Jeder Band umfasst ca. 20 Biografien. Im Klappentext der einzelnen Bände heißt es:

„Die Medienberichterstattung über priesterliches und bischöfliches Versagen hat den Eindruck erweckt, als ob es das glaubwürdige priesterliche Lebenszeugnis kaum mehr gäbe. Dennoch existieren überzeugende Beispiele gelungener priesterlicher Existenz nicht nur, sondern sie kennzeichnen wohl in weit stärkerem Maße die kirchliche Wirklichkeit als es der Öffentlichkeit manchmal suggeriert wird.“

Heilige wecken die Sehnsucht, Großes zu erreichen

Stärker noch als die Publikationen über glaubwürdige Christen ist der Brauch, den es so nur in der katholischen Kirche gibt: die Selig- und Heiligsprechungen. In der Präfation von Heiligenfesten heißt es: „Die Schar der Heiligen verkündet deine (Gottes) Größe, denn in der Krönung ihrer Verdienste krönst du das Werk deiner Gnade.“ Mit anderen Worten: Wenn Menschen mithilfe der Gnade über sich und das Normalmaß eines guten Menschen hinauswachsen, dann ist das auch eine Verherrlichung Gottes. Wenn Menschen einen neuen Orden oder eine geistliche Bewegung oder ein caritatives Hilfswerk gründen und dieses Projekt eine unwahrscheinliche Breitenwirkung oder auch eine beeindruckende Langzeitwirkung entfaltet, dann ist das schon etwas Besonderes. Gründer werden ja nur dadurch zu Gründern, dass sie auf authentische Weise christliche Werte zum Leuchten bringen und andere ermutigen, auf diese Weise ihr Christsein zu leben.

Auch wenn in pädagogischen Kreisen über die Rolle des Vorbildes sehr kontrovers diskutiert wird, ob ein Vorbild nur zur Nachahmung animiert oder zum Selbstsein provoziert – die Alltagsbeobachtung bestätigt: Jeder, der auf seinem Gebiet Großes erreicht hat, kann die Menschen benennen, die ihn in seiner Kindheit für dieses Thema erst interessiert und dann begeistert haben. Pater Kentenich sagte als Erzieher zu seinen Schützlingen immer wieder: „Sei du selbst! Sei es in der bestmöglichen Form!“ Damit hatte er die Kinder gegen die Gefahr der reinen Nachahmung immunisiert, aber die Sehnsucht geweckt, sich nicht in Sattheit und Selbstzufriedenheit häuslich einzurichten.

Ohne die Herausforderung durch Ideale gibt es kein Wachstum

In manchen kirchlichen Diskussionen wird vor Idealisierung gewarnt, weil sie schnell in die Überforderung kippen könne. Es wird auf das Wort Jesu hingewiesen, als er die Pharisäer kritisiert: „Sie schnüren schwere und unerträgliche Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, selber aber wollen sie keinen Finger rühren, um die Lasten zu bewegen.“ (Mt 23,4) Das will man unter allen Umständen vermeiden. Aber man übersieht dabei oft, dass es, wenn ich den Ist-Zustand zum Ideal erkläre, kein Wachstum mehr gibt.

Stress-Forscher haben herausgefunden, dass chronische qualitative Unterforderung auch einen hohen Stresspegel erzeugt. In der Alltagssprache reden wir dann eher davon, dass sich jemand in seinem Beruf langweilt oder chronisch unzufrieden ist. Der Mensch braucht die Spannung zwischen dem Ist-Zustand und dem Ideal als Energiequelle, um zu wachsen. Die Kunst der Selbststeuerung besteht darin, sich weder in die Unterforderung noch in die Überforderung zu manövrieren, sondern sich immer wieder neu in den Bereich der Herausforderung hineinzubegeben. Das Selbstgespräch könnte so lauten: „Ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Grundsätzlich traue ich es mir zu, aber ob’s was wird? – Mal sehen!“

Die Heilsgeschichte – eine „Kontrapunkt-Komposition“

Tasten wir uns noch einmal von einer anderen Seite an unser Thema heran: Wann und wie wird der Mensch zur Verherrlichung Gottes?

Für den Komponisten Johann Sebastian Bach war die Kontrapunkt-Komposition das Stilgebot schlechthin. Melodien sollten gegeneinander laufen, aber am Ende immer in einer Harmonie enden. Parallel laufende Quinten waren verpönt – zumindest, was die Hauptstimmen betraf. Theoretisch und praktisch haben die Komponisten Palestrina und Johann Joseph Fux viel zur Popularisierung dieses Kompositionsstils beigetragen.

Wenn Gott mit und trotz der Freiheit des Menschen seine Heilsgeschichte komponiert, dann hat er scheinbar auch eine Vorliebe für den Kontrapunkt: In Krisenzeiten der Kirche beruft er immer auch Heilige, für die das Wort Jesu gilt: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Taten sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). Das ist die Aufforderung, die Jesus später in die Aussage umformuliert: „In ihnen bin ich verherrlicht.“

Seit sechs Jahren bin ich Hausgeistlicher bei den Armen Dienstmägden Jesu Christi in Dernbach. Ich durfte mit dabei sein, als die Gründerin der Dernbacher Schwestern, Katharina Kasper, 2018 in Rom heiliggesprochen worden ist. Über ihr Leben können wir als Motto schreiben, das sie selbst oft zitiert hatte: „In allem und überall geschehe der heilige Wille Gottes“.

Die Kirche ringt: Was ist heute der Wille Gottes?

In der Kirche wird ja – eigentlich wie zu allen Zeiten – intensiv darum gerungen, was denn nun der Wille Gottes heute sei. Wir diskutieren nicht mehr darüber, ob Feudalismus oder Apartheid eine gottgewollte Gesellschaftsordnung sei oder ob Sklaverei ein Schicksal sei, das ebenfalls mit dem Attribut „gottgewollt“ versehen werden kann. Auch Religionsfreiheit fordern wir nicht nur für uns Christen, sondern für alle Religionen. Das war vor dem 2. Vatikanischen Konzil noch anders. Es gibt im Laufe der Entwicklung einfach Selbstverständlichkeiten, die in der Vergangenheit mühsam erkämpft worden sind, die aber heute klar sind.

Der englische Satiriker Douglas Adams (1952-2001) hat das einmal prägnant ausgedrückt: „Alles, was schon da ist, wenn man geboren wird, ist normal. Alles, was erfunden wird, während man zwischen 15 und 35 ist, ist neu, revolutionär und unglaublich spannend. Alles, was erfunden wird, wenn man die 35 überschritten hat, empfindet man als Verstoß gegen die natürliche Ordnung der Dinge und als das Ende der Zivilisation."[1]

Wir diskutieren heute in der Kirche, wie man sexualisierte Gewalt verhindern kann, ob Priester heiraten dürfen sollen, ob Frauen Priesterinnen werden können, ob homosexuelle Lebensgemeinschaften den Segen der Kirche bekommen dürfen u.v.m.

Wir beobachten weiterhin, dass Spiritualität ein Feld ist, das längst nicht mehr allein von den Kirchen bespielt wird, sondern es viele Angebote gibt, die Bewusstseinserweiterung verheißen oder Ekstase versprechen bei schamanischen Trommelkursen oder beim kontrollierten Genuss von pflanzlichen Psychopharmaka.

Gemeinschaft von Sündern und von Heiligen – zu allen Zeiten

Der Vertrauensverlust gegenüber den großen Kirchen ist erschreckend und erklärt sich nicht allein aus der allgemeinen Institutionenverdrossenheit der Bevölkerung. Ein aufgedeckter Skandal jagt den nächsten.

Aber war es eigentlich je anders? Die Geschichte der Kirche ist eine Skandalgeschichte. Aber die Geschichte der Kirche ist nicht nur eine Skandalgeschichte, sondern auch eine Heilsgeschichte.

Sehr unterhaltsam hat Manfred Lütz diese beiden Pole der Kirchengeschichte in seinem Buch „Der Skandal der Skandale. Die geheime Geschichte des Christentums“ beschrieben. Bei aller Lockerheit hatte er doch viele Fakten sorgfältig recherchiert. Gemeinschaft der Gläubigen ist also immer beides: Gemeinschaft von Sündern und von Heiligen. Beide Extreme finden wir zu allen Zeiten. Die Kirchenlehrer verwendeten sogar noch einen drastischeren Ausdruck: „Heilige Hure“. Kirchengeschichte ist also eine Komposition im Kontrapunkt-Stil: Abgründe und Höhepunkte.

„Ihr seid das Licht der Welt“ – am Beispiel der hl. Katharina Kasper

Als deutsche Katholiken können wir stolz auf Katharina Kasper sein. Wenn wir auf ihr Verhalten und ihre Texte schauen, dann fällt auf, dass sie nicht im damals üblichen Lagerdenken ihrer Umgebung gefangen war.

Befreiung aus dem Lagerdenken der Umgebung

Um jeden Leidenden, egal ob katholisch, evangelisch, jüdisch oder atheistisch, sollten sich die Schwestern kümmern. Im Gegensatz dazu stand die Meinung eines Pfarrers in Frankfurt, der der festen Überzeugung war, die Schwestern sollten sich nur um die katholischen Kranken kümmern. Das war typisch für das damals übliche Lagerdenken. – Nebenbei: Es gibt keine Weltreligion, die so konsequent die Nächstenliebe zum Gradmesser für die Echtheit der Gottesliebe macht wie das Christentum. „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ Dieses Jesuswort ist sicher das wirkmächtigste Wort zur Vermenschlichung der Welt.

Erziehung innerlich freier Persönlichkeiten

Ein Zweites: Katharina, die selber nur acht Jahre die Volksschule besucht hatte, legte großen Wert auf die Aus- und Weiterbildung ihrer Schwestern. Selbständige, initiativfreudige und innerlich freie Persönlichkeiten wollte sie heranbilden. Bei ihr finden wir keine Anzeichen einer Demutserziehung mit dem Holzhammer, die nur seelische Krüppel hervorbringt, was es zur damaligen Zeit durchaus in Orden zu beklagen gab.

Der Geist, der in uns wirkt

Ein Drittes: Die Weite ihres Horizontes lässt sich nicht aus ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Schuldbildung oder dem geistigen Klima eines kleinen, abgelegenen Westerwalddorfes erklären. Einige Male, als sie ihre Schwestern oder Bischof Blum in Limburg mit ihren Entscheidungen überrascht hatte, erklärte sie: „Der Geist, der in mir wirkt, hat mir das gesagt oder gezeigt.“ Die Hartnäckigkeit, mit der sie darum kämpfte, dass Dernbach bei der Planung eines neuen Trassenbaus der Bahn einen Bahnhof bekam, zeugt von ihrer Weitsichtigkeit. Sie, die nach Möglichkeit jedes Jahr alle Filialen der schnell gewachsenen Gemeinschaft besuchen wollte, wusste es zu schätzen, wenn man sich in Dernbach in den Zug setzen konnte anstatt mit einer Kutsche erst auf holprigen Wegen nach Koblenz zum nächsten Bahnhof gebracht werden musste.

Lautstarke Forderungen führen zu keiner nachhaltigen Erneuerung

Wenn wir die Gründungsgeschichte der Armen Dienstmägde und speziell den Lebenslauf der Gründerin betrachten, dann können wir verallgemeinern, dass nachhaltige Erneuerungen in der Kirche selten nach dem Strickmuster verlaufen sind, dass Christen an der Basis lautstark Forderungen erhoben haben: „Die da oben sollen doch mal …!“ Auch Reformen von „oben nach unten“ sind selten, aber es gibt sie: Die Herabsetzung des Erstkommunionalters durch Pius X., die Einberufung des II. Vatikanischen Konzils durch Johannes XXIII.; um nur zwei Beispiele zu nennen.

Der typische Umgangsstil Gottes mit uns Menschen und die jeweiligen göttlichen Initiativen zur Erneuerung der Kirche liefen meistens nach dem Muster ab, dass Gott das Herz eines einzelnen berührt hat, der dann in der jeweiligen Zeitnot den Anruf Gottes herausgehört hat. Ordensgründer haben also nicht zuerst Forderungen an andere gestellt, sondern wagten das Selbstexperiment. Oft war es ein Suchen und Tasten, worin wohl das Neue bestehen würde, das Gott durch sie in die Kirche hineintragen wollte.

Innovationen sind spannend und oft ein langwieriger Kampf

Die Entstehungsgeschichte der Orden und der jeweiligen Spiritualitäten ist eine spannende Innovationsgeschichte. Die Kirche als ecclesia semper reformanda – als immer erneuerungsbedürftige und zu erneuernde Kirche – hat von innen heraus durch einzelne charismatisch begabte Persönlichkeiten Lebensformen der Nachfolge Christi entwickelt, die für die am Althergebrachten Klebenden unvorstellbar waren. Meistens mussten die Ordensgründer einen langwierigen Kampf mit den konservativen Kräften der jeweiligen Kirchenleitungen führen, um schließlich dann doch anerkannt zu werden.

Nicht bei allen dauerte es so lange und war es so kompliziert wie bei Mary Ward, der Gründerin der „Englischen Fräulein“, oder wie der offizielle Titel lautet: Institutum Beatae Mariae Virginis, Ordenskürzel: IBMV. 2004 wurde die Gemeinschaft in Congregatio Jesu (CJ) umbenannt.

Oder als Ignatius die Jesuiten gründen wollte und nicht mehr das gemeinsame Chorgebet als verpflichtende Übung vorsah, um die Flexibilität im Einsatz zu erhöhen, wollte die für die Orden zuständige römische Behörde das nicht erlauben und den Satzungsentwurf ändern. Dramatisch wurde es im 18. Jahrhundert, als der Papst den Jesuitenorden „reformieren“ wollte. Lorenzo Ricci, der 18. Ordensgeneral prägte den später berühmt gewordenen Satz: „Wir sind wie wir sind, oder uns gibt es nicht mehr.“ Im Lateinischen ist das ein schönes Wortspiel: „Sint ut sunt, aut non sint.“ Tatsächlich wurde der Orden 1773 durch Papst Clemens XIV. verboten. Erst 1814 wurde dieses Verbot durch Papst Pius VII. wieder aufgehoben.

Durch Heilige bringt die Kreativität Gottes Neues hervor

Die Ordensgeschichte ist voll von solchen Auseinandersetzungen. Wenn wir der Heiligen gedenken oder sie feiern, dann feiern wir auch die Kreativität Gottes, der immer wieder einzelne Menschenherzen anrührt und sie durch den Heiligen Geist führt, etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes hervorzubringen. Ja, Gott wird in ihnen und durch sie verherrlicht. Auch heute dürfen wir damit rechnen, dass Gott auf diese Weise seine Kirche erneuert. Also nicht lautstark Forderungen an andere stellen, an „die da oben“, sondern den Mut zum Selbstexperiment entwickeln und achtsam nach Innen lauschen, was der Heilige Geist einem eingibt. So geht Innovation in der Kirche. Vielleicht können auch wir zur Verherrlichung Gottes beitragen. Das Potential steht uns zur Verfügung.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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[1] Hier zitiert nach Frank Dopheide: Gott ist ein Kreativer, kein Controller, Econ-Verlag, Berlin 2021, S. 60.

Das Priestertum heute und morgen

Diener des Vertrauens

Die Missbrauchskrise verlangt eine ehrliche und ernsthafte Aufarbeitung. Die Berichte über Skandale in aller Welt werfen viele Fragen auf, denen sich die Kirche stellen muss. Wie kann Missbrauch in Zukunft so weit wie möglich verhindert werden? Was muss geschehen, damit die Vergehen nicht mehr vertuscht werden? Worin liegen die Ursachen für Missbrauch und Vertuschung? Welche systemischen Fehler müssen behoben werden? Wo sind tiefgreifende Reformen notwendig? Wie können Umkehr und Neuanfang gelingen? Welche Lebensform ist für den priesterlichen Dienst angesagt? Wie kann die Kirche den Opfern gerecht werden? Welche Hilfe kann sie ihnen zur Heilung anbieten? Pfarrer Erich Maria Fink schlägt vor, das Thema Vertrauen in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen, um angemessene Antworten auf diese Fragen finden zu können und die notwendigen Schritte zur Überwindung der Krise zu erkennen.

Von Erich Maria Fink

Joseph Kardinal Ratzinger hatte 1988 ein Büchlein mit dem Titel „Diener eurer Freude“ veröffentlicht. Es sind sieben Ansprachen über die priesterliche Spiritualität, die er zwischen 1962 und 1986 zu unterschiedlichen Anlässen gehalten hat. Der „Dienst der Freude“ sei das durchgehende Motiv aller dieser Betrachtungen und entspreche „dem innersten Sinn des priesterlichen Auftrags“, so Kardinal Ratzinger in seinem Vorwort. Den Priester „Diener der Freude“ zu nennen, legt sich nahe; denn schließlich ist er zum Künder der Frohen Botschaft berufen. „Nicht Herren eures Glaubens sind wir, sondern Diener eurer Freude!“ Dieses Wort, das aus dem zweiten Korintherbrief des hl. Apostels Paulus stammt (2 Kor 1,24), hatte Joseph Ratzinger 1951 als seinen Primizspruch gewählt.

In Anlehnung an dieses Wort möchte ich den Priester als „Diener des Vertrauens“ bezeichnen. In erster Linie meine ich damit die Aufgabe des Priesters, seinen Dienst so auszuüben, dass die Menschen der Kirche vertrauen können. Dazu muss er in seiner persönlichen Lebensführung glaubwürdig sein, gleichzeitig die Lehre der Kirche überzeugend vertreten und so den Menschen helfen, zum Glauben an Jesus Christus zu finden und in ihm ihr Leben zu verankern. Für den Aufbau des Reiches Gottes sind das Vertrauen zur Kirche sowie das gegenseitige Vertrauen in der Gemeinde vor Ort von zentraler Bedeutung. Diesen Schatz gilt es ständig im Auge zu behalten. Ihm zu dienen, ist heute eine vorrangige Aufgabe der Kirche. Denn von ihm haben wir in der Vergangenheit mit großer Selbstverständlichkeit gezehrt, müssen nun aber schmerzlich erfahren, wie er mit rasender Geschwindigkeit in Brüche geht.

Missbrauchsskandal und Vertrauensverlust

Die Krise der Kirche, die wir im Augenblick erleben, geht über den Missbrauchsskandal hinaus, hat in ihm aber eine nie dagewesene Zuspitzung erfahren. Der größte Schaden besteht ohne Zweifel im Verlust des Vertrauens zur Kirche. Unser pastorales Wirken geht ins Leere, wenn wir das Vertrauen der Menschen nicht zurückgewinnen. Mit großer Ehrlichkeit und Geduld muss sich die ganze Kirche dieser Aufgabe stellen. Alle sind berufen, in diesem Sinn „Diener des Vertrauens“ zu sein, nicht nur die Priester, die durch die Vergehen in ihren eigenen Reihen vom Skandal besonders betroffen sind.

Genau das haben sich die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) zum Ziel gesetzt, als sie sich für den „Synodalen Weg“ entschieden haben, nämlich den Missbrauchsskandal ehrlich aufzuarbeiten, daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen und so das verlorengegangene Vertrauen wiederaufzubauen. Doch hat es eher den Anschein, als würden die Teilnehmer des „Synodalen Wegs“ das Vertrauen zur Kirche leichtfertig aufs Spiel setzen und mit dem Versuch, ihre eigene Agenda umzusetzen, weiter untergraben.

Priesterliche Lebensform

In der Bergpredigt geht Jesus ganz eindeutig auf die Frage der Keuschheit ein. Zum Leben mit Gott gehört die Beherrschung der Triebe. „Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,28). Und Jesus fordert eine entschiedene Formung der Persönlichkeit und den Einsatz aller Kräfte, um in Gedanken, Worten und Werken die Reinheit leben zu können. Denn sie bildet die Grundlage für die Verwirklichung selbstloser Liebe. Dazu sind alle Gläubigen berufen, ob verheiratet oder unverheiratet, Laien, Priester und Ordensleute.

Der Missbrauch in der Kirche verlangt an erster Stelle einen ehrlichen Umgang mit der menschlichen Sexualität und die entschlossene Bekehrung zur Keuschheit. Vertrauen ist zerstört, weil die Kirche, welche die hohen Ideale der Reinheit predigt und sie in Treue zum Evangelium auch vertreten muss, in ihren Verantwortungsträgern versagt hat. Damit die Menschen wieder Vertrauen schöpfen können, muss die Kirche einen klaren Umkehrwillen zeigen und sich mit der Herausforderung auseinandersetzen, die Priester auf ein gelungenes zölibatäres Leben vorzubereiten und sie auf diesem Weg zu begleiten.

Stattdessen sendet der „Synodale Weg“ Signale aus, die in die entgegengesetzte Richtung gehen, ja einer vollkommenen Kapitulation vor der Berufung zur Beherrschung der geschlechtlichen Leidenschaften gleichkommen. Man verfälscht die biblische Botschaft und erklärt, dass der Umgang mit der eigenen Sexualität gar keinen Einfluss auf die Gottesbeziehung habe. So will man alle Formen rechtfertigen, auch aktiv gelebte Homosexualität. Prekär ist es vor allem deshalb, da der Missbrauch unter Menschen, die eine gleichgeschlechtliche Veranlagung besitzen, ein besonderes Problem darstellt. Die Kirche scheint angesichts der Skandale den Mut zum Zeugnis verloren zu haben. Doch ein Antizeugnis kann kein Vertrauen aufbauen.

Verrat und Heilung

Das Priestertum muss im Licht der Apostel gesehen werden. Es geht um die Berufung und Sendung der Apostel in der Kirche. Dass einer der Zwölf zum Verräter wurde, stellt das apostolische Amt und das, was Jesus getan hat, als er die Kirche auf das Fundament der Apostel gegründet hat, nicht in Frage. Angesichts des Missbrauchs dürfen wir nicht übersehen, dass auch heute die allergrößte Mehrheit der Priester ihren Dienst in Treue und mit Hingabe erfüllt. Ihnen schulden wir an erster Stelle unser Vertrauen. Gerade der „Synodale Weg“ steht hier in einer besonderen Pflicht.

Aber auch der Umgang mit Missbrauchstätern fordert von der Kirche eine Form, die in den Gläubigen Vertrauen wecken kann. Mit dem Ausschluss aus der Seelsorge, mit der Überstellung an den Staatsanwalt, mit kirchenrechtlicher Bestrafung ist es nicht getan. All dies ist überfällig. Aber die Menschen möchten auch sehen, wie Versöhnung und Heilung im christlichen Sinn aussieht. Und das erfordert pastoralen Einsatz und Gesprächsbereitschaft auch vonseiten der Bischöfe.

Nur Ehrlichkeit kann eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen. Und es ist auch eine Frage der Aufrichtigkeit, den Missbrauchsskandal nicht mit dem Problem des Priestermangels zu verknüpfen oder zu vermischen. Beide Herausforderungen verlangen ihre je eigenen Lösungen. Andernfalls gerät man in eine Sackgasse. Und gerade hier läuft der „Synodale Weg“ Gefahr, zu spalten und Vertrauen zu verspielen. Über „viri probati“ oder andere Lösungen muss in einem Rahmen nachgedacht werden können, der nicht von den Spannungen der Skandale belastet ist.

Blick in die Heilsgeschichte

Nicht immer muss man bei Adam und Eva beginnen, aber beim Thema „Vertrauen“ macht es einen tiefen Sinn. Gott hat den Menschen mit der Fähigkeit zu lieben erschaffen. Aus freiem Willen sollte er die Liebe Gottes annehmen und sich auf eine ewige Beziehung mit seinem Schöpfer einlassen. Um der Freiheit Raum zu geben, versetzte er den Menschen in eine Situation, die Vertrauen verlangt. Vertrauen ist vom ersten Augenblick der Schöpfung an das Fundament, auf dem sich die Liebe als freiheitlicher Akt entwickeln kann.

Und wie sollte der Mensch seinem Schöpfer zeigen, dass er ihm vertraut, dass er an seine grenzenlose Liebe glaubt? Das Vertrauen des Menschen sollte sich im Gehorsam erweisen. Gott verlangte von den ersten Menschen, dass sie seinem Wort gehorchen und nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen.

Die Schlange zerstörte das Vertrauen der ersten Menschen. Sie flößte ihnen den Gedanken ein, sie könnten wie Gott werden, doch Gott gestehe ihnen das nicht zu, er gönne es ihnen nicht. Das war die geschickte Lüge des Widersachers. Denn das Gegenteil war der Fall: Gott hatte den Menschen von Anfang an mit dem Ziel erschaffen, ihn zu vergöttlichen und ihm vollkommenen Anteil an seinem eigenen Leben zu geben. Durch ihren Ungehorsam zeigten die ersten Menschen, dass sie eine solche Liebe Gott nicht zutrauten. Sie glaubten der Schlange mehr als Gott.

Auf diesem Hintergrund hat Gott seinen Plan der Erlösung entworfen. Er gab der Menschheit die Chance, zu ihm zurückzukehren. Im Zentrum steht der Ruf, Gott von neuem Vertrauen zu schenken. Und dieses Vertrauen sollte durch das gehorsame Annehmen der Ratschlüsse Gottes geformt werden.

Gehorsam als Ausdruck des Vertrauens

In diesem Licht muss auch die christliche Berufung gesehen werden. Jeder Mensch steht vor der Aufgabe, sein Leben anzunehmen, wie es Gott gefügt hat. Dazu gehört auch die Tatsache, dass ich Mann oder Frau bin. Mich anzunehmen, wie Gott mich geschaffen hat, ist ein fundamentaler Akt des Vertrauens und verlangt Gehorsam. Die LGBT-Bewegung ist in gewisser Weise ein Ausdruck der Befreiung. Das Moment der Freiheit hat in dieser Dynamik auch etwas Positives an sich. Doch bringt es in den Menschen letztlich eine Haltung des Ungehorsams hervor, die zu einer radikalen Verweigerung des Vertrauens dem Schöpfer gegenüber werden kann.

Die Kirche muss im pastoralen Umgang mit Homosexuellen diesen Aspekt im Blick behalten. Sie hilft den Betroffenen nur, wenn sie mit Einfühlungsvermögen und Standhaftigkeit den Ruf Gottes aufzeigt, sich vom Schöpfer her anzunehmen, aber sich auch für den von Gott gewiesenen Weg der Keuschheit zu entscheiden. Ein solcher Weg ist möglich, wenn er mit der Kraft der Gnade gelebt wird. Darin besteht die christliche Befreiung, die zur Freude führt. Sich dafür zu entscheiden, ist eine Frage des Gehorsams und Ausdruck des Vertrauens zu Gott. Wir können dabei auch von einem Gehorsam des Glaubens sprechen, wie es die Heilige Schrift tut.

Der „Synodale Weg“ in Deutschland erklärt, aktiv gelebte Homosexualität sei keine Sünde, wenn in einer solchen Beziehung christliche Werte wie Treue verwirklicht würden. Um dieser Überzeugung einen offiziellen Ausdruck zu verleihen, soll die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare eingeführt werden. Aber kann sich die Kirche zum Partner des Aufbegehrens gegenüber Gott machen? Sie würde die Menschen in die Irre führen und ihnen den notwendigen Beistand verweigern. Vielmehr muss sie ihnen helfen, den Weg der Erlösung zu wählen und ihre Lebenswirklichkeit als Chance zu nützen, Gott im Gehorsam vollkommenes Vertrauen zu schenken. Bischöfe und Priester, die den Forderungen der LGBT-Bewegung innerhalb der Kirche nachgeben, sind keine Diener des Vertrauens, auch wenn sie ihre Absicht, damit neues Vertrauen in die Kirche zu gewinnen, noch so sehr beteuern. Wir können als Kirche nicht an Gott vorbei Vertrauen erheischen wollen. Die Kirche ist Diener des Vertrauens, indem sie die Menschen zum Vertrauen gegenüber Gott hinführt und zum Glaubensgehorsam ermutigt.

Vorbild für das Volk Gottes

Für die religiöse Erziehung gilt, dass Eltern durch ihr Vorbild am meisten bewirken können. Wenn die Kinder spüren, dass ihre Eltern aus Ehrfurcht gegenüber Gott das Sonntagsgebot halten und regelmäßig beten, werden sie selbst zum Gehorsam befähigt, sowohl den Eltern als auch Gott gegenüber. Gleichzeitig müssen Eltern in der Erziehung gut zwischen unverrückbaren Grenzen und möglichen Freiräumen, in denen sich ihre heranwachsenden Kinder selbstständig entfalten können, unterscheiden.

Die Bischöfe haben die Pflicht, dem Volk Gottes Vorbild zu sein, besonders was die unverhandelbaren Eckpunkte kirchlichen Lebens betrifft. Daran müssen sie im Geist des Gehorsams festhalten. Eine solche Wegmarke ist das Priestertum, das Jesus mit dem apostolischen Amt eingesetzt hat. Es trägt die Kirche in ihrem sakramentalen Charakter als geheimnisvollen Leib Christi. Der Auftrag des Priesters besteht darin, den Menschen die Begegnung mit Jesus Christus zu ermöglichen und sie zum Vaterherzen Gottes zurückzuführen.

Für jeden, der das Wesen der Kirche ehrlich betrachtet, gehört dazu auch die Entscheidung, dass das Weiheamt nur Männern offensteht. Die Vertreter des „Synodalen Wegs“ betonen, es gebe dafür keine überzeugenden Argumente, wobei sie unter anderem die gesamte Theologie Johannes Pauls II. außer Acht lassen. Umso deutlicher tritt hervor, dass bei den Verfechtern des Frauenpriestertums keine Bereitschaft vorhanden ist, einen Gehorsam des Glaubens zu leisten. Damit aber wird die Grundlage des Vertrauens zur Kirche und in die gesamte Offenbarungsgeschichte zerstört.

Wie die ganze Heilsgeschichte, die im Erlösungswerk Christi gipfelt, zeigt, können wir Gott vor allem dadurch unser Vertrauen entgegenbringen, dass wir ehrlich nach seinem Willen fragen und seine Offenbarung ernst nehmen. Stellen wir auf einem „Synodalen Weg“ auch unverrückbare Standpunkte zur Diskussion, gefährden wir sowohl das wertvolle Gut der Synodalität als auch den Aufbruch zu Neuem, das uns der Heilige Geist zeigen möchte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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Ein trauriger Freitag im Bundestag

Liebe und Leben

Der Augsburger Bischof Dr. Bertram Meier bekannte sich bei seiner Predigt am 15. Mai 2022 zum Abschluss des Mariathon von Radio Horeb in Balderschwang unmissverständlich zum Lebensrecht der ungeborenen Kinder. Nachfolgend der Schlussteil seiner Predigt.

Von Bischof Bertram Meier, Augsburg

Unser christliches Erkennungszeichen ist die Liebe. Die Frucht wahrer Liebe ist Leben. Das bestätigen Frauen und Männer, die ein Kind erwarten und Eltern werden. Der 13. Mai 2022 war in Deutschland ein dunkler Tag: Am Freitag, dem 13., wurde im Bundestag in Berlin eine Weiche gestellt, die in die falsche, ja in eine gefährliche Richtung führt. Zwar ist es noch nicht endgültig beschlossen, doch das Ziel ist klar: Das Werbeverbot für die Abtreibung soll abgeschafft werden. Die Befürworter sehen darin einen weiteren Schritt zur Selbstbestimmung der Frau. Andere begründen es damit, dass die Abtreibung nur eine logische Weiterführung der künstlichen Empfängnisverhütung sei. Doch das ist eine Verharmlosung eines ernsten Sachverhaltes. Manche gehen sogar so weit, dass sie sagen: Die Frau soll selbst entscheiden, ob sie das Kind austragen will oder nicht. Über solche Ideen kann ich nur erschrecken und traurig sein.

Wo bleibt die Ehrfurcht vor dem Leben? Wir nehmen uns die Freiheit, über das Recht zu urteilen, ob ein gezeugter Mensch im Mutterleib leben darf oder nicht. Ein solches Urteil steht uns nicht zu. Mehr noch: Es ist für mich eine Schande, den Menschen dort das Lebensrecht abzusprechen, ihn ums Leben zu bringen, wo er weder Stimme hat noch Schutz: im Mutterleib. Und einer Frau, die sich mit dem Gedanken trägt, das werdende Leben aus ihrem Schoß nehmen zu lassen, darf ich die schüchterne und auch ehrfürchtige Frage stellen: „Sind Sie dadurch wirklich frei, sich selbst zu bestimmen, oder könnte der Druck noch zunehmen, sich das im eigenen Körper wachsende Leben wegmachen zu lassen, wenn es z.B. anderweitig abgelehnt wird vom Vater, vom Freundeskreis etc., oder wenn es gerade nicht in die Berufsplanung passt?“ Wir müssen es klar benennen: Abtreibung ist keine Schönheitsoperation, Abtreibung nimmt einem Menschen dort das Leben, wo er abhängig und wehrlos ist. Wenn wir damit politisch gegen den Trend schwimmen und derzeit nicht mehrheitsfähig sind, gebe ich die Hoffnung nicht auf: Machen wir den Mund auf für das menschliche Leben – ob ungeboren oder todgeweiht! Und beten wir treu und beharrlich, dass die „Kultur des Lebens“ am Ende doch siegt. Es lebe das Leben! VIVAT VITA!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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Hagiotherapie für die Wunden der Kirche

Wegweiser zur Erneuerung

P. Georg Gantioler FSO, der den „Theresienwerk e.V. – Augsburg“ seit 2019 leitet, sieht im Vermächtnis der hl. Therese von Lisieux einen Wegweiser für alle, die sich in der Kirche engagieren und am Aufbau des Reiches Gottes mitwirken möchten. Reinigung und Erneuerung beginne damit, dass sich jeder die Frage stelle: Was bewegt mich, etwas zu tun? Was ist mein letztes Motiv? Allein das Heilige könne die Wunden der Kirche heilen, Heiligkeit, in der die Gegenwart Gottes und seiner barmherzigen Liebe aufleuchte. Und so verwendet er für den Weg der Erneuerung den Begriff „Hagiotherapie“, merkt aber dazu an: „Wenn ich hier von Hagiotherapie spreche, meine ich nicht die von Professor Tomislav Ivančić entwickelten Erkenntnisse und Methoden, sondern verwende den Begriff im wörtlichen Sinn: Heilung durch das (den) Heilige(n).“

Von Georg Gantioler FSO

In diesem Jahr feiert das „Theresienwerk – Augsburg“, dem der damalige Augsburger Bischof Viktor Josef Dammertz OSB im Jahr 1998 den Titel „Apostolische Gemeinschaft im Geist der hl. Therese von Lisieux“ verliehen hat, sein 50-jähriges Bestandsjubiläum. Seit drei Jahren darf ich diese Gemeinschaft leiten. Auf Vermittlung von Weihbischof Florian Wörner wurde ich am 28. September 2019 als Nachfolger von Pfr. Anton Schmid zum Vorsitzenden gewählt. Ich erinnere mich noch an ein erstes Telefonat in dieser Sache. Der Weihbischof fragte mich, ob ich eine besondere Beziehung zu Therese von Lisieux hätte. Ich habe etwas geschluckt und dann eine ausweichende Antwort gegeben: Meine Gemeinschaft (Geistliche Familie „Das Werk“) und vor allem deren Gründerin, Julia Verhaeghe, habe eine tiefere Beziehung zu ihr gehabt. So sei Therese für mich keine Unbekannte, und ich könnte mich mit der Aufgabe, das Theresienwerk zu leiten, vermutlich gut identifizieren. Ich spürte aber Nachholbedarf und nahm deshalb noch im Sommer 2019 ein erstes Mal an einer Pilgerfahrt nach Lisieux teil. Eine Dame, die mich etwas verunsichert im Bus vorfand, sagte zu mir: „Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich auf dieser Wallfahrt Hals über Kopf in Therese verlieben!“ Nun, Thereses Rosen sind damals ausgeblieben, aber mein Vorsatz, Therese näher kennenzulernen, blieb erhalten. Was mich auf dieser Wallfahrt besonders angesprochen hat, war ein Wort von Johannes Paul II., das ich gelesen hatte: „Gott hat durch das Leben der hl. Therese der Welt eine Botschaft gegeben. Er hat einen Weg nach dem Evangelium gewiesen, nämlich den ‚Kleinen Weg‘, den alle gehen können, da ja alle zur Heiligkeit berufen sind."[1] Ja, Gott spricht zu seiner Kirche! Er tut es in vielfältiger Weise, manchmal durch außergewöhnliche Zeichen und Offenbarungen. Er tut es aber auch durch das Leben der Heiligen. Dieser Gedanke fand in meinem Herzen schnell Resonanz. Ich verstand, dass die Heiligkeit der Weg zur Erneuerung der Kirche ist. Die Kirche braucht eine „Hagiotherapie“, da sie „stets der Reinigung bedürftig"[2] ist und als Leib Christi nicht nach rein menschlichen Maßstäben erneuert werden kann. Die Heilung ihrer Wunden geschieht neben der immer heilenden Liebe Christi auch durch die Heiligkeit von „gesunden Gliedern“, von Menschen, die die erlösende Gnade Christi in ihr Leben, Denken und Handeln aufgenommen haben und ihr Leben von dieser Gnade umgestalten und erneuern lassen. Die Orientierung an den Heiligen, den kanonisierten und den lebenden, ist für eine Kirchenreform fundamental wichtig.

Vom hl. Pius X. wird eine Bemerkung überliefert, die er 1907 einem Bischof gegenüber machte, der ihm ein Foto der Sr. Therese von Lisieux schenkte: „Sie ist die größte Heilige unserer Zeit!“ Das ist eine mutige Aussage! Welches Messgerät haben wir, um die Größe der Heiligkeit zu messen? Pius X. hat wohl intuitiv gespürt, dass im Leben dieser Ordensfrau ein großes Licht in der Kirche aufgeleuchtet ist. Es stellt sich aber die berechtigte Frage, ob eine junge Karmelitin, die kaum das wirkliche, reale Leben gekannt hat, für die Kirche als Ganze Vorbild und Therapeutin in der Heiligkeit sein kann? Neben der großen Begeisterung und Liebe, die viele Menschen für Therese haben, gibt es nicht wenige, die Schwierigkeiten mit ihrer Persönlichkeit haben: die blumige und dem modernen Menschen fremde Sprache ihrer Schriften, ihre psychologisch nicht gerade geradlinige Entwicklungsgeschichte, die begrenzten Themenfelder einer klausurierten Karmelitin, ihre Verherrlichung in kitschigen Bildern, die kaum einen wirklichen Menschen wiedergeben, um nur einige Vorbehalte zu nennen. Andere Heilige beeindrucken mehr und sind zugänglicher. Und dennoch, wenn man es schafft, „die Schale der Nuss zu knacken“, entdeckt man im Leben und in den Schriften Thereses Dinge, die zutiefst beeindrucken und weit über die Verehrung einer netten jugendlichen Heiligen hinausgehen. Man entdeckt, dass Therese gleichsam „Vox Verbi – Vas Gratiae"[3] war, eine Stimme des fleischgewordenen Wortes und eine überaus begnadete Frau, deren Bedeutung dauerhaft und universal ist. Das brachte Papst Johannes Paul II. im Jahr 1997 auch sehr deutlich zum Ausdruck, als er Therese von Lisieux den Titel einer Kirchenlehrerin verlieh.

Liebe ist nicht Aktion, sondern Gegenwart Gottes

Am Höhepunkt ihres spirituellen Weges, als Therese bereits von ihrer Todeskrankheit gezeichnet ist und eine furchtbare Glaubensnacht durchleidet, bringt sie in einem Brief an ihre leibliche Schwester Marie du Sacré-Coeur die Sehnsucht, die sie plötzlich erfasst, zum Ausdruck: Neben ihrer Berufung, „Deine Braut zu sein, o Jesus, Karmelitin zu sein, durch meine Vereinigung mit Dir Mutter von Seelen zu sein“, möchte sie Soldat sein, Priester, Apostel, Lehrer, Märtyrer, Prophet, Kirchenlehrer… Sie schreibt: „Jesus, Jesus, wollte ich alle meine Wünsche niederschreiben, dann müsste ich mir dein Buch des Lebens borgen, denn darin sind die Taten aller Heiligen aufgezeichnet, und genau diese Taten möchte ich für Dich vollbracht haben."[4]

Wie bekannt, entdeckt sie anhand des Hoheliedes der Liebe in 1 Kor 13, wie ihre unerfüllbaren Träume Wirklichkeit werden können: „Ich begriff, allein die Liebe lässt die Glieder der Kirche wirken, und wenn die Liebe erlöschen würde, würden die Apostel nicht mehr das Evangelium verkünden und die Märtyrer sich weigern, ihr Blut zu vergießen. […] Ja, ich habe meinen Platz gefunden, den Platz in der Kirche, und diesen Platz hast Du, mein Gott, mir gegeben… Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein."[5] Von der Aktion, „alles für Jesus zu tun und zu erleiden“, findet sie zum Sein: „Ich werde die Liebe sein!“

Im Gesamtzusammenhang ihrer Schriften wird klar, wie sie das versteht: Die Liebe, die im Herzen der Kirche pulsiert, ist die barmherzige Liebe Gottes. Indem sie diese Liebe ganz in sich aufnimmt und ihr eigenes Leben davon restlos durchdringen lässt, macht sie die Liebe Gottes in der Welt gegenwärtig und wird sie selbst ganz Liebe. So hat sie es bereits gesehen, als sie sich am Dreifaltigkeitssonntag 1895 der barmherzigen Liebe Gottes als Ganzopfer geweiht hat: „Oh, ich habe den Eindruck, seit diesem seligen Tag durchdringt und umgibt mich die Liebe, sie reinigt meine Seele und hinterlässt darin keine Spur der Sünde.“ Und so sieht sie auch die konkrete Verwirklichung der Nächstenliebe: „Du weißt genau, dass ich meine Schwestern niemals so lieben könnte, wie Du sie liebst, wenn nicht Du selbst, mein Jesus, sie auch noch in mir lieben würdest. […] Es ist Dein Wille, in mir all jene zu lieben, die zu lieben Du mir gebietest."[6]

Vieles in den Schriften Thereses ist nicht Frucht reflektierenden Denkens, sondern „persönliche Erfahrung der Gnade“,[7] die sie mutig und manchmal fast verwegen niederschreibt. Was sie aber schreibt, stimmt mit der Glaubenslehre der Kirche überein, mit der Therese von Kindesbeinen an ganz selbstverständlich vertraut ist. So ist es beständiger Glaube der Kirche, dass der Christ durch Taufe, Firmung und Eucharistie eine Wohnung des dreifaltigen Gottes, eine Wohnung der göttlichen Liebe ist. Diese gnadenhafte Wirklichkeit wahrzunehmen, im Gebet lebendig zu halten und in Taten der Liebe umzusetzen, ist Lebensaufgabe jeder und jedes Getauften. Wo das wirklich geschieht, erneuert sich die Kirche, bekommt sie ein Gesicht, das sympathisch und anziehend ist, und vermag sie auch junge Menschen anzusprechen, die nach einem Weg und dem Sinn ihres Lebens suchen.

Leben „sub specie aeternitatis“

In den Schriften der hl. Therese entdeckt man sehr schnell eine ihrer grundlegenden Überzeugungen: Der Mensch ist für den Himmel geschaffen, und die Welt kann für ihn darum nur „Exil“ sein. Schon als kleines Kind, vielleicht bedingt durch die schmerzliche Erfahrung, liebe Menschen schnell zu verlieren, sehnt sie sich danach, bald in den Himmel zu kommen. Interessant ist die Reflexion, die sie als 14-jährige anstellt und in einem Brief an ihre Schwester Marie im Karmel zum Ausdruck bringt. Herr Martin wollte seiner Tochter, die auf den Karmeleintritt wartet, eine Freude machen und schenkt ihr ein lebendiges, erst wenige Tage altes Lämmchen. Doch schon wenige Stunden später ist es tot; es war noch zu jung, um selbstständig zu überleben. Therese schreibt ihrer Schwester Marie ins Kloster: „Du weißt nicht, wie nachdenklich mich der Tod dieses Tierchens machte. Oh, ja! Man soll sich auf Erden an gar nichts hängen, nicht einmal an die unschuldigsten Dinge, denn wir müssen sie gerade im unerwarteten Augenblick entbehren. Nur was ewig ist, kann uns zufriedenstellen."[8] Sieben Jahre später, im Oktober 1895, dichtet sie ein Lied an das Herz Jesu:

„Ich brauche ein Herz, das von Zärtlichkeit brennt, das meine Stütze bleibt ohne je-des Zurück, das alles in mir liebt, selbst meine Schwäche, das weder bei Tag noch bei Nacht mich verlässt. Ich habe kein Geschöpf finden können, das mich immer liebte, ohne je zu sterben."[9] Therese hat ein großes Verlangen, geliebt zu werden und zu lieben. Ihre Logik ist einfach: Nur die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott erfüllt dieses Verlangen. Denn weil nur Gott ewig ist, kann er immer geliebt werden; und weil nur Gott unwandelbar ist, kann man sich seiner Liebe für immer sicher sein. In einem ihrer letzten Briefe in Erwartung ihres baldigen Todes schreibt sie an den China-Missionar Abbé Roulland: „Was mich aber in die himmlische Heimat zieht, ist der Ruf des Herrn, ist die Hoffnung, ihn nun endlich zu lieben, wie ich es so sehr wollte, und der Gedanke, in einer Unzahl von Seelen Liebe zu ihm zu wecken, die ihn dann in Ewigkeit preisen werden."[10] Die Biographie Thereses zeigt uns, wie ernst sie das irdische Leben genommen und wie sehr sie alle Möglichkeiten, die es ihr geboten hat, um Gutes zu tun, ausgeschöpft hat. Aber zugleich sehen wir, wie sie in allem ganz im ewigen Leben beheimatet war, und ihr irdisches Tun gerade vom Blick auf das Ewige geprägt war. Das Ziel bestimmt den Weg, und dieser Weg war für Therese klar, weil das Ziel klar war.

Der Katechismus sagt: „Von allen sichtbaren Geschöpfen ist einzig der Mensch fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben; er ist auf Erden das einzige Geschöpf, das Gott um seiner selbst willen gewollt hat; er allein ist berufen, in Erkenntnis und Liebe am Leben Gottes teilzuhaben. Auf dieses Ziel hin ist er geschaffen worden, und das ist der Hauptgrund für seine Würde."[11] Dort, wo der Blick auf das Ziel nicht mehr frei ist, organisieren sich Menschen um ihrer selbst willen und geraten nur zu leicht auf Irrwege. Viele Dinge werden dann unverständlich und frustrierend, wie die Erfahrung des Leidens, das Leben mit Behinderung, die Wirklichkeit von Grenzen und Enttäuschungen. Alles Mühen um das, was die Welt selbstverständlich braucht und was wichtig ist, z.B. die Bewahrung der Schöpfung, die freie Entfaltung des Menschen und der Völker, den Schutz der gleichen Würde aller Menschen, die Sorge um Gerechtigkeit und Frieden, um nur einiges zu nennen, braucht ein letztes Ziel. Gott hat den Menschen die Welt anvertraut, damit er über sie herrsche. Aber diese Herrschaft soll Dienst gegenüber dem wahren und eigentlichen Herrn der Welt sein und im liebenden Blick auf ihn geschehen. Nur so wird Dienst an der Welt Gottesdienst. Dort, wo die Kirche in ihren verschiedenen Lebensvollzügen das Ziel des ewigen Lebens aus dem Auge verliert, verblasst ihr Glanz und müht sie sich um Dinge, die letztlich niemandem helfen. So kann die hl. Therese mit ihrem festen Blick auf das ewige Leben und ihrer Relativierung des Irdischen Korrektiv sein, damit die Kirche zum Eigentlichen zurückfindet und ihre Kernaufgabe wieder neu erfüllt, nämlich „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit"[12] zu sein.

Mit Jesus verborgen

„Unsere Augen auf Jesus zu richten, ist eine Gnade, die wir pflegen müssen“, sagte Papst Franziskus den Priestern bei der diesjährigen Chrisammesse.[13] Therese von Lisieux sprach unaufhörlich von Jesus und trug sein Bild unauslöschlich im Herzen. Bei ihrer Einkleidung am 10. Januar 1889 ergänzte sie ihren Ordensnamen „Sr. Therese vom Kinde Jesu“ noch mit dem Attribut „vom Heiligen Antlitz“. Im Hinblick auf die Krankheit ihres geliebten Vaters gewann Therese eine noch tiefere innere Beziehung zum leidenden Antlitz Christi. Im Karmel von Lisieux gab es ein Bild, das dieses Antlitz Christi zeigte und das Therese sehr liebte und verehrte: Das Bild zeigte das Schweißtuch der Veronika und darauf Jesus mit gesenkten Augen. Als Therese schon im Krankenzimmer war, brachte man ihr einmal dieses Bild, worauf Therese sagte: „Wie gut hat unser Herr daran getan, die Augen zu senken, als er uns dieses Bildnis gab! Denn die Augen sind der Spiegel der Seele, und wenn er uns seine Seele geoffenbart hätte, wären wir vor Freude gestorben."[14] Papst Franziskus fährt in seiner Predigt in der Chrisammesse fort: „Wenn wir den gütigen Blick Jesu aushalten, wird er uns vielleicht auch einen Wink geben, ihm unsere Götzenbilder zu zeigen.“ Er benennt dann verschiedene Bereiche von Fehlhaltungen („Götzendienste“) und sagt: „Ein weiterer Bereich des versteckten Götzendienstes entsteht dort, wo dem Pragmatismus der Zahl der Primat gegeben wird. Diejenigen, die diesen versteckten Götzendienst betreiben, sind bekannt für ihre Vorliebe für Statistiken, die jede persönliche Eigenschaft in der Diskussion auszulöschen und der Mehrheit den Vorrang zu geben vermag, die schließlich Kriterium der Unterscheidung wird; und das ist schlecht. Dies kann weder die einzige Vorgehensweise noch das einzige Kriterium in der Kirche Christi sein. Menschen können nicht ‚gezählt‘ werden, und Gott gibt den Geist nicht ‚mit Maß‘ (vgl. Joh 3,34). In dieser Faszination für die Zahlen suchen wir in Wirklichkeit uns selbst und erfreuen uns an der Kontrolle, die uns diese Logik gewährleistet, die sich nicht für die Gesichter der Menschen interessiert und nicht die Logik der Liebe ist, sie liebt die Zahlen. Ein Merkmal der großen Heiligen ist es, dass sie es verstehen, sich zurückzunehmen, um Gott den ganzen Raum zu überlassen.“ Wie sehr ist Therese eine Lehrmeisterin der „Logik der Liebe“. In ihrem Gedicht „Aus Liebe leben“ sagt sie: „Ohne zu zählen, gebe ich und bin sicher, dass man nicht rechnet, solange man liebt!"[15]

In der „Geschichte einer Seele“ berichtete Therese ihrer Priorin, Mutter Agnes, von der Freude, die sie empfand, als sie von ihr beauftragt wurde, zu malen und Gedichte zu verfassen. Diese Begabungen kamen in der Kommunität gut an, aber Therese bemerkt: „Ich machte die Erfahrung, dass das Glück einzig darin besteht, sich verborgen zu halten und von den geschaffenen Dingen nichts zu wissen. Ich begriff, dass alle Werke ohne die Liebe nur ein Nichts sind, selbst die herausragendsten, wie Tote aufzuwecken oder ganze Völker zu bekehren. Statt mir zu schaden und mich zu hohler Selbstgefälligkeit zu verleiten, führen die Gaben, die mir der liebe Gott verliehen hat, zu Ihm."[16] Im Oktober 1892 schrieb sie an ihre Schwester Céline: „Jesus wünscht, dass wir ihn in unseren Herzen empfangen. Zweifellos sind sie bereits leer von den Geschöpfen, aber leider fühle ich, dass meines noch nicht ganz leer von mir selbst ist… Er, der König der Könige, verdemütigte sich so, dass sein Antlitz verborgen war und niemand ihn erkannte… Und auch ich will mein Antlitz verbergen. Ich will, dass allein mein Vielgeliebter es sehen kann, dass Er allein es sei, der meine Tränen zählt… Dass Er wenigstens in meinem Herzen sein Haupt zum Ausruhen hinlegen kann und dass Er fühlt, hier wird Er erkannt und verstanden."[17]

Therese will für Jesus leben, Menschen zu ihm führen, seine Liebe und sein Erbarmen verherrlichen. Das ist in allem ihre Motivation. „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der HERR aber sieht das Herz“, heißt es in 1 Sam 16,7. Was ist das letzte Motiv, die innere Haltung, die Menschen bewegt, in der Kirche „etwas zu tun“? Diese Frage müssen sich alle stellen, die aufrichtig und redlich etwas zum Aufbau des Reiches Gottes beitragen wollen. Was steht hinter Studien, Statistiken, Untersuchungen, Initiativen und Tätigkeiten, die in der Kirche im Gang sind? Therese von Lisieux lehrt uns, dass allein die Liebe zählt und nur die echte Liebe zu Gott und den Menschen fruchtbar und aufbauend für die Kirche sein kann. Dann aber gilt: „Die Liebe schiebt nie eine Unmöglichkeit vor, denn sie glaubt, dass ihr alles möglich und alles erlaubt ist. Menschliche Klugheit dagegen bangt bei jedem Schritt und traut sich sozusagen nicht einmal einen Schritt zu machen."[18] Beim Bemühen, den „Götzendienst“ in der Kirche zu entlarven, wie Papst Franziskus es möchte, dürfen wir uns von Therese führen lassen. Sie lebt die Gesinnung, mit der Jesus seine Jünger ausgestattet sehen will: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). Das ist unser persönliches Zeugnis dafür, dass die Kirche ihrem Wesen nach heilig ist.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Johannes Paul II.: Divini Amoris Scientia, 6.
[2] II. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium, 8.
[3] Wahlspruch von Bischof Dr. Bertram Meier.
[4] Geschichte einer Seele, MsB 2v, 3r.
[5] Geschichte einer Seele, MsB 3v.
[6] Geschichte einer Seele, McC 12,v.
[7] Johannes Paul II.: Divini Amoris Scientia, 1.
[8] Brief 42 vom 21. Februar 1888.
[9] Gedicht 23: An das heiligste Herz Jesu.
[10] Brief 254 vom 14. Juli 1897.
[11] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 356.
[12] II. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium, 1.
[13] Am 14.4.2022: www.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2022/documents/20220414-omelia-crisma.html
[14] Letzte Gespräche, 5. August 1897.
[15] Gedichte der hl. Therese, PN 17.
[16] Geschichte einer Seele, MsA 81v.
[17] Brief 137 vom 19. Oktober 1892.
[18] Geschichte einer Seele, MsA 75v.

Therese von Lisieux angesichts der Missbrauchskrise

Vertrauen zur Kirche

Der nachfolgende Beitrag ist einem Büchlein entnommen, das Erzbischof em. Dr. Karl Braun bereits 1983 veröffentlicht hat. Er war damals Domkapitular in Augsburg und im Auftrag des Bischofs von Augsburg, Dr. Josef Stimpfle, für das Theresienwerk zuständig. Die Funktion des bischöflichen Beauftragten übte er von der Gründung 1972 an bis zu seiner Ernennung zum Bischof von Eichstätt im April 1984 aus. Das Büchlein trägt den Titel „Ich habe meinen Platz in der Kirche gefunden. Therese von Lisieux und die nachkonziliare Krise der Kirche“. Was die hl. Therese über das Vertrauen zur Kirche „in der Haltung des Kindseins“ zu sagen hat, kann für uns heute angesichts der Missbrauchskrise eine wertvolle Hilfe sein.

Von Erzbischof em. Karl Braun

Der Name Thereses ist eine Devise. Sie nennt sich „Therese vom Kinde Jesus und vom Heiligsten Antlitz“. Beides hat seine Bedeutung für ihr Leben hinter den Klostermauern, aber auch für ihr Wirken im größeren Bereich der Weltkirche. Im Kinde Jesus findet die Heilige ihre eigene „Kleinheit“, ihr „kleines Nichts“, vorgebildet. Dementsprechend bezeichnet sie sich als „kleines Kind“, „kleine Seele“, „kleine Heilige“, „kleiner Däumling“. Noch auf dem Sterbebett – in ihrer ganz und gar der göttlichen Barmherzigkeit ausgelieferten Ohnmacht – spricht sie von sich als „kleinem Kind“ („bébé“). Sie bezeugt damit in letzter Glaubwürdigkeit die von ihr wiederentdeckte scheinbare Widersinnigkeit des christlichen „Kleinseins“.

Wie das Kind Jesus vertraut Therese auf den Vater und setzt auf seine Liebe. „Das Kind überlässt sich den Wünschen seines Vaters – sei es zu leiden oder um sich zu freuen –, wie es seiner Liebe gefällt."[1] „Therese vom Kinde Jesus“ denkt nur an das Jetzt, an das, was heute, im gegenwärtigen Augenblick notwendig ist. Sie nimmt sich in all ihrem Wirken als „Kind“, als „klein“ vor Gott und den Menschen. Sie lebt dieses „Kleinsein“ in froher Dankbarkeit. Sie geht ihren „kleinen Weg“ im Blick auf das Wort des Herrn: „Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Lk 18,17). Auf diesem Weg sind keine außergewöhnlichen Begabungen und keine außerordentlichen Dinge gefordert. Nur dies eine ist unabdingbar: die Grundhaltung des Kindseins!

In dieser Gesinnung des Kindes sieht die „kleine Heilige“ auch ihre Beziehung zur Kirche: „… Ich bin das Kind der Kirche…"[2] „Alles, was ich habe, was ich gewinne, gehört der Kirche…"[3] Therese ist sich bei diesem großmütigen Angebot gerade des Wertes der „kleinen“ Werke bewusst. So betont sie, „dass das kleinste Werk, das verborgenste, das aus Liebe getan wird, oft einen größeren Wert hat als die großen. Nicht der Wert, nicht einmal die augenfällige Heiligkeit der Handlung zählt, sondern allein die Liebe, die man in sie hineinlegt. Und keiner kann sagen, dass er diese Kleinigkeiten Gott nicht geben kann. Jeder ist dazu in der Lage."[4]

Wie alle großen „Mitarbeiter Gottes“ – die Namen eines Franz von Assisi, eines Ignatius von Loyola und einer Mary Ward stehen für viele – will Therese ihren Weg in Einheit mit der Kirche gehen und ihr Wirken in Übereinstimmung mit dem hierarchischen Amt wissen. Bereits als kleines Mädchen – es sei erinnert an den Besuch der Vierzehnjährigen beim Bischof von Bayeux und beim Heiligen Vater Papst Leo XIII. – beweist die Heilige ein ausgeprägtes „sentire cum ecclesia“, „Fühlen mit der Kirche“. Diese „kindliche“ Übereinstimmung mit jenen, denen die Leitung der Kirche anvertraut ist, erweist sich denn auch als Gewähr dafür, dass sie zum Leben im Karmel berufen ist.

Die hl. Therese erfasst zunächst intuitiv, dann auch von der Vernunft her, vor allem jedoch kraft ihres gläubigen Mitlebens mit der Kirche: Die Kirche ist der verbürgte Ort des göttlichen Heilswirkens. Es ist nicht möglich, daneben oder darüber hinaus einen eigenen und schon gar nicht einen besseren Ort zu schaffen. Therese bekennt sich zu dieser „Inkarnation“ (Fleischwerdung) des Heils in Daseinsweisen menschlicher Unvollkommenheit. Sie schenkt der Kirche ihr Vertrauen. Dieses ist für sie im Grunde nichts anderes als Vertrauen zum Stifter und Herrn der Kirche. In dem Maß sie sich ihm anvertraut, kann sie auch der Kirche vertrauen.

Das Schiff der Kirche wird zwar von heftigen Stürmen hin- und hergeworfen, aber die Heilige weiß, es geht nicht unter, es verfehlt nicht seinen Kurs, der Herr ist ja in ihm – wenn auch verborgen und anscheinend untätig, so doch letztlich als der wirkmächtige Steuermann. Die Fluten türmen die Wellen, die Wogen des Meeres wüten – aber Jesus ist mächtiger. Therese zeichnet diese Wahrheit mit dem Bild des Kindes im schaukelnden, „verlorenen Nachen auf dem Meer inmitten der stürmischen Fluten“: „Da schrumpft das Wissen des kleinen Kindes zu einem Nichts zusammen. Es weiß nicht mehr, welchen Kurs sein Nachen nimmt. Weil es das Steuer nicht zu führen versteht, ist das einzige, was es tun kann, sich restlos preiszugeben, sein Segel im Belieben des Windes treiben zu lassen (…) der Nachen (…) gleitet mit entfalteten Segeln dem Hafen entgegen; das Steuer (…) ist nicht ohne Steuermann. Jesus ist da, schlafend wie damals im Nachen der Fischer von Galiläa."[5]

Die „Kleine Heilige“ setzt alle menschliche Klugheit hintan. Mit der Einfalt eines Kindes sieht sie sich auch im Leben der Kirche von der göttlichen Vorsehung getragen. Total und unreflektiert gibt sie sich deshalb im „Wellengang“ der karmelitanischen „Hauskirche“ Gott hin. Diesem kindlichen Glauben an die göttliche Führung bleibt sie treu bis ans Ende, auch wenn der Weg, den sie zu gehen hat, ihr auf weiten Strecken unfassbar ist.

Schwere Schicksalsschläge in der Familie, Skrupel, Krankheit, Ängste und viele andere Schwierigkeiten in Thereses Kindheit scheinen ganz dazu angetan, ein solches Vertrauen zu erschüttern. Zahlreiche Prüfungen während des Ordenslebens, vor allem die „Nacht des Glaubens“, die Therese bis zur Neige auskosten muss, stellen ihre Zuversicht auf eine harte Probe. Doch sie überwindet die Mauer, die sich vor ihr auftürmt, mit der Behendigkeit des Kindes, dem die Zuversicht Flügel verleiht. Die Heilige des „kleinen königlichen Weges“ lädt „alle Menschen guten Willens“, vor allem die Kleinen und Demütigen, ein, im Geist der Kindschaft „dieses Paradox der Hoffnung zu erwägen“ und ihre „Beziehungen in einem Klima des Vertrauens zur Kirche umzugestalten“.[6]

Vielleicht ließ der Herr die gegenwärtige Bedrängnis über seine Kirche kommen, damit inmitten einer schwierigen Lage eine neue Generation von Christen heranwachse, die – unbeschadet aller Verpflichtung zum persönlichen Engagement – lernt, das „Schicksal“ der Kirche ganz in Gottes Hände zu legen. Jeder, der auf diese Weise Gott in allem und über alles vertraut, erfährt seine Treue und sein Erbarmen, gewinnt eine neue Sicherheit, die nicht auf menschlichen Sicherungen beruht.

Wer eine dementsprechende Aussage Thereses über „mangelndes Vertrauen“, das gleichsam bedeutet, „sich in Gottes Fügungen einzumischen“,[7] ins Positive wendet und auf die gegenwärtige Situation der Kirche überträgt, kann mit wahrhaft kindlichem Herzen darauf bauen: Der Herr lenkt den Ablauf der Kirchengeschichte. Auch schwere Zeiten haben ihren Platz in seinem Plan und sind Angebote des Heils.

Therese vom Kinde Jesus lehrt uns, die wir zumeist nur bis zu einer bestimmten Grenze der Macht Gottes im „Heute“ der Kirche vertrauen, eine grenzenlose Hoffnung wachzuhalten: „Man erwartet nie zu viel von Gott; man bekommt von ihm so viel, als man erhofft.[8] „Man erlangt von ihm genau so viel, als man ihm zutraut."[9]

Das Beispiel uneingeschränkter Zuversicht, wie die hl. Therese sie lebt, kann uns davor bewahren, in Panik zu geraten. Das Geständnis: „Ich bin nur ein Kind, ohnmächtig und schwach“, die „Ohnmacht“, die Therese „die Kühnheit gibt“, sich im Vertrauen und in der Liebe des Kindes dem Herrn anheimzugeben, schenkt ihr „den ruhigen und heiteren Frieden des Seefahrers, da er den Leuchtturm erblickt, der ihn zum Hafen führen soll…"[10] „Aus Liebe nur lebt, wenn der Herr scheinbar schläft, wen Ruhe umwogt trotz des Tobens der Wogen. Befürchte nicht, Herr, ich werde dich wecken. Ich ruh‘ im Vertrauen und gläubigen Schauen…"[11]

Heißt das nicht, dass man mit dieser „Einfalt“ des Kindes auch in der angefochtenen Kirche unserer Zeit ohne ängstliche oder finstere Miene leben kann? „Nie verliere ich den Mut“,,[12] schreibt Therese darum allen ins nachkonziliare Stammbuch.

Nur wenn wir uns nicht entmutigen lassen, können wir den vom Konzil gewiesenen Weg in die Zukunft der Kirche gehen. Dies ist jedoch allein möglich im geduldigen Miteinander. Es erfordert die Bereitschaft zum gegenseitigen Ertragen und Annehmen, worin die „Kleine Heilige“ einen Prüfstein echter Liebe sieht: „Ich begreife jetzt, dass die vollkommene Liebe darin besteht, die Fehler der anderen zu ertragen, sich nicht über ihre Schwächen zu wundern, sich an den kleinsten Tugenden zu erbauen, die man sie vollbringen sieht."[13]

Therese macht die Erfahrung – ähnliches findet in der Regel des hl. Benedikt und anderer Ordensgründer seinen Niederschlag, auch die moderne Psychoanalyse weiß davon –: Es gibt in uns und bei unseren Mitmenschen (konkret bei ihren Novizinnen und Mitschwestern) charakterliche und psychische Gebrechen, die weder durch Mahnungen noch durch eigenes Bemühen aufgehoben werden können. Die Heilige bleibt davon ebenso wenig unberührt wie von der Unterschiedlichkeit der Temperamente, „des Mangels an Urteilsfähigkeit, an Erziehung, an Empfindlichkeit gewisser Charaktere – alles Dinge, die das Leben nicht sehr angenehm machen."[14]

Drei Monate vor ihrem Tod machte Therese die illusionslose Bemerkung: „Ich weiß wohl, dass solche moralischen Schwächen chronisch sind und dass es da keine Hoffnung auf Heilung gibt…"[15] Diese Tatsache kann die „Kleine Heilige“ jedoch zeit ihres Lebens niemals dazu verleiten, zu resignieren oder ihre Mitmenschen aufzugeben. Therese liebt gerade die unsympathischen und schwierigen Mitschwestern mit solchem Feingefühl, ja sogar Charme, dass die-se sich besonders von ihr bevorzugt fühlen. Auch wenn sie genug bittere Erfahrungen gerade mit jenen macht, von denen sie annehmen durfte, sie stünden ihr besonders nahe, ist sie sich dessen bewusst: Man muss die menschliche Begrenztheit – die eigene wie die fremde – in liebender Geduld ertragen; nur so können Verwundungen geheilt und Enttäuschungen aufgearbeitet werden.

Auch hierin bleibt die hl. Therese ihrer Berufung zur Liebe treu. Sie lässt sich durch ihre eigene Armseligkeit wie auch durch die Lieblosigkeiten ihrer Mitschwestern nicht entmutigen, sondern setzt vielmehr alles auf die Liebe Jesu: „Herr, ich weiß, dass Du nicht Unmögliches befiehlst. Du kennst meine Schwachheit und Unvollkommenheiten besser als ich. Du weißt, dass ich meine Schwestern niemals so lieben könnte, wie Du sie liebst, wenn nicht Du selbst … sie noch in mir liebtest… Je mehr ich mit Ihm vereint bin, desto inniger liebe ich alle meine Schwestern."[16] Dabei sieht Therese auch sich selbst realistisch. Sie wird nachdenklich, wenn man sie als Novizenmeisterin zu oft lobt, und wünscht Berichtigung, was dann auch durch eine Novizin in schärfster Weise geschieht."[17]

Einer inneren Gesetzmäßigkeit folgend nimmt die geduldige Gesinnung Thereses zusehends die Prägung der Barmherzigkeit an. Die Heilige erfährt das Wunder der „Barmherzigen Liebe“ Gottes an sich so tief, dass sie nicht anders kann, als dieses Erbarmen an die anderen weiterzugeben. Daraus erwächst ihr die Sicherheit, dass nicht ihr eigenes menschliches Empfinden und Urteilen Oberhand gewinnt, sondern der Geist des Herrn: „Ich fühle, dass allein Jesus in mir handelt, wenn ich barmherzig bin."[18] Sie will deshalb nicht, wie manche von den innerkirchlichen Schwierigkeiten bedrängten Christen, am liebsten Gott das Richterschwert aus der Hand nehmen, um „dreinzufahren“.

Die „Kleine Heilige“ ist davon überzeugt: „Gott hat niemand nötig, um sein Werk zu tun."[19] Gottes Herz ist größer als unser Herz, seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken, seine Wege sind nicht unsere Wege (vgl. 1 Joh 3,20; Röm 11,33ff.). Gott schreibt auf krummen Zeilen gerade. Seine Rechnung geht immer auf – so oder so. Am Ende siegt seine Liebe. Am Ende siegen mit ihm jene, die in der gehorsamen, geduldigen und barmherzigen Demut des „Kindes“ diese göttliche Liebe bezeugen.

Es sind jene, die inmitten unserer funktionalen Leistungs- und Konsumgesellschaft (diese will das zweckfreie Leben der Kinder, ihr Vertrauen, ihr Lachen, ihr Spielen, ihren Scherz nicht annehmen) daran erinnern, dass wir die Kinder brauchen, um Menschen zu sein, dass uns die Lauterkeit und Schlichtheit des Kindseins vor Gott nottut, wenn wir nicht an all unserem – bisweilen auch in der Kirche feststellbaren – Leisten und Funktionieren innerlich zugrunde gehen wollen. Es sind jene, die – wie Kinder – einfach und treu, ohne große Worte und aufsehenerregende Taten, Kirche leben. Es sind jene, die zwar von einer überheblichen Minderheit unterschätzt, lächerlich gemacht, vernachlässigt und übergangen werden, die jedoch – wie Therese – mit dem demütigen und verkannten Christus den Grundstock der Kirche bilden: die Kleinen. Wir pflegen sie „die Stillen im Lande“ zu nennen.

Sie haben eine große Aufgabe bei der Erneuerung der Kirche. Sie sind durch ihr „Kindsein“ in Liebe wie ein unsichtbares Kraftwerk, von dem die äußere Aktivität des Volkes Gottes gespeist wird. Sie gleichen „Wurzeln“, ohne die der Baum der Kirche verdorren müsste. Diese „Kleinen“ sind trotz ihrer Zurücksetzung groß vor Gott, der ihnen offenbart, was er den Hochmütigen vorenthält. Sie erahnen, um was es geht, sie blicken tiefer und weiter. Sie vertrauen: Gott wird auch in seiner Kirche alles und alle „in den Senkel“ stellen, die einen wie die anderen. Was immer auf rein menschliche Initiative zurückgeht, wird in den Stürmen der Zeit untergehen. Denn „jede Pflanze, die nicht mein himmlischer Vater eingepflanzt hat, wird ausgerissen werden“ (Mt 15,13).

Darum schenken die „Kleinen“ der Kirche, so wie sie hier und jetzt in Erscheinung tritt, unverdrossene Liebe. Auch im Sturmesbrausen feindlicher Mächte geht ihr Licht nicht aus, denn sie sind geborgen im Schutz dessen, der sie seliggepriesen hat. „Die Kleinen“, fragt die Heilige von Lisieux, „– steht nicht von ihnen geschrieben, dass zuletzt ,der Herr sich erheben wird, um alle Sanften und Demütigen der Erde zu trösten‘ (Ps 76,10)?"[20

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Ernst Gutting: Nur die Liebe zählt. Die Mission der Theresia Martin – ein Weg für alle, Leutesdorf/ Rhein, 21973, 127.
[2] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe. Worte der heiligen Theresia von Lisieux, Freiburg 21980, 138.
[3] Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele und weitere Selbsterzeugnisse, gesamm., übersetzt und eingeleitet von Otto Karrer, München 1952, 271.
[4] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 139.
[5] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 290f.
[6] Handschreiben Papst Pauls VI. anlässlich der 100. Wiederkehr des Geburtstages der hl. Therese von Lisieux an Msgr. Badré, Bischof von Bayeux und Lisieux, vom 2. Januar 1973.
[7] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 94.
[8] Vgl. Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 93.
[9] Vgl. Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 93.
[10] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 135.
[11] Ernst Gutting: Nur die Liebe zählt, 90.
[12] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 229.
[13] Therese vom Kinde Jesus: Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text. Mit einem Geleitwort von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln 31958 (im Folgenden kurz: SS), 232.
[14] SS, 259.
[15] Guy Gaucher: Der Leidensweg der heiligen Therese von Lisieux, Leutesdorf/Rhein 11982, 41.
[16] SS, 232f.
[17] SS, 258.
[18] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 230.
[19] Rudolf Stertenbrink: Allein die Liebe, 175.
[20] Therese von Lisieux: Geschichte einer Seele…, Otto Karrer, a.a.O., 248; Histoire, 12. Kap.; vgl. Briefe der heiligen Therese von Lisieux, deutsche authentische Ausgabe, Leutesdorf/Rhein 11976, 221. 

Gebetsgemeinschaft „Maria Mutter Europas“ – Auftrag von höchster Aktualität

Zwischen Hoffen und Bangen

Die jüngsten Auseinandersetzungen haben Bruderkriege zurück in die Mitte Europas gebracht. Das fordert auch die Gebetgemeinschaft „Maria Mutter Europas“ heraus, die sowohl in der Ukraine in Charkiw als auch in Russland in Beresniki/Rebinina mit Standorten für ihr Friedensapostolat vertreten ist. Die Ereignisse haben die Organisatoren um Pater Notker Hiegl OSB vom Kloster Beuron aber auch wachgerüttelt.

Von Stefan Blanz

Mit dem Rosenkranz den himmlischen Frieden in die Welt bringen

Die Rosenkranz-Gemeinschaft „Maria Mutter Europas“ besteht aktuell aus zwölf Standorten in ganz Europa. Die symbolische 12-Zahl hat ihren biblischen Ursprung in der Offenbarung des Johannes (Offb 12,1) und erinnert freilich auch an die Europafahne. Nach der Segnung der zwölften Kirche mit dem Ehrentitel „Maria Mutter Europas“ in Luzern hat Initiator P. Notker Hiegl OSB vom Kloster Beuron mit mir als Redakteur ein Buch über die Standorte und die Entstehung des Verbundes geschrieben. Der Untertitel „12 Sterne für den Frieden“ formuliert die marianische Spiritualität, das Ziel und die Gebets-praxis der Frohen Botschaft. Ein Auftrag, dem es jetzt mehr denn je nachzugehen gilt.

„Helfen ist jetzt unsere Mission“

Gleich zu Beginn der Auseinandersetzungen in der Ukraine geriet Charkiw in die Schusslinie. Auch hier wurden große Flüchtlingsströme ausgelöst. Nur noch rund 500.000 Menschen der 1,5 Millionenstadt sind geblieben. Die Dompfarrei Mariä Himmelfahrt wurde 2018 als neuntes Mitglied im 12er-Bund „Maria Mutter Europas“ aufgenommen. Bischof Pavlo Hondscharuk und sein Team mit den polnischen Schwestern, dem Caritas-Leiter Pfr. Wojciech Stasiewicz und alle freiwilligen Helfer bleiben in Charkiw.

So richtete Bischof Pavlo Ende Februar einen Appell an die Mitglieder der Gemeinschaft „Maria Mutter Europas“: „Die Situation hier ist wirklich sehr gespannt und schrecklich. Es sind täglich Bombenanschläge. In der Stadt ist fast kein Verkehr. Die Straßen sind leer. Die Menschen sind im Versteck: in Kellern, in Luftschutzbunkern, die Geschäfte sind geschlossen. Die Menschen leben in Angst. Beten Sie bitte um den Frieden im Land und in den Herzen der Menschen. Die Leute haben keine Möglichkeit zum Einkaufen. Viele sind ohne Lebensmittel und dem Notwendigsten geblieben. Ihre Hilfe kann vielen helfen in dieser Not.“

Ein interner Aufruf trug viele Gaben zusammen und es ist ab und zu möglich, direkten Kontakt zu den Geistlichen in Charkiw zu halten. Aus Sicherheitsgründen haben sie ihre karitativen Stationen außerhalb des Bischofshauses verlassen. Bischof Pavlo und seine Helfer leisten nachgehende Seelsorge, indem sie Hilfsgüter in die U-Bahnstationen oder Wohnviertel zu den Menschen bringen, die Schutz vor den Bomben suchen. Bischof Pavlo und Pfr. Wojciech spenden an diesen liturgisch ungewöhnlichen Orten auch Sakramente, zelebrieren Gottesdienste und versuchen die Seelen zu stärken.

Eine der Bomben traf auch das Bischofshaus, das seither mit einem Loch im Dachstuhl leben muss und Aufgaben für die Zeit danach bereithält. Doch Bischof Pavlo und die Dompfarrei Mariä Himmelfahrt nehmen die Situation an, um sie treu zu bewältigen. „Helfen ist jetzt unsere Mission“, sagt Bischof Pavlo dazu, auch wenn wir „nun in einer anderen, traurigen Welt“ leben.

Polen: Drehkreuz der Hoffnung

Die Mitglieder im Rosenkranzverbund „Maria Mutter Europas“ konnten auf je eigene Art etwas in der schwierigen Situation beitragen. In Polen ist Lublin an der ukrainischen Grenze Umschlagplatz der internationalen Hilfe. Im Westen Polens gehören die Dompfarrei Heilig Kreuz und die Gottesmutter von Opole zum Gebetsverbund. Dompfarrer Waldemar Klinger ist zugleich der Leiter der Diözesan-Druckerei, so dass Pater Notker bereits seit einiger Zeit seine Bücher dort drucken lässt. Dadurch konnte im Verbund eine konkrete Kooperation ins Leben gerufen werden.

Zur Diözesanleitung gehört auch der junge Pfarrer Michal Ludwig, der wegen seiner guten Deutschkenntnisse nicht nur die Sprachbarrieren bei der Herstellung der Bücher überwindet, sondern derzeit ausgerechnet in Lublin sein Zweitstudium in Kirchenrecht absolviert. So will es das Schicksal, dass er auch hier persönlichen Kontakt zur Caritas in Lublin pflegt, welche die Nothilfe für Charkiw organisiert. Im direkten Austausch kann geklärt werden, welche Hilfe aktuell notwendig ist.

Auch russische Katholiken in Not

Auch Pfarrer Erich Maria Fink ist mit der Fatima-Kirche in Rebinina (Rjabinino) in der östlichsten katholischen Gemeinde Europas im Verbund vertreten. Die Fatima-Botschaft bekommt aktuell brisante Relevanz, der Papst Franziskus durch die Weihe Russlands und der Ukraine an das Unbefleckte Herz Mariens Gehör verschafft hat. Es zeigt sich, dass nur der geschwisterliche Umgang der Völker und Nationen und eine Kultur des Teilens Garanten für Frieden in Europa sind.

„Lobt den HERRN, alle Völker; preist ihn, alle Nationen! Denn seine Liebe zu uns ist stark, und seine Treue hört niemals auf! Halleluja“, singt der Psalmist (Ps 117). Gegenseitige Anteilnahme über Grenzen hinweg hält die Herzen der Mitglieder „Maria Mutter Europas“ offen. Die aktuelle Situation ist für Pfr. Fink und seine Helfer dennoch sehr schwierig. Seine Gemeinde ist durch die internationalen Sanktionen eingeschränkt, wenn nicht sogar isoliert. Dennoch gelingt es durch die Mitwirkung vieler, auch den Schwestern und Brüdern in Russland zu helfen.

Dankeswallfahrt und Rosenkranz nach Österreich

P. Notker zeigt sich beeindruckt von der Treue und Hilfsbereitschaft der Mitglieder im Verbund „Maria Mutter Europas“. Zu den aktivsten Pfarrern vor Ort gehört Dekan Gerhard Schrafstetter, der mit der Mariä Namen-Kirche in Sonntag-Buchboden den österreichischen Vertreter im Gebetsverbund stellt. Er hat den Hilferuf aus Charkiw auch in seiner Gemeinde bekannt gemacht und großzügige Gaben zusammengetragen.

Trotz seines Alters und seiner Gebrechen hat Pater Notker eine Dankwallfahrt nach Buchboden unternommen, um vor Ort in herzlicher und unaufgeregter Weise die Verbindung zu pflegen und in einer Rosenkranz-Andacht Gott zu danken, dass er in barmherziger Weise die Friedensmission trägt. Die nächsten „Maria Mutter Europas“-Wallfahrten führen zur Mariahilfkirche in Luzern und zu Notre Dame du Schauenberg im Elsass. Weitere Informationen und Berichte über den Gebetsverbund unter: www.maria-mutter-europas.de  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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Katechese über die hl. Katharina von Genua

Gedanken über das Fegfeuer

Seine Ansprache bei der Generalaudienz am 12. Januar 2011 widmete Papst Benedikt XVI. der hl. Katharina von Genua (1447-1510). Gleich zu Beginn hob er hervor, dass diese außergewöhnliche Frau vor allem für ihre Gedanken über das Fegfeuer bekannt ist, die 1551 veröffentlicht worden sind. Zunächst schilderte er das bewegte Leben der Mystikerin, die Heirat mit Giuliano Adorno im Alter von 16 Jahren und besonders ihr tiefgreifendes Bekehrungserlebnis am 20. März 1473. „Hier begann jenes ,Leben der Läuterung‘, das sie lange Zeit einen ständigen Schmerz empfinden ließ um der begangenen Sünden willen und das sie drängte, sich Bußen und Opfer aufzuerlegen, um Gott ihre Liebe zu zeigen“, so Papst Benedikt. Im Licht dieser Erfahrung deutet er ihre Gedanken über das Fegfeuer, welche auch in der Enzyklika Spe salvi (2007) einen Widerhall gefunden haben. Nachfolgend der zweite Teil seiner Ansprache.

Von Papst Benedikt XVI.

Die Gedanken der hl. Katharina von Genua über das Fegefeuer, für das sie besonders bekannt ist, ist zusammengefasst in den letzten beiden Teilen des eingangs zitierten Buches: dem Traktat vom Fegefeuer und dem Dialog zwischen der Seele und dem Leib. Es muss erwähnt werden, dass Katharina in ihrer mystischen Erfahrung nie besondere Offenbarungen hat über das Fegefeuer oder über die Seelen, die dort geläutert werden. In den inspirierten Schriften unserer Heiligen ist es jedoch ein zentrales Element, und ihre Art, es zu beschreiben, hat für ihre Zeit originelle Wesensmerkmale. Der erste originelle Zug betrifft den „Ort“ der Läuterung der Seelen. In ihrer Zeit beschrieb man ihn in erster Linie mit Rückgriff auf Bilder, die an den Raum gebunden sind: Man dachte an einen bestimmten Raum, wo sich das Fegefeuer befände. Bei Katharina dagegen wird das Fegefeuer nicht als Element der unterirdischen Welt dargestellt. Es ist kein äußeres, sondern ein inneres Feuer. Das ist das Fegefeuer: ein inneres Feuer. Die Heilige spricht vom Weg der Läuterung der Seele auf die volle Gemeinschaft mit Gott hin, ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung des tiefen Schmerzes aufgrund der begangenen Sünden angesichts der unendlichen Liebe Gottes (vgl. Vita mirabile, 171v). Wir haben vom Augenblick der Bekehrung gehört, wo Katharina plötzlich die Güte Gottes spürt, die unendliche Ferne des eigenen Lebens von dieser Güte und das brennende Feuer in ihrem Innern. Und das ist das läuternde Feuer, das innere Feuer des Fegefeuers. Auch hier befindet sich ein origineller Zug im Vergleich zum zeitgenössischen Denken. Denn es wird nicht mit dem Jenseits begonnen, um die Qualen des Fegefeuers zu beschreiben – wie es damals üblich war und vielleicht auch heute noch üblich ist –, um dann den Weg zur Läuterung oder Bekehrung aufzuzeigen, sondern unsere Heilige beginnt bei der eigenen inneren Erfahrung ihres Lebens auf dem Weg zur Ewigkeit. Die Seele – so Katharina – zeigt sich Gott noch gebunden an die Wünsche und die Qual, die aus der Sünde hervorgehen, und das macht es ihr unmöglich, die selige Gottesschau zu genießen. Katharina sagt, dass Gott so rein und heilig ist, dass die Seele, die mit den Makeln der Sünde behaftet ist, nicht in Gegenwart der göttlichen Majestät sein kann (vgl. Vita mirabile, 177r). Und auch wir spüren, wie fern wir davon sind, wie sehr wir von so vielen Dingen erfüllt sind, dass wir Gott nicht sehen können.  Die Seele weiß um die unendliche Liebe und die vollkommene Gerechtigkeit Gottes, und daher leidet sie darunter, nicht richtig und vollkommen auf diese Liebe geantwortet zu haben. Und die Liebe zu Gott wird selbst zur Flamme, die Liebe selbst läutert die Seele von den Schlacken der Sünde.

In Katharina entdeckt man das Vorhandensein theologischer und mystischer Quellen, aus denen man zu ihrer Zeit gewöhnlich schöpfte. Insbesondere findet sich ein typisches Bild von Dionysios Areopagita: die goldene Schnur, die das menschliche Herz mit Gott verbindet. Wenn Gott den Menschen geläutert hat, dann bindet er ihn mit einer hauchdünnen goldenen Schnur, die seine Liebe ist, und zieht ihn zu sich mit so starker Liebe, dass der Mensch gleichsam „besiegt und überwunden und ganz außer sich“ ist. So dringt in das Herz des Menschen die Liebe Gottes ein, der zum einzigen Wegweiser, zum einzigen Beweggrund seiner Existenz wird (vgl. Vita mirabile, 246rv). Diese Situation des Aufstiegs zu Gott und der Hingabe an seinen Willen, die im Bild von der Schnur zum Ausdruck kommt, gebraucht Katharina, um das Wirken des göttlichen Lichts auf die Seelen im Fegefeuer zum Ausdruck zu bringen – ein Licht, das die Seelen reinigt und sie zum Glanz der gleißenden Strahlen Gottes erhebt (vgl. Vita mirabile, 179r).

Liebe Freunde, die Heiligen erlangen in ihrer Erfahrung der Vereinigung mit Gott ein so tiefgehendes „Wissen“ um die göttlichen Geheimnisse, in dem Liebe und Erkenntnis einander durchdringen, dass sie auch den Theologen eine Hilfe sind in ihrem Bemühen um das Studium, um die „intelligentia fidei“, um die „intelligentia“ der Geheimnisse des Glaubens, um die wirkliche Vertiefung der Geheimnisse – zum Beispiel dessen, was das Fegefeuer ist. Mit ihrem Leben lehrt uns die hl. Katharina: Je mehr wir Gott lieben und in die Vertrautheit mit ihm im Gebet eintreten, desto mehr lässt er sich erkennen und entflammt unser Herz mit seiner Liebe. Indem sie über das Fegefeuer schreibt, ruft uns die Heilige eine grundlegende Glaubenswahrheit in Erinnerung, die für uns zur Einladung wird: für die Verstorbenen zu beten, damit sie zur beseligenden Gottesschau in der Gemeinschaft der Heiligen gelangen können (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1032).  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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Das Wirken des sel. Carlo Acutis

Jugendlicher Eifer

Am 10. Oktober 2020 hat Papst Franziskus Carlo Acutis (1991-2006) seliggesprochen. Carlo war an einer schweren Leukämie erkrankt und nach wenigen Tagen im Alter von 15 Jahren mit vollkommener Ergebung in den Willen Gottes gestorben. Er hatte ein außerordentliches Talent für Computer und Internet, das er zur Verbreitung seiner Glaubensüberzeugungen nützte. Bekannt ist, dass er eine eigene Webseite einrichtete, um eucharistische Wunder aus der ganzen Welt vorzustellen. Überrascht ist man, wenn man in der neuen Biografie von Nicola Gori[1] erfährt, dass dieser junge Missionar besonderen Wert auf die Bekanntmachung von Texten über Fegfeuer und Hölle legte. Gewährsleute hierfür waren ihm die hl. Katharina von Genua, auf die auch Papst Benedikt XVI. in seiner Verkündigung Bezug nahm, und die hl. Schwester Faustyna Kowalska, die der hl. Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen hatte.

Von Nicola Gori

Novene zum Fest der Göttlichen Barmherzigkeit

Carlo mochte den Papst sehr, den Stellvertreter Christi auf Erden, und er empfand es als Pflicht, dem zu folgen, was der Papst als vorgegebenen Glauben lehrt. Seit Johannes Paul II. im Jahr 2000 das Fest der Göttlichen Barmherzigkeit am ersten Sonntag nach Ostern, dem sogenannten „Weißen Sonntag“, eingeführt hatte, bat Carlo seine Eltern, mit ihm zusammen vor dem Fest die Novene zu beten, die Jesus selbst der heiligen Faustyna Kowalska diktiert hatte, indem er Folgendes versprach:

„Ich wünsche, dass der erste Sonntag nach Ostern zum Fest der Barmherzigkeit ausgerufen wird. Meine Tochter, sprich zur ganzen Welt über meine unermessliche Barmherzigkeit! Die Seele, die an diesem Tag beichtet und die heilige Kommunion empfängt, erhält einen vollkommenen Ablass ihrer Sünden und Sündenstrafen. Ich wünsche, dass dieses Fest in der ganzen Kirche feierlich begangen wird. An diesem Tag ist das Innere meiner Barmherzigkeit geöffnet. … Wenn sich mir eine Seele mit Vertrauen naht, erfülle ich sie mit so gewaltiger Gnade, dass sie diese Gnade in sich selbst nicht fassen kann und sie auf andere Seelen ausstrahlen wird. … Keine Seele soll Angst haben, sich mir zu nähern, auch wenn ihre Sünden rot wie Scharlach wären“ (Tagebuch der Schwester Maria Faustyna Kowalska, S. 337).

Verbreitung von Texten über das Fegfeuer

Carlo legte großen Wert darauf, diese Novene zu beten, da er große Angst hatte, ins Fegefeuer zu kommen. Diese Befürchtung hatte sich noch verstärkt, nachdem er den Traktat über das Fegefeuer der großen Mystikerin Katharina von Genua gelesen hatte, die ihre Vision wie folgt beschrieb: „Im Fegefeuer erleiden die Seelen einen so extrem großen Schmerz, dass es keine Worte gibt, die ihn beschreiben können…“ 

Carlo war überzeugt, dass es sehr schwierig ist, nicht ins Fegefeuer zu kommen, und er schrieb einige dieser Schriften ab, um sie denjenigen zu zeigen, die nicht an die Existenz des Fegefeuers und der Hölle glaubten. Unter den vielen Texten, die Carlo sammelte, stammt der folgende über das Fegefeuer und einer über die Hölle aus dem Tagebuch der hl. Schwester Faustyna Kowalska: „Plötzlich befand ich mich an einem nebligen, mit Feuer gefüllten Ort und an ihm viele leidende Seelen. Diese Seelen beten sehr inständig, doch ohne Wirkung für sich selbst, nur wir können ihnen zu Hilfe kommen. Die Flammen, die um sie herum brannten, berührten mich nicht. Mein Schutzengel verließ mich keinen Augenblick. Ich fragte die Seelen, welches ihre größte Qual sei. Übereinstimmend antworteten sie mir, dass ihre größte Qual die Sehnsucht nach Gott sei. Ich sah die Gottesmutter, die die Seelen im Fegefeuer besuchte. Die Seelen nennen Maria ,Stern des Meeres‘. Sie bringt ihnen Linderung. Ich wollte noch mehr mit ihnen reden, doch mein Schutzengel gab mir ein Zeichen, dass ich gehen solle. Und wir gingen durch die Tür dieses Gefängnisses der Schmerzen hinaus. In meinem Inneren vernahm ich eine Stimme, die sagte: ,Meine Barmherzigkeit will das nicht, aber die Gerechtigkeit erfordert es.‘“

Beschreibung der Hölle bei der hl. Sr. Faustyna

Der Abschnitt über die Hölle, wie sie von der heiligen Schwester Faustyna beschrieben wurde, hat Carlo sehr beeindruckt: „Sie ist ein Ort großer Qualen, ihre Ausdehnung ist entsetzlich groß. Dies sind die verschiedenen Qualen, die ich gesehen habe: Die erste Qual, die die Hölle ausmacht, ist der Verlust Gottes; die zweite – der ständige Gewissensvorwurf; die dritte – dass sich dieses Los niemals mehr ändert; die vierte – ist das Feuer, das die Seele durchdringt, ohne sie zu zerstören; das ist eine schreckliche Qual; es ist ein Feuer, von Gottes Zorn entzündet. Die fünfte Qual – ist die ständige Finsternis und ein furchtbarer Gestank. Obgleich es dunkel ist, sehen sich die Teufel und die verdammten Seelen gegenseitig; sie sehen alles Böse der anderen und auch ihr eigenes; die sechste Qual – ist die unablässige Qual, die furchtbare Verzweiflung, der Hass gegen Gott, die Lästerung, Verfluchungen und Schmähungen. Das sind Qualen, die alle Verdammten gemeinsam erleiden, doch das ist noch nicht das Letzte. Es gibt noch besondere Qualen für die Seelen, nämlich Qualen der Sinne. Womit die einzelne Seele gesündigt hat, damit wird sie auf furchtbare und unbeschreibliche Weise gepeinigt“ (Tagebuch, S. 337, Absatz 741).

Carlo kannte viele Leute, die nicht an die Hölle und das Fegefeuer glaubten, angefangen bei seinen engsten Verwandten. Diese Tatsache war für ihn immer ein Ansporn, Kenntnisse zu erwerben, um Ungläubige zum Glauben zu führen. Carlo hatte sogar einmal ein Streitgespräch mit einem Priester, der die Existenz des Fegefeuers und der Hölle leugnete. Es ist jedoch erwähnenswert, dass Carlo immer die Überzeugung vertreten hat, dass alle Priester als Diener Gottes respektiert und geehrt werden sollen, auch wenn sie für die Gläubigen nicht immer ein leuchtendes Beispiel sind.

Verständnis für Glaubenswahrheiten mit acht Jahren

Was seine Ausbildung und seine Spiritualität betrifft, so muss anerkannt werden, dass Carlo trotz seines jugendlichen Alters immer ein besonders klares Verständnis der Glaubenswahrheiten hatte, die normalerweise nur Theologen gut erklären können. Sein Firmpate, der Theologie studierte und die Absicht hatte, in Dogmatik promoviert zu werden, hat ein Zeugnis abgelegt, das Licht in die tiefe Innerlichkeit des Jungen bringt:

„Carlo war in intellektueller und spiritueller Hinsicht besonders begabt, und ich stellte oft fest, dass er in der Lage war, komplexe und schwierige theologische Konzepte zu verstehen, sodass mich dies zur Überzeugung brachte, dass er eine besondere Veranlagung hatte für den künftigen Beruf eines Theologen. Ich erinnere mich insbesondere an zwei Fragen, die ich ihm stellte, als er etwa acht Jahre alt war, und die ich im Folgenden wiedergeben möchte. Die erste Frage bezog sich auf den Primat des Petrus-amtes, und ich stellte sie ihm missverständlich, indem ich vorgab, die richtige Antwort nicht zu wissen, und formulierte sie folgendermaßen: ,Weißt du, dass der Papst nur ein einfacher Bischof ist wie alle anderen?‘ Carlos Antwort kam sofort: Er zitierte die Stelle des Christusbekenntnisses von Caesarea Philippi, in der Jesus sagt: ,Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.‘ Er sagte mir, dass ,es eindeutig Jesus war, der den Papst als Haupt der Kirche eingesetzt hat, und dass der Papst der Stellvertreter Christi auf Erden ist‘. Er hielt sich ausführlich bei der Tatsache auf, dass der Name Petrus eine buchstabengetreue Übertragung des hebräischen Wortes Stein ist, ein Symbol für den Felsen, auf den Jesus seine Kirche gebaut hat. Carlo sagte: ,Wenn Jesus gemeint hätte, dass Petrus nur sein Nachfolger sei, wäre die Kirche mit Petrus bereits beendet gewesen, denn wer hätte die anderen Bischöfe und Priester geweiht, wenn Jesus nicht Petrus und seinen Nachfolgern den Auftrag dazu gegeben hätte?‘

Die andere Frage, die ich ihm stellte, betraf die wahrhaftige Gegenwart Jesu im Sakrament der Eucharistie. Ich formulierte wie folgt: ,Ist die Hostie nach der Konsekration deiner Meinung nach nur ein Symbol, das uns an Jesus und das letzte Abendmahl erinnert?‘ Carlo antwortete: ,In der Eucharistie ist Jesus mit seinem Leib, seinem Blut, seiner Seele und seiner Gottheit wirklich gegenwärtig und sie ist deshalb kein Symbol.‘

Sofort erwiderte ich: ,Aber wenn du die konsekrierte Hostie isst, hat sie doch immer den gleichen Geschmack, den gleichen Geruch, die gleiche Farbe: Wie kann sie dann der Leib, das Blut, die Seele und die Gottheit Jesu sein?‘ Carlo begann dann, mir die ganze Frage der Transsubstantiation zu erklären, und sagte, dass ,die Substanz der Hostie vor der Konsekration die Substanz des Brotes ist, aber nach der Konsekration zur Substanz des Leibes, des Blutes, der Seele und der Gottheit Jesu Christi wird‘, und dass ,jedoch die eucharistischen Gestalten auch nach der Konsekration immer dieselben bleiben, sodass ihr Geschmack, ihr Geruch und ihre Farbe sich nicht verändern‘. Schließlich fragte ich ihn, was die Substanz sei, und er antwortete: ,Das tiefste Wesen.‘ Dann brachte ich einen letzten Einwand zum Ausdruck: ,Aber für manche Leute ist die Eucharistie nur ein Symbol!‘, und er erwiderte überzeugt: ,Sie denken nicht richtig und irren sich.‘“

Verehrung für das Eucharistische Herz Jesu

Carlo empfand eine tiefe Verehrung für das Heiligste Herz Jesu. Er wiederholte gerne, dass „das Heiligste Herz Jesu die Eucharistie ist“ und führte oft als Beispiel das eucharistische Wunder an, das sich 750 in Lanciano ereignet hatte, als der Priester, der die Heilige Messe zelebrierte, von starken Zweifeln an der wirklichen Gegenwart Jesu im konsekrierten Brot und Wein geplagt wurde. Im Augenblick der Konsekration wurde jedoch die Hostie, die er in den Händen hielt, in Fleisch und der Wein in Blut verwandelt.

Erstaunlich ist der Bericht des Wissenschaftlers Edoardo Linoli, Professor für Anatomie, Histologie, Chemie und klinische Mikroskopie, über die 1970 durchgeführten Analysen der Reliquien:

„1. Das ,wunderbare Fleisch‘ ist in Wirklichkeit Fleisch, das aus dem quer gestreiften Muskelgewebe des Herzmuskels besteht.

2. Das ,wunderbare Blut‘ ist echtes Blut: Die chromatografische Analyse beweist dies mit unbestreitbar absoluter Sicherheit.

3. Die immunologische Untersuchung zeigt, dass das Fleisch und das Blut zweifellos menschlicher Natur sind, und der immunhämatologische Test ermöglicht es, mit aller Objektivität und Gewissheit festzustellen, dass beide zur gleichen Blutgruppe AB gehören.

4. Die im Blut enthaltenen Proteine sind normal verteilt, und zwar in demselben prozentualen Verhältnis wie im Muster eines Serum-Eiweiß-Diagramms von normalem frischem Blut.

5. Bei keinem histologischen Schnitt wurde das Vorhandensein von Salzen oder Konservierungsmitteln festgestellt, die in der Antike zum Zweck der Mumifizierung verwendet wurden.“

Carlo konnte daher in seiner großen Verehrung der Eucharistie dieses beunruhigende Wunder nicht außer Acht lassen, das zwar kein Glaubensdogma ist, aber doch ein ganz besonderes Zeichen, das der Herr den ungläubigen Menschen gesandt hat, um zu zeigen, dass die Eucharistie wirklich sein Herz ist. Das erklärt, warum Carlo unmittelbar nach seiner Erstkommunion 1998 darauf bestand, dass die ganze Familie die offizielle Weihe an das Heiligste Herz Jesu vornahm. Tatsächlich fand die Weihe einige Tage später in der Kirche San Fedele in Mailand im Beisein eines Jesuitenpaters statt.

Im Herzen Jesu sah Carlo die unermessliche Liebe Gottes, die sich über die Menschen ergossen hat. Carlo hatte das Buch über das Leben der heiligen Margareta Maria Alacoque (1647-1690) und die Offenbarungen des Heiligsten Herzens Jesu gelesen und kannte sie sehr gut. Deshalb ging er an den ersten Freitagen des Monats gerne zur Kommunion, um Buße zu tun für die begangenen Sünden und Vergehen gegen Jesus. Er schrieb auch die Worte nieder, die Christus der heiligen Margareta Maria Alacoque zwischen dem 13. und 20. Juni 1675 in der Oktav des Fronleichnamsfestes gesagt hatte:

„Siehe dieses Herz, das die Menschen so sehr geliebt hat, dass es bis hin zur Erschöpfung und Verzehrung an nichts gespart hat, um ihnen seine Liebe zu bezeugen; als Dank empfange ich von den meisten Menschen in diesem Sakrament der Liebe nur Undank durch ihre Unehrerbietigkeit, Sakrilegien, Kälte und Verachtung. Was mich aber am meisten schmerzt, ist, dass die Herzen, die mir besonders geweiht sind, mir auf diese Weise begegnen. Darum verlange ich von dir, dass der erste Freitag nach der Fronleichnamsoktav ein besonderer Festtag zur Verehrung meines Herzens werde; dass man an dem Tage sich dem heiligen Tische nahe und einen Ehrenersatz leiste zur Sühnung all der Beleidigungen, welche meinem Herzen, seit es auf den Altären weilt, zugefügt wurden, und ich verspreche dir, dass mein Herz diejenigen im reichsten Maße den Einfluss seiner Liebe fühlen lassen wird, die es verehren und die sorgen, dass es auch von andern verehrt werde.“

Hier die große Verheißung, die der Herr der heiligen Margareta Maria 1686 für all jene geoffenbart hat, die am jeweils ersten Freitag des Monats die heilige Kommunion empfangen: „Ich verspreche dir im Übermaße der Güte meines Herzens, dass meine allmächtige Liebe allen, die am ersten Freitag in neun aufeinanderfolgenden Monaten die heilige Kommunion empfangen, die Gnade aufrichtiger Reue in der Todesstunde verleihen wird, sodass sie nicht in meiner Ungnade sterben, sondern die heiligen Sakramente empfangen und in der letzten Stunde einen sicheren Zufluchtsort in meinem Herzen finden.“

Carlo bewahrte dieses Versprechen in seinem Herzen und verbreitete diese Praxis unter seinen Bekannten, damit sie die Schätze der göttlichen Barmherzigkeit, die im Heiligsten Herzen verborgen sind, nutzen konnten. Die Hingabe des Jungen an das göttliche Herz verstärkte seine Liebe zu Jesus und drängte ihn, für die vielen Sünden, die die Menschen täglich begehen, Wiedergutmachung zu leisten.

Er hatte diejenigen im Blick, die in Gleichgültigkeit leben, die Lästerungen und Frevel begehen und die Eucharistie entweihen. Für all diese Seelen betete er, für sie leistete er Wiedergutmachung und versuchte, andere Menschen in dieses Werk der Wiedergutmachung miteinzubeziehen. Carlo war sich bewusst, dass es notwendig ist, Jesus zu folgen, um ihm seine Liebe zu zeigen, und dass ohne seine Hilfe all unsere Bemühungen vergeblich sind: Deshalb wurde für ihn die Weihe an das Herz Jesu sehr wichtig. Diese Weihe ist ein Akt der Liebe und der kindlichen Hingabe an ihn, der uns mit unendlicher Liebe liebt.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2022
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[1] Nicola Gori: Die Eucharistie – Mein Weg zum Himmel. Biografie von Carlo Acutis, geb., 176 S. mit 16 S. Bildteil, ISBN 978-3-9479314-0-8, Euro 14,95 (D)/ 15,40 (A); www.media-maria.de

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