Liebe Leser
Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel
Seit 1991 führt die katholische Kirche in Deutschland jährlich die sog. „Woche für das Leben“ durch. Sie findet immer zwischen dem dritten und vierten Ostersonntag statt, dieses Jahr vom 22. bis 29. April. Seit 1994 beteiligt sich auch die evangelische Kirche an der Aktionswoche. Jedes Jahr steht diese ökumenische Initiative unter einem besonderen Thema. Heuer ist der Blick auf die jungen Menschen etwa zwischen 15 und 30 Jahren gerichtet, die unter tiefgreifenden Zukunftsängsten bis hin zu Suizidgedanken leiden. Auslöser seien Faktoren wie die Pandemie, der Krieg in der Ukraine sowie der Klimawandel. Die Kirche wolle auf diese Probleme eingehen und sich Gedanken machen, wie sie der jungen Generation ihre helfende Begleitung anbieten und Hoffnung aus dem christlichen Glauben heraus vermitteln kann.
Dieses Anliegen ist sehr zu begrüßen und verdient volle Unterstützung. Gleichzeitig aber betont die Kirche, dass sie mit diesen Jahresschwerpunkten die ursprüngliche Zielrichtung der „Woche für das Leben“ nicht aus dem Blick verlieren möchte. Der „Schutz des ungeborenen Kindes“, so lautete das erste Thema im Jahr 1991, bleibe auch weiterhin eine vorrangige Aufgabe.
So haben wir als Titelthema gewählt: „Reich dem Leben die Hand – Ostersieg über die Kultur des Todes“. Ganz aktuell berühren uns drei ergreifende Beispiele, in denen ein solcher Ostersieg aufleuchtet.
Es ist zunächst das Zeugnis von Andrea Müller, die als Zwilling 1974 ihre Abtreibung überlebt hat und nach einem existentiellen Ringen um Heilung ihre Berufung als Beraterin in Schwangerschaftskonflikten erkannt hat. Ihr Anstoß, in Kirche und Gesellschaft eine vollkommen neue Form der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Thema Abtreibung zu finden, kann als richtungsweisend betrachtet werden und sollte aufgegriffen werden.
Auch haben wir die unglaubliche Geschichte von Chiara Corbella Petrillo (1984-2012) aufgenommen, für die 2018 der Seligsprechungsprozess eröffnet worden ist. Aktueller und lebensnaher könnte das Ringen um den richtigen Umgang mit der modernen Medizin gar nicht sein. Das Lebenszeugnis macht zugleich deutlich, dass wir ohne Nachfolge Christi und vollkommenes Gottvertrauen der „Kultur des Todes“ nicht widerstehen können.
Und schließlich ist die bevorstehende Seligsprechung der polnischen Märtyrerfamilie Ulma aus Markowa, in die am 10. September 2023 auch das ungeborene Kind mit einbezogen werden wird, in mehrfacher Hinsicht ein Pro-Life-Signal der katholischen Kirche.
Diese anschaulichen Zeugnisse münden in eine philosophisch-theologische Grundsatzüberlegung ein, in der Prof. Dr. Ralph Weimann die „nicht verhandelbaren ethischen Prinzipien“ erklärt, ohne die es keine „Kultur des Lebens“ geben kann. Dabei stützt er sich auf das Denken Benedikts XVI., der sich sein ganzes Leben lang für die Anerkennung unantastbarer moralischer Grundsätze in Kirche und Weltpolitik eingesetzt hat.
Liebe Leser, Christus hat seinen Ostersieg über den Weg des Kreuzes errungen. Allein in der Bereitschaft, für das Leben Opfer zu bringen, kann eine „Kultur des Lebens“ errichtet werden. Beten wir dafür, dass wir dieses Zentrum des Evangeliums nicht ausklammern – man denke an den „Synodalen Weg“ – und in einer Sackgasse landen, sondern im Geist glaubensvoller Hingabe an der Hand der Gottesmutter auf den Ostersieg zugehen. Mit einem aufrichtigen Vergelt‘s Gott für Ihre Spenden wünschen wir Ihnen ein frohes und gnadenreiches Osterfest.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Die Gesellschaft braucht ein konstruktives Gespräch über das Thema Abtreibung
Dem Leben die Hand reichen
Andrea Müller ist verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Gründerin des Vereins „Schwanger – du bist nicht allein“. Als kleines Mädchen träumte sie von einem Zwilling. Als sie größer wurde, versank sie in tiefe Depression und wurde magersüchtig. Erst als die Mutter ihr gestand, dass sie hätte abgetrieben werden sollen, und dabei ihr Zwilling ums Leben kam, setzten sich die Puzzleteile ihrer Verzweiflung zu einem Bild zusammen – ein langer Heilungsweg begann. Nach dem Ringen mit sich selbst und der Verarbeitung ihres Traumas entschied sie sich, mit Hilfe ihrer Familie und Freunden den genannten Verein zur Schwangerschaftskonfliktberatung zu gründen. Wiederholt hat sie auf Radio Horeb von ihrem Leben und ihrem Einsatz als Beraterin Zeugnis abgelegt. Vor kurzem fasste sie ihre Erfahrungen auch in einem Büchlein zusammen, das den Titel „Ausweg“ trägt und auf der Homepage zu bestellen ist.[1]
Von Andrea Müller
Seit meiner Kindheit beschäftige ich mich mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch. Schon als junge Frau hatte ich dazu konkrete Fragen. Warum treibt eine Frau ihr Kind ab? Welche Beweggründe haben diese Frauen?
Im Laufe meiner Recherchen erkannte ich schnell, dass dieses Thema in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Herausforderungen mit sich bringt. Es sind vorwiegend medizinische, psychologische und gesellschaftlich kulturelle Aspekte, welche die hohe Komplexität des Themas begründen.
Als Arzthelferin setzte ich mich mit den medizinischen und finanziellen Aspekten für das Gesundheitswesen auseinander, als Mutter von drei erwachsenen Kindern mit dem eigenen, persönlichen Erfahrungsschatz. Als Schwangerenkonfliktberaterin betrachtete ich die psychologischen, psychiatrischen und auch therapeutischen Ansätze.
Meine persönliche Geschichte
Ich bin ein Zwilling allein auf dieser Welt. Meine Abtreibung überlebte ich in der 14. Schwangerschaftswoche. Anfang 1974 gab es nach damaligen medizinischen Möglichkeiten noch keine Ultraschalluntersuchungen. Im Juli 1974 trat das Schwangerschaftsschutzgesetz in Kraft. Dieses Gesetz erlaubte einer Schwangeren bis zur 12. Schwangerschaftswoche abzutreiben, wenn sie sich in einer Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftsschutzgesetz § 218 und § 219a beraten ließ.
Da ich Anfang März 1974 gezeugt wurde, war ein Schwangerschaftsabbruch zu dieser Zeit noch strafbar. Meine Mutter befand sich unter einem enormen psychischen Druck. Sie hatte einen Gynäkologen ihres Vertrauens, der mit ihr zusammen die Schwangerschaft erst sehr spät feststellte und somit zeitverzögert den Abbruch durchführte. Er bestätigte ihr, dass er alle „Gewebereste“ entfernt habe und sie nun nicht mehr schwanger sei.
Ich überlebte meine Abtreibung
Bei der Nachkontrolle nach vier weiteren Wochen stellte der Arzt fest, dass meine Mutter trotz der Abtreibung „noch schwanger“ war. Der Arzt teilte ihr mit, dass es ab und zu schon mal vorkäme, dass ein Zwilling entfernt werde und der andere sich wohl gut versteckt habe. Er könnte den anderen Zwilling noch mit einer Spätabtreibung entfernen. Das alles war zu viel für meine Mutter. Sie rannte weinend aus dem Sprechzimmer und weinte einige Tage lang.
Diese Geschichte über mich erfuhr ich erst mit 17 Jahren. Für mich war diese Erfahrung eine traumatische und schwerwiegende seelische Zerstörung meiner Persönlichkeit. Erst nach Jahren der Aufarbeitung und einem langen schweren Weg aus dem erlebten Trauma, Suizidalität und Selbsthass ist es nun an der Zeit, über das Erlebte zu sprechen und andere Menschen über diese Art der Traumatisierung zu informieren.
Harter Weg der Aufarbeitung
Für mich war dieser Weg der Aufarbeitung und des Hinschauens sehr hart. Meine Herkunftsfamilie hat bis heute nicht erkannt, welche Zerstörung dieser Abtreibungsversuch und der Verlust meiner Zwillingsschwester für mich bedeutet haben. Den Weg bin ich alleine gegangen. Die ersten 15 Jahre meiner Aufarbeitung waren die härtesten, danach habe ich mich über das Thema der Abtreibung umfassend informiert.
Ich habe viele Puzzleteile aus den vergangenen Jahrzehnten meines Lebens zusammengetragen. So habe ich die Erfahrungen aus eigenem Erlebten, fachlichem Wissen im Austausch mit Gynäkologen, Therapeuten und Wissenschaftlern gesammelt, diskutiert, besprochen, reflektiert und erforscht. Besonders wertvoll erachte ich auch die vielen Gespräche mit betroffenen Menschen, die direkt oder indirekt im Familiensystem involviert sind und aus ihrer Perspektive erzählen.
Motivation für den Beruf der Schwangerenkonfliktberaterin
Aus der Aufarbeitung meiner Lebensgeschichte und den Recherchen über das Thema Abtreibung hat sich der Wunsch entwickelt, den Beruf der Schwangerenkonfliktberaterin auszuüben.
Die entscheidende Motivation für meinen Einsatz in diesem Bereich war natürlich die Tatsache, dass ich selbst vom Thema Abtreibung betroffen bin. Aber mich motivieren auch die vielen Schwangerschaftskonfliktgespräche und auch die Aufarbeitungskurse für Frauen/Familien nach einem erlebten Abbruch. Sie geben mir die Möglichkeit, über meine eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit Abtreibung zu sprechen.
Meine private persönliche Kraftquelle ist meine Glaubensbeziehung zu Jesus. Sie hat mich gestärkt und mich in einen seelischen Heilungsprozess geführt. Mit diesen bereits „heilgewordenen“ Lebensbereichen will ich auch anderen Menschen Hoffnung und Mut machen, nicht aufzugeben und diese Lebensthematik aufzuarbeiten.
Abtreibung hinterlässt generationsübergreifend Spuren
Heute sind mir die Auswirkungen bewusst, welche eine Abtreibung mit sich bringen kann. Aus meiner Sicht geht es nicht nur um die einzelne Frau. Sie trifft zugegebenermaßen die Entscheidung für diese Abtreibung, aber sie ist sich oftmals gar nicht bewusst, welche Auswirkungen dies auf ihre weitere Entwicklung, auf ihre Partnerschaft und ihre weiteren Kinder und Enkelkinder haben wird, ganz zu schweigen davon, in welch hohem Maß auch unsere gesamte Gesellschaft von diesen Auswirkungen betroffen ist.
Eine Abtreibung hinterlässt, auch wenn es uns noch so schwerfallen mag, dies wahrzuhaben, generationsübergreifend Spuren. Dazu möchte ich meine Lebenserfahrung mit den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Praxiserfahrungen zu einem Bild zusammenfügen. Aus meiner täglichen praxisnahen Erfahrung mit Frauen im Schwangerschaftskonflikt ist es mir ein Bedürfnis, darüber zu informieren, dass es nicht nur um ein Ja zum Kind oder ein Ja zur Abtreibung geht, sondern um weit mehr.
Prävention und Formung einer solidarischen Gesellschaft
Meiner Erfahrung nach muss präventiv gearbeitet werden. Nur ein ganzheitlicher Ansatz verspricht einen lösungsorientierten Verlauf. Unsere Verantwortung liegt darin, die Gesellschaft zu informieren, damit diese anders auf das Thema reagieren kann und im besten Fall nicht mehr wegschaut, sondern solidarisch und barmherzig mit eingreift. Frauen in einem Konflikt sind sehr oft allein. Ihr soziales Umfeld befindet sich in einem dysfunktionalen oder desolaten Zustand. Hier benötigen wir „Ersthelfer“, Finanzen und Ehrenamtliche, die die Mutter und das Kind mindestens bis nach der Geburt des Kindes, besser bis zu seinem zweiten Lebensjahr, begleiten.
Durch meine berufliche Erfahrung würde ich sogar dafür plädieren, dass solche Mütter und Familien bis zum 18. Lebensjahr des Kindes eine Begleitung bekommen. Es könnte vielleicht ähnlich aussehen, wie dies „eine Patentante oder ein Patenonkel“ tun. Dafür müsste es meiner Auffassung nach Schulungen geben, die solch eine Patenschaft auch gesellschaftsfähig machen. Wir dürfen den professionellen Ansatz nicht aus den Augen verlieren. Es ist mir ein Herzensanliegen, dafür zu werben, dass wir dieses Thema in seiner ganzen Komplexität erkennen und als Gesellschaft sowohl im Rahmen des Grundgesetzes als auch im religiösen Kontext behandeln.
Kraftraubende Diskussionen vermeiden
Statt uns gegenseitig zu bekämpfen, sollten wir uns in der Mitte begegnen. Meine Mitte ist es, meinen Standpunkt für das Leben zu vertreten, jedoch keine Zeit für kraftraubende Diskussionen zu verschwenden. Wer hören will, der wird hören. Wer nur diskutieren will, der will nicht verstehen. Darum bemühe ich mich nicht darum, von Menschen verstanden zu werden, die nicht verstehen wollen. Ich lasse auch diesen Menschen ihre Meinung und setze meinen Fokus auf die präventive Arbeit mit Menschen, die verstehen wollen. Wenn wir weiterhin nur den Schwangerschaftskonflikt sehen und unseren Fokus auf die Eisbergspitze lenken, um Abtreibungen zu verhindern, haben wir kaum eine Chance, die Gesellschaft für dieses Thema zu gewinnen.
Annahme der Frau und ihrer Situation
Worauf es jedoch ankommt, ist, dass wir uns dem einzelnen Menschen als Individuum zuwenden und versuchen, ihn zu verstehen. Hinter dem Ringen im Schwangerschaftskonflikt steht immer auch der Wunsch der Frau nach einem Platz auf dieser Erde, nach Angenommen-Sein und nach der Gewissheit: „Du bist gewollt!“ Wir müssen begreifen, dass es um die Angst geht, „wegen einem Kind“ oder „einer Familie“ in der Gesellschaft nicht mehr anzukommen, nicht mitagieren zu können, den Anschluss zu verlieren und abgehängt zu werden.
Da sind wir berufen, den Betroffenen die Hand zu reichen und Verständnis für ihre Ängste und Befürchtungen entgegenzubringen. Dabei können wir auch an eigenen „traumatischen“ Erfahrungen anknüpfen und so unsere Mitmenschen mit dem Blick des Verstehens und der Barmherzigkeit gewinnen. Im Prozess des Schwangerschaftskonflikts ist die Barmherzigkeit die größte „Waffe“. Die absolute Annahme der Frau und ihrer Situation baut eigene Grenzen ab und eröffnet einen Weg zum Herzen der Frau und ihrer Not.
Der Mutter eine Zukunft mit ihrem Kind aufzeigen
Wenn wir die Not und das Leid der Frau verstanden haben, können wir ihr durch unsere Haltung der Annahme zeigen, dass sie selbst angenommen ist. Schritt für Schritt kann sie dann begreifen, wie ihr Gefühls-chaos mit ihrer eigenen Vergangenheit im Zusammenhang steht. Und plötzlich kann sie erkennen, dass das Kind auch in dieser Phase ihres Lebens ein Geschenk bedeutet. Wenn sich die Schwangere mit sich selbst, mit ihrer eigenen Vergangenheit und mit ihrer Not offen auseinandersetzt, erschließt sich ihr meist ein „Aha-Erlebnis“. Sie kann dann selbst die Schwangerschaft aus einem anderen Blickwinkel sehen und findet so zu ihrem eigenen persönlichen Lösungsweg.
Genau das geschieht bei acht von zehn Frauen, die zur Beratung kommen. Sie ergreifen ganz von selbst die angebotenen Hilfeleistungen und beginnen ihre Zukunft mit dem Kind zu sehen. Sie verinnerlichen, dass sie ihrer Situation gar nicht so hilflos gegenüberstehen, sondern nun mit dem Kind ihr Leben „selbstbestimmt“ und „neuorientiert“ planen können und wollen.
Das generationsübergreifende „Abtreibungstrauma“ unterbrechen
Aus meiner persönlichen Erfahrung habe ich gelernt, wie wichtig es für die betroffenen Frauen ist, zunächst den Weg zu sich selbst, zu ihrem eigenen „seelischen inneren Kind“ zu finden. Dann eröffnet sich auch ein Weg zu ihrem „leiblichen Kind“, das sie in ihrem Schoß trägt.
Der Weg zum „eigenen inneren Kind“ wird zum Weg zum Kind im Bauch. Sie selbst findet ein JA zur Situation und ein JA zum Kind. Das ist das größte Geschenk an die Frau und ihr Kind. Wenn dieser Prozess in Gang gesetzt wird, können wir die Frau in der Schwangerschaft, bei der Geburt und der weiteren wöchentlichen oder monatlichen Begleitung stützen und fördern. So kann es auch gelingen, dass der Prozess des generationsübergreifenden „Abtreibungstraumas“ unterbrochen wird.
Arbeit mit Frauen nach einer Abtreibung
Es wurde meines Erachtens zu viel Zeit damit vergeudet, das Thema Abtreibung nur politisch, ethisch oder religiös zu behandeln. Zwischen diesen Stühlen stehen schließlich die Frauen, die über Jahre hinweg mit der Trauer und ihrer eigenen Scham leben müssen. Sie haben nicht den Mut und die Kraft, zu trauern und offen darüber zu sprechen. Sie haben Angst vor Stigmatisierung und Diskriminierung. Sie schämen sich, weil sie denken, dass sie nicht trauern dürften, da sie ja selbst entschieden haben, ohne das Kind zu leben. Erst später bemerken betroffene Frauen, dass ihr ungeborenes Kind, trotz des Eingriffs, immer ein Teil ihres Lebens sein wird. Erst wenn diese Erkenntnis mit im Leben integriert ist und die Frau diese Trauerarbeit mit sich und im besten Falle mit ihrer Familie durchführen kann, kann ihre Psyche wieder den Weg in das „normale Leben“ finden. Sie kann mit dem Erlebten auf eine positive Weise abschließen, indem sie sich selbst neu findet und das Geschehene bewusst verarbeitet.
Bedauerlicherweise erkennen die wenigsten Frauen nach einer Abtreibung, dass sie Hilfe benötigen, da dies in der Öffentlichkeit bagatellisiert wird. Worin liegt der Grund für die bislang nahezu erfolglose Durchdringung der Gesellschaft mit Fakten zu diesem Thema? An der möglicherweise sinkenden Anzahl von Schwangerschaftsabbrüchen als Konsequenz hochwertiger Beratungsleistung bei betroffenen Frauen liegt es wohl kaum. Mit der Einführung der „Pille danach“ wurde diese Entwicklung ohnehin verschärft.
Ein Großteil der Frauen, die Beratungs-leistung in Anspruch nehmen, hat bereits einen Abbruch mit einem Schwangerschaftsunterbrechendem Medikament durchgeführt. Irritierender Weise wird den Frauen das Medikament von den Ärzten oftmals mit nach Hause gegeben. Frauen, die damit ihre Leibesfrucht die Toilette hinunterspülen sprechen bezeichnenderweise immer von „ihrem Kind“. Andere erzählen davon, dass sie ihr Kind an einem ihnen verbundenen Ort vergraben haben, um dort zu trauern.
Öffentlich über das TABU-Thema sprechen
Es betrübt mich, dass wir es in unserer Gesellschaft bis heute nicht geschafft haben, zielorientiert und konstruktiv über das Thema Abtreibung zu sprechen. Stattdessen erfolgt die öffentliche Auseinandersetzung meistens polarisierend und erzeugt zum Teil sogar Hass, Gewalt und auf vielen Ebenen auch gegenseitige Verachtung. Wir stellen fest, dass nicht jede Frau eine Abtreibung ohne psychische Beschwerden übersteht. Hilfesuchende Frauen kommen täglich in unsere Beratungsstelle. Wir brauchen einen sachlichen Austausch über die Konflikte, mit welchen sich betroffene Frauen konfrontiert sehen.
Um zu einem professionelleren Umgang mit dem Thema „Abtreibung und ihre Folgen“ zu gelangen, sehen wir das Erfordernis einer wissenschaftlich fundierten Betrachtung und Bewertung, etwa im Rahmen einer Studie. Ein wissenschaftlicher Beleg für die psychische Belastung und auch mögliche psychische Folgeschäden eines Schwangerschaftsabbruches für betroffene Frauen kann damit die Anerkennung der Leistung der Beratungsstellen fördern. Die erschwerte Rückkehr zum Alltag oder etwa das Auftreten von „Burn-Out-Symptomen“ bei betroffenen Frauen wäre nicht mehr infrage zu stellen. Unbegründeter Polemik wäre damit Einhalt geboten und die Sichtweise auf das Thema durch die Gesellschaft und auch die Medien könnte nachhaltige Veränderung erfahren.
Aufklärung und Prävention verbessern
Es ist offensichtlich, dass wir zu wenig über diese Dinge sprechen. Die Aufklärung in der Öffentlichkeit und auch in den Schulen ist essentiell für eine nachhaltige Veränderung der Sicht auf das Thema Abtreibung. Darin sehe ich einen Auftrag für die nächsten Jahre. Anstelle von Frontenbildung und Polarisierung müssen wir das offene und qualifizierte Gespräch fördern. Psychotherapeuten sind zu dieser Thematik zu qualifizieren und auch Lehrer sind für dieses Thema zu gewinnen, zu sensibilisieren. Entsprechendes Lehrmaterial für die Schulen ist zu entwickeln und kostenlos zur Verfügung zu stellen.
Beim Thema Verhütung sind es meist die Frauen, die in der Verantwortung stehen. Auch die Entscheidung zu treffen, ob sie einen Abbruch durchführen oder nicht, bleibt oft ganz allein an ihnen hängen. Und zu 99,9% sitzen Frauen alleine im Konfliktgespräch. Wo sind die Erzeuger? Durch eine offenere Aufklärung könnte auch das persönliche soziale Umfeld der Frau besser einbezogen werden, das beim Thema Schwangerschaft und Abtreibung eine sehr große Rolle spielt. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Partner und – wenn vorhanden – auch die Geschwisterkinder und Freunde der Frau.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Andrea Müller: Ausweg – Wenn die Seele nicht mehr weint, 180 S., 12 Euro plus Versand, Bestellung: Buch_Ausweg@familiesein.de
Ostersieg über die Kultur des Todes
Chiara Corbella Petrillo
In unseren Tagen hat eine junge Frau aus Italien allen Versuchungen der modernen Medizin widerstanden und dem Geheimnis des Lebens vorbehaltlos gedient. Aus der Kraft des Glaubens hat sie einen wahrhaften Ostersieg über die herrschende Kultur des Todes errungen. Für Chiara Corbella Petrillo (1984-2012) wurde bereits 2018 der Seligsprechungsprozess eröffnet, um die richtungsweisende Bedeutung ihres Lebenszeugnisses herauszustellen. Ihre unglaubliche Geschichte wurde inzwischen in vielen Sprachen publiziert. Sie ist auch auf einer offiziellen Webseite zu finden. Pfr. Erich Maria Fink hat die Lebensgeschichte von Chiara Corbella Petrillo kurz zusammengefasst.
Von Erich Maria Fink
Chiara Corbella wurde am 9. Januar 1984 als zweite Tochter einer gläubigen Familie in Rom geboren. Als sie fünf Jahre alt war, begann ihre Mutter Maria Anselma, sie und ihre ältere Schwester Elisa zu den Gebetstreffen der Charismatischen Erneuerung mitzunehmen. „In dieser Gemeinschaft habe ich gelernt, zu beten und mich auf eine ganz einfache Weise an Jesus zu wenden, wie an einen Freund, dem ich meine Probleme und Zweifel erzählen kann. Vor allem aber habe ich gelernt, den Glauben mit den Brüdern und Schwestern der Gemeinschaft zu teilen“, so bezeugte Chiara später.
Am 2. August 2002 lernte sie mit 18 Jahren in Medjugorje den fünf Jahre älteren Enrico Petrillo kennen, der unabhängig von ihr mit einer Gruppe der Charismatischen Bewegung dorthin gepilgert war. Schon nach wenigen Monaten kamen die beiden zusammen. Ihr Glaube und ihre Werte wurden auf eine harte Probe gestellt. Nach vier Jahren stürzte ihre Beziehung in eine solche Krise, dass sie sich 2006 trennten.
Chiara berichtete: „In diesem schwierigen Moment – in dem ich mit Gott auf dem Kriegsfuß stand, da ich überzeugt war, er höre nicht auf meine Gebete – habe ich an einem Berufungskurs in Assisi teilgenommen. Dort habe ich die Kraft wiedergefunden, an Ihn zu glauben. Ich habe versucht, mich mit Enrico wieder zu sehen und wir haben begonnen, uns von einem Seelsorger helfen zu lassen.“
Dieser Seelsorger war der Franziskanerpater Vito D‘Amato, der die beiden schließlich am 21. September 2008 in Assisi traute und sie auf ihrem weiteren Lebensweg begleitete. Voraussetzung für die Hochzeit war für Chiara ein innerer Wandel, der sie geistlich und menschlich reif werden ließ: „Endlich frei von den Erwartungen, die ich mir selbst erschaffen hatte, konnte ich nun mit neuen Augen sehen, was Gott für mich wollte.“
Nach ihrer Hochzeitsreise erkannte Chiara, dass sie schwanger war. Beim Ultraschall aber zeigte sich eine schwerwiegende Missbildung. Obwohl die Diagnose Anenzephalie gestellt wurde, lehnten Chiara und Enrico eine Abtreibung ab und beschlossen, die Schwangerschaft weiterzuführen.
Am 10. Juni 2009 kam ein Mädchen zur Welt, das unmittelbar nach der Geburt auf den Namen Maria Grazia Letizia getauft wurde und eine halbe Stunde später verstarb. Die Begräbnisfeier fand einige Tage nach der Geburt statt, voller Frieden und Dankbarkeit. Für die Anwesenden war es, als hätten sie ein Stück Himmel auf Erden erlebt. Auf Deutsch heißt Grazia Letizia „Gnade Freude“.
Wenige Monate später war Chiara erneut schwanger. Dieses Mal wurde eine schwere viszerale Fehlbildung diagnostiziert. Sofort war erkennbar, dass dem Kind die unteren Gliedmaßen fehlten. Wieder entschieden sich die Eltern gegen einen Schwangerschaftsabbruch und nannten das Kind, das am 24. Juni 2010 geboren wurde, Davide Giovanni. Ein Jahr blieb es am Leben, bis es in den Armen seiner Eltern starb.
Im Tagebuch von Chiara ist zu lesen: „In unserer Ehe hat der Herr uns ganz besondere Kinder schenken wollen: Maria Grazia Letizia und Davide Giovanni. Aber er hat uns gebeten, sie nur bis zur Geburt zu begleiten. Er hat es ermöglicht, sie zu umarmen und zu taufen, und dann haben wir sie in Seine Hände übergeben, all das in einer unglaublichen Gelassenheit und Freude.“
Eine Woche nachdem Chiara 2011 von ihrer dritten Schwangerschaft erfahren hatte, entdeckte sie auf ihrer Zunge eine Läsion. Die Ärzte hegten den Verdacht, es könnte sich um einen Tumor handeln. So wurde Chiara am 16. März 2011 operiert und das Geschwür, das entnommen wurde, erwies sich tatsächlich als bösartig. Um das Leben des Kindes nicht zu gefährden, verzichtete sie auf eine zweite Operation sowie auf die angeratene Bestrahlung und Chemotherapie. All das verschob sie auf die Zeit nach der Geburt. Auch ging sie nicht auf das Angebot ein, eine Frühgeburt einzuleiten, damit die Krebsbehandlung schneller hätte beginnen können. So brachte sie am 30. Mai 2011 ein völlig gesundes Kind zur Welt, das Francesco genannt wurde. Am 3. Juni wurde sie ein zweites Mal operiert und unterzog sich anschließend der Chemo- und Strahlentherapie. Doch der Tumor, der bereits in die Lymphknoten gelangt war, verbreitete sich schnell in Lunge und Leber und befiel auch das rechte Auge.
Als sich Chiara im Endstadium befand, verbrachte sie die letzten Monate zusammen mit Enrico in einem Haus am Meer. Täglich empfing sie die hl. Kommunion und bereitete sich auf die Begegnung mit ihrem himmlischen Bräutigam vor.
Am 13. Juni 2012 starb sie um 12 Uhr mittags, nachdem sie sich von Verwandten und Freunden verabschiedet hatte. Jedem einzelnen flüsterte sie zu: „Ich habe dich lieb.“ An der Begräbnisfeier, die am 16. Juni 2012 in der Kirche Santa Francesca Romana stattfand, nahmen Hunderte von Menschen teil. Beigesetzt wurde sie auf dem berühmten Friedhof „Campo Verano“ unweit der Basilika „San Lorenzo fuori le Mura“. Kardinal Agostino Vallini sagte bei der Beerdigung: „Wir dürfen nicht verlieren, was Gott durch sie vorbereitet hat.“
Genau fünf Jahre nach ihrem Tod – diese Frist muss nach dem Kirchenrecht eingehalten werden – begann man am 13. Juni 2017 die Voraussetzungen für ein Verfahren zur Seligsprechung zu überprüfen. Am 2. Juli 2018 erhielt sie den Titel „Dienerin Gottes“ und am 21. September 2018 wurde der Prozess offiziell eröffnet. Chiara hat dem Leben auf einzigartige Weise gedient und selbst im Leiden und Tod ein Zeugnis von ihrem frohen und entschiedenen Glauben abgelegt, dass das Leben ein wunderbares Geschenk Gottes ist, berufen zur ewigen Liebe. Der Titel der deutschsprachigen Biographie von Chiara Corbella Petrillo heißt: „Geboren, um nie mehr zu sterben“.
Brief an Francesco
Pian della Carlotta 30.05.12
Liebster Francy, heute wirst du ein Jahr alt, und nachdem wir uns gefragt hatten, was wir dir schenken könnten, das über die Jahre Bestand hat, haben wir beschlossen, dir einen Brief zu schreiben.
Du warst ein großes Geschenk in unserem Leben, denn du hast uns geholfen, über unsere menschlichen Grenzen hinauszusehen. Als die Ärzte uns Angst machen wollten, hat uns dein so schwaches Leben Kraft gegeben, voranzugehen.
Von dem Wenigen, was ich in diesen Jahren verstanden habe, kann ich dir nur sagen, dass die Liebe den Mittelpunkt unseres Lebens bildet, weil wir aus einem Akt der Liebe geboren werden, weil wir leben, um zu lieben und geliebt zu werden, und weil wir sterben, um die wahre Liebe Gottes kennenzulernen.
Das Ziel unseres Lebens besteht darin, zu lieben und immer bereit zu sein, zu lernen, die anderen so zu lieben, wie nur Gott es uns lehren kann. Die Liebe verzehrt dich, doch es ist schön, so zu sterben – wie eine Kerze, die erst erlischt, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Was immer du tun wirst, wird nur einen Sinn haben, wenn du es im Hinblick auf das Ewige Leben siehst.
Wenn du wirklich liebst, wirst du feststellen, dass dir nichts wirklich gehört, weil alles ein Geschenk ist.
Wie der heilige Franziskus sagt: Besitz ist das Gegenteil von Liebe!
Wir haben deine Geschwister Maria und Davide und wir haben dich in dem Bewusstsein geliebt, dass ihr nicht uns gehört, dass ihr nicht für uns bestimmt wart. Und so muss alles im Leben sein – nichts von dem, was du hast, gehört dir, weil es ein Geschenk ist, das Gott dir macht, damit du es Frucht tragen lässt.
Verliere nie den Mut, mein Sohn. Gott nimmt dir nichts, niemals, und wenn er dir etwas nimmt, dann nur, weil er dir sehr viel mehr geben möchte.
Dank Maria und Davide haben wir uns noch mehr in das Ewige Leben verliebt und haben aufgehört, uns vor dem Tod zu fürchten. Gott hat uns also etwas genommen, aber um uns ein größeres Herz zu geben, das offen dafür ist, die Ewigkeit schon in diesem Leben anzunehmen. …
Wir haben geheiratet, ohne etwas zu haben, doch wir haben Gott an die erste Stelle gesetzt und an die Liebe geglaubt, die diesen großen Schritt von uns forderte. Wir sind nie enttäuscht worden, wir hatten immer ein Zuhause und so viel mehr als das, was wir brauchten!
Du heißt deswegen Francesco, weil der heilige Franziskus unser Leben verändert hat, und wir hoffen, dass er auch für dich ein Vorbild sein kann… Es ist schön, Vorbilder für das Leben zu haben, die dir in Erinnerung rufen, dass man schon hier auf Erden das höchste Glück erlangen kann, wenn man sich Gottes Führung anvertraut.
Wir wissen, dass du etwas Besonderes bist und dass du eine große Mission hast. Der Herr hat dich schon immer gewollt und wird dir den Weg zeigen, dem du folgen sollst, wenn du Ihm dein Herz öffnest…
Vertraue Ihm, es lohnt sich!
Mama Chiara und Papa Enrico
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Mutiges Signal für die Menschenwürde der ungeborenen Kinder
Seligsprechung der Familie Ulma
Am 10. September 2023 findet in Polen eine ungewöhnliche Seligsprechung statt. Im Dorf Markowa, 200 km östlich von Krakau, hatte die Familie Ulma während des Zweiten Weltkriegs eineinhalb Jahre lang im Dachboden ihres einfachen Hauses acht Juden versteckt. Nachdem sie denunziert worden war, erschossen deutsche Polizisten am 24. März 1944 zunächst die versteckten Juden und daraufhin die gesamte Familie, vor den Augen ihrer sechs Kinder zuerst die Eltern Józef und Wiktoria. Die Mutter war mit ihrem siebten Kind hochschwanger, was bedeutet, dass auch dieses Kind den Tod fand. Das Besondere an der bevorstehenden Seligsprechung besteht darin, dass die Kirche auch dieses ungeborene Kind in den Seligsprechungsprozess einbezogen und ausdrücklich zum Märtyrer erklärt hat. Der polnische Journalist Bogumił Łoziński hob in einem Artikel für die katholische Wochenzeitung „Gość Niedzielny“ (Sonntagsgast) das Pro-Life-Signal hervor, das von diesem Schritt ausgeht. Nachfolgend sein Beitrag, der für „Kirche heute“ vom Polnischen ins Deutsche übertragen wurde.
Von Bogumił Łoziński
Die Seligsprechung des ungeborenen Kindes von Józef und Wiktoria Ulma wird ein Präzedenzfall in der Geschichte der katholischen Kirche sein. Ein Märtyrer für den Glauben, getötet im Mutterschoß, kann der Schutzpatron von Kindern werden, die vor der Geburt gestorben sind.
Am 17. Dezember 2022 bestätigte Papst Franziskus das Dekret über den Märtyrertod der Familie von Józef und Wiktoria Ulma aus Markowa und ihren sieben Kindern. Sie waren von deutschen Polizeikräften ermordet worden, weil sie während des Zweiten Weltkriegs in ihrem Haus acht Juden versteckt hatten. Die Entscheidung von Papst Franziskus bedeutet, dass sie nun seliggesprochen werden können.
Die Geschichte der Familie Ulma ist einzigartig. Zweifellos haben die Ulmas den Beweis einer herausragenden Liebe erbracht und die Worte Christi erfüllt: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Joh 15,13). Die Einzigartigkeit ihrer Geschichte besteht aber auch darin, dass ihre sieben Kinder den Märtyrertod für den Glauben erlitten haben, darunter ein noch nicht geborenes Baby.
Das Schicksal der Familie Ulma ist gut dokumentiert und weithin bekannt. Fast unbekannt ist jedoch die religiöse Dimension ihres Handelns, welche Gegenstand der Untersuchungen beim Seligsprechungsprozess war. Dieser wurde 2003 in der Erzdiözese Przemyśl eröffnet, wo sich das Dorf Markowa befindet, in dem die Familie Ulma gelebt und den gewaltsamen Tod gefunden hat. Zunächst war er Teil eines Prozesses für 88 Märtyrer des Zweiten Weltkriegs. 2017 jedoch erlaubte die Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, diesen Fall aus dem Verfahren herauszunehmen und eigens zu behandeln. So wurde für die Ulmas ein neuer Prozess eingeleitet. Außerdem gab die Kongregation die Zustimmung dazu, dass auch das ungeborene Kind in den Seligsprechungsprozess mit einbezogen wird. Im Jahr 2021 bewertete die historische Kommission der Kongregation die sog. „Positio“ positiv, d. h. sie stellte in einem Dokument fest, es sei u. a. bewiesen, dass die Familie Ulma für ihren Glauben an Christus gestorben ist.
Martyrium
In der katholischen Kirche wird das Martyrium als frei angenommener Tod definiert, der aus Hass auf Christus herbeigeführt worden ist. Während des Seligsprechungsprozesses wurden drei Dimensionen eines solchen Martyriums untersucht. Die erste betrifft die Art und Weise, wie ein Kandidat für die Heiligsprechung gestorben ist. Im Fall des Martyriums muss der Tod gewaltsam zugefügt worden sein, sehr brutal, ohne Möglichkeit oder Versuch der Verteidigung.
„Genau das war bei der Familie Ulma der Fall“, betonte der Postulator des Seligsprechungsprozesses, Pater Dr. Witold Burda, in einem Interview. Die Abordnung der Peiniger bestand aus vier deutschen Gendarmen – Mitgliedern eines Erschießungskommandos – und vier „Blauen Polizisten“ (polnische Polizisten unter deutschem Kommando). Am 24. März 1944 stürmten die Gendarmen im Morgengrauen das Haus der Familie Ulma und begannen sofort, in die Decke zu schießen. Dabei wurden drei der acht Juden getötet, die sich zwei Jahre lang auf dem Dachboden versteckt hatten. Dann schleppten sie die anderen Juden und die Familie Ulma aus der Hütte in den Hof und führten sofort die Hinrichtungen durch. Zuerst erschossen sie die Juden, dann Wiktoria und Józef vor den Augen ihrer Kinder.
Hass auf den Glauben
Der zweite Aspekt, der bei einem Prozess untersucht wird, besteht darin festzustellen, was den Verfolger motiviert hat, dem Opfer das Leben zu nehmen. Wir sprechen von Martyrium, wenn der Mörder vom Hass auf den Glauben geleitet wird (lat. „odium fidei“), oder vom Hass auf eine Tugend, die aus diesem Glauben resultiert.
Pater Dr. Burda betonte, dass für diesen Fall in verschiedenen Akten gründlich recherchiert wurde, besonders hinsichtlich der ideologischen Bildung der deutschen Gendarmen, die die Familie Ulma ermordeten. Nach Aussage eines der Peiniger – Józef Kokott – nahmen alle diese Offiziere während des Krieges monatlich an ganztägigen ideologischen Schulungen auf der Grundlage der Nazi-Doktrin teil. Einer der Grundsätze dieser Doktrin war der tiefe Antisemitismus, d. h. die Formung von Judenhass. Die Nazi-Ideologie, die ihnen eingeflößt wurde, ist ihrem Wesen nach auch gott-, christen- und menschenfeindlich.
Direkt verantwortlich für den Mord in Markowa war Leutnant Dieken, der im Jahr 1941 eine gründliche ideologische Ausbildung durchlief und dann zum Kommandeur der Gendarmerie in Łańcut befördert wurde. Im selben Jahr trat er aus der evangelischen Kirche aus, was beweist, dass die antichristliche Erziehung im Geist der nationalsozialistischen Ideologie das angestrebte Resultat erbracht hatte. Es war Dieken, der beschloss, auch die Kinder zu töten.
Zeugenaussagen zufolge schrie der oben erwähnte Józef Kokott, als er die Ulmas tötete: „Schau, wie die polnischen Schweine sterben, die Juden verstecken“, und tötete persönlich drei oder vier Kinder. Für die deutschen Besatzer war es klar, dass ein Pole Katholik war. Und die Familie Ulma war in Markowa für ihre Verbundenheit mit dem katholischen Glauben und der katholischen Tradition bekannt. „All dies zeigt den außergewöhnlichen Hass der deutschen Gendarmerie-Offiziere gegenüber der Familie Ulma als Gläubige. Und dies war der Grund für ihr Martyrium“, betonte Pater Dr. Burda.
Tod für den Glauben
Der dritte Aspekt, der beim Prozess untersucht wird, besteht schließlich darin festzustellen, was das Opfer dazu bewogen hat, bereitwillig den Tod hinzunehmen, der ihm durch den Verfolger zugefügt worden ist. In unserem Fall ging es um die Beantwortung der Frage, was die Ulmas motivierte, acht Juden in ihr Haus aufzunehmen, obwohl sie wussten, dass sie dafür sterben könnten.
Józef und Wiktoria engagierten sich in Kreisen der Pfarrei. Sie waren auch bekannt für ihre Herzlichkeit gegenüber ihren Mitmenschen, insbesondere gegenüber den verfolgten Juden, denen sie selbstlose Hilfe leisteten. Józef war ein intelligenter, belesener Mann. Er hatte zu Hause eine Bibliothek mit 250 Büchern, von denen einige die Landwirtschaft betrafen. Er abonnierte auch Zeitschriften zu diesem Thema. In seinem persönlichen Bibelexemplar hatte er die Worte „Gottes- und Nächstenliebe“ sowie „Barmherziger Samariter“ rot unterstrichen. Wiktoria kümmerte sich um die Kindererziehung, führte den Haushalt und nahm am Leben verschiedener Pfarrgemeinden teil. „Der Prozess hat gezeigt, dass die Motivation, Juden zu helfen, Nächstenliebe war, die aus dem Glauben kam“, erklärte Pater Dr. Burda.
Allerdings stellt sich die Frage, ob die sieben Kinder der Familie Ulma, von denen das älteste erst acht Jahre alt war, aus denselben Werten gelebt haben wie ihre Eltern. Pater Prof. Dr. Zdzisław Kijas OFM Conv vom Dikasterium für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, der im Seligsprechungsprozess der Ulmas „Relator“ war, hat in diesem Punkt keinen Zweifel, auch nicht in Bezug auf das Kind, das im Mutterleib von Wiktoria starb. „Die Kinder nahmen zusammen mit ihren Eltern am Martyrium teil, weil sie zusammen mit den Eltern die Juden versteckt und diese Tatsache niemandem offenbart hatten. Sie partizipierten am Geheimnis ihrer Eltern. So bildeten sie mit ihnen eine Art geistliche Gemeinschaft, sie partizipierten an der Güte ihrer Eltern. So wurden sie gleichsam ‚wie sie‘ und gingen gemeinsam in den Tod“, erläuterte Dr. Kijas.
Das Geheimnis des Ungeborenen
Die Erhebung eines vor der Geburt verstorbenen Kindes zur Ehre der Altäre ist ein einzigartiges Ereignis in der Geschichte der Kirche. „Dies wird der erste Fall der Seligsprechung eines ungeborenen Kindes sein“, betonte Pater Prof. Dr. Kijas. „Dies ist ein absoluter Präzedenzfall. Ich habe noch nie von einer solchen Begebenheit gehört“, sagte der Postulator für den Heiligsprechungsprozess von Johannes Paul II., Dr. Slawomir Oder (am 28. Januar 2023 zum Bischof von Gliwice ernannt). Wenn es einen solchen Fall schon gegeben hätte, wäre er seiner Meinung nach sicherlich bekannt geworden, sei es aber nicht.
Das ungeborene Kind der Familie Ulma war nicht getauft, doch wie Christus selbst sagte (vgl. Joh 3,5), ist die Taufe für die Rettung notwendig. Der Katechismus der Katholischen Kirche besagt jedoch, dass „diejenigen, die für den Glauben sterben, ohne getauft zu sein, durch ihren Tod für Christus getauft werden“. Dies ist die sog. „Bluttaufe“, die „die Früchte der Taufe hervorbringt, ohne ein Sakrament zu sein“. Beim Prozess wurde festgestellt, dass das jüngste Kind die Taufe eben durch Blut empfangen habe.
Einige Tage, nachdem die Ulmas in einer Grube neben ihrer Hütte begraben worden waren, kehrten mehrere Einwohner von Markowa unter dem Schutz der nächtlichen Dunkelheit an diesen Ort zurück, um die Leichen in vier Holzsärge zu legen. Sie mussten es im Verborgenen tun, weil die Deutschen ein striktes Verbot erlassen hatten, Gräber zu verlegen. Trotz der Gefahr gruben sie die Leichen aus, bargen sie in Särge und bestatteten sie wieder. Einer, der an der Umbettung teilgenommen hatte, war Franciszek Szyler. In seinem Zeugnis, das er über dieses Ereignis niedergeschrieben hatte, ist unter anderem folgender Hinweis über Wiktoria zu lesen: „Ich erkannte, dass sie hochschwanger war, weil Kopf und Brust des Babys aus ihrem Mutterleib ragten.“
Bedeutet diese Tatsache, dass die Geburt während der Hinrichtung begonnen hat? Ärzte bezweifeln diese Möglichkeit. „Zeugen der Hinrichtung und der Beerdigung von Wiktorias Leiche hätten gesehen, dass es einen solchen Vorgang gab. Doch niemand hat etwas solches erwähnt. Das Szenario könnte so ausgesehen haben, dass das Baby direkt nach dem Tod der Mutter starb und dass es infolge einer postmortalen Kontraktion zu einem teilweisen Ausstoß aus ihrem Mutterleib kam“, erklärte der Gynäkologe Prof. Bogdan Chazan. Der Genetiker Prof. Ireneusz Sołtyczewski machte auf eine andere Möglichkeit aufmerksam: „Bei Verwesungsprozessen wird der Fötus herausgedrückt und das hat nichts mit einer natürlichen Geburt zu tun, sondern es ist das Ergebnis postmortaler Veränderungen.“
Es ist auch nicht bekannt, in welchem Lebensmonat des Ungeborenen das Martyrium stattgefunden hat. Zeugen sprechen von Wiktorias fortgeschrittener Schwangerschaft, manche interpretieren sie heute als den neunten Monat, andere als den siebten. Natürlich ist auch das Geschlecht des Babys unbekannt. Vielleicht wird es nach der Exhumierung der sterblichen Überreste der zukünftigen Märtyrer und deren kanonischer Anerkennung Antworten auf diese Fragen geben. Das Verfahren der kanonischen Anerkennung ihrer Leichname wird bald auf dem örtlichen Friedhof stattfinden, auf den die Überreste der Familie im Winter 1945 überführt wurden.
Nach fast 80 Jahren ist es jedoch kaum möglich, das Geschlecht oder Alter eines Kindes zu bestimmen, das im Mutterleib gestorben ist. „Das Knochenmaterial eines solchen Babys besteht aus winzigen Partikeln. Die natürlichen Zersetzungsprozesse müssten sie eigentlich zerstört haben. Wenn jedoch etwas vom Knochenmaterial ,überlebt‘ hätte, könnte man das Geschlecht bestimmen, aber nicht das Alter. Wenn von diesem Baby noch etwas übrig wäre, wäre es ein Wunder, obwohl das Leben natürlich viele Überraschungen bietet“, sagte Prof. Ireneusz Sołtyczewski vom Genetik-Labor der Abteilung für Gerichtsmedizin der Medizinischen Universität Warschau. P. Dr. Burda wies darauf hin, dass die Menschen heutzutage alles wissen wollten. Doch manchmal müsse man demütig zugeben, dass etwas ein Geheimnis bleibe.
Als Ergänzung zum Bericht über die Exhumierung der Ulmas ist anzumerken, dass die Überreste der ermordeten Juden 1947 auf dem Hof exhumiert und in die Nekropole im Ort Jagiełła-Niechciałki bei Przeworsk überführt worden sind, wo sie bis heute ruhen.
Gemeinschaft der Heiligen
Józef und Wiktoria Ulma und ihre Kinder Stanisława, Barbara, Władysław, Franciszek, Antoni, Maria und das Ungeborene tragen den Titel „Ehrwürdige Diener Gottes“. Ihre Erhebung zur Ehre der Altäre wird eine offizielle Bestätigung ihrer Heiligkeit und ihres ewigen Heils sein. Prof. Jacek Salij wies darauf hin, dass die Heiligenverehrung viel mehr bedeute, als nur ein Vorbild aufzuzeigen, dem man folgen könne. „Heilige, die bereits das Heil erlangt haben und vollkommen mit Gott vereint sind, sind gleichzeitig besonders auserwählte Glieder unserer Gottesgemeinschaft. Sie beten für uns, denn sie sind Gott bereits unglaublich nahe und buchstäblich von Christus erfüllt“, erklärte er.
Die Seligsprechung der Ulmas wird den Kreis der Heiligen erweitern, an die wir uns um Fürbitte wenden können. Besondere Hoffnungen auf die Fürsprache des jüngsten Kindes der Ulma-Familie ruhen auf Eltern und Angehörigen von Kindern, die vor der Geburt gestorben sind. Die Kinder, die erwartet und geliebt waren, sind meistens noch irgendwie im Leben ihrer Familien präsent. Aber auch diejenigen, die unerwünscht waren und durch Abtreibung getötet wurden, werden nicht vergessen. Denn die Kirche betet für sie und oft leben sie im Bewusstsein der Mütter, die ihnen das Leben genommen haben, als großer Schmerz und Reue. Nach der Seligsprechung des ungeborenen Ulma-Kindes gewinnen diese Eltern einen Fürsprecher im Himmel, auf dessen Fürsprache sie Gott um Gnaden für ihre ungeborenen Kinder bitten können.
Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass sich die Verehrung des ungeborenen Kindes der Familie Ulma so stark entwickelt, dass es zum Schutzpatron der ungeborenen Kinder erklärt wird. Indem die Kirche auch dieses jüngste Kind zur Ehre der Altäre erhebt, betont sie, dass auch ein ungeborenes Kind ein Mensch ist, dem Würde und alle daraus resultierenden Rechte zukommen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Grundlage für eine Kultur des Lebens nach Benedikt XVI.
Nicht verhandelbare ethische Prinzipien
Es wird immer deutlicher, dass in Politik und Gesellschaft ethische Orientierung fehlt. Der Hinweis auf Werte oder Wertegemeinschaften ist nichtssagend, denn wofür stehen diese Werte und wovon leiten sie sich ab? Was fehlt sind unverhandelbare Grundsätze und ethische Prinzipien, an denen sich das Handeln und die Werte einer Kultur messen lassen müssen. Darum geht es in diesem von Prof. Dr. Dr. Ralph Weimann (geb. 1976) verfassten Beitrag. Im Kontext aktueller Geschehnisse zeigt er auf – gestützt auf die Theologie von Papst Benedikt XVI. –, worin diese nicht verhandelbaren Grundsätze bestehen und dass sie unverzichtbar sind für eine Kultur des Lebens. In seinem Artikel fasste Weimann einen Vortrag zusammen, den er im August 2021 auf dem Theologischen Sommerkurs der Gustav-Siewerth-Akademie in Weilheim-Bierbronnen gehalten hatte.[1] Die Tagung befasste sich mit dem weiten Thema Glaube und Vernunft im Denken Benedikts XVI., der damals noch am Leben war. Der Tagungsband ist unter der Herausgeberschaft von Erzbischof Dr. Georg Gänswein als „Ratzinger Studien 23“ beim Pustet Verlag erschienen.
Von Ralph Weimann
Am 24. Juni 2021 hat das Straßburger EU-Parlament sich mit großer Mehrheit für den sogenannten Matić-Bericht entschieden. Worum geht es? Predrag Fred Matić, ein kroatischer Politiker der Sozialdemokratischen Partei und zugehörig zum linken politischen Flügel im Europaparlament, hatte einen weitreichenden Vorstoß im Hinblick auf sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte für Frauen in der EU unternommen. Durch diesen Vorstoß soll Abtreibung zu einem einforderbaren Recht erhoben werden. Die Verweigerung von Abtreibung wird als „eine Verletzung der Menschenrechte und eine Form von auf Gender basierender Gewalt, die das Recht von Frauen und Mädchen auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit, Gleichberechtigung, Nichtdiskriminierung und Gesundheit beeinträchtigt“,[2] gewertet. Abtreibung wurde demzufolge am 24. Juni 2021 in der EU als Menschenrecht legalisiert, und dazu noch mit einer erschreckend großen Zustimmung durch die Politiker: 378 votierten mit Ja und nur 255 mit Nein, bei 42 Enthaltungen.[3] Dahinter steht eine immer mächtigere Abtreibungslobby, u. a. gefördert durch „International Planned Parenthood“ und die „Bill & Melinda Gates Stiftung". [4]
Der Druck auf Ärzte und Mitarbeiter im Gesundheitswesen wird nun übergroß, zumal selbst der Gewissensvorbehalt sowie das Proprium von genuin christlichen Einrichtungen nicht mehr toleriert werden. Gläubige, Ärzte wie Mitarbeiter im Gesundheitswesen, befinden sich zudem in einem weiteren Gewissenskonflikt, der sie vor die Alternative zu stellen scheint: entweder Arbeit oder Glaube. Nach einer auf den kirchenrechtlichen Vorgaben basierenden „Klarstellung zur vorsätzlichen Abtreibung“ der Glaubenskongregation von 2009 ist die formelle Mitwirkung an einer Abtreibung ein schweres Vergehen.
„Die Kirche ahndet dieses Vergehen gegen das menschliche Leben mit der Kirchenstrafe der Exkommunikation. […] Die Kirche will dadurch die Barmherzigkeit nicht einengen; sie zeigt aber mit Nachdruck die Schwere des begangenen Verbrechens und den nicht wiedergutzumachenden Schaden auf, der dem unschuldig getöteten Kind, seinen Eltern und der ganzen Gesellschaft angetan wird."[5]
Viele andere Themen, wie die Legalisierung der Euthanasie,[6] wären in diesem Zusammenhang zu erwähnen, und doch dürfte schon an diesem Punkt deutlich geworden sein, dass ohne unverhandelbare Prinzipien Ethik und Moral jede Grundlage verlieren werden. Schon in den 1970er-Jahren stellte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde (gest. 2019) fest, dass der säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht zu garantieren vermag.[7] Anders ausgedrückt: So weltoffen und fortschrittlich sich eine Regierung auch geben mag, die sich als wertneutral bezeichnet, so gefährlich ist eine solche Haltung. Sind Werte neutral? Stehen sie zur Disposition und damit zur Veränderung? Worauf gründen sie? Wie verhält es sich mit Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“? Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass es eine Neutralität nicht gibt und nicht geben kann, andernfalls wird die Würde des Menschen antastbar.
Zu diesem komplexen und grundlegenden Thema hat Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. wertvolle Überlegungen angestellt, die nicht nur die aktuelle Situation erhellen, die immer mehr auf eine „Diktatur des Relativismus"[8] zusteuert, sondern auch Orientierung bieten und damit einen gangbaren Weg aufzeigen, der in die Zukunft führt. Dazu muss das Haus auf Fels gebaut sein (vgl. Mt 7,24-27), auf jene unverhandelbaren Grundlagen, die zwingend notwendig sind, um ethische Entscheidungen treffen zu können, die der Würde des Menschen gerecht werden.
Die folgenden Ausführungen werden unter anderem auf eine Ansprache von Papst Benedikt Bezug nehmen, die er an die Teilnehmer eines von der „Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) und der europäischen Demokraten“ organisierten Kongresses des Europaparlaments gerichtet hat. Diese 2006 gehaltene Rede[9] gibt gleichsam die Struktur der weiteren Ausführungen vor. So wird in einem ersten Schritt auf einige Schwierigkeiten hingewiesen, die sich mit dem Konzept „Werte“ verbinden, weshalb es vorzuziehen ist, von „unverhandelbaren Prinzipien“ zu sprechen. In einem zweiten Schritt werden jene Fundamente, aus denen sich diese Prinzipien herleiten, näher beleuchtet. Daran anschließend wird das für bioethische Fragen unverhandelbare Prinzip des Lebensschutzes von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod herausgegriffen. So soll exemplarisch gezeigt werden: Unverhandelbare Prinzipien sind unverzichtbar!
1. Schwierigkeiten mit dem Verständnis von „Werten“
In der heutigen Gesellschaft wird oft von „Werten“ gesprochen. Zumeist unterbleibt aber deren genauere Bestimmung. Nicht selten verbirgt sich dahinter ein nebulöses Konglomerat von verschiedenen Meinungen und politischen Interessen. Robert Spaemann hat den Finger auf diese Wunde gelegt, indem er dazu einlud, den zweideutigen Wertbegriff zu vermeiden, zumal es letztlich um einen Streit zwischen Gut und Böse gehe.[10] Das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden.
Auch Joseph Ratzinger hat wiederholt dieses Thema in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gerückt und sich zu jenen Grundlagen geäußert, die für das menschliche Leben konstitutiv sind. Dabei warnte er vor Formen der Mythisierung und Ideologisierung von Werten, die medial als echte Werte erscheinen, aber in Wirklichkeit einseitig und gefährlich sind.[11]
Vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse erweisen sich die Analysen Joseph Ratzingers als prophetisch. Wenn die Freiheit mit Gleichheit umkleidet wird, dann ist es um sie schlecht bestellt. Daher fasst er resümierend zusammen: „Freiheit ohne Wahrheit ist keine Freiheit."[12]
Weder Fortschritt, Wissenschaft noch Freiheit können aus sich heraus Werte und moralische Prinzipien hervorbringen. Wann immer sie dazu erhoben werden, erhalten sie einen mythischen Anstrich und werden zum Prätext, um politische und/oder wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, wobei die Würde des Menschen und grundlegende Rechte nicht selten eingeschränkt werden. Dies zeigt sich deutlich am eingangs erwähnten Beispiel, nach dem Abtreibung als Menschenrecht deklariert wird. Entkoppelt von der Wahrheit des Seins wird ungeborenen Menschen das Lebensrecht abgesprochen, um die „Freiheitsrechte“ von Frauen zu stärken. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, warum Joseph Ratzinger eine „Entmythisierung“ der Begriffe von Wissenschaft und Freiheit forderte. Er führte aus: „Wo Abtreibung als Freiheitsrecht angesehen wird, ist die Freiheit des Einen über das Lebensrecht des Anderen gestellt. Wo Menschenversuche mit Ungeborenen im Namen der Wissenschaft eingefordert werden, ist die Würde des Menschen in den Wehrlosesten geleugnet und getreten."[13] Um derartige Verstöße gegen die unantastbare Würde eines jeden Menschen zu verhindern, braucht es jene nicht verhandelbaren Grundsätze, die als gemeinsames Fundament dienen. Damit werden sich die folgenden Ausführungen beschäftigen.
2. Unverhandelbare Prinzipien
Ethische Entscheidungen haben immer mit Werten zu tun, ihre Grundlage besteht aber in unverhandelbaren Grundsätzen, aus denen die Werte abgeleitet werden. „Prinzip“, vom Lateinischen principium, bedeutet so viel wie Grundsatz, Ursprung und Anfang.
Und genau darauf hat Benedikt XVI. in seiner Ansprache an die Teilnehmer eines vom Europaparlament organisierten Kongresses in Rom Bezug genommen, als er 2006 von „nicht verhandelbaren Grundsätzen“ sprach.[14] Sie sind Ausdruck der christlichen und damit religiösen Wurzeln Europas, die tragischerweise im öffentlichen Diskurs gewöhnlich ausgeklammert werden; darauf wird zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen sein.
Das Gesagte kann mit Hilfe der Analogie zu einem Baum verdeutlicht werden, der für die Gesellschaft steht. Grundsätzlich lässt sich ein Baum durch drei Elemente kennzeichnen, die untrennbar zusammengehören: Wurzeln, Stamm und Blätter. Durch die Wurzeln, die im Hinblick auf die Gesellschaft mit dem religiösen Fundament zu vergleichen sind, bezieht der Baum Nährstoffe, aber mehr noch, er bleibt im Boden verankert und findet Halt. Sobald die Wurzeln absterben oder abgetrennt werden, beginnt sein Sterbeprozess, der einige Zeit dauern kann. Zieht jedoch ein größerer Sturm heran, droht er leicht umzufallen. Der Stamm des Baumes ist vergleichbar mit ethischen Prinzipien, die sich wiederum aus den Wurzeln (religiöses Fundament) speisen. Der Stamm verleiht dem Baum Stärke und Kraft. Je größer er ist, umso schwieriger wird es, dem Baum zu schaden. Eine Gesellschaft braucht ethische Prinzipien; je solider diese sind, umso besser wird eine Gesellschaft mit Schwierigkeiten, Krisen und Herausforderungen zurechtkommen. Und schließlich lassen sich die Blätter mit den konkreten gesellschaftlichen Werten vergleichen. Welche Werte dominieren unsere westliche Gesellschaft? Was wird als erstrebenswert angesehen? Eine aufmerksame Analyse wird zu dem Ergebnis kommen, dass von den christlichen Wurzeln und den sich daraus entwickelnden ethischen Prinzipien keine Konsequenzen mehr gezogen werden.
Diese Analogie erlaubt eine präzise Analyse: „Ein Baum ohne Wurzeln verdorrt…"[15] Benedikt XVI. sieht folglich die Demokratie in Gefahr, wenn sie sich von den christlichen Wurzeln trennt. Denn die Kraft einer Demokratie hängt von den Werten ab, die sie fördert. In seiner Ansprache zitiert Benedikt XVI. die Enzyklika „Evangelium vitae“, in der Papst Johannes Paul II. auf ebendiese Problematik zu sprechen kommt. Er beschreibt eine Gesellschaft, die sich von ihren christlichen Wurzeln getrennt hat und die Unsittlichkeit zur Sittlichkeit erklärt und umgekehrt.
Der Papst aus Polen schrieb in Nr. 70 seines Lehrschreibens: „Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme des ‚Gemeinwohls‘ als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben."[16] Dabei müssen die-se einer objektiven sittlichen Verankerung entsprechen und auf der Wahrheit des Seins gründen, andernfalls würde Demokratie zu einem leeren Wort.[17]
Die katholische Kirche ist Anwalt des Lebens, zumal sie Werkzeug und Zeichen des Heils und damit des ewigen Lebens ist.[18] Auch wenn die Kirche maßgeblich das Konzept der Person- und Menschenwürde entwickelt und es zu allen Zeiten verteidigt hat, so geht es dabei keineswegs um reine Glaubenswahrheiten, sondern um jene Grundlagen, die der menschlichen Natur geradezu eingeschrieben und dadurch der ganzen Menschheit zugänglich sind.[19] Zu diesen Grundlagen zählt Papst Benedikt XVI.:
• „Schutz des Lebens in allen seinen Phasen, vom ersten Augenblick der Empfängnis an bis zum natürlichen Tod;
• Anerkennung und Förderung der natürlichen Familienstruktur – als Lebensgemeinschaft eines Mannes mit einer Frau auf der Grundlage der Ehe – und ihre Verteidigung gegen Versuche, gesetzliche Gleichwertigkeit für Lebensgemeinschaften zu erlangen, die sich radikal von ihr unterscheiden, ihr in Wirklichkeit Schaden zufügen und zu ihrer Destabilisierung beitragen, da sie ihre unersetzliche Rolle in der Gesellschaft verwischen;
• Schutz des Rechtes der Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder."[20]
Ausgehend von diesen Aussagen lässt ein Blick auf die gegenwärtige Situation in Gesellschaft und Politik Ernüchterung aufkommen. Es zeigt sich, dass diese von Papst Benedikt XVI. dargelegten „nicht verhandelbaren Grundsätze“ in großen Teilen der westlichen Welt nicht nur längst verhandelbar geworden sind, sondern oft sogar in ihr Gegenteil verkehrt wurden.
An dieser Stelle kann ich nicht auf alle drei oben genannten unverhandelbaren Prinzipien eingehen, auch wenn es lohnend wäre. Für den Bereich der Bioethik ist der Schutz des Lebens in allen seinen Phasen, von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod, jenes unverhandelbare Prinzip, dem besondere Bedeutung gegeben werden muss, so dass sich die Ausführungen allein diesem Prinzip zuwenden werden.
2.1 Zwischen politischer Utopie und der Wahrheit des Seins
Um zu verstehen, wie Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. dieses unverhandelbare Prinzip des Lebensschutzes begründet, ist es zunächst notwendig, etwas auszuholen. Trotz eines rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritts – es ist beispielsweise möglich, Befruchtungen im Reagenzglas vorzunehmen und Embryonen schon in diesen ersten Stadien des menschlichen Lebens im Hinblick auf Qualitäten, Veranlagungen und Funktionen zu „untersuchen"[21] - hat die moralische Kraft, die notwendig ist, um derartige Prozesse verantwortungsbewusst zu steuern, immer mehr abgenommen. Moral – basierend auf der christlichen Offenbarung – wurde ins Private und Subjektive verdrängt,[22] so dass es zu einer Diskrepanz von moralischer Verantwortung und technischem Können gekommen ist. Als Kompensation für das entstandene Vakuum machte sich ein – wie Joseph Ratzinger ihn nannte – „politischer Moralismus“ breit. Politiker, Lobbys und Medien fordern kontinuierlich Freiheit, Gleichberechtigung, Toleranz etc., unterlassen es aber, diese Begriffe zu definieren, so dass sie zum Spielball einer politisch-parteilichen Willkür werden. Als Konsequenz wird „letztlich die politische Utopie über die Würde des einzelnen Menschen“ gestellt.[23] Kardinal Ratzinger hat dafür zwei Ursachen ausgemacht: 1) eine radikale Emanzipation des Menschen von Gott und damit von den religiösen Wurzeln; 2) die radikale Emanzipation von der Wahrheit des Seins.[24] So kommt es zu einer paradoxen Situation. Was als „Toleranz“, „Freiheit“ und „Gleichberechtigung“ präsentiert wird, ist in Wirklichkeit Ausdruck von Willkür, die diktatorische Züge annehmen kann.
Nach Streichung des Gottesbezugs und seiner Verantwortung vor Gott wird sich der Mensch selber zum Gott; er verfügt und bestimmt über das Leben, auch über das Leben anderer. Dazu wird nicht selten der Relativismus zum dogmatischen Prinzip erhoben, indem andere Meinungen – auch wenn sie in einer fundierten Vernunfterkenntnis gründen – als „eigentlich überwundene Stufe der Menschheit"[25] betrachtet werden. Auf diese Weise wird der jüdisch-christlichen Tradition zusammen mit den darauf gründenden unverhandelbaren Prinzipien die Tür geschlossen. In einem letzten Schritt werden sie gar gesetzlich verboten. Es kommt zur Umkehr aller Werte, denn die Trennung von den Wurzeln verändert alles.
Diese radikale Emanzipation von den tragenden Wurzeln muss überwunden werden, nur so kann es überhaupt ethische Prinzipien geben, die wiederum der Maßstab für den technischen Fortschritt sein müssen. Daher lohnt es sich, an dieser Stelle den Blick auf jene beiden Quellen zu werfen, aus denen sich die unverhandelbaren Prinzipien herleiten.
2.2 Quellen, aus denen sich die unverhandelbaren Prinzipien speisen
Die Prinzipien sind mit dem Licht der Vernunft zu erkennen. Und dennoch wird dieser Ansatz im Licht des Glaubens klarer, denn wer glaubt, sieht, „er sieht mit einem Licht, das die gesamte Wegstrecke erleuchtet, weil es vom auferstandenen Christus her zu uns kommt“.[26]
Charakteristisch für die theologische Methode Joseph Ratzingers ist die Verbindung von fides et ratio, von Glaube und Vernunft. Dabei gilt als Grundnorm die Goldene Regel: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12). Dies lässt sich nur dann einhalten, wenn der Mensch nicht als Mittel oder als Zweck gesehen wird, sondern als Ziel. Dann und nur dann wird verständlich, dass der Mensch sich nicht selber macht, sondern sein Leben als Geschenk empfängt. Daraus entsteht Ethos, die Grundlage und der Maßstab für jede technische Entwicklung.
An diesem Punkt sind die Ausführungen im Zentrum dessen angekommen, wovon alle bioethischen Problemfelder betroffen sind. Die Würde des Menschen und deren Garantie steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem Menschenbild, „das wiederum in einer Beziehung zum Gottesbild steht“.[27] Das zuvor verwendete Bild vom Baum mit dessen unterschiedlichen Facetten bestätigt dies nachdrücklich. Auf diesem Hintergrund ist es dramatisch, dass vor allem das für Europa prägende Christentum bestenfalls in den Bereich des Subjektiven und Privaten verdrängt wird, in den öffentlichen Debatten aber kaum mehr eine Bedeutung erhält. So versiegt die Quelle, aus der sich Ethos und damit die unverhandelbaren Prinzipien herleiten.
Das Ethos wird durch die Technik verdrängt und der Mensch der Technik unterworfen. Joseph Ratzinger spricht gar von einer „Mechanik ohne und letztlich gegen das Ethos“. So werden „mit der Übermacht der technischen Fortschrittsideologie jene großen sittlichen Traditionen zerstört […], auf denen die alten Gesellschaften beruhten“.[28]
3. Schluss und Resümee
An dieser Stelle bedarf es keiner großen prophetischen Fähigkeiten, um abschätzen zu können, wohin der Weg führt. Wenn der Wert und die Würde des menschlichen Lebens kein unverhandelbares Prinzip (mehr) ist, dann wird das Leben verhandelbar. In den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Bioethik erscheint die katholische Kirche immer mehr wie ein einsamer Rufer in der Wüste. Eine Zivilisation des Todes breitet sich aus, die wenig aus der Vergangenheit gelernt zu haben scheint und sich immer mehr von den tragenden Wurzeln entfernt. In seiner feinsinnigen Art hat Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede im Deutschen Bundestag 2011 darauf hingewiesen, dass die Verfälschung des Rechts zur Zerstörung der Gerechtigkeit führt. Dabei führte er das bekannte Augustinus-Zitat an: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande."[29] Diese Gedankengänge des Papstes aus Deutschland spiegelten jene Ideen wider, die er bereits 1991 zu Papier gebracht hatte, als er die Frage stellte, was den Staat von einer gut geführten Räuberbande unterscheidet. In seinen ausführlichen Erklärungen bezog er fast die ganze abendländische Tradition ein.
Er kam zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen einer Großgruppe von Räubern und einem wirklichen Staat darin bestehe, dass es Räubergemeinschaften zu eigen sei, sich bloß auf pragmatische, gruppenbestimmte und damit parteiliche Maßstäbe zu berufen, die sie selbst festlegen. Ein Staat hingegen zeichne sich dadurch aus, dass es universale Maßstäbe gibt (ethische Prinzipien), die dem Gruppeninteresse entzogen sind und die Gerechtigkeit konstituieren. Dies schließe notwendigerweise Schöpfer und Schöpfung als Orientierungspunkte ein. Seine Schlussfolgerungen schließen die in diesem Beitrag dargelegten Ausführungen ab und fassen sie zusammen:
„Das bedeutet, dass ein grundsätzlich Gott gegenüber agnostischer Staat, der Recht nur noch auf Mehrheitsmeinungen aufbaut, von innen her zur Räubergruppe absinkt. Darin muss man Augustins abschließender Interpretation der platonischen Tradition einfach Recht geben: Wo Gott ausgeschlossen wird, ist das Prinzip Räuberbande – in unterschiedlich krassen oder gemilderten Formen – gegeben. Das beginnt sichtbar zu werden dort, wo das geordnete Umbringen unschuldiger Menschen – Ungeborener – mit dem Schein des Rechtes umkleidet wird, weil es die Deckung des Interesses einer Mehrheit hinter sich hat."[30]
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] In ausführlicherer Form veröffentlicht in: Ralph Weimann: Unverhandelbare Prinzipien und bioethische Herausforderungen aus der Perspektive Joseph Ratzingers/Benedikt XVI., in: Georg Gänswein (Hg.): Fides et ratio im Denken und Wirken Benedikts XVI., Ratzinger Studien 23, Regensburg 2022, 122-138.
[2] European Parliament, P9_TA(2021)0314: Sexual and reproductive health and rights in the EU, in the frame of women’s health, European Parliament resolution of 24 June 2021, www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2021-0314_EN.pdf (Stand: 3. September 2022), V.
[3] Vgl. Europäisches Parlament: Allgemeinen Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit sicherstellen, 24. Juni 2021, www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20210621IPR06637/allgemeinen-zugang-zu-sexueller-und-reproduktiver-gesundheit-sicherstellen (Stand: 13. März 2023).
[4] Stephan Baier hat gezeigt, dass 556 Abgeordnete des Europaparlaments und damit die große Mehrheit diesem Netzwerk angehören. Vgl. Stephan Baier: Gewonnen hat die Abtreibungslobby, in: Die Tagespost, 1. Juli 2021, 25
[5] Kongregation für die Glaubenslehre: Klarstellung zur vorsätzlichen Abtreibung, 11. Juli 2009, www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20090711_aborto-procurato_ge.html (Stand: 13. März 2023).
[6] Am 25. Juni 2021 hat Spanien aktive Sterbehilfe legalisiert. Vgl. dazu Reinhard Spiegelhauer: Ein selbstbestimmter Tod – mit Gegnern, 25. Juni 2021, www.tagesschau.de/ausland/europa/spanien-sterbehilfe-103.html (Stand: 24. November 2021). Auch in Spanien wird massiver Druck auf diejenigen Ärzte ausgeübt, die nicht bereit sind, das neue Gesetz anzuwenden. Die spanische Ärztekammer sieht die Gewissensfreiheit bedroht, Ärzte sollen auf Euthanasie verpflichtet werden. Vgl. dazu IMABE: Spanien: Staat verlangt Registrierung von Ärzten, die Sterbehilfe ablehnen, 1. Juli 2021, www.imabe.org/bioethikaktuell/einzelansicht/spanien-staat-verlangt-registrierung-von-aerzten-die-sterbehilfe-ablehnen (Stand: 3. März 2023)
[7] Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Berlin 1976, 60. Joseph Ratzinger teilt diese Einschätzung, wenn er feststellt: „[D]ie völlige religiöse Neutralität des Staates ist in den meisten historischen Kontexten als Illusion anzusehen.“ Joseph Ratzinger: Europa in der Krise der Kulturen, in: JRGS 3/2, 765-777, hier 771.
[8] Joseph Ratzinger: Heilige Messe Pro Eligendo Romano Pontifice, in: VApS 168, Bonn 2005, 12-16, hier 14.
[9] Vgl. Benedikt XVI.: Einschreiten für Schutz und Förderung der Würde des Menschen, 30. März 2006, in: OR 15/16 (2006) 11.
[10] Vgl. Robert Spaemann: Gibt es einen Wertewandel?, in: Brun-Hagen Hennerkes/George Augustin (Hg.): Wertewandel mitgestalten. Gut handeln in Gesellschaft und Wirtschaft, Freiburg i. Br. 32012, 40-53, bes. 53.
[11] Vgl. Joseph Ratzinger: Verändern oder erhalten? Politische Visionen und Praxis der Politik, in: JRGS 3/2, 867-883, hier 879.
[12] Joseph Ratzinger: Einheit und Vielfalt der Religionen. Der Ort des christlichen Glaubens in der Religionsgeschichte, in: JRGS 3/1, 307-523, 510.
[13] Joseph Ratzinger: Verändern oder erhalten? Politische Visionen und Praxis der Politik, in: JRGS 3/2, 867-883, hier 882.
[14] Vgl. Benedikt XVI.: Einschreiten für Schutz, 11.
[15] Joseph Ratzinger: Europa in der Krise der Kulturen, 773.
[16] Johannes Paul II.: Enzyklika „Evangelium vitae“, in: VApS 120, Bonn 1995, 70.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. Lumen gentium 1.
[19] Vgl. Benedikt XVI.: Einschreiten für Schutz, 11.
[20] Ebd.
[21] Dies wird besonders deutlich in der sogenannten Präimplantationsdiagnostik. Vgl. dazu Ralph Weimann: Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft. Ethische Probleme der PID, Paderborn 2015.
[22] Dazu schrieb Kardinal Ratzinger: „So ist auch die Ablehnung des Gottesbezugs nicht Ausdruck von Toleranz, die die nicht-theistischen Religionen und die Würde von Atheisten und Agnostikern schützen will, sondern wiederum Ausdruck eines Bewusstseins, das Gott endgültig aus dem öffentlichen Leben der Menschheit gestrichen und ins Subjektive weiterbestehender Kulturen der Vergangenheit verwiesen sehen möchte.“ Ratzinger: Europa in der Krise der Kulturen, 774.
[23] Ebd., 773.
[24] Egl. ebd.
[25] Ebd., 774.
[26] Franziskus: Enzyklika „Lumen fidei“, in: VApS 193, Bonn 2013, 1.
[27] Ralph Weimann: Bioethik in einer säkularisierten Gesellschaft. Ethische Probleme der PID, Paderborn 2015, 60.
[28] Joseph Ratzinger: Europa – Hoffnungen und Gefahren, in: JRGS 3/2, 646-666, hier 655.
[29] So zitiert in Benedikt XVI.: Ansprache im Deutschen Bundestag, in: VApS 189, Bonn 2011, 30-38, hier 31.
[30] Joseph Ratzinger: Europa – Hoffnungen und Gefahren, in: JRGS 3/2, 646-666, hier 658 f.
Das Vermächtnis Benedikts XVI. könnte für die Erneuerung der Kirche entscheidend sein
Missionarische Dynamik eines Pontifikats
Der Ratzinger-Schüler Professor Dr. Stephan Otto Horn (geb. 1934) arbeitet im zweiten Teil seiner Ausführungen über das Erbe Benedikts XVI. vor allem dessen spirituelles Vermächtnis heraus. Er zeigt auf, wie sehr der verstorbene Papst in seiner persönlichen Christusbeziehung vom Zeugnis des hl. Apostels Paulus geprägt war. Durchdrungen vom Geist der Hingabe habe er die Verbundenheit mit dem Herrn vor allem im Leiden erfahren. Und Prof. Horn kommt zu dem Schluss: „Vielleicht ist gerade die mystische Verbundenheit mit dem Herrn und seiner Kirche in Augenblicken von Widerspruch, Verfolgung und Verleumdung eine Erfahrung, die zum Erbe gehört, das Papst Benedikt uns hinterlassen hat und das uns und der ganzen Kirche helfen kann, den Weg in die Zukunft zu finden.“
Von Stephan Otto Horn SDS
Im ersten Teil haben wir vor allem zwei große Herausforderungen in den Blick genommen, die das Leben von Joseph Ratzinger bestimmt haben, nämlich sein Wirken als Konzilstheologe und als Theologieprofessor. Von da aus können wir uns nun die Frage stellen: Aus welchen Quellen schöpfte er selber? Was bewegte ihn zuinnerst?
Der Glaube seiner heiligmäßigen Eltern hat ihn tief geprägt
Wer das Buch seines Bruders Georg „Mein Bruder, der Papst“ gelesen hat, wird gesehen haben, wie tief ihn der Glaube geprägt hat, den er in seiner Familie erlebt hat. In seinem Vater hat er die Tapferkeit sehen können, die ihm der christliche Glaube angesichts der nazistischen Ideologie verliehen hat, sodass er unbeirrbar und klar seinen Weg gehen konnte. An der gemütstiefen Mutter hat er die Güte und Freude, aber auch die Tapferkeit im Leiden und Sterben sehen können, die aus dem Glauben erwachsen kann. So bezeugt sein Bruder Georg von den Eltern: „An sie hat er zuerst gedacht, wenn er später von den Heiligen des Alltags gesprochen hat. So konnte er eines Tages schreiben: Ich wüsste keinen überzeugenderen Glaubensbeweis als eben die reine und lautere Menschlichkeit, in die der Glaube meine Eltern und so viele andere Menschen, denen ich begegnen durfte, hat reifen lassen“ (Aus meinem Leben. Erinnerungen, S. 133). Joseph Ratzinger/Papst Benedikt lehrt uns, dass eine Erneuerung des Glaubens in unserer Heimat, die weithin heidnisch geworden ist, neue katechetische Anstrengungen braucht, ohne die die Taufe unfruchtbar bleibt und also nicht zu einer tiefen Entscheidung für Christus und die Kirche führt, zu einem Glauben, der die Familien durchdringt und der auf die Gesellschaft ausstrahlt.
Begegnungen mit großen Theologen wiesen ihm die Richtung
Wer waren aber neben seinen Eltern die vielen anderen Menschen, an die der damalige Kardinal in diesem Augenblick denken mochte? Eine besondere Nähe hat er gewiss zu Heinrich Schlier gehabt, dem großen Exegeten, der sich der Nazi-Ideologie entgegengestellt hatte und der mit seiner Konversion eine innere Wende besiegelt hat. Dann können wir an Romano Guardini denken, dessen großes Werk „Der Herr“ ihn wohl zu seiner Jesus-Trilogie ermutigt hat, oder Hans Urs von Balthasar. In der Zeit des Konzils wurden ihm neue, unerwartete Begegnungen geschenkt „mit so großen Menschen wie Henri de Lubac, Jean Daniélou, Yves Congar, Gérard Philips“ (Aus meinem Leben, 101). Man könnte fortfahren mit Anregungen, die er empfangen hat durch Begegnungen und Freundschaften mit orthodoxen Studenten und Theologen und von evangelischen Kollegen – Männern und Frauen, geistlichen Gestalten, die sich aus der Fülle des Glaubens und mit ihren Charismen den Anforderungen der Zeit gestellt haben.
Paulus wurde zur entscheidenden Quelle seiner Spiritualität
Aber in einzigartiger Weise verdankt er doch seine Spiritualität dem Apostel Paulus, die er auch als Papst den Gläubigen nahebringen wollte. Dessen Wort „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ hat ihn gelehrt, den Glauben geradezu als „Subjektwechsel“ zu bezeichnen. „Ich lebe im Glauben, dass Christus mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“ Die Einheit mit dem Herrn, die Freundschaft, die er uns schenkt, war für Joseph Ratzinger/Papst Benedikt die innerste Mitte seiner Spiritualität: einer Spiritualität der Einheit, der Liebe. Man könnte auch sagen: einer Mystik der Begegnung und Einung mit dem Herrn in Taufe und Eucharistie, aber gleichzeitig auch im Alltag und im Leiden für das Evangelium. So ist seine Frömmigkeit zuallererst die ständige persönliche Beziehung zu Christus, die schließlich einmündet in das letzte Wort in seinem irdischen Leben: „Herr, ich liebe dich“.
Er verstand die Kirche als Leib Christi ganz von der Eucharistie her
Wenn er diese Einung mit Christus als Subjektwechsel beschreiben konnte, so hat er wie der Apostel Paulus an Christus und seinen Leib, die Kirche, gedacht. Das führt uns zu einer weiteren Dimension seiner Spiritualität: der Liebe zur Kirche als Leib Christi und zu einem für uns zunächst eher ungewohnten Verständnis der Eucharistie. Sie ist für ihn die Mitte der Kirche: In ihr ist Christus gegenwärtig, der Gekreuzigte und Auferstandene. Sich als Gläubiger von seiner Liebe beschenken zu lassen und sich ihm anzuvertrauen, verbindet uns mit dem Herrn so tief, dass wir zu seinem Leib gehören und so in ihm auch miteinander ganz tief verbunden werden. So versteht er demnach die Kirche ganz von der Eucharistie her.
Dementsprechend bedeutet für ihn das Wort von der „tätigen“ Mitfeier der Eucharistie nicht so sehr äußere Aktivität, sondern vor allem ein Sich-Öffnen für den Herrn und damit für alle, die zu ihm gehören. Durch die Liebe des gekreuzigten Herrn wird das Herz der Gläubigen von innen her erneuert. So wird die Kirche aus seiner Seitenwunde neu geboren. Diese beglückende Erfahrung kann uns Christen innerlich verwandeln und uns für den Nächsten öffnen.
In den Heiligen fand er geistliche Freunde und Stärkung im Leid
Daraus kann in uns auch die Zuversicht für die Zukunft der Kirche erwachsen und damit auch die Hoffnung, dass auch heute aus der Kirche der Sünder eine Kirche der Heiligen werden kann. Aus dem inneren Reichtum der Kirche hat Joseph Ratzinger schon früh, aber auch gerade als Kardinal und dann als Papst gelebt, aus ihm hat er geschöpft. In den Heiligen hat er geistliche Freunde gefunden, die er kennengelernt hat in der Vielfalt ihrer Berufung und ihrer Gnadengaben, in ihrer tapferen Hingabe. Seine Mittwochskatechesen zeigen uns, wie viele der Frauen und Männer in der Kirche er zu seinen Freunden gemacht hat, und wie sehr er an ihnen den unerschöpflichen Reichtum der Gaben des Heiligen Geistes entdeckt hat. Aus ihrem Leben in der Nachfolge des Herrn, in ihrem Einsatz für das Evangelium und für die Leidenden erwuchs ihm die Überzeugung, dass den Gläubigen eine mystische Glaubenserfahrung geschenkt werden kann: die Erfahrung, in der Hingabe und im Leiden mit dem Herrn ganz eng verbunden zu sein und so mit ihm gerade in der Schwäche vielen Menschen die Liebe Gottes erfahrbar machen zu dürfen. Vielleicht ist gerade die mystische Verbundenheit mit dem Herrn und seiner Kirche in Augenblicken von Widerspruch, Verfolgung und Verleumdung eine Erfahrung, die zum Erbe gehört, das Papst Benedikt uns hinterlassen hat und das uns und der ganzen Kirche helfen kann, den Weg in die Zukunft zu finden.
Sein Vermächtnis könnte uns zur richtigen Unterscheidung der Geister führen
So stellt sich uns schließlich die Frage: Wird das Sterben und der Tod von Papst Benedikt dazu führen, dass wir sein theologisches und geistliches Testament neu und tiefer entdecken? Wird seine missionarische Dynamik uns neu entzünden? Wird seine Weitsicht uns zur Unterscheidung der Geister führen in einer Zeit der Verwirrung und der Glaubensfinsternis? Für die Kirche in unseren Ländern könnte das in diesem dramatischen Augenblick entscheidend sein, wo die Aufmerksamkeit sich oft zu sehr auf eine Erneuerung der Strukturen richtet. Denn allein die Freundschaft mit dem Herrn wird uns eine so große Glaubensfreude, eine so tiefe Geschwisterlichkeit, eine so große Demut und Hingabe schenken, dass wir unsere Berufungen gegenseitig anerkennen und tiefer entdecken.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Erfahrungen des Moskauer Erzbischofs mit Benedikt XVI.
Ein wahrer Enthusiast für Christus und das Christentum
Der Moskauer Erzbischof Paolo Pezzi hat Joseph Kardinal Ratzinger Ende der 1980er Jahre kennengelernt. Er war damals Seminarist in der jungen „Priesterbruderschaft der Missionare des heiligen Karl Borromäus“, welche 1985 aus der Bewegung „Comunione e Liberazione“ (Gemeinschaft und Befreiung) hervorgegangen war. Erzbischof Pezzi erinnert sich an den engen Kontakt, den Kardinal Ratzinger mit der Bewegung pflegte. Auch nach seiner Wahl zum Papst blieb Benedikt XVI. mit der Gemeinschaft verbunden, die der Mailänder Priester Luigi Giussani 1954 ins Leben gerufen hatte. Von Benedikt XVI. wurde Pezzi 2007 auch zum Erzbischof des Erzbistums der Mutter Gottes von Moskau ernannt. Im verstorbenen Papst sieht er einen der herausragendsten Theologen unserer Zeit, der den Titel „Mozart der Theologie“ durchaus verdient habe. Nachfolgend ein aus dem Russischen übersetzter und für „Kirche heute“ bearbeiteter Auszug aus einem Gespräch von Anastasia Bosio mit dem Moskauer Metropolitan-Erzbischof Pezzi.
Von Erzbischof Paolo Pezzi
Joseph Kardinal Ratzinger fanden während meines Studiums am Priesterseminar der Bruderschaft des heiligen Karl Borromäus in Rom statt.
Der damalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre traf sich etwa einmal im Monat abends mit einigen Theologen der Bewegung „Comunione e Liberazione“. Sie diskutierten über Themen, die im Zusammenhang mit dem Leben, der Ausbildung und theologischen Texten der Bewegung standen. Ihr Gründer, der Mailänder Priester Luigi Giussani, bat Joseph Ratzinger immer um dessen Meinung zu Texten, die ihm wichtig waren. Kardinal Ratzinger las sie gerne und gab Kommentare dazu ab.
Für uns Seminaristen war es sehr interessant, etwas von dem mitzubekommen, was der Kardinal ausführte. Wir sahen in ihm einen herausragenden Theologen. Ich erinnere mich, wie begierig wir einen damals seltenen Film über eine Begegnung in Deutschland in den 60er oder 70er Jahren anschauten, an der Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar teilnahmen. Moderator des Gesprächs war Joseph Ratzinger. Es war eine sehr interessante Diskussion über neue Richtungen in der Theologie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Und es war erstaunlich, wie Ratzinger die Aussagen dieser beiden Redner zusammenfasste, so klar und tief, dass alle applaudierten. Für uns Seminaristen war er eine Autorität, gerade wenn es um theologische Grundlagen oder Fundamentaltheologie ging.
Seine „Einführung in das Christentum“ war für uns ein sehr wichtiger Text, natürlich auch seine Schriften über den hl. Augustinus und den hl. Bonaventura sowie seine Werke zur Ekklesiologie. Ich halte sie bis heute für grundlegend.
Er konnte komplizierte Zusammenhänge einfach erklären
Joseph Ratzinger wird oft als „Mozart der Theologie“ bezeichnet. Er gilt als einer der größten Theologen seiner Zeit. Ich denke, dass er das verdient hat. Er war ein sehr bescheidener Mensch, der es verstand, aus jedem Dialog etwas zu lernen. Und jemand, der noch mit 90 Jahren weiterhin gelesen und studiert hat, ist selbst für die Kirche eine große Seltenheit.
Trotz all seiner Gelehrsamkeit sind seine Werke wie „Einführung in das Christentum“ oder „Jesus von Nazareth“ sehr zugänglich geschrieben. Die Schlichtheit und gleichzeitig die Tiefe seiner Sprache sind mir besonders bei seinen Predigten und Mittwochskatechesen aufgefallen, die er als Papst gehalten hat.
Ich erinnere mich an zwei Ereignisse. Das erste war, als er im Jahr 2000 oder 2001 die Priesterweihe von drei Mitgliedern der Bruderschaft des hl. Karl Borromäus vornahm. Ohne jede Vorbereitung hielt er in perfektem Italienisch eine großartige Predigt. In ihr leuchtete die ganze Tiefe, der ganze Reichtum seiner Erfahrung auf. Klar und einfach sprach er über das Priestertum.
Das zweite war die Predigt bei der Beerdigung von Luigi Giussani. Kardinal Ratzinger wurde im letzten Moment darum gebeten, und wieder hielt er eine Ansprache ohne ein Manuskript vor Augen, eine wunderbare, einfache und tiefgründige Predigt.
Herausforderung nach dem großen Papst Johannes Paul II.
Als Nachfolger des außergewöhnlichen Papstes Johannes Paul II. versuchte Benedikt XVI. von Anfang an, ganz er selbst zu sein. Dies sei der einzige Weg, um der neuen Herausforderung gerecht werden zu können, so sagte er einmal selbst zu Beginn seines Pontifikats. Und dazu braucht man tiefste Demut. Denn nur ein demütiger Mensch, der sich bewusst ist, dass er ständig unter dem Blick und Schutz Gottes steht, kann der Versuchung widerstehen, Menschen gefallen zu wollen, jemanden nachzuahmen oder danach zu streben, etwas Neues zu sagen oder zu tun. Das sind große Versuchungen für uns alle. Damit wir ganz wir selbst sein können, müssen wir nicht so sehr unsere Grenzen erkennen, sondern genau das, wozu uns Gott für die Umsetzung seines Plans erwählt hat. So können wir gerade durch unsere Grenzen zum Aufbau der Zivilisation, zum Aufbau der Kirche beitragen.
In den letzten 10 bis12 Jahren bin ich Benedikt XVI. wirklich oft begegnet. Und fast bei jedem Treffen habe ich mich an den Vers aus einem Marienlied erinnert: „Du hast auf die Niedrigkeit Deiner Magd geschaut …“ Joseph Ratzinger war sich seiner Grenzen wohl bewusst. Und so war seine Entscheidung, auf das Pontifikat zu verzichten, nicht verwunderlich, sondern absolut demütig, der Höhepunkt seiner Demut. Er verstand es als Gottes Plan, der von ihm verlangte, dass er sich in diesem Augenblick ein wenig bewegte, zur Seite trat.
Auch für mich war der Amtsverzicht ein Schock. Als ich angerufen wurde und davon erfuhr, sagte ich: „Nein, das ist unmöglich.“ Ich öffnete im Internet die Seite des Vatikans. Tatsächlich erklärte Lombardi, selbst zutiefst erschüttert, der Presse und den Gläubigen, was gerade vor sich ging. Der Papst hatte den Kardinälen im Konsistorium seine Entscheidung verkündet, allerdings in lateinischer Sprache, sodass auch nicht jeder sofort verstand, wovon er sprach. Aber als sie das Wort „Resignation“ hörten, wurde es allen klar. Ja, es war ein Schock.
Ich begann darüber nachzudenken, warum er eine so ungewöhnliche Entscheidung getroffen hatte. Und ich verhehle nicht, dass meine Gedanken zunächst düster waren, als hätte ihn der Teufel oder eine andere Macht dazu gezwungen. Aber die Hölle wird die Kirche nicht besiegen. Eine solche Entscheidung kann nicht die Frucht eines teuflischen Einflusses sein. Was dann? Und so erinnerte ich mich an seine Demut und dachte, vielleicht ist das wirklich ein Mann Gottes, der erkannt hat, dass er diesen Dienst nicht mehr erfüllen kann. Und schließlich steht nirgends geschrieben, dass der Papst bis zum letzten Atemzug im Amt bleiben muss. Ich denke, dass das, was in einem Interviewbuch von ihm geschrieben steht, die anschaulichste, einfachste und durchdachteste Antwort ist. Es war nicht die Frucht eines depressiven Zustands, es war die Entscheidung eines Mannes Gottes, der in der Tiefe seines Gewissens versteht, dass Gott etwas anderes von ihm verlangt.
Priestertum war für ihn Erwählung Christi
Benedikt XVI. hatte immer einen sehr tiefen Respekt vor dem Priestertum und in diesem Sinn vor der Hierarchie. Es war eine durch und durch evangeliumsgemäße Achtung, tief begründet in der Heiligen Schrift und den Dokumenten der Kirche. Diese klare und feste Grundlage ermöglichte es ihm, im Gespräch mit Bischöfen und Priestern sehr direkt zu sein. Ihm war immer bewusst, dass vor ihm das Priestertum steht, das heißt die Erwählung Christi. Dadurch konnte er auch unangenehme Dinge direkt sagen. Es waren manchmal sehr harte Worte, aber mit Demut ausgesprochen. Ich fühlte in ihnen den Ruf, das Priestertum zu achten. Denken wir nur an den rührenden, aber harten Brief, den er an die Bischöfe von Irland gerichtet hat, nachdem die Missbrauchsskandale durch Priester aufgedeckt worden waren, oder an seine Tränen bei einem Treffen mit Gewaltopfern! Es tat ihm wirklich weh, dass ein Priester so etwas tun konnte.
Bei den Ad-limina-Besuchen hat jeder Papst seinen eigenen Stil. Benedikt und Franziskus unterscheiden sich darin radikal. Franziskus trifft sich mit den Bischöfen nicht einzeln, sondern sofort mit allen Bischöfen einer bestimmten Bischofskonferenz gemeinsam, oder, wenn die Konferenz zu groß ist, in Gruppen. Bei Papst Benedikt war das anders. Zuerst gab es offizielle Momente. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz verlas seinen Bericht, während der Papst zuhörte. Danach gab er seine Schlussfolgerung, seine Anweisung. Das andere aber war ein Treffen mit dem Papst, bei dem jeder der Bischöfe einzeln mit ihm sprechen konnte. In unserem Fall waren diese Gespräche relativ lang, da wir nur zu viert waren und jeder 40 bis 50 Minuten Zeit hatte. Diese Gespräche werden mir für immer in Erinnerung, in meinem Herzen bleiben. Ich war zutiefst überrascht von seiner Bereitschaft und Fähigkeit, mir zuzuhören und sich von dem, was er hörte, überraschen zu lassen, sehr spezifische Fragen zu stellen, und auch von seiner Bereitschaft, meine Fragen absolut demütig zu beantworten.
Ein echter Enthusiast für Christus und das Christentum
Es ist wahr, dass Benedikt die lateinische Sprache besonders geliebt hat. Aber das hatte seine Gründe. Erstens schrieben in dieser Sprache diejenigen Kirchenväter, die den größten Einfluss auf ihn hatten, vor allem der heilige Augustinus. So betrachtete er Latein als eine gute Möglichkeit, die Wahrheit des Glaubens der Kirche sowohl liturgisch als auch theologisch auszudrücken. Zweitens nahm Benedikt XVI. die Person Christi nie ohne Bezug zur gesamten Kirchengeschichte wahr. Und die lateinische Sprache bleibt immer noch grundlegend, um die Bedeutung bestimmter Ereignisse und Gebete zu erfassen.
Benedikt XVI. lässt sich jedoch nicht in Kategorien wie konservativ oder progressiv einordnen. Vergessen wir nicht, dass er sich als Progressiver auf den Weg zum Zweiten Vatikanischen Konzil machte, während man später versuchte, ihn in die konservative Ecke zu stellen! Diejenigen Persönlichkeiten aber ziehen am meisten an, die schwer einer bestimmten Richtung zuzuordnen sind. Und Ratzinger ließ sich nicht in irgendeinen vorgefertigten Rahmen stecken. Er war schlicht ein echter Enthusiast für Christus und das Christentum.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. – ein Kirchenlehrer?
Ein reifes Urteil braucht Zeit
Dass Benedikt XVI. ein herausragender Theologe war, ist unbestritten. Gleich nach seinem Tod wurde sogar der Ruf laut, ihn zum Kirchenlehrer zu ernennen. Auf diese Forderung geht Professor Dr. Roman Siebenrock (geb. 1957) in seinem Beitrag ein. Er gibt zu bedenken, dass sich die Kirche in dieser Frage immer sehr viel Zeit gelassen hat, um zu einem reifen Urteil zu gelangen. Der Artikel geht auf die Bedeutung dieses Titels ein und vermittelt einen interessanten Überblick über die 37 Personen, welche die Kirche bisher damit ausgezeichnet hat. Siebenrock war von 2006 bis 2022 Dogmatikprofessor an der Universität Innsbruck.
Von Roman Siebenrock
Kaum war Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. gestorben, erhoben sich Stimmen, ihn selig zu sprechen und zum Kirchenlehrer zu erheben. Ich bin ein konservativ-skeptischer Beobachter der seltsamen Ereignisse und Wortmeldungen, die vor und nach seiner Beerdigung zu hören waren. Ich erinnere mich daran, dass bis Johannes Paul II. eine kluge Regel von Papst Urban VIII. (1623-1644) in Kraft war. Von Heiligsprechung sollte erst 50 Jahre nach dem Tod die Rede sein. Zu durchsichtig erschienen mir die kirchenpolitischen Manöver und würdelosen Tricks, um die eigenen kirchenpolitischen Optionen durchzusetzen.
Dass der Verstorbene ein überragender Theologe und ein bemerkenswerter Gelehrter auf der Kathedra Petri war, steht für mich fest. Seine Bedeutung für das Zweite Vatikanische Konzil steht ebenso außer Zweifel, wie die Tatsache, dass auch säkulare Persönlichkeiten das Gespräch mit ihm suchten. Welcher Papst sah zudem in den letzten Jahrhunderten eine wesentliche Aufgabe seines Dienstes darin, in einem umfangreichen Werk, seine Suche nach dem Antlitz Christi der Öffentlichkeit anzuvertrauen? Und welcher Papst hat dieses persönliche Zeugnis mit einem Doppelnamen zur Diskussion gestellt; und damit sich ausgesetzt? Dadurch hat er unterstrichen, was die Aufgabe und Sendung der Kirche immer sein muss: wie Johannes der Täufer auf den Herrn zu weisen und dabei bis in die institutionellen Konsequenzen das Bekenntnis des Täufers zu realisieren: Er muss zunehmen, ich abnehmen (Joh 1,32.36; 3, 30). Dass der Theologenpapst diese Aufgabe auch durch seinen Rücktritt ratifiziert hat, wird nie mehr vergessen werden. Amt ist Dienst, Dienst am Leben der Kirche und aller Menschen.
Sollte also Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. zum Kirchenlehrer erhoben werden? „Das Zeug dazu“ ist meiner Ansicht nach durchaus gegeben; auch weil er kontrovers diskutiert wurde. Auch Thomas von Aquin war und blieb höchst umstritten.
Was zeichnet einen Kirchenlehrer aus? Rechtgläubigkeit, herausragende Lehre und ein hoher Grad an Heiligkeit sind die amtlichen Kriterien (Pastor bonus, 1988, Art 73). Und nur zur Erinnerung: Irrtum in der Lehre ist dabei nicht ausgeschlossen.
Es ist aber nicht zu vergessen, dass eine plötzliche Ernennung zum Kirchenlehrer, zumal von amtlichen Personen, noch nie geschehen ist. 1295 hat Bonifaz VIII. erstmals den Titel verliehen. Heute werden 37 Personen gezählt. Die sogenannten westlichen Kirchenlehrer sind in vielen Kirchen zu sehen: Hieronymus, Papst Gregor der Große; Augustinus und Ambrosius. Also nach mehr als 600 Jahren wurde diese Liste fixiert. Thomas von Aquin kam unter Papst Pius V. 1567 zu diesen Ehren, zusammen mit den sogenannten östlichen Kirchenlehrern: Athanasius, Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomos. Auch bei den weiteren Ernennungen ist ein ziemlicher Abstand zwischen Tod und Ernennung festzustellen.
Es war, wie so oft, Johannes Paul II., der Geschwindigkeit vorlegte: 1997 nahm er Therese von Lisieux als 33. Person in diese Ehrenreihe auf, schon 100 Jahre nach ihrem Tod. Benedikt XVI. hatte Hildegard von Bingen 2012 ernannt, und mit ähnlich langem Abstand zwischen Tod und Ernennung Papst Franziskus 2015 Gregor von Narek aus der armenischen Kirche. Als erste Frau verlieh Papst Paul VI. 1970 Teresa von Avila diesen Titel. Im gleichen Jahr wurde auch Caterina von Siena ernannt.
Wir merken, die Liste ist sehr bunt, Päpste in der Minderheit, eine Heiligsprechung ist nicht Voraussetzung und umstritten waren manche von ihnen. Nicht nur versierte Theologen und Theologinnen werden ernannt, sondern auch Mystik, Spiritualität oder ein besonderes Gotteszeugnis auch im praktischen Bereich spielen eine Rolle. Der zeitliche Abstand ermöglicht eine Prüfung und eine Ernennung ohne in billige Kontroversen zu verfallen. Nicht alle können für alle wichtig sein. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. wäre erst der dritte Papst, nach Leo dem Großen (400-461) und Gregor dem Großen (540-604).
Kann ich mir vorstellen, dass der Papst aus Bayern einmal zum Kirchenlehrer ernannt werden wird? Nun, wie gesagt, das Zeug dazu hätte er. 100 Jahre sollte sich die Kirche mindestens mit der Entscheidung jedoch Zeit lassen. Nur in und mit der Zeit reift ihr Urteil. Dann aber kann ich mir vorstellen, dass auch John Henry Newman, Yves Congar OP, Henry de Lubac SJ und Karl Rahner SJ als Kandidaten ins Licht treten werden. Vor allem aber wäre eine solche Ernennung in 100 Jahren nur dann sinnvoll und fruchtbar, wenn im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils auch Dorothy Day, Madeleine Delbrêl und Teresa von Kalkutta in Betracht kommen könnten. Und wer weiß, welche Gaben der Heilige Geist jetzt schon ausgegossen hat, die erst die kommenden Generationen würdigen können.
Die Kirche tut gut daran, die Weite dieser Galerie nicht kurzfristigen Interessen zu opfern. Auch hier gilt das urkatholische Prinzip: et – et, sowohl als auch, nicht: dieser gegen den da.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Benedikt XVI. hatte einen Mohr im Wappen
Wie einer der Drei Könige
Der slowenische Dogmatikprofessor Dr. Anton Štrukelj (geb. 1952) war mit Benedikt XVI. eng verbunden. Zum einen war er von 1997 bis 2002 Mitglied der Internationalen Theologenkommission, zum anderen Herausgeber der slowenischen Ausgabe der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio, welche 1972 von Joseph Ratzinger, Hans Urs von Balthasar und Henry de Lubac gegründet worden war. Beim Requiem für Benedikt XVI. in der Kathedrale von Ljubljana, welches am 6. Januar 2023, dem Hochfest der Erscheinung des Herrn, von Erzbischof Jean-Marie Speich, dem Apostolischen Nuntius in Slowenien, gefeiert wurde, hielt Dr. Anton Štrukelj nachfolgende Predigt.
Von Anton Štrukelj
Die Weisen aus dem Osten sind ein Anfang. Sie stehen für den Aufbruch der Menschheit auf Christus zu. Sie eröffnen eine Prozession, die durch die ganze Geschichte hindurchzieht. Sie stehen für die innere Erwartung des menschlichen Geistes, für die Bewegung der Religionen und der menschlichen Vernunft auf Christus zu.
Wir können uns vorstellen, dass diese Männer vielerlei Spott ausgesetzt waren. Die Weisen sind gewiss verlacht worden. Aber für sie war nicht wichtig, was die Menschen sagten, was die öffentliche Meinung behauptete, die fast von Tag zu Tag sich ändert. Für sie war wichtig, was wahr ist. Sie wollten das wahre Leben finden. Gerade heute brauchen wir den Mut, den Glauben wirklich zu leben. Wir brauchen den Mut als Christen „Pilger und Fremdlinge in der Welt zu sein“ (vgl. Gen 12,1-9). Wir haben hier keine bleibende Statt, die künftige suchen wir. Wir sind dankbar für die schöne Heimat, aber sie ist gerade darin schön, dass sie ein Wegzeichen zum Ewigen ist.
Papst Benedikt hatte in seinem Wappen die Muschel – ein Symbol der Pilger – und einen Mohr – einen von den drei Königen. Ist nicht auch Benedetto einer von den drei Magiern, etwa der vierte König, denn er diente dem Ewigen König?
„Als die Sterndeuter den Stern sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt“ (Mt 2,10). Das ist die Freude des Menschen, dem das göttliche Licht ins Herz hineinleuchtet und der sehen darf, dass seine Hoffnung in Erfüllung geht. Die Heiligen sind solche Sterne, an denen der Glanz der Wahrheit Gottes durchleuchtet und uns den Weg zeigt. Wirklich: „Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten“ (Dan 12,3).
„Die Weisen gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor“ (Mt 2,11). Papst Benedikt hat vor den König des Himmels und der Erde die unvergänglichen Gaben seines Geistes gelegt. Als Hirt, Lehrer und Theologe, als Konzilsperitus (theologischer Berater beim Konzil) und Präfekt der Glaubenskongregation hat er die kirchlichen Dokumente maßgeblich mitgestaltet. Er selber sagte: „Ich will einfach mit der Kirche mitdenken, und das heißt vor allem mit den großen Denkern des Glaubens, mit den Heiligen mitdenken.“ Seine Theologie ist eine Theologie in der Art der Kirchenväter. Er betonte immer wieder: „Die Kirche gehört dem Herrn. Sie ist seine Kirche, nicht unsere. Denn eine von uns gemachte Kirche wäre keine Hoffnung!“
Er ließ auf sein Primizbild die Worte drucken: „Nicht Herren eures Glaubens sind wir, sondern Diener eurer Freude“ (2 Kor 1,24). Im Licht seines Bischofsmottos „Cooperatores veritatis“ verkündigte und verteidigte er unerschrocken die Wahrheit. In unerschütterlicher Liebe zum Herrn und seiner Kirche „legte er Zeugnis für die Wahrheit ab“ (Joh 18,37). Bei unserer letzten Begegnung legte er mir ans Herz: „Wir müssen immer die Wahrheit suchen und sie in der Liebe verwirklichen. Die Wahrheit siegt immer!“
Papst Benedikt war ein großer Beter. Wie würdig feierte er die heilige Liturgie! Er selbst als Musiker, „Mozart der Theologie“ genannt, sagte: „Ich bin davon überzeugt, dass die Musik – und hier denke ich vor allem an den großen Mozart – wirklich die universale Sprache der Schönheit ist.“
In der Kathedrale Notre-Dame in Paris (12. Sept. 2008) unterstrich er: „Unsere irdischen Liturgiefeiern können immer nur ein blasser Abglanz jener Liturgie sein, die im himmlischen Jerusalem, dem Ziel unserer irdischen Pilgerreise, gefeiert wird.“
Beim Requiem für Papst Johannes Paul II. sagte Joseph Ratzinger: „Unser geliebter Papst hat von der Mutter gelernt, Christus ähnlich zu werden.“ Er beendete seine Predigt mit den Worten: „Wir vertrauen deine liebe Seele der Mutter Gottes, deiner Mutter, an, die dich jeden Tag geführt hat und dich jetzt in die ewige Herrlichkeit ihres Sohnes, Jesus Christus, unseres Herrn, führen wird.“ – Lieber Heiliger Vater Benedikt: Segnen Sie uns! Danke.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Eine Wegweisung nicht nur für verunsicherte Christen
Die Schönheit und innere Logik des Glaubens
Professor Dr. Dr. Ralph Weimann, geb. 1976, doziert Theologie und Bioethik an der Päpstlichen Universität vom Heiligen Thomas von Aquin (Angelicum), am Päpstlichen Patristischen Institut Augustinianum und an der Päpstlichen Hochschule Regina Apostolorum in Rom. Außerdem übt er eine Lehrtätigkeit an der internationalen Dominikaneruniversität DOMUNI (online) aus. Wir haben ihn gebeten, selbst sein Buch vorzustellen, das bereits in dritter Auflage erschienen ist.[1] 18 wichtige Themen, die für ein katholisches Glaubensleben entscheidend sind, werden von ihm verständlich und in kompakter Form behandelt.
Von Ralph Weimann
Vor allem jene Christen, die einfach nur an Jesus Christus glauben und seiner Botschaft folgen wollen, sind verunsichert. Es scheint keine Glaubenswahrheit zu geben, die in diesen Tagen nicht in Frage gestellt wird. Nicht wenige fühlen sich zurückversetzt in das 4. Jahrhundert, als Basilius der Große († 379) sich an die Bischöfe Italiens und Galliens wandte und sich bitter beklagte, dass diejenigen, die den Glauben verfolgen und in Frage stellen, selbst den Namen „Christen“ tragen. Er schrieb: „Die gewissenhafte Beobachtung der Überlieferungen der Väter wird jetzt als Verbrechen furchtbar geahndet. Die Gottesfürchtigen werden aus der Heimat verstoßen und in die Einöden verbannt.“
Eine ähnlich schmerzhafte Erfahrung machen heute viele Gläubige, die am Glauben ihrer Väter festhalten wollen. Nicht selten werden sie belächelt und als rückwärtsgewandt abgestempelt, sie werden bekämpft und verleumdet, manchmal wird ihnen gar signalisiert, dass in der Gemeinde kein Platz für sie sei.
Doch der Glaube basiert weder auf Mehrheiten noch auf dem sich ständig verändernden Zeitgeist, er ist auch nicht Sprachrohr des politischen Mainstreams, sondern die persönliche Antwort auf den sich offenbarenden Gott. Die Offenbarung Gottes geht dem Glauben voraus, und der Gläubige wird zum Gläubigen, wenn er diese Offenbarung annimmt. Die Kirche spricht dann vom „Licht des Glaubens“, wodurch Gott und der Weg zu Ihm erkannt werden. Dieses Licht droht bei vielen zu erlöschen, es entsteht eine Art „Teufelskreis“. Dieser lässt sich nur durchbrechen, wenn Zweifel beseitigt werden und die Schönheit des Glaubens dargelegt wird.
Dazu will das vorliegende Buch Wegweisung geben. Es will Christen helfen, Klarheit zu finden, um den Glauben trotz eines zunehmenden Gegenwinds zu verstehen und zu leben. Ausgehend von der Offenbarung Gottes, die durch Schrift und Tradition durch die Kirche übermittelt wird, bieten die folgenden Ausführungen Antworten auf einige der gängigsten Infragestellungen des Glaubens. In leichter Sprache wird in einem ersten Schritt die jeweilige Problematik dargestellt, bevor in einem zweiten Schritt eine Antwort erfolgt, die sich auf Schrift und Tradition stützt. 18 Themen werden behandelt. Dazu gehören u.a. die Erkennbarkeit der Wahrheit, die Wichtigkeit von Glaube und Kirche, der Unterschied zwischen den Religionen, die Morallehre, die Unfehlbarkeit, die Sakramente, vor allem die Taufe, die Beichte und die heilige Eucharistie, die Bedeutung der Gottesmutter Maria, der Engel und Heiligen und was nach dem Tod kommt.
Das vorliegende Buch ist im Fe-Medienverlag bereits in dritter Auflage erschienen. Der günstige Preis von nur 5 Euro ermöglicht es, das Buch vielen Menschen zukommen zu lassen. Adressaten sind nicht nur verunsicherte Christen, sondern auch all jene, die mehr über ihren Glauben erfahren wollen. Die bewusst kurz gehaltenen Beiträge führen ohne Umschweife zum Kern des jeweiligen Themas, und stehen Rede und Antwort.
Der frühere Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Kardinal Robert Sarah, hat dazu ein Vorwort verfasst. Er empfiehlt das Buch und wünscht ihm weite Verbreitung, damit die Menschen zu authentischen Zeugen für das Evangelium werden, es leben und in der Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott verbleiben.
Dies ist das Ziel des Lebens, doch braucht es dazu Anleitung und Orientierung. Das vorliegende Buch will dazu einen kleinen Beitrag leisten und die Schönheit und innere Logik des Glaubens vor Augen führen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Ralph Weimann: Wegweisung für verunsicherte Christen. Mit einem Vorwort von Robert Kardinal Sarah, geb., 80 S., Euro 5,00; Bestell-Mail: info@fe-medien.de – www.fe-medien.de
Die Marienheiligtümer von Saronno und Rho in der Nähe von Mailand
Auf den Spuren des hl. Karl Borromäus
Der katholische Fernsehsender K-TV bereitet derzeit mehrere Filme über Marienheiligtümer vor, die mit dem Wirken des hl. Karl Borromäus verbunden sind. Der hl. Karl hat als Erzbischof von Mailand und Kardinal nach der Glaubenskrise der Reformation eine gewaltige Erneuerung des katholischen Glaubenslebens gefördert. Bei diesem geistlichen Frühling nach dem aus dem germanischen Norden kommenden „Winter“ haben die Marienheiligtümer eine besondere Rolle gespielt. Prof. Dr. Manfred Hauke, der Dogmatik an der Theologischen Fakultät von Lugano lehrt (italienischsprachige Schweiz), hat ein Buch über die Marienverehrung des hl. Karl verfasst, das den Hintergrund abgibt für das Drehbuch, das der Luganer Professor gemeinsam mit Pfarrer Dr. Thomas Rimmel (K-TV) erstellt hat: Manfred Hauke: San Carlo e la venerazione alla Vergine Maria (Collana di Mariologia 17), EuPress FTL – Cantagalli, Lugano – Siena 2021, 104 S. Der folgende Beitrag gibt eine kurze Hinführung für die Marienheiligtümer von Saronno und Rho in der Nähe von Mailand.
Von Manfred Hauke
„Unsere Liebe Frau der Wunder“ von Saronno
Das Marienheiligtum „Unsere Liebe Frau der Wunder“ (Nostra Signora dei Miracoli) liegt in Saronno, einer kleinen Stadt in der Lombardei zwischen Como und Mailand, ganz in der Nähe von der Autobahn. Um das Jahr 1460 erschien die Gottesmutter einem jungen Mann (Pietro Morandi), der seit mehreren Jahren an starken Rückenschmerzen litt. „Wenn du gesund werden willst, dann geh zur Straße nach Varese und bete dort vor meinem Bild. Ich will, dass du mir eine Kirche baust. Die Mittel dazu werden dir nicht mangeln“. Daraufhin begab sich der Kranke vor das Marienbild aus Terrakotta, betete dort und wurde mit einem Mal vollständig geheilt. In der Folge gab es noch viele andere wunderbare Heilungen und Gebetserhörungen. Daher kommt der Name „Unsere Liebe Frau der Wunder“.
Das Gnadenbild ist eine Statue aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Maria wendet sich dem Jesuskind zu; ihre mütterliche Liebe gilt auch uns als ihren Adoptivkindern. Ihr Mantel ist blau, in der Farbe des Himmels, während das rote Untergewand an die Hingabe des Lebens (im Blut) und die Haltung der Liebe erinnert. Die goldenen Kronen auf den Häuptern Jesu und Mariens weisen auf die königliche Würde.
Nach drei einfachen Kapellen, die sich bald als zu klein erwiesen, wurde am 8. Mai 1498 mit dem Bau einer großen Wallfahrtskirche begonnen, bei deren Erstellung über mehr als fünf Jahrhunderte hinweg berühmte Künstler mitwirkten. Die drei Kirchenschiffe stammen von Vincenzo Seregni und die Fassade von Pellegrino Tibaldi, dem „Architekten des hl. Karl Borromäus“.
Schon der Onkel des hl. Karl, Papst Pius IV., war eng mit dem Marienheiligtum verbunden: Vor seiner Reise zum Konklave 1559, das ihn zum Papst erwählte, legte er in Saronno ein Gelübde ab, den Wallfahrtsort zu unterstützen, falls er Papst werden sollte. Der hl. Karl sandte eine Gabe zur Unterstützung bereits zwei Monate nach seiner Ankunft im Bistum Mailand (1565) und kam nach Saronno am 27. April 1570 zu einer großen Bittprozession.
1576 bis 1577 wütete neun Monate lang die Pest in Saronno mit hunderten von Toten. Dabei verbrannten die Leichenträger auch das wertvolle Tagebuch, das die gesamte Dokumentation über die zahlreichen Wunder seit dem Beginn des Heiligtums enthielt. Um eine zuverlässige geschichtliche Beurkundung zu sichern, sandte Karl Borromäus eine Kommission, die alle noch lebenden Zeugen befragen sollte, vor allem bezüglich des ersten Wunders und der Gründung des Heiligtums. Die Zeugen aus verschiedenen sozialen Schichten bestätigten die Echtheit des Wunders, so dass die Zuverlässigkeit der Überlieferung kirchenrechtlich anerkannt wurde.
Das Konzil von Trient hatte verfügt, dass keine Messfeiern mehr außerhalb von Kirchen und Kapellen stattfinden sollten, weil es dabei zuvor Missbräuche gegeben hatte. Da die Kapelle mit dem Gnadenbild in Saronno in einem Portal außerhalb der Kirche stand und die Messfeiern im Freien stattfanden, wurde am 10. September 1581 das Gnadenbild feierlich in das Innere der Kirche übertragen. Dabei gab es eine feierliche Prozession im Ort mit einem riesigen Zustrom von Pilgern, und der hl. Karl verbrachte hintereinander drei Nächte des Gebetes im Heiligtum.
Das Innere der Kirche ist reich mit Gemälden ausgeschmückt. Dazu gehören Bilder aus dem Leben Jesu von Bernardino Luini und die Kuppel mit der Darstellung der Aufnahme Mariens in den Himmel (von Gaudenzio Ferrari). In drei konzentrischen Kreisen des Gemäldes singen und musizieren zahlreiche Engel, von denen ein jeder seine eigene Prägung hat, ähnlich wie die 56 verschiedenen Musikinstrumente.
Die Schmerzensmutter von Rho
Das Heiligtum der Schmerzensmutter von Rho (Santuario dell’Addolorata di Rho) erinnert an ein Tränenwunder am 24. April 1583. Rho ist eine Kleinstadt, die etwa 12 Kilometer nordwestlich von Mailand liegt. Das Wunder geschah auf dem Bild der Schmerzensmutter in einer Marienkapelle vom Beginn des 16. Jahrhunderts, an der Straße, die nach Norden zum Simplonpass führt. Als einige Gläubige dort am Sonntagnachmittag das marianische Offizium gebetet hatten, zeigte sich in einem Auge der Gottesmutter eine Flüssigkeit, die zuvor noch nicht zu sehen war.
Das Wandfresko war durch ein Gitter abgetrennt. Um den scheinbaren Schmutz zu entfernen, besorgte sich Girolamo (einer der Zeugen) den Schlüssel und öffnete das Gitter. Da er nicht sein gutes Taschentuch beschmutzen wollte, bat er seinen Freund Alessandro, sich irgendein gebrauchtes Tuch zu besorgen. Dabei stieß sein Freund auf ein Stück Windel, das auf dem Boden lag. Als Girolamo mit dem Windeltuch das Auge des Marienbildes abgewischt hatte, sah er auf dem Tuch drei Flecken fließenden Blutes und sah, wie das Auge ganz rot war. Zwei weitere Bluttränen flossen bis zur Lippe herab; ihnen folgte eine dritte Träne, die bis zum Kinn lief. Ohne an ein Wunder zu denken, warfen sie die Windeln weg. Inzwischen traf eine Frau (Faina) in der Kapelle ein. Als sie gehört hatte, was geschehen war, sagte sie: „Hier hat die Gottesmutter schon andere Wunder gewirkt.“
Daraufhin gingen die beiden Männer zum Propst, der mit einem weiteren Priester und einem Notar zur Kapelle kam. Der begleitende Priester berührte das Auge Marias, das noch vom Blut feucht war, so dass er sich den Finger benetzte. Die Wände waren feucht, aber die zum Abwischen benutzte Windel wies eindeutig Spuren von Blut auf.
Der Propst lud das Volk ein, das Marienbild zu verehren, aber vermied es, von einem Wunder zu sprechen und informierte sofort seinen Erzbischof, den hl. Karl Borromäus. Schon im Monat Mai sandte der hl. Karl eine dreiköpfige Kommission, die über einen ganzen Monat hinweg eine genaue Untersuchung mit Befragung der Zeugen vornahm. In dieser Zeit ereigneten sich zahlreiche andere Wunder. Die Kommission verfasste einen umfangreichen Band über die „Wunder der Schmerzensmutter“ (i miracoli dell’Addolorata), der heute im Erzbischöflichen Archiv in Mailand aufbewahrt wird. Der hl. Karl studierte die Dokumentation genau und meinte dann am Ende: „Hier ist der Finger Gottes.“
In seiner Predigt vom 5. Juni 1583 kündigte der hl. Karl den Bau einer großen Kirche an, die des großen Wunders würdig ist. Jesus hat Wunder verheißen, die den Glauben fördern (vgl. Mk 16,17). Gott schenkt diese Zeichen, um die Glaubenslehre zu empfehlen und die Heiligkeit zu stärken.
Er vertraute das im Entstehen begriffene Heiligtum den von ihm gegründeten „Oblaten des hl. Ambrosius“ an. Das Gotteshaus hat viel mehr Platz, als es der Zahl der damals dort lebenden Gläubigen entsprach. Es ist bis heute ein gewaltiges Zeichen des Glaubens vor den Toren von Mailand an der Straße, die zu den vom katholischen Glauben abgefallenen Gebieten nördlich der Alpen führte. 1923 erhob der aus Mailand stammende Papst Pius XI. die Kirche in den Rang einer Basilika. Sie ist bis heute eine geistliche Oase, die für Exerzitien und das Sakrament der Versöhnung genutzt wird. Auch die Ausmalung der Kirche ist eindrucksvoll. Eines der Bilder zeigt den hl. Karl, wie er einem Pestkranken die Mundkommunion reicht (mit einem Löffel, den er danach mit Feuer desinfizierte). Der hl. Karl hat alle damals bekannten Regeln der Hygiene beachtet, aber gleichzeitig Mut und Eifer bewiesen bei der Spendung der Sakramente.
Die Tränen Mariens rufen zur Umkehr, wie Papst Pius XII. 1954 anlässlich des Tränenwunders von Syrakus (Sizilien) ausführte: „Zweifellos ist Maria im Himmel ewig glücklich und leidet weder Kummer noch Traurigkeit; aber sie bleibt nicht unempfindlich dafür, ja sie nährt immer Liebe und Mitleid für das elende Menschengeschlecht, dem sie als Mutter gegeben wurde, als sie traurig und weinend am Fuße des Kreuzes stand, an dem der Sohn befestigt war.
Werden die Menschen die geheimnisvolle Sprache dieser Tränen verstehen?
Oh, die Tränen Marias! Es waren auf Golgatha Tränen des Mitleids für ihren Jesus und der Trauer über die Sünden der Welt. Weint sie immer noch um die erneuerten Wunden im Mystischen Leib Jesu? Oder weint sie über so viele Kinder, in denen Irrtum und Schuld das Leben der Gnade ausgelöscht haben und die die göttliche Majestät schwer beleidigen? Oder sind es Tränen der Erwartung der verspäteten Rückkehr anderer ihrer Kinder, die einst treu waren und nun durch falsche Illusionen in die Reihen der Feinde Gottes gezogen werden?“ (AAS 46, 1954, 660).
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
„Kirche in Not“ veröffentlicht neuen Bericht über Christenverfolgung
Verfolgt und vergessen?
„Der neue Bericht ,Verfolgt und vergessen?"[1] möchte aufrütteln und zur Solidarität anspornen“, erklärte der Geschäftsführer von „Kirche in Not“ Deutschland, Florian Ripka. „Wir können wirksam etwas tun gegen Christenverfolgung: Hinschauen und Verfolgung publik machen, für unsere verfolgten Glaubensgeschwister beten und die Kirche in Not unterstützen. Augen auf in Sachen Christenverfolgung, das ist ein Appell an uns alle.“
Von KIRCHE IN NOT e.V.
„Mein Gott, es ist hart, angekettet zu sein und geschlagen zu werden, aber ich lebe diesen Moment so, wie du ihn mir schenkst. Trotz allem möchte ich nicht, dass einer von meinen Entführern zu Schaden kommt.“ Von diesem Gebet berichtet die kolumbianische Ordensfrau Gloria Cecilia Narváez im Januar 2022 im Gespräch mit dem weltweiten päpstlichen Hilfswerk „Kirche in Not“ (ACN). Viereinhalb Jahre war Schwester Gloria im westafrikanischen Mali von militanten Islamisten gefangen gehalten worden. In dieser Zeit wurde die Franziskanerin körperlich und seelisch gefoltert. Einmal, als ein Dschihadistenführer sie beten sah, schlug er sie und sagte: „Mal sehen, ob dein Gott dich hier rausholt.“ Sr. Gloria berichtet: „Er benutzte schlimme Ausdrücke. … Ich schauderte. Die umstehenden Wachen lachten über die Beleidigungen.“ Der schockierende Bericht verdeutlicht, welches Leid Menschen zugefügt wird, deren einziges angebliches „Verbrechen“ der christliche Glaube ist. „Kirche in Not“ macht diese Schicksale und globale Entwicklungen sichtbar im neuen Bericht „Verfolgt und vergessen?“.
Christenverfolgung auf dem Vormarsch
„Verfolgt und vergessen?“ dokumentiert für den Zeitraum 2020 bis 2022 Erfahrungsberichte aus erster Hand, Fallbeispiele und Entwicklungen in verschiedenen Weltregionen, in denen Christen besonders unter Diskriminierung und Verfolgung leiden. Der Bericht nimmt 22 Länder in den Blick, darunter Afghanistan, China, Mosambik, Nigeria, Saudi-Arabien oder das WM-Gastgeberland Katar.
Der Befund ist ernst: In 75 Prozent der untersuchten Länder hat die Unterdrückung und Verfolgung von Christen zugenommen. Betroffen sind auch andere religiöse und ethnische Minderheiten. Einige globale Trends:
In Afrika hat sich die Lage der Christen in allen untersuchten Ländern verschlechtert. Es gibt Hinweise auf einen starken Anstieg radikaler islamistischer Gruppen. So wurden im Berichtszeitraum allein in Nigeria mehr als 7600 Christen getötet. Zwei größere Vorfälle erregten internationales Aufsehen: Im Mai 2022 wurde die 25-jährige Christin Deborah Samuel an einer Universität zu Tode gesteinigt, weil sie angeblich „blasphemische Nachrichten“ auf WhatsApp verschickt hatte. Am Pfingstsonntag 2022 griffen Dschihadisten die St.-Franziskus-Kirche in Ondo an, mindestens 40 Gottesdienstbesucher fanden den Tod. Ein Augenzeuge war der Vikar der Gemeinde in Owo, Andrew Adeniyi Abayomi. Er schreibt: „Es findet ein Völkermord statt, aber das kümmert niemanden. Damit das Töten aufhört, müssen mehr Organisationen wie ,Kirche in Not‘ die Wahrheit darüber verkünden, was den Christen auf der ganzen Welt widerfährt. Denn sonst werden wir immer verfolgt und vergessen bleiben.“
Noch schlimmer als zur Zeit des IS?
Im Nahen Osten hat die anhaltende Abwanderung die Krise verschärft. Einige der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt bluten weiter aus. Paradoxerweise gibt es Anzeichen dafür, dass in Teilen des Nahen Ostens Christen in einer schlechteren Lage sind als während des Vormarschs des „Islamischen Staats“.
Der Krieg in Syrien ist noch immer nicht vorüber. Auch in Regionen, in denen nicht mehr gekämpft wird, leiden die Christen unter Mangelernährung, wirtschaftlicher Not und islamistischer Unterdrückung.
Im Irak konnte 2021 beim Besuch von Papst Franziskus der Wiederaufbau der nach dem Völkermord dezimierten christlichen Gemeinden gefeiert werden. Jedoch ist deren Wachstum durch staatliche Diskriminierung und militante Unterdrückung weiterhin eingeschränkt.
In Saudi-Arabien und anderswo fehlt der politische Wille, verfassungsmäßige Verpflichtungen zur Religionsfreiheit einzuhalten. In diesen Ländern gilt nach wie vor ein Verbot, Kirchen zu bauen, Kreuze und andere christliche Symbole zu zeigen und Bibeln oder christliche Texte zu verbreiten. An solchen Orten sind Christen eine schweigende, unsichtbare Minderheit – und es gibt kaum Zeichen für eine Veränderung.
Autoritäre und nationalistische Bewegungen verfolgen Christen
In Asien bleiben autoritäre und totalitäre Regierungen die maßgebliche Ursache für die Unterdrückung von Christen. So nutzte zum Beispiel Vietnam die Covid-19-Pandemie als Vorwand für repressive Maßnahmen gegen Gläubige und machte Christen zum Sündenbock für die Verbreitung des Virus. China drangsaliert weiterhin Christen und Angehörige anderer religiöser Gruppen, die nicht der offiziellen Linie der Kommunistischen Partei folgen. In Myanmar hat die Armee nach dem Putsch Anfang 2021 erneut Angriffe auf Christen verübt.
In den schlimmsten Fällen wird die Religionsfreiheit im Keim erstickt, wie in Nordkorea. Obwohl das Land nahezu vollständig abgeschottet ist, gibt es Berichte über Morde, Zwangsabtreibungen, Kindsmord und Sklaverei. Die Christenverfolgung hat dort Einschätzungen zufolge die Grenze zum Völkermord erreicht.
Eine Entwicklung im asiatischen Raum gibt besonderen Anlass zur Sorge: Das Erstarken eines religiösen Nationalismus, der zu einer zunehmenden Diskriminierung und Verfolgung von Christen und anderen religiösen Minderheiten führt. In Indien zählte der Bericht zwischen 2020 und 2022 mehr als 800 Angriffe auf Christen – ein trauriger Rekord. Die Regierungspartei BJP und ihre Anhänger verstärken ein Klima, in dem nicht-hinduistische Minderheiten zu „Nicht-Bürgern“ gemacht werden. Eine ähnliche Entwicklung gibt es in Pakistan, wo Christen und Angehörige anderer nicht muslimischer Glaubensrichtungen einem erhöhten Risiko von Schikanen ausgesetzt sind – was in einigen Landesteilen häufig Entführungen und Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen miteinschließt.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Den Bericht „Verfolgt und vergessen?“ von „Kirche in Not“ können Sie online lesen und bestellen unter: www.kirche-in-not.de informieren/verfolgte-christen/ bericht-verfolgt-und-vergessen/
Freude am Leben im Alter
Der erfüllte Abschied
Dr. Peter Dyckhoff (geb. 1937) ist katholischer Priester und ein bekannter Autor geistlicher Werke. Nun hat er ein Buch mit dem Titel „Älter werden mit Zuversicht“ veröffentlicht.[1] Es bietet eine Fülle an Impulsen, um das Älterwerden mit Dankbarkeit und Gottvertrauen zu gestalten. Im Mittelpunkt steht eine Meditation zu Rembrandts Bild des greisen Simeon mit dem Jesuskind auf den Armen, das auch „Der erfüllte Abschied“ genannt wird. Eins mit dem Erlöser kann der Mensch auch im Alter Freude am Leben und wahre Erfüllung finden.
Von Peter Dyckhoff
Das Altern und der Abschied aus dieser Welt sind so verschieden, wie es Menschen gibt. Wenn sie jedoch ohne Schmerzen altern und lediglich Einschränkungen hinnehmen müssen, bleibt im Alter wunderbar Zeit, diese in religiöses Leben zu investieren und sich auf die kommende Welt vorzubereiten. Menschen, die mehr und mehr den Weg der Hingabe gehen – selbst mit zunehmenden Gebrechen –, erfahren eine tiefere innere Ruhe und Frieden der Seele.
Dieses Buch „Älter werden mit Zuversicht“ möchte alle, die daran Interesse haben, auf die Werte und Chancen des Alters aufmerksam machen und vor allem den älter werdenden Menschen dazu anleiten – sofern er es vermisst –, das Leben wieder lebenswerter zu gestalten. Die Freude am Leben, und damit auch am kommenden Leben, kann nur stabil und dauerhaft sein und bleiben, wenn sie im Glauben und damit letztlich in Gott gegründet ist. Somit ist dieses Buch auch ein Glaubensbuch, das der Leserin und dem Leser Zuversicht und lebendige Hoffnung schenken möchte. Es möchte den Weg frei machen, um des Öfteren die heiligen Sakramente zu empfangen und tiefer und verankerter aus dem Glauben zu leben.
Diese Schrift ist auf zwei Pfeilern gegründet. Zum einen steht die Feststellung im Mittelpunkt, dass wir mit Freude, in Zufriedenheit und mit Zuversicht älter werden dürfen und damit Gott, dem Ältesten, immer ähnlicher werden. Und zum zweiten steht im Mittelpunkt dieses Buches Rembrandts letztes Bild (1669): „Simeon mit dem Jesuskind auf den Armen“ oder „Der erfüllte Abschied“. Es lohnt sich, bei diesem Bild und bei den dazugehörigen Texten lange zu verweilen und beides in sich aufzunehmen, damit auch uns durch gute Veränderungen in unserem Leben – wie dem greisen Simeon – die Augen der Innerlichkeit aufgehen, damit wir das Heil wahrnehmen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 4/April 2023
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Peter Dyckhoff: Älterwerden mit Zuversicht, geb., 176 S., ISBN 978-3-451-37839-3, Euro 14,00 – www.herder.de
Neuen Kommentar schreiben