Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Mit Benedikt XVI. ist ein unbeirrbarer Zeuge des Evangeliums, ein unerschütterlicher Fels in der Brandung des Zeitgeistes von uns gegangen. Sein bischöflicher Wahlspruch „Mitarbeiter der Wahrheit“ war ihm zeitlebens heilige Verpflichtung. Mit dieser Zielsetzung nahm er mehr und mehr die Verantwortung für die ganze Kirche auf seine Schultern. An der Seite des heiligen Papstes Johannes Paul II. wuchs er als Präfekt der Glaubenskongregation gleichsam in den Petrusdienst hinein, den er dann als Nachfolger acht Jahre lang selbst ausübte. Als Papst emeritus blieb er wie ein Leuchtturm stehen, der durch seine reine Präsenz Richtung wies und die Kirche auf ihrem Weg bestärkte.

Dass sich Joseph Kardinal Ratzinger als oberster Glaubenshüter kurz vor seiner Papstwahl persönlich für die Zeitschrift „Kirche heute“ eingesetzt hat, zeigt die Hochschätzung, die er für dieses Apostolat hegte. Das Geleitwort, das er damals für uns geschrieben hat, haben wir aus Anlass seines Heimgangs noch einmal veröffentlicht. Im Rückblick stellt es ein umso wertvolleres Vermächtnis dar. Es war ein außergewöhnlicher Schritt, mit dem er uns zur Übernahme der vollen Verantwortung für „Kirche heute“ ermutigte. Diese Unterstützung hat uns bis heute beflügelt, das Zeitschriftenapostolat weiterzuführen und die christliche Offenbarung nach seinem Vorbild zu bezeugen. Ihm gilt für diesen Dienst ein unaussprechlicher Dank, den wir immer im Herzen bewahren werden.

Wie uns Kardinal Ratzinger damals so unmittelbar zur Seite stand, mag ein Schlaglicht auf seine Persönlichkeit insgesamt werfen. Er war gewiss ein genialer Theologe. Davon spricht die ganze Welt, Vertreter der Kirche wie der Politik gestehen ihm diese Größe zu. Aber Benedikt war eben auch ein großherziger Hirte. Diesen Aspekt beleuchten wir in der vorliegenden Nummer durch ganz unterschiedliche Erlebnisberichte. Sie sind ein untrügliches Zeugnis für die heiligmäßige Demut und Herzensgüte, welche Benedikt XVI. ausgezeichnet haben.

Vielfach wird Benedikt schon jetzt als „Kirchenlehrer“ bezeichnet. Auch wir sind der Ansicht, dass er einen solchen Titel verdienen würde. Diesem Thema wollen wir eine spätere Ausgabe unserer Zeitschrift widmen. Dazu ist jedoch ein differenzierter Blick auf sein Denken, auf seine Schriften und auf seine Verkündigung notwendig, auch der Nachweis, dass er damit der Kirche etwas Neues, eine unverwechselbare theologische Ausrichtung hinterlassen hat.

Im Augenblick versuchen die Medien einen Schatten auf Benedikt und sein Erbe zu werfen. Einerseits müssen wir das Bedürfnis unserer säkularen Öffentlichkeit verstehen. Sie erwartet, dass die Kirche Versäumnisse der verantwortlichen Hirten im Umgang mit Missbrauchsfällen eingesteht. Andererseits lässt die Aufmachung, mit der versucht wird, Benedikt in diese Skandale hineinzuziehen, eine Heuchelei erkennen. Sein historischer Einsatz gegen dieses Übel in all den Jahren danach wird ausgeblendet oder abgetan. Offenkundig geht es um etwas anderes. Seine unnachgiebige Treue in zahlreichen Fragen des Glaubens und der Moral hat provoziert, ja gestört. „Lasst uns dem Gerechten auflauern! Er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Weg.“ So heißt es treffend in dem berühmten Kapitel 2 des Buches der Weisheit.

Liebe Leser, man mag sich fragen, ob Papst em. Benedikt mit einer deutlicheren Stellungnahme manche Schatten hätte zerstreuen können. Doch nun kann er vom Himmel aus vorhandene Zweifel ausräumen, wenn nämlich auf seine Fürsprache hin offensichtliche Wunder geschehen und sich der Weg für die Heiligsprechung ebnet. Rufen wir ihn als Fürsprecher an! Ihnen allen sagen wir ein aufrichtiges Vergelt’s Gott für Ihre Unterstützung und wünschen Ihnen auf die Fürbitte Mariens, der Königin des Friedens, eine fruchtbare österliche Bußzeit!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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Unermüdlicher Einsatz, um das Konzil für eine echte Erneuerung fruchtbar zu machen

Vermächtnis Benedikts XVI.

Der inzwischen emeritierte Universitätsprofessor und Salvatorianerpater Dr. Stephan Otto Horn war von 1972 bis 1977 Assistent bei Prof. Dr. Joseph Ratzinger in Regensburg, wo er 1978 im Fach Dogmatik zum Thema „Petrou Kathedra“ habilitiert wurde. Danach war er Lehrstuhlinhaber für Dogmatik an der Universität Augsburg und Ordinarius für Fundamentaltheologie an der Universität Passau. Daneben wirkte er lange Jahre als Sprecher des Schülerkreises von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. und war Gründungsmitglied sowie erster Vorstand der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Nachfolgend geht er in einem ersten Schritt auf das Vermächtnis Benedikts XVI. ein, nämlich auf das Grundanliegen, das Joseph Ratzinger als Theologe sowohl während seiner akademischen Tätigkeit als auch während seines Pontifikats angetrieben hat. Den zweiten Teil der Ausführungen von Prof. Horn über das Erbe des verstorbenen Papstes veröffentlichen wir in der nächsten Nummer.

Von Stephan Horn SDS

Wollen wir Papst Benedikt XVI. gerecht werden oder ihn gar tiefer verstehen, wird es gut sein, zunächst seiner ursprünglichen Berufung nachzuspüren. Sie zeigt sich vielleicht am besten im Augenblick einer tiefen Krise, die er durchlebte in dem Augenblick, in dem er als junger Dozent an der Staatlichen Philosophisch-Theologischen Hochschule in Freising lebte und seine Habilitationsarbeit abgeschlossen hatte.

Arbeit eines Preisausschreibens wird als Doktorarbeit anerkannt

Schon sehr früh hatte er seine Begabung, sich in die Theologie zu vertiefen, entdeckt, nachdem er sich entschieden hatte, wie sein älterer Bruder den Weg zum Priestertum einzuschlagen. Noch während seines Studiums hatte er es gewagt, sich auf ein Preisausschreiben zu stürzen, das in einem begrenzten Zeitrahmen verfasst werden musste. In weniger als einem Jahr gelang es ihm, die Arbeit zu verfassen, die den Titel tragen wird: Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche. Sie war von einem seiner Lehrer ausgeschrieben worden. Das Ergebnis des jungen Ratzinger entsprach zwar nicht einfach den Ansichten seines Lehrers, war aber doch so überzeugend, dass er den Preis gewann, der zugleich als Doktorarbeit anerkannt wurde.

Widerstand gegen seine Habilitationsschrift stürzt ihn in eine Krise

Nun konnte er als junger Dozent in Freising seine Habilitationsarbeit vorlegen, in der er sich mit dem Verständnis der Offenbarung bei Bonaventura befasst hatte. Schon vor dem Abschluss durch das Prüfungskollegium kündigte ihm ein prominentes Mitglied dieses Gremiums an, dass er sich seiner Habilitation widersetzen werde. Ratzinger war bestürzt. Gerade hatte er seine Eltern zu sich genommen und sah seine innerste Berufung in Frage gestellt, Theologe zu werden.

Als junger Professor entwickelt er eine neue Methode

Als er die Prüfung dann doch bestanden hatte, erreichte ihn bald der Ruf, an der Universität Bonn Professor zu werden. Rasch strömten ihm die Studenten zu. Sie hörten in seinen Vorlesungen einen neuen Ton. Er selber war dann am Glücklichsten, wenn die Studenten die Feder aus der Hand legten und nur noch zuhörten. Dann spürte er, dass er sie persönlich getroffen hatte. Er hatte Abschied genommen von der neuscholastischen Methode und zu einer Theologie gefunden, die Glaube und Vernunft einander annäherte und so ihre existentiellen Fragen berührte. In seiner Theologie ging er von der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern aus, um von da aus die Fragen der Gegenwart zu beantworten.

Reifste Frucht seiner Tätigkeit als Dozent: „Einführung in das Christentum“

Die reifste Frucht seiner akademischen Tätigkeit war bald nach dem Konzil die Publikation einer Vorlesung für Hörer aller Fakultäten, die ihn in der ganzen Kirche bekannt machten, seine „Einführung in das Christentum“. Es zeigt seine tiefsten Intentionen: den jungen Menschen einen neuen Zugang zum christlichen Glauben zu zeigen, der den gültigen Erkenntnissen der Zeit standhalten konnte und der sie zugleich zum Taufbekenntnis hinführte. Für ihn war die Taufe zuinnerst und unlöslich mit der katechetischen Einführung in die Mitte des Glaubens verbunden. Und aus ihr konnte nach seiner Überzeugung die Theologie neues Leben gewinnen.

Auf einer Linie mit dem dreibändigen Werk Benedikts XVI. „Jesus von Nazareth“

Bald nach dem Anfang des neuen Jahrhunderts fühlte Kardinal Ratzinger sich gedrängt, eine ähnliche Aufgabe inmitten der Tätigkeit als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre auf sich zu nehmen, eine Herausforderung, der er, als er ganz unerwartet Papst geworden war, jede freie Minute widmete. Er muss es tief als Anruf gespürt haben, sodass er wusste, dass dies auch zu seinen Aufgaben als Papst gehörte. Er sah eine für die Kirche grundlegend wichtige Aufgabe darin, die Heilige Schrift für die einfachen Christen neu zugänglich zu machen und einer historisch-kritischen Auslegung von wissenschaftlichen Experten die Grenzen aufzuzeigen, soweit sie den irdischen Jesus in die Maßstäbe menschlicher Erfahrungen und Maßstäbe einzwängten und ihn vielfach nicht mehr als den Christus des Glaubens der Kirche in ihren Bekenntnissen wiedererkennen konnten.

Er wollte den Gläubigen Mut machen, wie die Jünger von Emmaus ihre Fragen und Nöte vor dem Herrn auszubreiten und in den Worten der Schrift den auferstandenen Herrn wiederzufinden, der sie anredete.

Er überzeugte Papst Johannes XXIII. und wurde zum Mitgestalter des Konzils

Kehren wir nochmals zum jungen Professor Ratzinger in Bonn zurück. Bald war Kardinal Frings auf den jungen Professor aufmerksam geworden und rief ihn eines Tages zu sich nach Köln. Er hatte soeben der Bitte entsprochen, in Norditalien einen Vortrag über die Aufgaben zu halten, die sich dem von Papst Johannes angesagten Konzil stellten. Nun bat er Ratzinger, er möge einen Entwurf zu dem Thema für ihn verfassen. Er gefiel ihm so sehr, dass er den Text mit kleinen Korrekturen übernahm.

Wenig später kam der Vortrag Papst Johannes XXIII. in die Hände, der in ihm seine eigenen Intentionen für das Konzil wiedererkannte, wie er dem Kölner Kardinal gestand. Es verwundert nicht, dass Kardinal Frings Joseph Ratzinger als seinen theologischen Experten von Anfang an zum Konzil nach Rom mitnahm. So wurde dieser zu einem Mitgestalter des Konzils, nicht indem er seine eigene Theologie in die Texte einbringen wollte, sondern indem er wesentliche Erkenntnisse der Kirchenväter, vor allem aus dem hl. Augustinus über die Kirche und vom hl. Bonaventura über die Offenbarung furchtbar machen wollte.

Als Papst wollte er das Zweite Vatikanische Konzil zur Geltung bringen

So verwundert es nicht, dass er als neugewählter Papst schon zu Beginn seiner Amtszeit das Zweite Vatikanische Konzil in seiner echten Gestalt zur Geltung bringen wollte. Dies sah er als nötig an einerseits wegen einer Bewegung, die das Konzil kritisch bewertete, weil sie die Tradition ganz statisch verstand, andererseits wegen einer gegensätzlichen Bewegung, die es nicht in ihrem echten Gehalt, sondern in einem „Geist des Konzils“ in einer problematischen Anpassung an die Zeit deutete, der das Konzil als Bruch mit der Tradition der Kirche sah. So richtete Papst Benedikt seine Bemühungen darauf, das Konzil nicht als Bruch mit der Vergangenheit der Kirche zu deuten, sondern in einer Auslegung, die es als echte Reform sah, die der Glaubenstradition treu blieb, die Kirche aber gerade so in die Zukunft führen konnte.

Es ist wohlbekannt, welche bitteren Enttäuschungen und welche Anfeindungen er mit dieser Haltung erleben musste. Und doch liegt eines seiner großen Vermächtnisse darin, dass er sich so sehr dafür einsetzte, das Konzil für eine echte Erneuerung nicht nur der Theologie, sondern der Kirche als ganzer fruchtbar zu machen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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„Das nächste Mal treffen wir uns im Himmel“

Licht in der Dunkelheit der Welt

Der Journalist und Autor Peter Seewald (geb. 1954), der verheiratet ist und mit seiner Familie in München lebt, gilt als einer der besten Kenner des nun verstorbenen Papstes Benedikt XVI. Aus persönlichen Gesprächen mit Joseph Ratzinger als Kardinal wie später als Papst entstanden zunächst die Bücher „Salz der Erde“, „Gott und die Welt“, „Licht der Welt“ und „Benedikt XVI. – Letzte Gespräche“ (2016). Allesamt wurden internationale Bestseller. Im Jahr 2020 brachte Seewald eine über 1000-seitige Biographie heraus,[1] die das Leben Ratzingers von seiner Geburt in Marktl am Inn im Jahr 1927 bis zu seinem Rücktritt vom Amt des Papstes im Februar 2013 nachzeichnet. Dieses gewaltige Werk spiegelt auch den eigenen Weg des Autors wider, der durch die Begegnung mit dem unverwechselbaren Theologen und Kirchenmann ein neues Glaubensfundament erlangt hat und eine aufrichtige Hochschätzung für Benedikt hegt. Früher hatte Seewald für den STERN, den SPIEGEL und das Magazin der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG gearbeitet. Bereits 1992 aber lernte er Ratzinger persönlich kennen und begann eine neue Weltsicht zu entwickeln. Wir freuen uns sehr, dass er für „Kirche heute“ ein kleines Resümee geschrieben hat, in dem er seine Erfahrungen mit Benedikt zusammenfasst.

Von Peter Seewald

Es war im November 1992, bei unserer ersten Begegnung. Als ehemaliger Kommunist und Spiegel-Autor stand ich Joseph Ratzinger nicht sonderlich nahe. Umso überraschter war ich, auf einen Mann zu treffen, der so gar nichts von einem Kirchenfürsten an sich hatte, und von einem „Panzerkardinal“ erst recht nicht.

Alles an ihm wirkte bescheiden, unprätentiös, zugänglich. Als es um seine Arbeit als Präfekt der Glaubenskongregation ging, gestand er mir, er sei müde und ausgebrannt. Es müsse jetzt eine jüngere Kraft übernehmen. Unfassbar eigentlich: Dreizehn Jahre später wird er, in einem der kürzesten Konklave der Geschichte, Oberhaupt der ältesten und größten Religionsgemeinschaft der Erde. Er stellte am Ende sogar noch einen Rekord auf: als der seit dem Apostel Petrus am längsten lebende Papst überhaupt.

Unvergesslich die historischen Tage im Frühjahr 2005. Kaum jemand glaubte wirklich daran, dass der „Großinquisitor“ auch nur den Hauch einer Chance hätte, Papst zu werden. Ich stand an jenem 19. April inmitten der Menge auf dem Petersplatz. Als der neue Pontifex endlich selbst auf die Loggia des Domes trat, löste sich ein Jubel ohne Grenzen. Un papa tedesco – ein deutscher Papst! Der erste wieder nach einem halben Jahrtausend. Irgendwo unter den vielen Menschen stand auch die Punkerin und Rock-Legende Patti Smith. „Ich habe geweint“, sagte sie später: „Selbst aus großer Entfernung konnte man die Menschlichkeit dieses Mannes spüren. Ich weiß, dass er nicht jedermanns Geschmack ist, aber ich denke, er ist eine gute Wahl. Ich mag ihn, sehr sogar.“

Ich war aus der Kirche ausgetreten, aber mir imponierte, wie Ratzinger über die Liebe sprach, den Atomkern der gesamten Schöpfung. Wie er aufzeigte, dass Religion und Wissenschaft, Glaube und Vernunft keine Gegensätze sind. Seine Art zu lehren erinnerte mich an spirituelle Meister, die nicht durch eitle Lektionen überzeugen, sondern durch leise Gesten, versteckte Hinweise, Langmut. Vor allem durch das eigene Beispiel, zu dem Integrität, Treue, Courage und eine gehörige Portion Leidensbereitschaft gehört.

Ich mochte seinen trockenen Humor, seine Gelassenheit. Bei unseren Gesprächen legte er gelegentlich ein Bein über die Stuhllehne, um dann, im Eifer der Diskussion, seinen Geist in höchste Höhen zu treiben. Joviales Schulterklopfen hingegen war nicht zu erwarten. Ratzinger ist ein warmherziger, aber auch ein besonders nobler, zurückhaltender Mensch. Niemals in den fast dreißig Jahren, die ich ihn als Journalist begleitete, lud er mich zum Essen ein. Er wollte auf keinen Fall die professionelle Distanz unterlaufen, die die Grundlage für unsere offenen und kritischen Interviews bildete.

Besonders eindrücklich fand ich seinen Mut, für seine Überzeugung einzustehen. Auch um den Preis der Popularität. Geprägt in einer Jugend, als der Wahn, eine Welt ohne Gott und einen „neuen Menschen“ schaffen zu wollen, in Terror und apokalyptischer Verwüstung endete, stand er gegen das, was „man“ zu denken, zu sagen und zu tun habe. Eine Wahrheit auch dann auszusprechen, wenn sie unbequem ist, fühlte er sich genauso verpflichtet wie dem Widerstand gegen alle Versuche, aus der Botschaft Christi eine Religion nach den Bedürfnissen der „Zivilgesellschaft“ zu machen. „Die Kirche hat von Christus her ihr Licht“, beharrte er, „wenn sie dieses Licht nicht auffängt und weitergibt, ist sie nur ein glanzloser Klumpen Erde.“

Der große englische Essayist G. K. Chesterton schrieb über die Heiligen, sie seien ein Heilmittel, weil sie ein Gegengift sind. Sie erneuerten und heilten die Welt dadurch, dass sie genau das in sich verkörperten, was die Welt am meisten vernachlässigt. Das alles werde ich vermissen: Sein schüchternes Lächeln. Seine oft ein wenig linkischen Bewegungen, wenn er über ein Podium schritt. Seine Eleganz, mit der er das Schwere leicht machte, ohne ihm das Geheimnis zu nehmen oder das Heilige zu banalisieren. Vor allem seine Bereitschaft zum Zuhören, bei der ihn niemand übertreffen konnte. Er war ein Denker und Beter zugleich – insbesondere auch ein Menschenliebhaber, der auf die Frage, wie viele Wege es zu Gott gibt, nicht lange überlegen musste, um zu antworten: „So viele, wie es Menschen gibt.“

An den Rollstuhl gefesselt war er schon lange. Der Geist war hellwach, aber zuletzt war seine Stimme so schwach geworden, dass sie kaum noch verständlich war. Wenn er dann zwei Sätze herausgebracht hatte, musste er abhusten, um seine Lunge zu entlasten. Bis dahin hatte er immer auch eine gewitzte Bemerkung parat, schenkte einem sein mildes, gütiges Lächeln, mit dem er für den Besuch dankte. Bei unserem letzten Treffen am 15. Oktober jedoch war vor allem das Leid zu spüren, das er auf den Schultern trug, die tiefe Trauer über das Geschehen in der Welt und die Krise in der Kirche, vor allem in seinem Heimatland.

„Warum könnten Sie nicht sterben, Papa Benedetto?“, hatte ich den emeritierten Papst gefragt. Seine Antwort war, er habe noch dableiben müssen. Als ein „Zeichen“. Ein Zeichen für den Kurs, für den er stand; für die Botschaft Jesu, deren unverfälschter Weitergabe er sich zeitlebens gewidmet hatte. In einer Zeit der Gottesferne müssten die Menschen wieder mit Jesus Christus bekannt gemacht werden, mahnte er, mit seiner Gnade, seiner Barmherzigkeit, auch mit seinen Vorgaben. Wer heute Christ sein wolle, müsse den Mut zur Unmodernität haben. Reform bedeute nichts anderes, als das Zeugnis des Glaubens mit neuer Klarheit in die Dunkelheit der Welt zu bringen.

„Das nächste Mal treffen wir uns im Himmel“, winkte mir der Papa emeritus beim Abschied nach. Er wusste genau, wohin die Reise gehen und was ihn an ihrem Ziel erwarten würde. Christi Verheißung vom ewigen Leben war eines seiner Lieblingsthemen. „Wenn Zugehören zur Kirche überhaupt einen Sinn hat“, meinte er einmal, „dann doch nur den, dass sie uns das ewige Leben und so überhaupt das richtige, das wahre Leben gibt. Alles andere ist zweitrangig.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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[1] Peter Seewald: Benedikt XVI. – Ein Leben, Droemer, HC, geb. Ausgabe € 38,00 (E-Book € 29,99), 1184 Seiten, ISBN 978-3-426-27692-1 – Der Bestsellerautor Peter Seewald legte 2020 eine lang erwartete große Biographie Benedikts XVI. vor. Auf über 1000 Seiten zeichnet er den Werdegang des außerordentlichen Theologen Joseph Ratzinger nach, der mehr als ein halbes Jahrhundert im Licht der Öffentlichkeit stand: • als Theologie-Professor in Münster, Bonn, Tübingen und Regensburg, • als Konzilstheologe und Redenschreiber für Kardinal Frings auf dem II. Vatikanischen Konzil, • als Erzbischof von München und Freising, • als Vorsitzender der Glaubenskongregation in Rom • und schließlich als Papst Benedikt XVI. Joseph Ratzinger hat den Aufbruch der katholischen Kirche in Rom vor Ort mitgestaltet; er hat als Professor in Tübingen die Studentenunruhen um 1968 herum erlebt; er war mehr als 20 Jahre lang einer der engsten Vertrauten von Papst Johannes Paul II. und in dieser Stellung Zeuge der politischen Umwälzungen in Osteuropa; und er hat 2013 mit seinem Rücktritt ein Zeichen gesetzt, das das Amt des Papstes ein für alle Mal verändert hat. Kurzum: Joseph Ratzinger ist eine Person der Zeitgeschichte. Dass er als Deutscher zum Papst gewählt wurde, war ein Jahrhundertereignis. Für diese Biographie hat Peter Seewald viele Stunden lang mit Benedikt XVI. gesprochen. Aber er konnte auch aus einem reichen Fundus von Aufzeichnungen schöpfen, der sich im Zug der gemeinsamen Arbeit mit Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. an insgesamt vier Gesprächsbüchern gebildet hatte. Seewald konnte für dieses Buch auch mit engen Weggefährten wie Georg Gänswein und dem Bruder Georg Ratzinger sprechen. Auf diese Weise entstand das lebendige Bild eines streitbaren Theologen und Dieners der römisch-katholischen Kirche, das Joseph Ratzinger in einem neuen Licht zeigt und Maßstäbe setzt. – „Mein Grundimpuls war, unter den Verkrustungen den eigentlichen Glaubenskern freizulegen und diesem Kern Kraft und Dynamik zu geben. Dieser Impuls ist die Konstante meines Lebens.“ – Joseph Ratzinger

„Als Papst war er noch gütiger und großherziger geworden“

Ein ungemein beeindruckender Theologe

Die persönlichen Erinnerungen von Pfarrer Dr. Martin Trimpe an seinen akademischen Lehrer Joseph Ratzinger geben einen wertvollen Einblick in die Persönlichkeit des späteren Papstes. Trimpe nennt ihn einen „ungemein beeindruckenden Lehrer der Theologie und Priester“. Und er fügt hinzu, als Papst Benedikt XVI. sei er „noch gütiger und großherziger“ geworden. Der aus Damme-Greven gebürtige Trimpe lernte Professor Ratzinger als Student in Münster kennen, folgte ihm zunächst nach Tübingen und schließlich nach Regensburg. Dort pflegte er als wissenschaftliche Hilfskraft einen unmittelbaren Umgang mit seinem Lehrer und entschied sich schließlich für ein Promotionsstudium. Am 13. November 1976 wurde er im Dom zu Osnabrück zum Priester geweiht. Auf diesem Weg folgte ihm sein Zwillingsbruder Reinhard am 11. Februar 1978. Nach ihrer Emeritierung als Pfarrer leben beide Brüder inzwischen wieder in ihrer Heimat Damme und helfen auf vielfältige Weise in der Seelsorge aus. Die nachfolgenden Erinnerungen sind in den „Mitteilungen Institut Papst Benedikt XVI., Jg. 15/2022, Regensburg 2022“ erschienen.

Von Martin Trimpe

Nach dem Philosophicum wechselte ich 1965 von Frankfurt St. Georgen an die Universität Münster. Dort berieten mich – gefragt und ungefragt – ältere Kommilitonen, welche Vorlesungen ich nicht besuchen brauche, weil es sich nicht lohne, welche nützlich seien, und welche ich auf keinen Fall versäumen dürfe. Zur letzteren Kategorie gehörte nach einhelligem Urteil dieser „Alten“ das Kolleg von Joseph Ratzinger.

Professor mit Ausstrahlung

So saß ich also zusammen mit vielen hundert Studentinnen und Studenten im größten Hörsaal und war berührt von der persönlichen Bescheidenheit und Ausstrahlung des Professors: Als erstes fiel mir seine abgegriffene Aktentasche ins Auge, sodann die uneitle Art, wie er die Vorlesung hielt und nie auf Beifall schielte. Vom ersten Wort an war vielmehr die „Sache“ präsent. Wenn er in eine Fragestellung einführte, geschah es in einer präzisen und zugleich einfühlsamen Darlegung der geschichtlichen Wurzeln, der weiteren Entwicklung und der kirchlichen Wirkungen des Sachverhalts und gegebenenfalls auch unserer heutigen Anfragen. Nie setzte er sich billig oder gar überheblich von einer geschichtlichen Gestalt des Glaubens ab, scheute aber auch nicht klare Anfragen an geschichtlich Gewordenes. Nie wollte Ratzinger beeindrucken, nie zelebrierte er Überlegenheit. Immer ging es ihm um die Sache und darum, deren Wahrheit tiefer zu verstehen.

Orientierung in der nachkonziliaren Reform-Euphorie

Unvergesslich bleiben mir die Vorlesungen über die Kirche und über die Eucharistie. Auch nach mehr als fünf Jahrzehnten stehen mir noch viele Einzelheiten lebendig vor Augen. In den Jahren nach dem Konzil, in denen so vieles als überholt verworfen, neu „versucht“ und selbst „gemacht“ wurde, boten mir Ratzingers damalige Vorlesungen wichtige Orientierung. Bisweilen berührte mich das bei ihm Gehörte so stark, dass ich in freien Minuten den nahen Dom aufsuchte zum Gebet.

Haften geblieben ist mir besonders ein Vortrag Ratzingers in den ersten Monaten des Jahres 1966 über die Aufgaben nach der Beendigung des Konzils. Von Johannes XXIII. war dem Konzil als Ziel das „Aggiornamento“ gesetzt worden, und das wolle, so Ratzinger, eine „Verheutigung“ des Glaubens, seine gründliche Aneignung, nicht seinen Ausverkauf. Nachdrücklich mahnte er seine Hörer, sich die Konzilstexte innerlich anzueignen und warnte vor kurzschlüssigen „Reformen“ aus dem Zeitgeist heraus. In der damaligen Reform-Euphorie vernahm ich hier eine ernste, besorgte Stimme.

Als Ratzinger nach Tübingen wechselte, bedauerten wir Studenten das außerordentlich, glaubten wir doch in ihm einen theologischen „Leitstern“ verloren zu haben. Weil mich Ratzinger anzog und ich mir vom Tübinger Gespann Ratzinger-Küng Anregungen versprach, wechselte ich später von Münster nach Tübingen.

Antwort auf die Herausforderung der 68er-Bewegung

Mittlerweile aber änderte sich die geistige „Großwetterlage“ gravierend und wie über Nacht. In der 68-Bewegung stellte die junge Generation radikal bisherige Autoritäten und deren Legitimation in Frage, entdeckte im Neo-Marxismus und in den Theorien der Frankfurter Schule Schlüssel zum Verstehen der politischen und gesellschaftlichen Baugesetze und unterzogen das öffentliche, private und auch kirchliche Leben einer grundlegenden Kritik, um es basisdemokratisch neu zu entwickeln. Die z. B. bislang als befreundet empfundene und Freiheit garantierende Schutzmacht USA entlarvte sich, wie man konstatierte, im Vietnam-Krieg als kapitalistische Speerspitze des Imperialismus. Der parlamentarischen Demokratie setzte man die Außerparlamentarische Opposition (APO) entgegen, die etwa die Notstandsgesetzgebung als „faschistoid“ bekämpfte. Auch in die Theologischen Fakultäten drang dieser Geist, der alles unter dem Raster Repression und Emanzipation betrachtete und Freiheit und Wahrheit in politischer Aktion suchte. Lehrveranstaltungen erklärte man kurzerhand zu Teach-ins, schaltete Professoren das Mikrophon ab und rief zu Boykott und Blockade auf, um politische Ziele durchzusetzen.

Parallel herrschte angesichts der technisch-wissenschaftlichen Erfolge (Mondlandung, EDV, Entwicklung von Ovulationshemmern…) eine geradezu naive Fortschrittsmentalität, die Überzeugung, dass dem Menschen schlechterdings alles möglich sei. Erst im Verlauf der 70er Jahre meldeten sich kritische Stimmen („Club of Rome“) und kündigten sich Grenzen des Wachstums (Ölkrise) an.

Erstaunliche Autorität durch Schlichtheit und sachliche Überlegenheit

In den Lehrveranstaltungen Ratzingers erlebte ich Widerstand nur in moderater Form, wenn etwa Studenten Möglichkeit zu kritischen Anfragen verlangten. Die räumte Ratzinger jeweils bereitwillig ein, antwortete verständnisvoll und souverän, setzte aber zeitliche Grenzen. Tumult oder gar Boykott habe ich in seinen Vorlesungen und Seminaren nicht erlebt. Als Studenten eines Tages im Zuge einer Großaktion den Zugang auch zum Theologischen Seminar blockierten, erbat Ratzinger von den Blockierern Durchlass, der ihm zu meiner Überraschung auch widerstandslos gewährt wurde. Ähnliches habe ich mehrfach beobachtet. Solch verblüffende Autorität, mit der er sich erstaunlich leicht durchzusetzen wusste, führte ich auf seine heitere Gelassenheit und Schlichtheit zurück, seine sachliche Überlegenheit und persönliche Unambitioniertheit.

Deshalb bezweifele ich die verschiedentlich vorgetragene These, Ratzinger sei, vom Treiben der „Revolutionäre“ traumatisiert, von Tübingen ins ruhigere Regensburg geflüchtet und von einem Progressiven zu einem „Bremser“ geworden. Wer eine solch grundlegende Wende im Denken Ratzingers zu sehen glaubt, geht m.E. völlig fehl; über all die Jahrzehnte hin blieb vielmehr die Kontinuität seiner Positionen deutlich erkennbar. Geradezu absurd aber scheint es mir, ihm Karrierestreben zu unterstellen. Wenn jemand nicht auf Ämter und Ehren zielte, war es gerade Joseph Ratzinger. Dies können alle bestätigen, die ihn näher kennengelernt haben.

Phänomenales Gedächtnis und enorme Arbeitsleistung

Über eine Seminararbeit ergaben sich für mich Kontakte zu Dr. Peter Kuhn, Ratzingers damaligem Assistenten, dann die Möglichkeit, als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl zu arbeiten und später das Angebot zur Promotion. In diesen Jahren habe ich Prof. Ratzinger persönlich näher kennen gelernt. So staunte ich über seine enorme Arbeitsleistung, seine rasche Auffassungsgabe, seinen Weitblick und sein phänomenales Gedächtnis. Wenn er mich z.B. um Überprüfung eines Väterzitates bat, konnte er mir bisweilen aus dem Gedächtnis die Seitenzahl des Buches nennen, wo das Zitat stehen müsse. Beim Diktat eines Briefes wurde er einmal mitten im Satz weggerufen; 10 Tage später diktierte er mir wieder und führte den begonnenen Satz weiter, ohne dass ich ihm das Bisherige hätte vorlesen müssen.

Genie des Verstehens mit meisterlicher Gesprächsführung

Menschlich beeindruckte mich seine Geduld und Großmut, die er Studenten und Doktoranden entgegenbrachte. Im regelmäßig stattfindenden Doktorandenkolloquium mussten wir abwechselnd über den Stand unserer Arbeiten referieren. Naturgemäß war das zu Gehör Gebrachte bisweilen bruchstückhaft und sprachlich unausgereift; auch war der eine oder andere Ausländer vielleicht nur schwer zu verstehen, so dass sich mitunter das anschließende Gespräch darüber in der Runde weniger ergiebig gestaltete. In solchen Situationen erlebte ich Ratzinger regelmäßig als ein Genie des Verstehens. Meisterlich wusste er die Diskussionsbeiträge aus dem Kreis zu einem Ganzen zu ordnen und zu vertiefen, dann einzelne Punkte des Referates aufzugreifen und in einen weiteren Horizont zu stellen. Seine Anmerkungen zum ganzen Vortrag oder zu Details ließen oft eine überraschende Bedeutsamkeit der vorgestellten Arbeit erkennen und ermutigten den Verfasser, weiter am Thema zu bleiben. Fehlern und Schwächen gegenüber zeigte sich Ratzinger nachsichtig und wohlmeinend, wie ich an mir selbst erlebt habe.

Besondere Aufmerksamkeit gegenüber ausländischen Studenten

Das Doktorandenkolloquium begann stets mit der hl. Messe, in der gewöhnlich Ratzinger auch eine Homilie hielt. Mir gaben letztere wichtige spirituelle Impulse und waren in ihrer sprachlich schönen Form eine Freude. In gelöster Atmosphäre begann anschließend die Sitzung. Gewöhnlich nahmen daran zwischen 20-30 Doktoranden/ Habilitanden teil.

Bemerkenswert hoch war stets die Zahl der Ausländer (z.B. aus Irland, Italien, USA, Chile, Kanada, Holland, Korea, Japan, Benin, Österreich, Indien). Sie genossen eine besondere Aufmerksamkeit unseres Lehrers, bisweilen auch seine tatkräftige finanzielle Unterstützung.

Als eines Tages wieder ein Student aus dem Ausland um eine Möglichkeit zur Promotion bat, und ich Ratzinger vorsichtig fragte, ob nicht die Arbeit sich häufe, es also besser wäre abzusagen, bemerkte er kurz: „Herr Trimpe, ich glaube, diese Menschen sind uns von Gott geschenkt. Wir dürfen schon jetzt ‚eine Welt‘ leben. In wenigen Jahrzehnten wird das für alle eine Frage des Überlebens sein.“ Wenige Worte haben meine innere Einstellung so nachhaltig verändert wie diese; sie sind mir geradezu zu einem Schlüsselwort geworden.

Ökumenische Offenheit ohne den geringsten Misston

Gelernt habe ich von unserem Lehrer auch das Bemühen, die getrennten Christen zu verstehen und die Einheit im Herrn mit ihnen zu suchen. Wie kein anderer konnte er den liturgischen Reichtum der Orthodoxie und ihres theologischen Erbes erschließen. Ebenso profund brachte er auch die Anliegen und Wurzeln der evangelisch-reformatorischen Geistigkeit und Traditionen zur Sprache. Nie habe ich nur den geringsten Misston vernommen, immer aber das Bemühen, die Wahrheit, aus der die getrennten Christen leben, aufzuspüren, aufzunehmen und in die (katholische) Kirche als Reichtum einzubringen.

Die Atmosphäre im Doktorandenkreis war offen, frei, beinahe freundschaftlich und jeder Beitrag willkommen. Entsprechend freimütig verliefen die Gespräche, auch wenn bisweilen intensiv diskutiert wurde. Da Ratzinger jedem eine große Freiheit hinsichtlich des Themas der Arbeit einräumte und Freude zeigte am Austausch und freien Denken, entfaltete sich in unseren Gesprächen eine bunte Vielfalt von sich ergänzenden Gesichtspunkten und Perspektiven, die sich anregend auf die eigene Arbeit auswirkten.

Heiterer Erzähler in gelöster Stimmung

Jährlich trafen wir uns zu einem Wochenende in einem geistlichen Haus und luden dazu auch auswärtige Referenten ein. Beim lockeren abendlichen Beisammensein erlebten wir unseren Lehrer in gelöster Stimmung als heiteren Erzähler, der mit uns über studentische Späße lachte, sich aber auch eingehend nach Persönlichem und Familiärem erkundigte. So nahm er beispielsweise regen Anteil am Weg meines Bruders und freute sich herzlich über alles Gute und Gelungene, über das wir berichteten. Überhaupt behielt er die Lebenswege und Schicksale seiner Studenten mitfühlend im Auge. Als ich ihm eines Tages erzählte, eine ehemalige Studentin, die sich einige Jahre zuvor recht renitent und uneinsichtig ihm gegenüber geriert hatte, sei unerwartet verstorben, hielt er betroffen inne und meinte nachdenklich: „Hoffentlich haben wir ihr das Rechte in Liebe gesagt! Ich werde in der hl. Messe an sie denken.“

Glaubwürdiger Priester und Diener des Herrn

Für mich war Joseph Ratzinger mehr als nur ein hoch geachteter Professor. Wenn er die Schrift erklärte, gewannen die vertrauten Bibelworte einen neuen Klang. Er vermochte sie für den Hörer auf Jesus Christus hin zu öffnen, so dass sie von Ihm sprachen, auf Ihn zielten und uns kündeten von dem großen Ringen Gottes um sein Volk, ja uns da hineinnahmen. Besonders intensiv empfand ich seine Exegese, wenn er predigte und mit uns die Eucharistie feierte. Stets zelebrierte er schlicht, ohne eigene Erklärungen, ohne „Verbesserungen“ der Texte oder Abänderungen des Ritus. Er trat als Person zurück hinter dem, dessen Tod und Auferstehung wir in der Liturgie verkünden. Wenn er in wenigen Worten den Tagesheiligen vorstellte, geschah es stets so, dass das Lichte dieser Gestalt als Licht des Herrn erkennbar wurde und der Heilige als einer der Mitfeiernden und den Altar Umstehenden, als Glied der Kirche, des Leibes Christi. Mir haben die Gottesdienste sehr viel gegeben und mich Joseph Ratzinger als glaubwürdigen Diener des Herrn und Priester erleben lassen. Dafür bin ich dankbar.

Zu den Wegweisungen, die ich ihm verdanke, gehört auch eine, um die er bis heute nicht weiß: als ich in einer tiefen religiösen Krise steckte, sah ich eines Tages zufällig, dass Prof. Ratzinger zur Beichte ging. Das gab mir seinerzeit den Anstoß, diese von mir seit langem aufgegebene Praxis neu und nachhaltig wieder aufzunehmen. Schließlich sei noch etwas sehr Persönliches erwähnt: Unvergessen bleibt mir seine Freude, als ich ihm von meinem Entschluss erzählte, nach langem Zögern nun doch Priester werden zu wollen. Seine spontane Mitfreude darüber hat mich sehr bestärkt.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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Jahrzehntelange Freundschaft mit einem Münchener Banker

Liebenswürdig, bescheiden und klug

Eine sehr enge und persönliche Beziehung hatte sich zwischen Kardinal Joseph Ratzinger bzw. Papst Benedikt XVI. und Thaddäus Kühnel (78) aus Holzkirchen entwickelt. 40 Jahre lang brachte Kühnel Adventskränze nach Rom und war sein persönlicher Chauffeur während seiner Aufenthalte in Deutschland. In einem Interview mit Radio Horeb sprach Kühnel über dieses freundschaftliche Verhältnis, das ein Licht auf die vielen verborgenen Verbindungen des großen Kirchenmannes zum einfachen Volk wirft. Kühnel, der als Banker bei Hauck Aufhäuser in München beschäftigt war, hatte Joseph Ratzinger mit seinem Bruder Georg und seiner Schwester Maria 1977 „zufällig“ bei einem Mittagessen an der Primusquelle in Bad Adelholzen kennengelernt. Er war dort geschäftlich unterwegs, während die Ratzingers Urlaub machten. Es war das Jahr, in dem Papst Paul VI. Ratzinger zum Erzbischof von München und Freising und zum Kardinal ernannt hatte.

Von Thaddäus Kühnel

Als sich Kardinal Ratzinger 1982 in München am Dom verabschiedete, ging ich zu ihm hin und sagte: „Herr Kardinal, seien Sie nicht traurig, ich bringe Ihnen die Sachen nach Rom, die Sie in Rom nicht bekommen.“ Da lächelt er. Und so war es dann auch.

Es begann gleich mit der Osterkerze. Kardinal Ratzinger kam ja im Februar 1982 in die Glaubenskongregation. Und zu Ostern brachte ich ihm eine Osterkerze nach Rom, welche Frau Isabella Mayr aus der Gegend von Augsburg schön verziert hatte. Das machte sie übrigens bis heute. Dann kamen die Adventskränze. Anfangs waren es zwei. Als sich dies in der Kurie herumgesprochen hatte, steigerte es sich auf über 50 Stück, die ich jeweils in mein Auto packte. Für die Weihnachtszeit brachte ich Christbäume nach Rom, immer so vier bis sechs Stück. Ich habe unseren Dachträger angeschnallt und die Christbäume darauf gebunden.

Für die Schweizergarde und den Sekretär war auch Bier dabei. Und von verschiedenen Pfarrhaushälterinnen in ganz Bayern sind jedes Jahr Weihnachtsplätzchen zusammengekommen. Also ich war immer vollgepackt. Und ich konnte niemanden mehr mitnehmen. Ich brachte auch keinen Koffer mehr im Auto unter. Das habe ich immer stillschweigend gemacht, da ist wenig nach außen gedrungen.

Es waren nun 40 Jahre, dass ich so zu Weihnachten nach Rom gefahren bin. Auch diesen Advent durfte ich dem Papst noch einmal begegnen. Aber das war ganz kurz. Herr Gänswein musste mir dann übersetzen, was mir der emeritierte Papst gesagt hatte, denn er konnte fast nicht mehr sprechen. Es war schon eine traurige Angelegenheit, wenn man einen Menschen sieht, der jung und schwungvoll war und auch gelacht und Witze erzählt hat, zum Beispiel über Karl Valentin.

Es gab in Adelholzen eine Schwester Iphigenie, eine große Verehrerin von Kardinal Ratzinger. Sie ist vor 20 Jahren gestorben. Am Sterbebett, als ich bei ihr war, flüsterte sie mir ins Ohr: „Herr Kühnel, bitte bleiben Sie dem Kardinal treu. Das wird noch ein ganz Großer.“ Ich habe das nie vergessen. Immer musste ich daran denken. Und es ist für mich sehr wichtig geworden.

Aber ich hatte nicht nur in der Adventszeit oder zu Weihnachten mit dem Kardinal Kontakt, sondern auch unter dem Jahr. Denn ich habe ihn regelmäßig vom Flughafen abgeholt und z. B. nach Regensburg gebracht.

Gleich nach Ostern 1982 besuchte Kardinal Ratzinger seinen Bruder in Regensburg. Da rief er bei meiner Sekretärin an und fragte, ob ich da sei. Ich wusste, dass er mit dem Flugzeug ankommen würde, und fuhr zum Flughafen. So habe ich ihn getroffen und nach Regensburg chauffiert. Dort machten wir Brotzeit und ich kehrte wieder nach München in die Bank zurück.

So hat es sich ergeben, dass er bis zu seiner Wahl zum Papst jedes Mal bei mir angerufen hat, auch wenn er in die Ferien gefahren ist, wo ich dann auch öfters dabei war. Das war äußerst interessant. Meist waren mit dem Kardinal seine Schwester Maria und sein Bruder Georg bei mir im Auto. Da habe ich viel, viel mitbekommen. Es waren private Gespräche, ernste und auch lockere. Aber all das muss ich ins Grab mitnehmen.

Was ich am tiefsten von Kardinal Ratzinger bzw. Papst Benedikt XVI. in meinem Herzen bewahren werde, sind seine Liebenswürdigkeit, seine Bescheidenheit und seine Klugheit. Es gibt meines Erachtens keinen Kardinal in der katholischen Weltkirche, der ein so umfassendes theologisches Wissen hat wie er. Es gibt keinen mehr. Er ist für mich ein Heiliger. Und vielleicht hat es so einen Kirchenmann seit Augustinus nicht mehr gegeben.

Die Schweizergarde hat mich sofort informiert, als Benedikt gestorben ist, an seinem Todestag am Samstag kurz nach 10:00 Uhr, als noch nichts bekannt war. Und sie hat mir Schutz angeboten, damit ich am Begräbnis im Petersdom teilnehmen kann.  

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Erfahrungen von Lufthansa-Kapitän Martin Ott mit Benedikt XVI.

„Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen!“ (Joh 3,30)

Schon sehr früh haben sich die Wege von Joseph Ratzinger und Martin Ott gekreuzt, nämlich im Wintersemester 76/77, als Ott wenigstens für kurze Zeit Vorlesungen des berühmten jungen Professors hören wollte. Er hatte schon damals den Entschluss gefasst, Pilot zu werden, doch dass er als Lufthansa-Kapitän diesen Professor einmal als Papst wiedertreffen und zweimal nach Rom fliegen würde, lag außerhalb jeglicher Vorstellung. Martin Ott aus Thalhof bei Pfaffenhofen an der Ilm durfte im Anschluss daran in einen engen Kontakt mit Benedikt XVI. eintreten. Das versteht er als außerordentliches Privileg, als Gottes Gnade. Davon legte er im Rahmen eines Interviews mit Radio Horeb am 3. Januar 2023 Zeugnis ab.

Von Martin Ott

Meine Kollegen wussten, dass ich eine gewisse Nähe zur Kirche pflege. So fragte mich 2005 der Flotten-Chef der A320-Flotte, ob ich den Flug mit Papst Benedikt XVI. aus Deutschland zurück nach Rom durchführen würde.

Es wurde ja damals so gehandhabt, dass die Alitalia den Papst jeweils zum Ziel brachte, also 2005 nach Köln. Aber dann fragte der Vatikan die größte Airline des Landes, das der Papst besuchte, ob sie ihn wieder zurück nach Rom fliegt. So kam dieser Flug überhaupt auf die größte Airline Deutschlands, nämlich die Lufthansa, zu. Man hat dann intern ein geeignetes Flugzeug ausgewählt. Und da wurde von der Sitzplatz-Verfügbarkeit der A320 angedacht. Ich war eben bei dieser Flotte und so ging alles ziemlich schnell, denn von der Papstwahl bis zum Weltjugendtag in Köln war nicht so viel Zeit.

Kardinal Meisner hatte dem frisch gewählten Papst dringend nahegelegt: „Du kommst aber ganz sicher nach Köln!“ Und das hat ihm Papst Benedikt XVI. auch versprochen. Meine Vorbereitungszeit lag in der Größenordnung von fünf Wochen. Was da alles zu tun war, hatte ich schon etwas unterschätzt. Denn so ein Flug muss im Detail vorbereitet werden.

Ein in der Gemeinde Marktl am Inn tätiger Mitarbeiter kam damals auf eine Idee, die er sehr freimütig heraussagte: „Der Joseph Ratzinger wurde doch hier geboren und der kann doch nicht einfach so als Papst über uns wegfliegen! Es muss doch die Möglichkeit geben, dass man sich wenigstens über Funk mit ihm unterhält.“ Als ich von dieser Idee hörte, kam sie mir schon etwas komisch vor. Als ich dann aber merkte, mit welcher Ernsthaftigkeit diese Überlegung verfolgt wurde, begannen wir den Flug in dieser Weise zu planen. Wir würden also in Köln starten und in Richtung München fliegen. Denn Marktl liegt in unmittelbarer Nähe zum Münchner Flughafen. Mit der Flugsicherung wurde abgesprochen, dass wir dort zwei, drei Schleifen drehen und dann per Funk im Flugzeug das Grußwort des damaligen Bürgermeisters von Marktl entgegennehmen und umgekehrt einen Gruß des Papstes nach unten senden, zu den auf dem Marktplatz versammelten Menschen.

Wir wählten die Lufthansa-Maschine mit dem Namen „Regensburg“, und zwar wegen der Affinität, die Papst Benedikt seit vielen, vielen Jahren zu Regensburg entwickelt hatte. Ich machte mir auch Gedanken, wie ich dem Papst gegenübertreten sollte. Zumindest hatte ich mir als Kommandant dieses Fluges etwas zurechtgelegt. Der damalige Vorstandsvorsitzende der Lufthansa sagte mir: „Sie werden den Papst begrüßen und dann bitte uns vorstellen.“ Als der Papst das Flugzeug bestieg, drehte er sich zu mir um und sagte ganz einfach: „Grüß Gott, Herr Ott!“ Also das war für mich der Überraschungseffekt überhaupt. Er kannte meinen Namen, weil damals mein Sohn bei den Regensburger Domspatzen war. Und irgendwie war durchgesickert, dass der Vater dieses Domspatzen den Papst wieder nach Rom bringen soll.

Über 100 Journalisten waren auf dem Weg zurück nach Rom mit im Flugzeug. Es war die komplette Weltpresse vertreten, außer Nordkorea und China.

Ein zweites Mal habe ich Papst Benedikt im Jahr 2006 nach Rom geflogen. Und es war wirklich so, dass der Papst zu mir sagte: „Jetzt sind wir wieder beieinander!“ Und er wirkte sehr gelöst. Der Bayern-Besuch hat ihm wirklich gutgetan. Dieser zweite Flug konnte in ein paar Details besser vorbereitet werden. Während in Köln eine ganz einfache Flugzeug-Treppe angebracht war, ohne jeden Schmuck, regte ich an, ob man denn diese Treppe nicht schmücken könnte, etwa mit weiß- blauen und gelb-weißen Blumengestecken, so dass das Ganze einfach schöner aussieht. Und meinem Wunsch wurde entsprochen. Das ganze Umfeld war gelöster, man kannte sich und die Handgriffe gingen ineinander über. Doch hatten wir auch diesen Flug sehr sorgfältig vorbereitet, etwa zweieinhalb Monate.

Bei der Vorbereitung sagte mir der Chef der Flugsicherung von München: „Also das wird schon etwas Besonderes. Jetzt sagen Sie mir doch nur noch: Wie soll denn das Wetter sein?“ Da sagte ich: „Ich hätte gern leichten Ostwind, wolkenlosen Himmel und die Temperatur von so knapp 20 Grad.“ Da kann man nur fragen, ob bei solchen Unternehmungen wirklich nur Irdisches abläuft. Denn an diesem Tag im September, als wir losgeflogen sind, war das Wetter genau so, wie ich es gewünscht hatte. Und wir konnten einfach Richtung Osten starten. Wir hatten nämlich auch geplant, beim Abflug noch einmal über die Orte zu fliegen, an denen der Papst die Jahre seiner Jugend verbracht hatte wie z. B. Aschau am Inn, die er nun aber nicht mehr besuchen konnte. Dann machten wir noch eine Schleife über die Salzach hinweg Richtung Traunstein. Das haben wir auch noch überflogen und erst von dort aus ging es Richtung Rom.

Es gibt noch ein Detail in meinem Leben, das zu dieser Aufgabe gepasst hat. Nach dem Abitur 1975 hatte ich den Wehrdienst geleistet. Vom Ende der Bundeswehr an blieb mir bis zum Beginn der Pilotenausbildung noch ein halbes Jahr. Diese Zeit fiel genau in das Wintersemester 76/77. Ich nutzte diese Zeit für ein kurzes Studium in Theologie und auch Philosophie und Musikwissenschaft. Ich wollte meinen Gewohnheitsglauben, den ich von frühester Jugend an sehr gepflegt hatte, auf wissenschaftliche Beine stellen. Ich ging regelmäßig in die Kirche und war Ministrant. Das war alles so vorgegeben. Ich habe es eigentlich den „Achtundsechzigern“ zu verdanken, die mich mit Denkweisen und Argumenten konfrontiert haben, denen ich ziemlich hilflos gegenüberstand, weil mir einfach das Wissen, die Fakten fehlten. Dem wollte ich abhelfen. Es hatte sich damals herumgesprochen, dass ein gewisser Professor Ratzinger zu dieser Zeit in Regensburg Vorlesungen hielt. Alles, was ich von ihm wusste, worüber er redete und was er geschrieben hat, schien mir unerreichbar; aber neugierig war ich doch.

Schon die Atmosphäre bei der ersten Vorlesung, die ich besuchte, war etwas ganz Besonderes. Denn dieser Mann, nicht allzu groß, schüchtern wirkend, sprach im überfüllten Hörsaal jeden an; man hatte den Eindruck: Der spricht mich direkt an! Der Priester Ratzinger da vorne hat mir unaufdringlich, aber unwiderstehlich Theologie erschlossen und nebenbei machte mir Professor Ratzinger klar, was Deutsch für eine wunderbare Sprache ist, wenn er, souverän im Umgang mit der Grammatik, mit ihr und durch sie profund analysierte Erkenntnisse, für mich bis dahin gar nicht vorstellbare Inhalte – frei vortragend, druckreif – gehoben und vermittelt hat. Man brauchte nach der Vorlesung immer eine Pause, um das Gesagte zunächst irgendwie zu verarbeiten.

Ich durfte Benedikt XVI. nach den beiden Flügen 2005 und 2006 auch in Rom noch öfters treffen. Vor allem nach seiner Emeritierung 2013 kam eine tolle Verbindung zustande, weil ich mich auch um die Flüge seines Bruders Georg gekümmert habe, der etwa viermal im Jahr nach Rom geflogen ist. Bei einem dieser Flüge, wo ich selbst im Cockpit saß, habe ich Georg Ratzinger einmal gefragt: „Wie ist das eigentlich? Dürfte ich denn auch mal zur Frühmesse mit dem Heiligen Vater kommen?“ Da sagte er mit einer großen Selbstverständlichkeit: „Rufen Sie Erzbischof Gänswein an! Hier ist seine Telefonnummer.“ Ich sei herzlich willkommen, war dessen Antwort. So kam es dazu, dass ich vier- bis fünfmal im Jahr Papst Benedikt begegnet bin. Das letzte Mal durfte ich im September 2022 bei ihm die Heilige Messe mitfeiern.

Die Messfeier war schlicht und auf das Wesentliche beschränkt, was der Liturgie den ihr zugedachten Raum überlässt. Außerdem war es ein besonderes Privileg, wenn ich eingeladen wurde, die Lesung vorzutragen. Ich als Laie und Flieger war auserkoren, dem Papst aus einem Paulus-Brief vorzulesen. Wirklich großartig!

Benedikt XVI. hat sich nach dem Gottesdienst jeweils ein bisschen Zeit genommen für einen kurzen Gedankenaustausch. Er wusste Bescheid über meine Familie. Es war eine völlig normale Unterhaltung, die das Interesse aneinander zum Ausdruck brachte.

In der Person Joseph Ratzingers ist mir ein Mensch begegnet, in dem sich die Kombination aus Demut und Weisheit nahezu optimal ergänzt hat. Er hatte ein Wissen mit Abstand zu den Dingen, der den Ausdruck „Weisheit“ rechtfertigt. Aber die Demut, die ich bei ihm schon als Professor in Regensburg erkennen durfte, hat sich noch vertieft. Er machte sich selber immer kleiner. Und das macht eigentlich seine persönliche Größe aus. Mit dieser Kombination aus Demut und Weisheit wollte er immer nur vermitteln, was ihm sein Herr, sein Gott mit auf den Weg gegeben hatte.

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Kirche = Welt: eine Gleichung, die nicht aufgeht

Aufruf zur „Entweltlichung“ – ein Vermächtnis von Benedikt XVI.

Als der Augsburger Bischof Dr. Bertram Meier seine Silvester-Predigt vorbereitete, war bereits bekannt, dass sich der gesundheitliche Zustand des emeritierten Papstes Benedikt XVI. verschlechtert hatte. Doch war nicht abzusehen, dass er noch vor dem Jahreswechsel von uns gehen würde. Bischof Meier knüpfte bei seiner Ansprache zum Jahresschluss an den Aufruf Benedikts XVI. zur „Entweltlichung“ an, den er am 25. September 2011 im Konzerthaus von Freiburg im Breisgau an die „in Kirche und Gesellschaft engagierten Katholiken“ gerichtet hatte. Papst Benedikt ließ die damalige Apostolische Reise in sein Heimatland in vieler Hinsicht zu einem historischen Vermächtnis werden. Doch das Wort „Entweltlichung“ ist bis heute ein besonderer Stachel im Fleisch geblieben. Nachfolgend die ungekürzte Predigt von Bischof Meier an Silvester 2022 im Dom zu Augsburg.

Von Bischof Bertram Meier

Vor gut zehn Jahren (2011) platzte im Konzerthaus in Freiburg eine Bombe. Der „Bombenleger“ war kein Geringerer als der damalige Papst Benedikt XVI. Die versammelten Menschen waren feierlich gestimmt, als der Papst ein Wort ins Spiel brachte, das die Zuhörer überraschte. Viele zuckten zusammen. Manche reagierten schockiert, andere empört. Das Wort ist in der Tat so ungewöhnlich, dass das Korrekturprogramm eines normalen Computers es bis heute als Fehler markiert. Was damals wie eine Bombe einschlug, heißt „Entweltlichung“.

 Es trifft den Kern dessen, was christliche Existenz ausmacht: sowohl die Bewegung Gottes auf die Welt hin, wie wir sie an Weihnachten feiern, als auch die Distanzierung von der Welt, weil die Nachfolge Christi sich nicht so sehr an den Wegweisern der Welt orientieren soll, sondern sich am Gebet Jesu für seine Jünger ausrichtet: „Wir sind zwar in der Welt, aber nicht von der Welt“ (vgl. Joh 17,15f). Um es klar zu stellen: Entweltlichung ist niemals Flucht aus der Welt. Die Kirche darf sich nicht aus der Weltverantwortung stehlen, sie darf sich nicht vor der Welt drücken. „Die Kirche taucht ein in die Hinwendung des Erlösers zu den Menschen. Sie ist, wo sie wahrhaft sie selber ist, immer in Bewegung, muss sich fortwährend in den Dienst der Sendung stellen, die sie vom Herrn empfangen hat. Und deshalb muss sie sich immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen und gegenwärtig zu machen.“

Wenige Stunden, bevor wir über die Schwelle von 2022 ins neue Jahr 2023 treten, lade ich Sie ein, mit mir ein paar Gedanken zu teilen, die uns helfen, das alte Jahr zu verabschieden und zugleich das neue anzugehen. Denn die Fragen und Herausforderungen nimmt uns der Jahreswechsel nicht ab.

„Entweltlichung“: die Renaissance eines missverstandenen Wortes

Manchmal nützt es, ein Wort aus einer gewissen Distanz heraus neu zu lesen und besser zu verstehen. Wenn wir von der Entweltlichung der Kirche sprechen, dann ist damit weder eine weltfremde noch eine weltvergessene Kirche gemeint. Im Gegenteil: Unser Ziel muss sein, als Salz und Sauerteig in die Welt hinein zu wirken. Das bedeutet: Die Bereitschaft, sich zu distanzieren, ist Voraussetzung dafür, sich profiliert zu engagieren. Das Wort, das Paulus an die Römer schrieb, ist also aktueller denn je: „Gleicht euch nicht dieser Welt an!“ (Röm 12,2) Martin Luther übersetzt plastisch: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich!“

Das Gegenteil von Entweltlichung ist Verweltlichung. Wo Kirche und Welt ineinander aufgehen, machen sie sich verzichtbar. Wenn die Welt von der Kirche dominiert wird, besteht die Gefahr des Gottesstaates, der Theokratie. Und wenn die Kirche von der Welt verschluckt wird, ist sie stromlinienförmig; auf Dauer macht sie sich überflüssig. Sie hat ausgedient. Kirche = Welt/Welt = Kirche: Diese Gleichung geht nicht auf. Ergebnis: eine Kirche ohne Profil und ohne Kraft.

Das Ziel: Profilierung des Zeugnisses

Kehren wir zum Hohepriesterlichen Gebet Jesu zurück: Die Jünger „sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,16). Zwei evangelische Theologen geben Schützenhilfe. Da ist zunächst Rudolf Bultmann, der das Gebet so auslegt: „Zum Wesen der Kirche gehört eben dieses: innerhalb der Welt eschatologische, entweltlichte Gemeinde zu sein. Sie darf sich durch den Hass der Welt nicht verführen lassen, ihrem Wesen untreu zu werden; sie darf sich nicht für die Weltgeschichte mit Beschlag belegen lassen, sich als Kulturfaktor verstehen, sich in einer ‚Synthese‘ mit der Welt zusammenfinden und Frieden mit der Welt machen.“[1]

Hinzu gesellt sich der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber, der davor warnt, die Kirchen in Westeuropa könnten sich selbst säkularisieren: „Sie haben den Säkularisierungsprozess in einem Prozesse der Selbstsäkularisierung aufgenommen. Die moralischen Forderungen der Religion wurden zum dominierenden Thema; die transmoralischen Gehalte der Religion, die Begegnung mit dem Heiligen, die Erfahrung der Transzendenz traten in den Hintergrund.“ Es sei nötig, einen Gegenakzent zu setzen. Bischof Huber fordert die Kirchen auf, ihre besondere religiöse Kompetenz entschiedener zur Geltung zu bringen. Es geht um das „Kerngeschäft“ des Glaubens: „Strukturelle Reformen müssen sich nämlich aus einer erneuerten Auftragsgewissheit ergeben; verselbständigte Strukturdebatten dagegen laufen ins Leere.“[2]

Als dritte Gewährsfrau für diese Gedanken präsentiere ich die Schriftstellerin Nora Bossong: Thomas-Mann-Preisträgerin, bekennende Katholikin und – wie sie es nennt – protestantisch sozialisiert.[3] Auf die Frage, was sie am Ordensleben interessiert, antwortet sie: „Die Entweltlichung. Das ist etwas, was mir als Schriftstellerin durchaus nahegeht, dieser Wunsch des Rückzugs. (…) Die Welt ist ja nicht immer ein besonders erfreulicher Ort. (…) Entweltlichung wäre darum vielleicht die Möglichkeit, dass im Glauben durch den zeitweiligen Rückzug ins Geistige der Irrsinn aushaltbarer wird, dass man zur Hoffnung zurückfindet.“

Diese abstrakt anmutenden Gedanken werden konkret, wenn Nora Bossong auf die Eucharistie zu sprechen kommt: „Mir gibt die Messe Halt, weil sie alles Alltägliche in Relation setzt. Sie baut eine Distanz zum Hier und Jetzt auf, aus der ich meine weltlichen Angelegenheiten präziser betrachten kann.“ Gegenüber kirchlichen Reformprojekten wie Zölibat, Frauenordination oder Sexualmoral ist die Schriftstellerin eher zurückhaltend. Mit Blick auf die Zukunft der Kirche sei sie „hin- und hergerissen“ und habe dabei – eigener Einschätzung nach – „konservative, aber auch reformerische Anteile“. Klar ist ihr, was sie nicht will: eine Kirche, die „verweltlicht“ ist und sich der Welt gleichmacht: „Die Kirche darf in keinem Fall so werden, wie man es in Berlin-Mitte angemessen fände.“ Soll die Kirche Zukunft haben, wird das nicht funktionieren als religiöser Supermarkt.

Die Kirche: ein großes Theater

Vielmehr sollten wir ernst nehmen, was die Kirche – vor allem ihr Gottesdienst – sein soll: theatrum sacrum, heiliges Theater. An diesem Gedanken habe ich mich im vergangenen Jahr festgehalten, als mich die innerkirchlichen Debatten mit ihrer verständlichen, aber teilweise auch übersteigerten Emotionalität belastet und genervt haben. Unsere Diskussionen, Streitgespräche und Intrigen haben inzwischen einen Stil angenommen, der vergiftet und selbstzerstörerisch ist. Wie viele Tischtücher sind womöglich schon zerrissen, wieviel Porzellan wurde auch auf der menschlichen Ebene zerschlagen?

Mir ist klar, dass unser Umgang mit dem Themenfeld Missbrauch nicht nur Drama oder Tragödie ist; das wäre eine Verharmlosung. Das ist kein Theater, sondern harte Realität, der wir uns ehrlich stellen müssen. Aufklärung, Aufarbeitung und Vorbeugung: Pflichtprogramm kirchlichen Handelns. Aber die Debatten, die sich mittlerweile vom Thema des Missbrauchs hin zum Ringen nach einer zukunftsträchtigen Reform der Kirche verlagert haben, machen mir große Sorge. Denn die Konflikte, die wir derzeit austragen, gehen tief. Sie drohen zu Grabenkämpfen zu werden, die in einen innerkirchlichen Stellungskrieg münden können, der langwierig ist, lähmt und nichts löst: Theater ohne Ende, Streit ohne Maß und Mitte, pauschale Verurteilungen nach Holzschnittmanier. Der Theologe Tomás Halík bringt es auf den Punkt: In den derzeitigen religiösen Kämpfen sitze der Gegner gar nicht mehr draußen oder in der Nachbarkirche, sondern neben einem in der eigenen Kirchenbank.[4] Innerkirchliche Zerfleischung hilft uns nicht weiter!

Manchmal habe ich den Eindruck, dass das theatrum sacrum in ein theatrum absurdum umgekippt ist: vom heiligen Theater ins absurde Theater.  Das absurde Theater, das sich seit etwa 1950 herausgebildet hat, gilt als Reaktion auf eine sinnentleerte Welt, die den Menschen zwar in Freiheit lässt, aber auch in Angst und Vereinsamung. Das absurde Theater hält dagegen, dass jeder Mensch sein Schicksal selbst bestimmt. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Es gibt keine Normen, die für alle bindend sind: Widersprüche allenthalten. Auch die Sprache verkümmert und verroht. Kommt uns das nicht bekannt vor?

Kirchliche Performance: absurdes Theater?

Ist es nicht absurd, wenn einerseits die Sakramentalität der Kirche insgesamt sowie der Sinn der sieben Sakramente im Besonderen bezweifelt und andererseits der Zugang zu den Weiheämtern für alle gefordert wird?

Ist es nicht absurd, wenn ernsthaft behauptet wird, die Kirche müsse zuerst ganz untergehen, ehe man überhaupt daran denken kann, sie geistlich zu erneuern?

Ist es nicht absurd zu meinen, dass wir alles durchleuchten könnten, was mit Missbrauch zu tun hat, ehe wir uns daranmachen, nach geeigneten Wegen zu suchen, den Menschen das Evangelium glaubwürdig anzubieten?

Ist es nicht absurd, uns so zu zerstreiten, dass wir uns nicht mehr in die Augen schauen können, und gleichzeitig davon zu träumen, als Minderheit gemeinsam mit einer Stimme in die Gesellschaft hineinzusprechen, „damit die Welt glaube“?

Ist es nicht absurd, die Vollmacht der Leitung immer mehr aufzusplittern und zugleich, wenn etwas nicht klappt, die Verantwortung auf die Kleriker zu schieben, auf Bischöfe und Priester, die damit zu Zielscheiben und Sündenböcken werden?

Ist es nicht absurd, uns finanziell und personell weiterhin in Einrichtungen zu engagieren, deren katholische Identität verloren zu gehen droht?

Wenn ich das alles bedenke, frage ich mich: Wo sind wir gelandet? Wo wollen wir hin auf unserem Weg als Kirche in Deutschland? Sind wir in „Absurdistan“?

Die synodale Reise ist ein Weg der Versöhnung

Veränderung gelingt nur, wenn sie sich paart mit einem Weg der Versöhnung. Für Thomas Söding sind die beiden Vorgänge verklammert in der Umkehr: „Umkehr meint eine Kehrtwende des Lebens: weg von der Fixierung auf die Vergangenheit, hin zur Orientierung an der Zukunft; weg von der Fixierung auf das Böse, hin zur Orientierung am Guten; weg von der Fixierung aufs Gehabte, hin zur Orientierung am Verheißenen. (…) Umkehr ist immer eine persönliche Entscheidung und eine persönliche Konsequenz; aber Umkehr ist auch die Bewegung einer ganzen Gemeinschaft, die ihre Sünden loswerden will.“[5]

Der Synodale Weg begann mit dem Schock über die schweren Verletzungen, die kirchliche Verantwortungsträger ihnen anvertrauten Menschen zugefügt hatten. Gemeinsam sind wir vor drei Jahren in Frankfurt gestartet mit dem Ziel: Nie wieder! Seitdem gab es auch unter uns Verwerfungen und Verwundungen. Doch synodale Kirche geht nur, wenn wir einander verzeihen, wenn unser Verhalten getragen ist von Wohlwollen und Respekt. Sonst ist es mit unserer Stimmung wie mit der Weihnachtsbeleuchtung: Ich schalte sie ein und schalte sie ab – je nach Bedarf. Wir sind in einer „synodía“, in einer Reisegesellschaft. Wohin die Reise geht – in Deutschland und in der Welt –, das hängt auch davon ab, wie groß unsere Versöhnungsbereitschaft ist. Deshalb habe ich mir fürs neue Jahr das als Vorsatz gefasst, was der Apostel Paulus einst den Korinthern empfahl: „Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott (und untereinander) versöhnen!“ (2 Kor 5,20).

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[1] Rudolf Bultmann: Das Evangelium nach Johannes (KEK II), Tübingen 1941/1986, 389.

[2] Wolfgang Huber: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 9-10, 31, 39.

[3] Nora Bossung, geb. 1982 in Bremen, verschiedene Interviews, bes. in Herder-Korrespondenz 7/2019, 16-18 und im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 15. Mai 2022.

[4] Tomás Halík: Die Zeit der leeren Kirchen, Freiburg 2021.

[5] Thomas Söding: Umkehr der Kirche. Wegweiser im Neuen Testament, Freiburg 2014, 7f.

Benedikt XVI. hat Kirchengeschichte geschrieben

Ein immenses und kostbares Lebenswerk

Mit „Trauer und Betroffenheit“ hat der Augsburger Bischof Dr. Bertram Meier auf die Nachricht vom Tod des emeritierten Papstes Benedikt XVI. reagiert. In einem Statement würdigte er den Verstorbenen als überragenden Theologen und Hirten im Dienst an der Wahrheit. Dabei knüpfte Bischof Meier an ganz persönliche Erinnerungen an.

Von Bischof Bertram Meier

Schon kurz nach meiner Priesterweihe 1985 durfte ich Joseph Ratzinger kennen lernen. Während meiner Jahre am deutschen Kolleg des Campo Santo bei Sankt Peter in Rom konnte ich fast wöchentlich am Donnerstag mit ihm die Eucharistie feiern und oft mit ihm frühstücken. Während meiner Promotion hat er sich wiederholt nach dem Fortgang meiner Arbeit erkundigt, zumal ich über den von ihm geschätzten Regensburger Bischof Johann Michael Sailer schrieb, den Vater der Pastoraltheologie.

Joseph Ratzingers Maßanzug war der des Theologen, und dieses Charisma brachte er an allen Stationen seines Wirkens ein: als Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik, im Kardinalsrang als Erzbischof in unserer Metropolie München und Freising sowie als Präfekt der Glaubenskongregation und schließlich als Papst. Es war wohl für Joseph Ratzinger durchaus herausfordernd und spannend, sein eigenes Profil als wissenschaftlicher Theologe zurückzustellen und in das Wir der Gesamtkirche zu integrieren, die Einheit und Vielfalt zusammenbringen muss.

Je höher seine Verantwortung wuchs, umso mehr begab er sich in den Dienst der Wahrheit, die er den Menschen in Liebe anbieten und verkünden wollte. Es ist sicher kein Zufall, dass sein erstes großes päpstliches Rundschreiben den Titel trug: Deus caritas est – Gott ist die Liebe.

Dabei musste er auch erfahren, dass die Autorität der Wahrheit in der Liebe an Grenzen stößt.

Ich verneige mich vor dem immensen und kostbaren Lebenswerk, das Papst em. Benedikt XVI. der Kirche hinterlässt, und bin mir sicher, dass die theologischen Bögen, die er spannte, einen Horizont des Lichtes eröffnen, das mit einem gewissen zeitlichen Abstand auch die Schatten überstrahlt, die in den letzten Monaten auf sein Wirken gefallen sind.

Ich bin zuversichtlich, dass Joseph Ratzinger als einer der großen Theologen auf dem Stuhl Petri Kirchengeschichte geschrieben hat. Möge er nun unverhüllt schauen dürfen, was er in seinem Sehnen unermüdlich gesucht und erforscht hat.

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Weichenstellende Begegnung mit Benedikt XVI.

Vom Kreuz empfangen wir allen Trost

Ingrid Wagner aus Passau berichtet von einer eindrucksvollen Begegnung mit Papst em. Benedikt XVI. am 20. August 2016 im Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten. Ihr Zeugnis zeigt wunderschön die Herzensgüte eines Hirten, der am Schicksal der Menschen ganz persönlich Anteil genommen hat und dadurch auch immer wieder Weichen für das ganze Leben der Betroffenen gestellt hat. Ihre Freundin Veronika Marton, für die sie den Besuch in Rom arrangierte, ist inzwischen bei den Betlehemschwestern eingetreten. Ingrid Wagner, die in der Jugend 2000 „großgeworden“ ist, leitet heute das Referat Neuevangelisierung im Bistum Passau und das HOME am Domplatz.

Von Ingrid Wagner

Es war ein schöner sonniger Morgen, als wir an einem Samstag mitten im August, am Festtag des hl. Bernhard von Clairvaux, von den Schweizer Gardisten an der Porta St. Anna abgeholt und mit dem Auto zum Klösterchen in den Vatikanischen Gärten gefahren wurden zu einer besonderen Begegnung mit Papst Benedikt.

Eigentlich wäre es der Hochzeitstag von Veronika Marton gewesen. Sie wollte am 20.08. ihren Josef heiraten. Alles war bereits vorbereitet, das Hochzeitskleid gekauft, die Kirche und das Wirtshaus bestellt.

Am Tag der Bekehrung des hl. Paulus, am 25.01.2016, hatte Josef, ihr Verlobter, einen tödlichen Autounfall. Er konnte nichts dafür. Ein Auto hat ihn frontal erwischt, er starb noch am Unfallort. Josef war ein sehr gläubiger junger Mann, der Jesus und die Kirche geliebt hat. Sein Lieblingsheiliger war der hl. Paulus.

Vroni hat mich einige Wochen nach der Beerdigung gefragt, ob ich an ihrem „Hochzeitstag“ mit ihr nach Rom fahren würde. Sie möchte gerne diesen besonderen Tag dort verbringen. Ich habe zugesagt und mir insgeheim gedacht: „Was mache ich denn mit ihr an diesem Tag in Rom?“

Mir kam die Idee, ob ich vielleicht den emeritierten Papst Benedikt um eine Begegnung mit ihm bitte. Ein befreundeter Priester, dem ich den Gedanken erzählt habe, hat mich bestärkt, ihm einfach an die offizielle Adresse des Vatikans zu schreiben. Gesagt getan. Ich habe mich kurz vorgestellt und ihm die Geschichte von Josef und Vroni geschrieben. Drei Seiten mit der Hand. Vroni wusste nichts davon. Durch meine Zeit in Regensburg bei der Jugend 2000 habe ich vor vielen Jahren Georg und Joseph Ratzinger kennengelernt. Immer wieder gab es kleine Begegnungen, die mich wohl auch zu diesem Schritt ermutigt haben.

Wenige Wochen nach meinem Brief kam ein Anruf aus dem Vatikan mit der Zusage, dass Papst Benedikt den Brief bekommen hat und er sich sehr freut, uns zu empfangen und mit uns die Heilige Messe zu feiern. Die Überraschung und Freude von Vroni und auch von mir war übergroß.

So sind wir also nach Rom geflogen. Fesche Dirndl und viele Köstlichkeiten aus Bayern hatten wir im Gepäck. So viel, dass Bischof Gänswein uns mit der Frage empfangen hat, ob wir bei ihnen einziehen wollen, als er unseren großen Rollkoffer sah.

Die Heilige Messe war sehr einfach und sehr schön. Zu Beginn hat Papst Benedikt Vroni direkt angeschaut und gesagt: „Veronika, heute ist ein sehr schwerer Tag für Sie. Es gibt Zeiten im Leben eines Menschen, da ist es sehr schwer, an die Liebe Gottes zu glauben.“ Dann hat er auf das große Kreuz hinter ihm gezeigt und gesagt: „Dann ist es besonders wichtig auf das Kreuz zu schauen und vom Kreuz allen Trost, alle Kraft und alle Liebe zu empfangen.“

Nach der Heiligen Messe konnten wir noch mit ihm sprechen. Er hat zu Vroni gesagt, dass er sehr viel für sie gebetet hat.

Er war sichtlich erfreut über unser „Dirndlgwand“ und über unsere Mitbringsel aus Bayern. Auch war er sehr interessiert an unserer Arbeit, die wir für die Kirche tun. Vroni hat zu der Zeit fürs Basical gearbeitet, ein christliches Orientierungsjahr für junge Menschen in Augsburg und ich für Neuevangelisierung im Bistum Passau.

Was für ein Trost und was für eine Freude, die uns der Heilige Vater geschenkt hat, an diesem für Vroni so schweren Tag.

Inzwischen ist Vroni bei den Bethlehemschwestern in St. Johann im Pongau in Österreich eingetreten. Ich bin sicher, dass das Gebet von Papst Benedikt ihr geholfen hat, im Leiden den Herrn noch tiefer zu finden. Und wenn es auch heute immer wieder Zeiten gibt, wo es schwer ist, hilft uns die Erinnerung an die Begegnung mit Papst Benedikt und seine Einladung immer wieder aufs Kreuz zu schauen und vom Herrn her alle Kraft und allen Trost und alle Liebe zu empfangen. Danke, verehrter und geliebter Papst Benedikt – dafür und für so vieles andere mehr.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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Benedikt XVI. war ein im Herzen Empfangender

Im Passauer Stephansdom feierte Bischof Dr. Stefan Oster unter großer Anteilnahme von Gläubigen und Vertretern aus der Politik am 7. Januar 2023 ein Requiem für Benedikt XVI. In seiner Predigt ging er von der ersten Seligpreisung in der Bergpredigt aus: „Selig die arm sind vor Gott!“ Im Licht dieser Verheißung hielt er einen einfühlsamen Rückblick auf das Leben des Verstorbenen. Nachfolgend ein kurzer Auszug aus seiner Ansprache.

Von Bischof Stefan Oster SDB

Ich habe ihn als einen Mann erleben dürfen, bei dem aus meiner Sicht nie sein Wissen und seine Intelligenz das waren, was ihn am meisten ausgezeichnet hat. Ich habe ihn vielmehr erlebt als einen Mann, für den Jesus die erste Realität seines Lebens war. Jesus war ihm Lehrer und Meister; von Jesus hat er aus der Schrift empfangen. In Jesus hat er die Mitte der Weltgeschichte gesehen und zugleich die Zukunft von allem. Von ihm her und auf ihn hin hat er gelebt. Und wenn wir den Eindruck hatten, Joseph Ratzinger konnte tief und sehr gelehrt über den Glauben und die Theologie sprechen, dann stimmt das natürlich. Aber im Sprechen darüber hat er selbst immer auf die Quelle verwiesen, von der er im Grunde alles empfangen hat. Vom lebendigen Gott, aus seiner Beziehung zu Christus im Heiligen Geist. Papst Benedikt war in all seiner Gelehrtheit ein Beter, einer, der vor seinem Gott auf die Knie gegangen ist. Er hätte nie gesagt, dass er seine große Gelehrsamkeit aus sich selbst hatte; er war ein Empfangender; aber ganz offenbar einer, der mit herausragenden Gaben beschenkt war – um mit dem, was er empfangen hatte, auch umzugehen, um es mitzuteilen, um es zu verschenken.

Das heißt für mich: Vor seinem Gott war er ein Armer – und dieser Gott hat ihn reich gemacht. Und in diesem Sinn war er auch „arm im Geist“ – weil er vertrauen konnte und wusste und lebte, dass man die im Leben alles entscheidenden Dinge nicht einfach aus sich selbst hat. Das sind Dinge, wie die Fähigkeit zu vertrauen, zu lieben, Freundschaft zu leben, vergeben zu können, dankbar zu sein auch in schweren Zeiten – alles so etwas hatte er nicht aus sich selbst. Alles das hat er nur von Gott erwartet und empfangen. Arm vor Ihm.  

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Was es mir bedeutet, zu einem – meinem – Säkularinstitut zu gehören

Weltpriester in einer geistlichen Familie

In einer der letzten Ausgaben hatte Pfr. Lorenz Rösch bereits das Säkularinstitut Notre-Dame de Vie (Unsere Frau vom Leben) vorgestellt. Diesem – genauer: dessen Priesterzweig – gehört er selbst seit dem Noviziat 2015/17 an, mit dem Ziel der ewigen Gelübde im Sommer 2023. Ergänzend zu der damaligen Darstellung des Instituts als solchen gibt er im Folgenden einen Einblick darin, was ihm als Diözesanpriester diese Zugehörigkeit bedeutet. Dies lässt sich sicherlich – mutatis mutandis – auch auf andere Säkularinstitute für Priester bzw. mit Priesterzweig übertragen.

Von Lorenz Rösch

Als Diözesanpriester wohne ich – jedenfalls in den Jahrzehnten des aktiven Dienstes – zwar in erkennbar „ausgesonderten“ Häusern mit einer mehr oder weniger „geistlichen Aura“, bin aber in aller Regel nicht eingebunden und getragen von einem konkreten geistlichen Lebensrhythmus. In einem zunehmend säkularen Umfeld und einem kirchlichen Kontext, der den Priester zunehmend nur als Funktionsträger beansprucht, droht eine schleichende Säkularisierung von Lebensgestaltung und Selbstverständnis. Um dem zu begegnen, beurteilen viele Bischöfe und Priesterbegleiter das Modell einer „vita communis“ (Lebensgemeinschaft) mehrerer Priester unter einem Dach als „eigentlich“ wichtig und fördernswert, aber Sachzwänge und individuelle Prägung der Priester scheinen – jedenfalls im deutschen Sprachraum – nur ausnahmsweise eine Umsetzung der Idee zu erlauben. Insofern teile ich als Diözesanpriester die Ausgangslage von Frauen und Männern mit anderen Berufen, die eine Jesus-Nachfolge gemäß den „evangelischen Räten“ leben möchten, und dies ohne klösterlichen Rahmen („religio“ in diesem besonderen Sinn), vielmehr unter den Bedingungen der weltlichen Welt („saeculum“), und die sich deshalb einem Säkularinstitut anschließen.

Elemente des Ordenslebens, um besser Weltpriester zu sein

Als Diözesanpriester kann ich durch eine solche Zugehörigkeit zugleich ein Stück weit Ordenschrist sein. Diese Verknüpfung ist kein fauler Kompromiss, vielmehr werden die mit der Diakon- und Priesterweihe verbundenen Gelübde dadurch konkreter und zugleich lebbarer: Die ehelose Keuschheit ist dann nicht nur Enthaltung von verbindlicher (intimer) Gemeinschaft, sondern auch Öffnung für eine verbindliche Gemeinschaft erweiterter Art. Innerhalb dieser gelebten Gemeinschaft werden auch Gehorsam und Armut praktisch, als Verzicht auf maximale Unabhängigkeit und bestmöglichen Komfort. Das Versprechen einer geistlichen Lebensgestaltung und des stellvertretenden Gebets für die meiner Sorge Anvertrauten wird realistischer und realer durch die institutseigenen Vorgaben für den Tag (Gebetszeiten), für den Monat oder das Quartal (Einkehrtag, Regionaltreffen) und für das Jahr (Einkehrzeit). Zwar bleibt die Mühe, diese Elemente zeitlich einzuplanen, doch die Macht der Launen und Zwänge ist weniger groß.

Die Zugehörigkeit konkret zum Säkularinstitut Notre-Dame de Vie bedeutet, zur geistlichen Familie des (Teresianischen) Karmels zu gehören. In ihr habe ich teil an einer bestimmten Gebetstradition, die einen bewährten Weg weist auch durch Trockenzeiten hindurch. Ich habe teil an geistlichen Schätzen, die dieser geistlichen Familie zugewachsen sind, an denen man sich gemeinsam freut und orientiert (z. B. Skapulier, Verehrung des Jesuskindes, Theater-Spielfreude zu Festen). Ich habe auch teil an einem konkreten Netzwerk von Brüdern und Schwestern, das sich bei einem internationalen Institut wie diesem über den ganzen Globus spannt.

Erweiterter Horizont und übergreifender Fokus

Die Einbindung in eine weltweite Gemeinschaft und eine nicht im deutschsprachigen Kirchenmilieu verortete Spiritualität weitet mir den Horizont; sie hilft, nationale Gegebenheiten und Sichtweisen zu relativieren und gelassener zu beurteilen. Andererseits bleibt es nicht beim Nutzen und Profitieren; es geht zugleich um Mitverantwortung: für Einzelne (besonders in der eigenen Region) und für das Ganze (materielle und zeitliche Ressourcen, ideelle Beiträge, Weiterentwicklungsprozesse…).

Die Mitgliedschaft in Notre-Dame de Vie lässt mich meinen Dienst als Diözesanpries-ter als ein Apostolat verstehen, das auf der Kontemplation gründet und davon durchdrungen sein möchte. Und der Fokus dieses Dienstes ist wiederum, Menschen zu einer solchen gläubigen Existenz zu animieren und (im besten Fall) auch anzuleiten, die aus dem Sein kommt, aus der Entfaltung der Taufgnade.

Ich erlebe diese Auffassung als heilsames Korrektiv zu einer Sichtweise von Evangelisierung hierzulande, die meint auf Katechese als Erschließung von Glaubenswahrheiten verzichten zu können oder zu sollen. Ebenso erlebe ich sie als Korrektiv zu einem verbreiteten latent-pelagianischen Verständnis von Christsein, das für die Dimension der Gnade, der Erlösungsbedürftigkeit und der Heiligung keinen Platz hat bzw. sie ins Menschliche hinein auflöst.

Wechselbezüge zur eigenen Biographie

Natürlich gibt es biographische Wegmarken, die zu einem Wiedererkennungseffekt führen und mit zu dem Gefühl beitragen, in einer Gemeinschaft oder einem Institut richtig zu sein. Bei mir gehört dazu der hohe Stellenwert des Heiligen Geistes in der persönlichen Erfahrung des Gründers von Notre-Dame de Vie, des sel. Eugen-Marie Grialou, und das Patronat der hl. Jungfrau-Mutter Maria für den Karmel insgesamt, das (auch) im Institut in einem konkreten Sinn verstanden und entsprechend gelebt wird. Nicht zuletzt auch die Gestalt der hl. Therese vom Kinde Jesus, die Kirchenlehrerin des „Kleinen Weges“, die als authentische moderne Interpretin von Teresa von Jesus und Johannes vom Kreuz anerkannt wird.

In jüngeren Jahren war ich von jungen Gemeinschaften angezogen, in denen viel ursprüngliches „Feuer“ zu spüren war, animiert von charismatischen Gründerpersönlichkeiten. Verschiedene dieser Gründergestalten erwiesen sich jedoch nach einigen oder auch erst nach vielen Jahren als Menschen mit einer erschreckenden Schattenseite und stürzten dadurch die Gemeinschaften in schwere Krisen; andere Gemeinschaften gerieten beim Übergang in die Nach-Gründerzeit in eine schwierige Zeit der Selbstvergewisserung und des Richtungsstreits. In Notre-Dame de Vie fand ich dann sozusagen eine „ältere Bewegung“, nicht ohne Krisenmomente und Reifungsbedarf, aber mit guten Grundlagen und viel Potenzial zur gesunden Weiterentwicklung. Mir scheint auch, dass sie gerade im Blick auf die verbreitete Sehnsucht nach frischer, unmittelbarer Glaubenserfahrung eine wichtige Antwort sein kann, eine Hilfe, um die Geister zu unterscheiden, in die Tiefe zu gehen und mit den Jahren zu einer reifen Gestalt des Christseins zu gelangen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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Ratzinger erinnerte sich an Hans Scholl – „Alle sagten: Die san schneidig!“

Alles lassen und das Letzte wagen

Studiendirektor Jakob Knab erforscht seit vielen Jahren den Widerstand gegen die Ideologie und Herrschaft der Nationalsozialisten während des Dritten Reichs. Er zeigte vor allem die tiefe christliche Verwurzelung der Studentengruppe „Weiße Rose“ auf. Nachfolgend geht er auf die spirituelle Prägung des Mitbegründers Hans Scholl ein, dessen Leben vor bald 80 Jahren unter dem Fallbeil endete. Knab stellt auch einen Bezug zu Joseph Ratzinger her und verweist auf eine Stelle in der Biographie von Peter Seewald. Der junge Ratzinger war Zögling in Traunstein, als die Gruppe vom 27. Juni bis zum 12. Juli 1942 ihre vier Flugblätter in Umlauf brachte, aber auch als Hans und Sophie Scholl am 22. Februar 1943 hingerichtet wurden. Seewald schreibt: „Auch die Seminaristen in Traunstein hatten davon Wind bekommen. ‚Wir haben darüber gesprochen‘, berichtete Ratzinger, ‚und unsere ganze Klasse zeigte Sympathie. Alle sagten: ,Die san schneidig.‘“ (S. 118).

Von Jakob Knab

Es lebe die Freiheit!“, waren seine letzten Worte. Hans Scholl wurde im Alter von nur 24 Jahren hingerichtet. Erst über die Umwege fand der leidenschaftliche junge Mann zum entschiedenen Widersagen und den Weg in den Widerstand.

Sinnkrise führte zum gewissenhaften Ringen um Wahrheit

Als fanatischer HJ-Führer jubelte er noch dem „Führer“ zu. Doch nach einer tief empfundenen Sinnkrise, die mit seiner ersten Verhaftung 1937 begann, fand er Haltung und Orientierung in einer existenziellen christlichen Gläubigkeit, die fortan sein Denken und politisches Handeln bestimmen sollte. So entwickelte er klarsichtige Vorstellungen über das wahrhaft Gute und das radikal Böse. Seine energiegeladene Persönlichkeit suchte individuelle und politische Freiräume. Die Geschichte der Freiheit verdankt sich der schöpferischen Kraft einer Minderheit herausragender Einzelpersönlichkeiten. Das gewissenhafte Ringen um Wahrheit muss zwangsläufig mit den Ansprüchen einer totalitären Herrschaft in Konflikt geraten. Hans Scholl riskierte sein junges Leben im Widerstand gegen Hitlers Gewaltherrschaft; denn er kämpfte bis zur letzten Konsequenz für die Würde des Menschen und für die Freiheit des Gewissens.

„Mir ist Christus neu geboren“

An Weihnachten 1941 legte Hans Scholl gegenüber seinem väterlichen Freund Carl Muth, dem Herausgeber der im Juni 1941 verbotenen Monatsschrift Hochland, dieses Bekenntnis ab: „Ich hörte den Namen des Herrn und vernahm ihn. In diese Zeit fällt meine erste Begegnung mit Ihnen. Dann ist es von Tag zu Tag heller geworden. Dann ist es wie Schuppen von meinen Augen gefallen. Ich bete. Ich spüre einen sicheren Hintergrund und ich sehe ein sicheres Ziel. Mir ist in diesem Jahr Christus neu geboren.“[1]

P. Mauritius Schurr OSB und seine Schreibmaschine

Scholl suchte nun die Begegnung mit gelehrten und glaubwürdigen Christen, die ihm Sinn, Halt und Orientierung geben konnten. Der Student der Humanmedizin Hans Scholl pflegte auch Kontakte mit P. Mauritius Schurr OSB (1909-1987). Unter seinem bürgerlichen Namen Eugen Bernhard Schurr hatte der Theologe in München ein Zweitstudium der Humanmedizin begonnen; gleichzeitig wirkte er insgeheim in Studentenkreisen als Seelsorger. Als „Reichsdeutscher Student deutscher Volkszugehörigkeit“ (mit arischer Abstammung) musste er schließlich Wehrdienst leisten. Nur wenig ist bekannt über sein Leben und Wirken.[2] Aber noch 1985, zwei Jahre vor seinem Tod, teilte Pater Mauritius, der auch zu Edith Steins geistlichen Weggefährten gehörte, mit: „ … die Schreibmaschine (mit der einst 1943 die Flugblätter der ‚Weißen Rose‘ geschrieben wurden) ist altersschwach geworden und springt unkontrolliert von Taste zu Taste weiter.“[3]

Der „Klostersturm“ und die Eröffnung von Reserve-Lazaretten

Hans Scholl begeisterte sich für die sinnliche Pracht der bayerischen Barockkirchen. Bei seinen Ausflügen in das südliche Umland von München besuchte er auch die Stiftskirche in Weyarn (Obb.), die Wieskirche und die Klosterkirche Schäftlarn. Im Anschluss an das Wintertrimester 1941/42 legte Scholl sein medizinisches Praktikum (Famulatur) in der Erzabtei der Benediktiner in St. Ottilien ab. Auch dieses Kloster wurde am 17. April 1941 beim sog. „Klostersturm“ aufgehoben. Schon bei seinen Ausflügen ins Münchner Umland hatte Scholl den dortigen Bibliothekspater Beda Danzer OSB (1881-1994) und auch den Rottenburger Bischof Johann Baptist Sproll kennengelernt.[4] Pater Beda verfasste zudem geistliche Literatur: Der hl. Benedikt als Apostel (1914), Der heilige Vater Benedikt. Gebet- und Erbauungsbüchlein (1927), Der Missionsgedanke auf der Kanzel (1927) sowie Benediktinermissionare des Mittelalters (1929).

Im sog. „Klostersturm“ vom Frühjahr 1941 waren über 200 katholische Klöster im Reichsgebiet von der Gestapo aufgehoben und beschlagnahmt worden. Dies war ein Schritt auf dem Weg zum geplanten Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 begann. Die klösterlichen Niederlassungen wurden in Reserve-Lazarette umgebaut. Nach St. Ottilien folgte für Hans Scholl ein weiteres Praktikum, diesmal im Reserve-Lazarett (Teillazarett Kreiskrankenhaus) in der altbayer. Kleinstadt Schrobenhausen. Auch die Gebäude des dortigen „Instituts der Englischen Fräulein“ waren beschlagnahmt worden.

„Sie schöpfen aus einem anderen Fond, der nie versiegt“

„Ihr glaubt nicht“, so seine Begeisterung den Eltern gegenüber, „wie lieb diese Ordensschwestern sind. Sie lesen einem jeden Wunsch von der Nase ab. Sie können so sein, weil sie aus einem anderen Fond schöpfen, der nie versiegt.“ Dort in Schrobenhausen pflegte er auch brieflichen Kontakt mit Josef Gieles aus seiner Studentenkompanie. Beide verband auch die Begeisterung für John Henry Newman.[5] Aufgewachsen in einem protestantischen Milieu vergaß Hans Scholl nicht, seinem katholischen Freund Josef seinerzeit zum Namenstag zu gratulieren; er teilte ihm mit, dass er oft an den Satz der Dona Musica im „Seidenen Schuh“ [Paul Claudel, JK] denke: „Nacht mußte es sein, damit dieses Licht erschiene.“

Unter der Obhut von P. Romuald Bauerreiß OSB

Ende März 1942 schrieb er seinen Eltern: „Morgen kommt ein neuer Transport Schwerverwundeter aus Russland an. Dann gibt’s für die letzten vierzehn Tage genügend Arbeit. Am vergangenen Sonntag, als ich hier den Chefarzt vertreten mußte, trat zum ersten Male (mit Ausnahme des Frankreich-Feldzugs) die Notwendigkeit ein, daß ich während der Nacht selbständig eine lebensrettende Operation ausführen musste. Es ist gut gegangen.“

Hans Scholl lernte auch P. Romuald Bauerreiß OSB kennen, den ungemein belesenen und hochgebildeten Verfasser einer siebenbändigen „Kirchengeschichte Bayerns“. Im Frühjahr 1942 hatte Carl Muth diesen „Bibliothekspater“ der Münchner Abtei St. Bonifaz gebeten, sich um seinen Schützling Hans Scholl sowie dessen Freund Alexander Schmorell zu kümmern und die beiden zu betreuen. Sie waren begeistert von der stillen und geistvollen Atmosphäre in der prächtigen und geschichtsträchtigen Stiftsbibliothek. Dort studierten sie Werke großer Theologen wie des Dominikaners Thomas von Aquin und auch des Jesuiten Juan de Mariana. Es ging um das Thema Tyrannentötung und um die Frage, wann der Widerstand gegen den Missbrauch der Staatsgewalt geboten ist.

Pfr. Max Schwarz, Prof. Kurt Huber und Theodor Haecker

Im Mai und Juni 1942 besuchten Hans und Sophie Scholl – aufgrund einer Empfehlung von Carl Muth – den regimekritischen Pfarrer Max Schwarz im Pfarrhof von Grattersdorf (im Lallinger Winkel des Bayerischen Waldes). Die beiden waren empfänglich für dessen Anklage gegen den NS-Staat, der sich an die Stelle Gottes setzte und so zum Götzen wurde; es fiel auch auf fruchtbaren Boden, wenn Pfarrer Schwarz die Gleichschaltung durch die totalitäre Ideologie anprangerte.

Auf einem Treffen regimekritischer Akademiker am 17. Juni 1942 machte Professor Kurt Huber seiner Empörung Luft: „Man muss etwas tun, und zwar heute noch!“ In diesem Augenblick sprang wohl der Funke über; der begeisterungsfähige und tatendurstige Hans Scholl wurde von diesem leidenschaftlichen Ruf erfasst. Im Zeitraum vom 27. Juni bis zum 12. Juli 1942 verfassten Hans Scholl und Alexander Schmorell die vier Flugblätter der Weißen Rose. Theodors Haeckers Lesung vor dem Freundeskreis fand am 10. Juli 1942 statt. Zwei Tage später verbreiteten Scholl und Schmorell das vierte Flugblatt der Weißen Rose. Es gipfelt in diesem Bekenntnis: „Überall und zu allen Zeiten der höchsten Not sind Menschen aufgestanden, Propheten, Heilige, die ihre Freiheit gewahrt hatten, die auf den Einzigen Gott hinwiesen und mit seiner Hilfe das Volk zur Umkehr mahnten.“

„Wir verehren ihn als Helden und Heiligen“

An Weihnachten 1945, nur Monate nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft, schrieb Schwester Emmanuela von den Englischen Fräulein in Schrobenhausen an Vater Robert Scholl in Ulm, dass sein Sohn Hans „sich durch sein außergewöhnlich großes Geschick, durch seine ruhige Art und durch sein vornehmes, liebenswürdiges Wesen in kürzester Zeit das Vertrauen und die Liebe sämtlicher Patienten und der mit ihm zusammenarbeitenden Schwestern erwarb.“ Nicht nur als tüchtiger Arzt sei er allgemein hoch geschätzt und verehrt worden, sondern auch „als begeisterter Christ“. Bei seinem Abschied im April 1942 habe sie zu ihm gesagt: „Ich will sehen, Herr Scholl, was aus Ihnen einmal wird! Lassen Sie, bitte, wenigstens nach Jahren wieder von sich wissen!“ Dann teilte sie Robert Scholl mit, dass „alle Schwestern unseres Institutes und auch die Schwestern des Kreiskrankenhauses Ihren Sohn als Helden und Heiligen verehren und ihm zeitlebens ein dankbares Andenken bewahren.“[6]

Etliche Jahre nach dem Ende der NS-Gewaltherrschaft fasste auch P. Romuald Bauerreiß OSB seine Erinnerungen an Hans Scholl in Worte: „Aber die steigende Not des Vaterlandes drängte Hans noch zu anderem Tun. Die Geschichte hat sicher viele Freiheitskämpfer gesehen, die mit Überzeugung, Leidenschaft und Opferbereitschaft ihrer Sendung gedient haben, aber wohl wenige hat es gegeben, die sich mit solch geradezu wissenschaftlicher Sorgfalt und höchstem sittlichen Ernst darauf vorbereitet haben wie Hans Scholl. Seine Beschäftigung mit Thomas von Aquin und anderen christlichen Autoren war getragen nicht zuletzt von der brennenden Frage nach dem aus christlichem Gewissen gebotenen Widerstand gegen den Mißbrauch der Staatsgewalt. Wer Hans kannte, weiß – und wußte es schon damals –, daß er am liebsten offen vor den Tyrannen hingetreten wäre, um ihm ins Gesicht zu schleudern: ‚Es ist Dir nicht erlaubt!’“[7]

Im Advent 1953 richtete P. Mauritius Schurr OSB ein umfangreiches Schreiben an Willi Grafs Schwester Anneliese. Dabei knüpfte er an eine Legende von Altenberg an.[8] Wie da auf dem Platz des Mönchs, der als nächster sterben sollte, von einer unsichtbaren Hand hingebracht, eine Weisse Rose lag, die nur er allein sah, und die ihm ein Zeichen war, ganz bereit zu sein, alles zu lassen und das Letzte zu wagen.[9]

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2023
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[1] Hier zitiert nach Jakob Knab: Ich schweige nicht. Hans Scholl und die Weiße Rose, Darmstadt 2018, 109.

[2] Ein ehemaliger Mitbruder erinnert sich: „Ich bin diesem Pater vielfach begegnet in meiner Zeit in Kloster Ettal. Er war mir dort eine faszinierende, aus heutiger Sicht aber auch rätselhafte Figur. Sehr isoliert und ungeheuer einsam, lebend wie ein Starez inmitten einer klösterlichen Kommunität.“

[3] Mauritius Schurr (Abtei Weltenburg, 5. Dezember 1985), in: Waltraud Herbstrith (Hgin.): Edith Stein. Eine große Glaubenszeugin, Annweiler 1986, 164.

[4] Sproll hatte sich im April 1938 geweigert, an der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs teilzunehmen. Als er sich am 24. August 1938 weigerte, seiner Ausweisung aus dem Gau Württemberg-Hohenzollern – und damit aus seiner Diözese – Folge zu leisten, wurde er gewaltsam nach Freiburg (Br.) verbracht. Von hier flüchtete er über Augsburg, Bad Wörishofen und München nach St. Ottilien.

[5] Josef Gieles, Brief an die Eltern vom 11. Juni 1941: „Gekauft habe ich zwei Bücher von Kardinal Newman… Ich habe in einem angefangen und bin begeistert und hingerissen wie noch selten von einem Buch. Es sind Aufsätze ‚Kirche und Wissenschaft‘ (Idea of a University) anlässlich der Gründung einer katholischen Universität in England [richtig: Dublin in Irland, JK]. Seine Gedankengänge sind äußerst klar, prägnant, der Stil glänzend, der Inhalt zeugt von einem Feuergeist, wie es selten einen gibt. Sein Katholizismus ist vorbildlich und es tut einem mal unendlich gut in der jetzigen Zeit, solche Gedankengänge zu lesen. ‚Theologie als Zweig der Wissenschaft, Beziehungen der Theologie zu anderen Gebieten der Wissenschaft, Christentum und klassische Studien, Christentum und Naturwissenschaft‘ und wie die Themen alle heißen. Wenn man die heutige Universität mit ihren Problemstellungen, mit ihren Lehrern und Schülern betrachtet, wie verengt ist doch trotz wissenschaftlichem Fortschritt ihr geistiger Kreis und ihre ganze Haltung“ (Heinrich Kanz (Hrsg.): Der studentische Freundeskreis der Weißen Rose. Ausgewählte Brief- und Tagebuchauszüge, Frankfurt am Main 2011, 172).

[6] Sr. Emmanuela Weißenbach (Schrobenhausen, 24. Dezember 1945), Schreiben an Oberbürgermeister Robert Scholl (Ulm); IfZ München, Bestand Nachlass Inge Aicher-Scholl, Sign. ED 474.

[7] Romuald Bauerreiß: Erinnerungen an Hans Scholl, in: Der Rhaeten-Herold (1953), Nr. 208, 6.

[8] Das Herz der katholischen Jugendarbeit war Altenberg (bei Düsseldorf). Hier brannte das Altenberger Licht, hier fanden viele vorübergehend Zuflucht während der Verfolgungs- und Verbotsjahre zwischen 1933 und 1945.

[9] P. Mauritius Schurr OSB (Beuron): Schreiben an Dr. Anneliese Knoop vom 16. Dezember 1953; BayHStA NL Knoop-Graf.

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