Liebe Leserinnen und Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Am 13. Juni 2024 veröffentlichte der Vatikan ein neues Dokument über das Petrusamt. Es trägt den schlichten Titel „Der Bischof von Rom“ und befasst sich mit der Frage: In welcher Form sollte der Nachfolger des hl. Petrus seinen Dienst ausüben, so dass er auch von den anderen christlichen Konfessionen als Diener der Einheit verstanden und angenommen werden könnte?

Bereits der hl. Papst Johannes Paul II. hatte in seiner Ökumene-Enzyklika „Ut unum sint“ (Damit sie eins seien) vom 5. Mai 1995 ausdrücklich alle christlichen Konfessionen eingeladen, im Gebet und theologischen Austausch gemeinsam Antworten auf diese Frage zu finden. Er zitierte die Worte, die er bereits 1987 an Dimitrios I., den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, gerichtet hatte: „Der Heilige Geist schenke uns sein Licht und erleuchte alle Bischöfe und Theologen unserer Kirchen, damit wir ganz offensichtlich miteinander die Formen finden können, in denen dieser Dienst einen von den einen und anderen anerkannten Dienst der Liebe zu verwirklichen vermag.“ Die Bitte Johannes Pauls II. blieb nicht unbeachtet. Zahlreiche Vorschläge sind im Lauf der vergangenen Jahrzehnte zusammengekommen. Unter Federführung von Kurt Kardinal Koch, dem Präfekten des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen, wurden sie nun im neuen Dokument über den Papst als Diener der Einheit, das 146 Seiten umfasst, aufgearbeitet. Entsprechend lautet der Untertitel: „Primat und Synodalität im ökumenischen Dialog und in den Antworten auf die Enzyklika UT UNUM SINT. Ein Studiendokument“.

Doch ist das Schreiben mehr als nur ein „Studiendokument“. Papst Franziskus will damit die Weichen für die Zukunft stellen. Die katholische Kirche verpflichtet sich, das Petrusamt im Geist der Synodalität auszuüben und legt konkrete Vorschläge dazu vor. Der Dogmatikprofessor Dr. Roman Siebenrock nennt das Dokument in seinem Leitartikel „höchst beachtenswert“ und spricht vom „Anbruch einer neuen Epoche der Interpretation und Praxis des Petrusdienstes für alle Christgläubigen“.

Es ist ein unübersehbares Zeichen der Vorsehung, dass die Publikation dieses Ökumene-Papiers mit der Ankündigung der Seligsprechung des Märtyrerpriesters Dr. Max Josef Metzger zusammenfällt. Nicht zufällig wird die Feier am 17. November 2024 in Freiburg von Kurt Kardinal Koch geleitet werden. Denn Dr. Metzger war ein wahrer Prophet der Ökumene. In visionärer Weise setzte er sich für Veränderungen auch in der Ausübung des Petrusamtes ein. So dokumentieren wir seinen Brief, den er im Advent 1939 aus der Gefängniszelle an Papst Pius XII. gerichtet hat, in voller Länge. Im Rückblick dürfen wir feststellen, dass sich inzwischen alle Ideen dieses ungestümen Theologen in der einen oder anderen Weise verwirklicht haben. Nicht Kritik, sondern Bestärkung geht von diesem neuen Seligen aus.

Wir geben auch die Einleitung seines Werkes über die Kirche wieder, das er mit gefesselten Händen in der Todeszelle geschrieben hat. In diesem Vermächtnis entfaltet er einen ekklesiologischen Ansatz, von dem auch die Enzyklika „Mystici Corporis Christi“ über die Kirche als „geheimnisvoller Leib Christi“ durchdrungen ist. Doch schrieb Dr. Metzger seine Abhandlung ohne Kenntnis dieser Enzyklika. Sie wurde genau an dem Tag veröffentlicht, als er verhaftet wurde, nämlich am 29. Juni 1943, dem Hochfest der heiligen Apostel Petrus und Paulus. Was für ein Zeichen!

Liebe Leserinnen und Leser, für Ihre Spenden, mit denen Sie unser Apostolat ermöglichen, sagen wir Ihnen ein tausendfaches Vergelt’s Gott. Auf die Fürsprache Mariens, der Königin des Friedens, wünschen wir Ihnen Gottes reichsten Segen und eine fruchtbare Lektüre.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zum Dokument „Der Bischof von Rom“ als Diener der Einheit

Anbruch einer neuen Epoche

Mit ausdrücklicher Zustimmung von Papst Franziskus hat das Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen am 13. Juni 2024 ein Dokument über den Petrusdienst veröffentlicht. Es heißt „Der Bischof von Rom“ und trägt den Untertitel „Primat und Synodalität im ökumenischen Dialog und in den Antworten auf die Enzyklika UT UNUM SINT. Ein Studiendokument“. Der Dogmatikprofessor Dr. Roman Anton Siebenrock (geb. 1957) hält das Dokument, das unter Federführung von Kurt Kardinal Koch, dem Präfekten des Dikasteriums, entstanden ist, für „höchst beachtenswert“. Er erinnert an das Wort des hl. John Henry Newman, das dieser unmittelbar nach der Dogmatisierung des Primats und der Unfehlbarkeit des Papstes auf dem ersten Vatikanischen Konzil 1870 in prophetischer Weise ausgesprochen hat: „Künftige Päpste werden ihre eigene Gewalt erklären und eindeutig abgrenzen.“ Professor Siebenrock sieht im neuen Ökumene-Dokument den „Anbruch einer neuen Epoche der Interpretation und Praxis des Petrusdienstes für alle Christgläubigen“. Für entscheidend hält er die Ausübung des Dienstes der Autorität im Geist der Synodalität.

Von Roman A. Siebenrock

Im Juni dieses Jahres veröffentlichte das „Ökumene-Ministerium“ der katholischen Kirche ein Dokument, das in vielerlei Hinsicht Beachtung verdient: „Der Bischof von Rom“ („BvR“).

Die Einladung des hl. Papstes Johannes Paul II.

Das Dokument legt eine zu prüfende Antwort unserer Kirche auf jene Reaktion dar, die auf die Einladung von Johannes Paul II. eingegangen sind, über den Petrusdienst neu nachzudenken. In seiner Ökumene-Enzyklika „Ut unum sint“ (1995) hat der heilige Johannes Paul II. den Dienst des Papstes als Dienst an der Einheit und Dienst der Liebe dargestellt und alle eingeladen, Vorschläge zu unterbreiten, wie dieser Dienst in einer neuen Epoche realisiert werden könne (BvR 3). Während Paul VI. den Primat noch als größtes Hindernis ansah und bereits selbst von einem Primat des Dienstes und der Liebe sprach (BvR 2), hat nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erst die konkrete Bitte von Johannes Paul II. eine bemerkenswerte Reaktion ausgelöst.

Der hl. John Henry Newman zum Ersten Vatikanum

Erinnern wir uns aber zuerst daran, dass die Definition der besonderen Autorität und Gabe des Bischofs von Rom, seine Unfehlbarkeit und der Jurisdiktionsprimat, auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1870) losgelöst von einer Gesamtekklesiologie verkündet worden ist und nur seine hohe Zustimmung erhalten konnte, weil knapp ein Drittel der Bischöfe vor der feierlichen Abstimmung abgereist waren.

Kein geringerer als John Henry Newman hat deshalb damals von einer Schieflage der Kirche gesprochen und festgestellt: „Keine Wahrheit steht für sich allein, jede wird durch andere Wahrheiten eingeordnet und in Übereinstimmung gebracht. Die Dogmen von der Hochheiligen Dreifaltigkeit und der Menschwerdung wurden nicht alle auf einmal behauen – sondern stückweise, ein Konzil tat das eine, ein anderes das zweite – und so wurde das ganze Dogma aufgebaut. Sein erster Teil sah übertrieben aus – Kontroversen hoben an – und diese Kontroversen führten zum zweiten und dritten Konzil; sie stießen das erste nicht um, sondern erklärten und vervollständigten, was zuerst geschehen war.

So wird es auch jetzt sein. Künftige Päpste werden ihre eigene Gewalt erklären und eindeutig abgrenzen. Dies wäre unwahrscheinlich, handelten sie als bloße Menschen, aber Gott wird über ihnen walten. Pius ist geleitet worden – ich glaube, er wollte ein viel einengenderes Dogma, als er erreicht hat. Haben wir Glauben und Geduld!“ (an Miss Holmes, 15. Mai 1871).

Neue Epoche der Interpretation und Praxis des Petrusdienstes

Das ist seitdem tatsächlich geschehen, weil sich eine tragende Hoffnung jener, die eine maximale Interpretation forderten, nicht erfüllt hat. Mit dieser Gabe konnte der Bischof von Rom nie verbindlich zu allen möglichen, auch alltäglichen Fragen der Kirche eine endgültige Antwort geben.

Nur einmal ist nach der wörtlichen Bestimmung des Dogmas diese Gabe seitdem angewendet worden: im Dogma von der Aufnahme Mariens in den Himmel (1950). Niemals ist also die Kirche den unvermeidbaren Beschwerlichkeiten der irdischen Pilgerschaft enthoben. Das Amt des Bischofs ermutigt die Kirche vielmehr immer wieder neu dazu, in Hoffnung auf die Zusagen ihres Herrn den Weg durch die Geschichte in immer neuer Erneuerung zu gehen. Mit dem vorliegenden Dokument ist eine neue Epoche der Interpretation und Praxis des Petrusdienstes für alle Christgläubigen angebrochen.

Beginn einer Selbstverpflichtung der katholischen Kirche

Der Text ist klar und sehr umsichtig aufgebaut. In seinem Vorwort klärt Kardinal Koch den Status des Dokuments als „Studiendokument“. Es will nicht eine umfassende Lehre über das katholische Lehramt vorlegen, sondern eine objektive Synthese der aktuellen ökumenischen Entwicklungen zum Thema vorlegen. 30 Antworten und 50 Dialoge werden eingearbeitet! In einem Anhang wird ein Vorschlag der Generalversammlung des Dikasteriums von 2021 dokumentiert, wie der Primat im 21. Jahrhundert ökumenisch fruchtbar ausgeübt werden könnte. Diesem letzten Abschnitt kommt deshalb besonderes Gewicht zu, weil sich darin unsere Kirche zu einer bestimmten Form der Ausübung des Primats zu verpflichten beginnt.

In drei Kapiteln und dem genannten Anhang werden wir in die aktuellen Diskussionen eingeführt. Es ist leider nicht möglich, das sehr differenziert argumentierende und dadurch facettenreiche Dokument in allen Aspekten hier zu würdigen. Es wäre aber schon viel gewonnen, wenn dieses Dokument ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit erhalten würde.

Dienst der Autorität in einer synodalen Kirche

Im ersten Kapitel wird der ökumenische Weg der Bischöfe von Rom seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Blick auf die Bedeutung ihres Dienstes zusammengefasst. Wie schon erwähnt, gewinnt dabei die Bitte von Johannes Paul II. eine besondere Bedeutung. Dass das Prinzip der Synodalität, das Papst Franziskus so sehr am Herzen liegt, eine entscheidende Rolle spielt, zeigt sich in Kapitel 3.

Kapitel 2, zu fundamentaltheologischen Fragen, arbeitet neben den biblischen Aspekten die kanonischen Fragestellungen auf und bietet eine bemerkenswerte Interpretation des Ersten Vatikanischen Konzils. Es kann Einigkeit darüber festgestellt werden, dass dem Petrus innerhalb der jungen Kirche nach dem Neuen Testament eine besondere Bedeutung zugekommen ist. Dabei werden zwei Aspekte des Dienstes hervorgehoben: die „episkope“, am besten übersetzt als „Supervision“, und die Autorität als Dienst, d.h. als Diakonat.

Göttliche Vorgabe in geschichtlichen Ausdrucksformen

Im zweiten Abschnitt wird die Einheit und Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Recht diskutiert und darauf verwiesen, dass diese Unterscheidung, ähnlich wie in der Inspirationslehre, nicht säuberlich getrennt werden kann, sondern die göttliche Vorgabe immer nur in menschlichen Zeugnissen und damit in einem konkreten geschichtlichen Kontext wirksam werden kann. Deshalb ist es notwendig, die wesentliche Bestimmung des Primats in allen geschichtlichen Ausdrucksformen und Verzerrungen immer wieder zu gewinnen. Der Dienst des Bischofs von Rom besteht nach meiner Auffassung darin, in höchst zugespitzten Situationen im Dienst an der Einheit aller Glaubenden, die immer an ein wahrhaftiges Zeugnis des Glaubens gebunden ist, Entscheidungen treffen zu können. Dabei bedingen sich glaubwürdiges Zeugnis und Autorität wechselseitig.

Unfehlbarkeit im Licht der Unzerstörbarkeit der ganzen Kirche

Der dritte Abschnitt hebt in seiner Interpretation der Unfehlbarkeit auf die Beziehung dieser Möglichkeit des Bischofs von Rom, das kulturelle Gedächtnis der Kirche verbindlich zu bestimmen, auf die Beziehung dieser Gabe auf die Unzerstörbarkeit der ganzen Kirche, der Ausübung der bischöflichen Kollegialität und die Notwendigkeit der Rezeption ab. Damit ist das Grundthema bereits angesprochen: die grundlegende Synodalität der Kirche.

Das dritte Kapitel entfaltet einige Perspektiven für den Dienst an der Einheit in einer versöhnten Kirche. In diesem Kapitel, das sehr getreu die Stellungnahmen rezipiert und auch die Differenzen nicht überspielt, werden einige Prinzipien hervorgehoben, die für die Praxis des Dienstes an der Einheit im 21. Jahrhundert wichtig werden. Dabei geht der Text selbstverständlich von einer gemeinsamen Weltgeschichte der einen Menschheit aus, die in Wohl und Wehe im selben Boot sitzt.

Gemeinschaftliche, kollegiale und personale Dimension

Als erstes wird die wechselseitige Abhängigkeit von Primat und Synodalität auf allen Ebenen der Kirche hervorgehoben. Dies entspreche drei sich ergänzenden Dimensionen der Kirche: die communiale, die auf dem Glaubenssinn aller Getauften beruhe („alle“); die Kollegialität, die besonders in der Kollegialität der Bischöfe zum Ausdruck komme („einige“) und die personale Dimension, die in der primatialen Funktion angesiedelt sei. Damit wird ein wesentliches Defizit von 1870 angesprochen: der umfassendere ekklesiologische Horizont der Gaben des Bischofs von Rom. Ohne Zweifel ist hier auch das spannungsreiche Verhältnis von Ortskirche und Universalkirche mitgemeint. Dass der Unitatismus, also die mit dem Bischof von Rom unierten Kirchen, hier diskutiert wird, ist nicht überraschend.

Das Dokument betont (BvR 175), dass das historische Phänomen von der gegenwärtigen Realität unterschieden werden müsste. Derzeit stellten diese Kirchen ein Beispiel für eine „Einheit in Verschiedenheit“ aufgrund ihres eigenen Rechtes und ihres eigenen Ritus dar.

Eigene Bekehrung als Voraussetzung aller Ökumene

Wichtiger als diese unbedingt notwendigen Diskussionen mit anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften, erachte ich jene Aspekte, die zu einer beispielhaften Praxis innerhalb der katholischen Kirche selbst auffordern (ab: BvR 177). Immer geht es zuerst um das eigene glaubhafte und treue Zeugnis für Christus und seinen Willen für seine Kirche. Auch hier gilt: die ständige Bekehrung zu Christus ist die Voraussetzung aller Ökumene und Evangelisierung. Zu diesem Zeugnis gehört eine ausstrahlende Verwirklichung der „Communio-Ekklesiologie“ in Praxis und begrifflicher Deutung.

Ebenso wichtig sei eine Differenzierung zwischen dem Dienst des Bischofs von Rom für alle Christgläubigen und seinem patriarchalen Dienst in der Kirche des Westens. Die Ausübung des Petrusdienstes in der eigenen Kirche wird folglich als der Probierstein einer möglichen Anerkennung des Petrusdienstes in anderen christlichen Traditionen angesehen. Die Entwicklung der Synodalität innerhalb der katholischen Kirche selbst (also: „ad intra“) wird also zum entscheidenden Faktor einer möglichen Anerkennung für andere („ad extra“).

Ausblick

Innovativ erscheint mir ein letzter Vorschlag. Es wird eine „konziliare Gefährtenschaft“ durch regelmäßige Treffen der Kirchenleitungen weltweit vorgeschlagen, um die sichtbare Einheit zu vertiefen. Ebenso sollten Konsultationen und gemeinsame Aktionen gefördert werden. Ich denke, dass Papst Franziskus hier einige bemerkenswerte Beispiele initiiert hat.

John Henry Newman hatte aus seiner intimen Kenntnis der alten Kirche vorausgesagt, dass die nähere Umschreibung der besonderen Gaben und Aufgaben des Bischofs von Rom mit der Definition des Ersten Vatikanischen Konzils nicht abgeschlossen sei, sondern erst richtig mit dieser Definition begänne. Das neue Dokument ist ein besonderes Zeugnis dieses weitergehenden Auslegungsprozesses. Dieses Dokument sollten alle zur Kenntnis nehmen, die sich um das angemessene Zeugnis des Evangeliums im 21. Jahrhundert bemühen. Denn nie geht es um den Papst, immer geht es um sein und unser Zeugnis von Gottes Geschenk in Jesus Christus.

Denn im Wort, das Fleisch geworden ist, ist alles erschaffen und dieses gibt allem Lebendigen Licht und Leben. Dass das Zeugnis von Gottes Liebe nicht zu sehr von unseren Gebrechen und Fehlleistungen verdeckt werden, bedarf es auch des Dienstes des Bischofs von Rom; aber immer zuerst der eigenen, täglichen Bekehrung. Wie heißt es bei Lukas: „Und wenn du wieder umgekehrt bist, dann stärke deine Brüder!“ (Lk 22,32).

Aber halten wir fest: Das gilt nicht nur für den Felsen. Jesus spricht zu mir!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
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Max Josef Metzger im Advent 1939 aus der Gefängniszelle

Brief an Papst Pius XII.

Am 2. März 1939, seinem 63. Geburtstag, wurde Eugenio Pacelli zum Papst gewählt und nannte sich Pius XII. Im Advent desselben Jahres schrieb ihm Dr. Max Josef Metzger (1887-1944) aus dem Gefängnis einen prophetischen Brief über mögliche Schritte zur Wiedervereinigung der Christenheit und berührte darin auch die Ausübung des Petrusamtes. Im Blick auf seine bevorstehende Seligsprechung dokumentieren wir den Brief bewusst in voller Länge.[1]

Von Max Josef Metzger

Heiliger Vater! Diesen Brief schreibe ich in der Gefängniszelle. Seit mehreren Wochen bin ich hier, ohne freilich zu wissen, was man mir zur Last legt (1 Petr 2,19; 2 Tim 3,12). Aber ich weiß: Der Herr, der in seine weisen Pläne alles einbezieht, hat nicht ohne Grund mir diese Zeit der Stille und des Betens geschenkt. Froh nehme ich die mannigfachen Beschwerlichkeiten meiner Lage auf mich und suche die Zeit zu erkaufen (Eph 5,16).

Vielleicht hat Gott mir diese Tage auch dazu zugedacht, daß ich diesen Brief schreiben muß, zu dem ich mich vom Geist gedrängt fühle.

Ich bin zwar abgeschnitten von der Außenwelt, vielleicht für lange Zeit. Aber als katholischer Mensch fühle ich mich deshalb nicht weniger verbunden mit allem Geschehen dieser Zeit. Ja, ich darf sagen, ich leide jetzt die Leiden der ganzen Menschheit mehr mit denn in den Zeiten, da ich durch meine täglichen Sorgen allzuviel beansprucht war.

Ich leide darunter, daß seit Monaten wieder die Völker an den Fronten widereinander stehen und gegenseitig auf ihr Verderben sinnen. Völker, die durchwegs die Botschaft Jesu Christi gepredigt erhielten und sich fast alle zu Seinem Namen bekennen ... Ist ihnen das Christentum nur eine leere Phrase? Vielleicht nur eine Schaustellung am Sonntag? Oder sind sie rettungslos verkauft an die Mächte der Finsternis, die ihnen das Urteil und die Freiheit des Handelns nehmen? Hat die Kirche keinen Einfluß auf das Weltgeschehen und muß dieses dem Spiel des Bösen überlassen? Oder sind wir Christen alle lässig geworden und schwach im Glauben, daß wir nicht mehr dessen bergeversetzende Kraft verspüren? Ist das Salz schal geworden und der Sauerteig fade, daß die Welt nicht mehr durch diese Kraft vor Fäulnis bewahrt und innerlich umgestaltet werden kann?

Vielleicht liegt eine zwingende Logik im Geschehen dieser Tage. Wo das Gesetz der göttlichen Ordnung, die auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe das Zusammenleben der Menschen gründet, verlassen wird, gibt es nur Krieg und Untergang. Dann ist, was wir erleben, die Generalprobe des Weltgerichts.

Vielleicht liegt auch eine Logik in den äußeren Geschehnissen. Ich habe dem hochseligen Vorgänger Eurer Heiligkeit aus der inneren Erregung über das klar vorausgesehene kommende Schicksal Europas vor sieben Jahren (1932) davon geschrieben, daß es die letzte Stunde sei, die Völker Europas vor dem aufs neue beginnenden Wettrüsten und zu friedlicher Verständigung zurückzurufen, wenn nicht binnen kurzem die Katastrophe eines neuen Weltkrieges unabwendbar werden solle; ich habe die ungeheure Verantwortung der Kirche in jenen Tagen als meine persönliche Last gefühlt und mußte schreiben wider alle Hoffnung. Ob ein Aufstehen der ganzen bewußten Christenheit in jenen Tagen nicht noch das Unglück hätte verhüten können?

Aber wo ist diese Christenheit? Sie kann nie ihre Stimme wirksam erheben, sie kann keinen bestimmenden Einfluß auf das Weltgeschehen ausüben zur Durchsetzung der ewigen Grundsätze unseres Herrn, weil – sie nicht eins ist.

Christus kam, um Frieden zu stiften und in Seiner Person alle eins zu machen (Eph 2,15), um alle dem „einen Leib“ einzugliedern und alles im Himmel und auf Erden zur Einheit zusammenzufassen (Eph 1,10; Kol 1,20). Sein Testament war (Joh 17), daß „alle eins“ sein sollten, zunächst die Träger Seines Namens und Lebens, dann durch sie die ganze Welt. Und heute, nach 19 Jahrhunderten, ist, wie die protestantische Missionskonferenz von Tambaram in Indien ergreifend klagte, die Christenheit den Heiden vielfach zum Gespött geworden, weil Hunderte von christlichen „Kirchen“ widereinander streiten im Namen desselben „einen Herrn“ (Eph 4,5), auf dessen Namen sie alle in „einer Taufe“ geheiligt sind.

Ist das nicht Tragik und Schuld zugleich? Schuld aller, die die unseligen Spaltungen hervorgerufen haben – was zumeist nicht die Schuld einer Seite allein war –, Schuld aller, die die Arme verschränken wie gegenüber einem unabwendbaren Fatum, Schuld aller, die nicht unter Hintansetzung aller persönlichen Wünsche das Wirksame und Gottgewollte tun, um die Spaltung zu überwinden.

Heiliger Vater!

Die Not der Zeit – und durch sie spricht Gott zu uns – verlangt gebieterisch die letzten Anstrengungen, um die Zerrissenheit der christlichen Kirche zu überwinden, um das Friedensreich Christi wirksam zu machen in der ganzen Welt. Die Not der Zeit ist wohl gerade darum über uns gekommen und wird uns noch mehr demütigen, daß wir allesamt endlich zu einer großen Metanoia gelangen, einer Umkehr von den Wegen der Selbstgerechtigkeit, der Verblendung und des Stolzes, einer vollen Hinkehr zu Christus, dem Friedensfürsten, dem König der Liebe.

Ich weiß, daß gerade Ew. Heiligkeit unter der Zerrissenheit des Leibes Christi besonders leiden und daß Sie, ebenso wie Ihr hochseliger Vorgänger, zu allen persönlichen Opfern bereit wären, um die Christenheit wieder zur Einheit zu führen. Viel ist gewiß in diesen letzten Jahren schon geschehen zu diesem Zwecke. Der Erfolg war freilich bisher gering. Warum?

Wollen es Ew. Heiligkeit mir nicht verübeln, wenn ich in aller Bescheidenheit, aber zugleich in voller Offenheit darlege, was nach meiner Einsicht bisher die Einigung der Christenheit verhinderte und was darum wohl geschehen müßte, wenn der letzte Wille des Herrn der Verwirklichung nähergebracht werden soll. Gewiß werden Ew. Heiligkeit nicht einfach ablehnen, auch was ich vielleicht in Abweichung von der Meinung der Mehrheit zu vertreten wage. Das auf dem Spiel stehende Gut der heiligen Kirche, ja der ganzen Menschheit, ist wohl zu groß, als daß ohne wirkliche Prüfung abgewiesen werden dürfte, was ein wenn auch unbedeutender Bruder in Christo glaubt, auf Drängen des Heiligen Geistes aussprechen zu müssen.

Bin ich auch nur ein einfacher Priester der heiligen Kirche ohne Rang und Bedeutung, so glaube ich doch zur Beurteilung der vorliegenden Fragen außer der fachlichen Vorbildung als Doktor der Theologie einige besondere Erfahrung mitzubringen dadurch, daß ich gewiß mehr als die meisten andern seit vielen Jahren enge Fühlung mit den von uns getrennten Christen aller Denominationen habe. So bin ich z.B. mit Wissen und Billigung des zuständigen Bischofs auf der Lausanner Weltkirchenkonferenz als katholischer Beobachter zugegen gewesen und habe dadurch Gelegenheit gehabt, in persönlicher Aussprache mit Vertretern der verschiedensten kirchlichen Gemeinschaften des Westens und Ostens mein Urteil zu prüfen. Ich habe seither diese Beziehung gepflegt und vertieft. Mit zahlreichen Pastoren der deutschen, der schweizerischen, dänischen, schwedischen, holländischen reformierten oder lutherischen Kirchen, mit vielen Gliedern der anglikanischen sowie auch der altkatholischen Kirche habe ich seit vielen Jahren enge, ja z.T. freundschaftliche Beziehungen. Ich habe 1938 eine lose „Bruderschaft UNA SANCTA“ begründet, in der Nichtkatholiken in erheblicher Zahl mit Gliedern unserer heiligen Kirche um die volle Verwirklichung der Einheit der Kirche gleichzeitig beten. Daß ich dabei fest und klar auf dem Boden unserer heiligen römisch-katholischen Kirche stehe und der kirchlichen Obrigkeit mich in treuem Gehorsam verbunden fühle, brauche ich auf Grund meiner vieljährigen Tätigkeit als Generalleiter der Christkönigsgesellschaft vom Weißen Kreuz und als Generalsekretär der Christkönigskongresse wohl nicht erst zu beteuern.

Es ist meine heilige Überzeugung, daß gegenüber der Vergangenheit ein vielfaches Maß von Demut und Liebe auf unserer Seite erforderlich ist, um das hohe Ziel, mit das größte, was eine weitschauende Reichgottespolitik erstreben kann, zu erreichen.

Wahre Demut ist nicht nur Vorbedingung für Gottes Gnade (1 Petr 5,5,), sondern auch die Grundvoraussetzung dafür, das Mißtrauen und Vorurteil zu überwinden, das auf der Gegenseite allen unsern Bemühungen zur Wiedervereinigung der getrennten Kirchen im Wege steht. Auf Grund meiner genauen Kenntnis der Mentalität in den außerkirchlichen Kreisen darf ich wohl sagen, daß weit weniger Glaubensdifferenzen als seelische Schwierigkeiten und religiöse Bedenken die Annäherung der anderen Gemeinschaften an die römisch-katholische Kirche erschweren bzw. verhindern. Ich sehe es als einen Dienst an der Kirche an, diesen kritischen Stimmen in aller Form Ausdruck zu verleihen.

Die Meinung gerade der Besten unter den nichtkatholischen Christen geht dahin, eine gewisse stolze Selbstgerechtigkeit auf unserer Seite verhindere, daß wir die Mängel und Unzulänglichkeiten innerhalb unserer Kirche, die Sünden und Fehler, durch die wir die Spaltung mitverschuldet haben, offen zugeben mit der ehrlichen Bereitschaft zu der Buße, die wir, wie sie meinen, immer nur von andern verlangen. Sie glauben aus dieser Tatsache schließen zu dürfen, daß der Heilige Geist nicht die Seele unserer Kirche sei, da sie, statt sich selbst zu richten (1 Kor 11,31), ein allzu strenges Richteramt ausübe, das letztlich nur dem Herrn selbst zustehe (Matth 23,9). Sie glauben nicht an die letzte Bereitschaft der Führer unserer Kirche, gleich dem Meister in Demut zu dienen (Joh 13,14; Matth 18,2 und 20,26), sondern sehen in der Beanspruchung von Herrschaftsansprüchen, die nach ihrer Auffassung mit der evangelischen Einfachheit nicht vereinbar seien, Herrschsucht und allzu menschliches Geltungsbedürfnis. Sie finden die Art der Ausübung des heiligen Amtes in der Kirche oft nicht vereinbar mit der Mahnung des Apostels (1 Petr 5,3) und mißtrauen daher diesem Amt grundsätzlich. Sie glauben auch in der Auseinandersetzung mit den „Irrgläubigen“ mehr Rechthaberei und Geis-tesenge festzustellen als heiligen Eifer für die Wahrheit Gottes und berufen sich darauf, daß sie an manchen, auch führenden Vertretern der Kirche eine vorschnelle Überheblichkeit und unbarmherzige Härte im Urteil glauben erfahren zu haben.

Ich mache mir diese Vorwürfe selbstverständlich keineswegs zu eigen. Sie beruhen zum Teil auf einem Mißverständnis der heiligen Verantwortung der Hirten der Kirche zur Wahrung des Depositum fidei (1 Tim 6,20) und zu dessen Verkündigung (2 Tim 4,2), oft auch auf einer grundsätzlichen Leugnung des apostolischen Hirtenamtes (1 Petr 5,2) der Bischöfe. Und doch will es mir auf Grund meiner vielfachen Erfahrungen scheinen, daß diese Leugnung zumeist nicht auf bösem Willen beruhe, sondern auf einem tiefergehenden inneren Mißtrauen. Dieses aber ist nur zu überwinden, wenn die berufenen Führer der Kirche in aller Demut und in ehrlicher Selbstprüfung zusehen, ob nicht doch auch allzu menschliche und diesseitige Regungen manchmal mitspielen bei der Ausübung und Verfechtung der kirchlichen Führungsrechte. Nichts würde wirksamer diese Vorurteile aus der Welt schaffen und dadurch eine innere Annäherung bei den von uns getrennten kirchlichen Gemeinschaften vorbereiten als eine von innen heraus sichtbar werdende aufrichtig demütige Haltung aller Hirten der Kirche trotz und gerade wegen der verantwortlichen Ausübung ihres apostolischen Hirtenberufes.

Wer die innerkirchliche Entwicklung bei den von uns getrennten kirchlichen Gemeinschaften verfolgt, wird auch die folgende Feststellung anerkennen: Die – sicher ernsthaften und bedeutungsvollen – dogmatischen Differenzen spielen heute nicht mehr die entscheidendste Rolle als Hindernis der Wiedervereinigung. Viel stärker stehen geistige Haltungen gegeneinander; diese können aber durchaus nicht einfach mit „Wahrheit“ auf der einen, „Irrtum“ auf der anderen Seite gleichgesetzt werden, da es sich oft um Spannungsgegensätze handelt, die in der Universalität der Una catholica alle irgendwie zu ihrem Recht kommen dürfen. Ich nenne etwa als solche Gegensatzfrage: Gott oder Mensch? Christus oder Kirche? Schrift oder Tradition? Gnade oder Aszese? Gesetz oder Freiheit? Recht oder Liebe? Form oder Geist? Evangelium oder Gesetzbuch? Moral oder Gesinnungspflege? Sakramentales oder Geist-Christentum? Volksfrömmigkeit oder höhere Gnosis? National- oder Weltkirche?

Die tatsächlichen Differenzen betreffen sodann viel stärker theologische Lehrmeinungen und Fragen der kirchlichen Disziplin als Fragen des Offenbarungsglaubens, bezüglich deren die Kirche als „Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (1 Tim 3,15) Konzessionen zu machen außerstande wäre. Unzweifelhaft ist gerade bei der Auseinandersetzung bei diesen irgendwie der Erörterung zugänglichen Fragen tiefe Demut und verstehenwollende gütige Liebe besonders vonnöten, um nicht starr an persönlichen Meinungen und geschichtlichen Entwicklungen haften zu bleiben, die, wenn sie vielleicht auch allzu menschlichen Empfindungen schmeicheln, doch im Heiligen Geist einer Überprüfung fähig oder selbst bedürftig sind.

Auf Grund vielfacher persönlicher Aussprachen mit verschiedenen Persönlichkeiten außerhalb unserer Kirche darf ich wohl sagen: wenn die von uns getrennten Christen die Bereitschaft der kirchlichen Führung sehen, alles unvoreingenommen zu prüfen, was um des Gewissens willen ihnen bedenklich erscheint, wenn sie gerade hier die De-mut und Liebe verwirklicht finden, die bereit sind, den Heiligen Geist zu hören, auch wenn er einmal durch den andersgläubigen Bruder in Christo spricht (Joh 3,8), wird ei-ne innere Annäherung vollzogen werden, die vieles zusammenführt, was heute scheinbar unüberbrückbar ist. Demut und Liebe überwinden alles.

Der gegenwärtige Zeitpunkt erscheint vielleicht weniger geeignet, die Frage der Wiedervereinigung der Christenheit einer Lösung näherzuführen. Der Krieg hat, wie es scheint, alles menschliche Interesse in Beschlag gelegt. Und doch ist diese Meinung, wir mir scheint, nicht richtig. Gerade das Erleben des unseligen Krieges ruft in unzähligen Menschen das Verlangen wach nach einer außerordentlichen Anstrengung zur Rettung des menschlichen Geschlechts, nach einer Überwindung der scheinbaren Ohnmacht des Christentums in seinem Einfluß auf das Weltgeschehen. Wenn erst der Krieg die Völker der Welt in unabsehbarem Elend zurückgelassen haben wird, wird alle Welt warten auf eine große Parole der Rettung. Nur im Glauben wird gewagt werden können, was dann nottut. Schwachherzige und halbe Versuche werden von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.

Als die „Reformation“ in Deutschland sich zur unseligen Revolution auswuchs, rief der Heilige Geist zu einem echten „Reformkonzil“ in Trient auf. Die mehr als beredte Klage Hadrians VI. in der Instruktion an seinen Nuntius Chieriegati zum Nürnberger Reichtstag 1532 beweist klar, daß eine „Reform an Haupt und Gliedern“ notwendig geworden war. Es war ein kühner und – demütiger Gedanke der Päpste, zu diesem Konzil die „Protestanten“ selbst einzuladen, daß sie ihre gravamina selbst vorbringen und vertreten und selbst an der Erneuerung der Kirche tätig Anteil nehmen könnten. Leider ist es nicht zur tatsächlichen Verwirklichung des großen und zweifellos am ehesten Erfolg versprechenden Planes gekommen. Die Gemüter waren noch zu sehr erhitzt. Man war – wohl auf beiden Seiten – noch nicht reif zu einer echt evangelischen Auseinandersetzung. Ob nicht heute die Zeit gekommen ist, diesen Versuch irgendwie zu wiederholen in großmütigem Vertrauen auf den Herrn, der Seine Hand über die Kirche hält?

Gewiß wird dies nicht ohne weitgehende Vorbereitung möglich sein. Es scheint mir, daß diese nicht aufgeschoben zu werden braucht. Ich könnte mir denken, daß Ew. Heiligkeit etwa zwölf Männer Ihres Vertrauens, anerkannte kirchliche Persönlichkeiten von bewährtem theologischen Wissen, festem Glauben und zugleich entsprechender Geistesweite, Demut und Liebe, bestimmen könnten, zumeist den Ländern entstammend, in denen die kirchliche Trennung sich auswirkt und daher den dadurch aufgeworfenen Fragen innerlich nahe –, die sodann im Auftrag Ew. Heiligkeit mit einer gleichen Zahl führender Vertreter der getrennten kirchlichen Gemeinschaften eine erste Fühlungnahme versuchen sollten. Es müßte dabei mit größtem Bedacht und mit sorgfältiger Auswahl der geeigneten Persönlichkeiten vorgegangen werden. Aber es würden zweifellos aus allen getrennten Gemeinschaften in Deutschland, England, Amerika, den nordischen Ländern sowie vor allem auch dem Orient ernsthafte und wohlmeinende und dabei ins Gewicht fallende Persönlichkeiten zu finden sein, die ein erstes vertrauliches Gespräch beginnen könnten und wollten. Vielleicht würde Assisi der geeignete Ort dafür sein, wo der Geist des von allen Christen ohne Unterschied verehrten Poverello eine Atmosphäre des Friedens und der Versöhnung begünstigen würde. Der Zweck dieser ersten Aussprache müßte sein eine objektive Bestandsaufnahme der tatsächlichen Schwierigkeiten sowie auch der offenbar werdenden Möglichkeiten der Annäherung. Die Gutachten der von Ew. Heiligkeit beauftragten Vertrauenspersonen müßten dann in einer von Ew. Heiligkeit zu bestellenden römischen Kommission eingehend bearbeitet werden, um so die Voraussetzungen zu schaffen für die Verwirklichung des großen Planes, der das Werk – zu der von Gott gewollten Zeit – krönen würde: die Einberufung eines allgemeinen Konzils, das der neugeeinten Kirche das neue Gesicht zu geben berufen wäre.

Ist es zu kühn, was ich Ew. Heiligkeit in aller Bescheidenheit unterbreite? Ich weiß, daß es weit hinausgeht über das, was unmittelbar Aussicht auf Erfolg bietet. Aber es will mir scheinen, daß nur ein großes Wagnis des Glaubens, der Demut und der Liebe die Schicksalsfrage der Christenheit zur Lösung zu führen vermag. Die Kirchen- und Weltgeschichte wird dem Träger der Tiara, der dieses Werk großzügig einleitet und – vielleicht einem späteren, der es zu Ende führen darf, ein ehrendes Andenken setzen.

Nehmen Ew. Heiligkeit diese Zeilen mit gütigem Wohlwollen auf und halten Sie es meinem leidenschaftlichen Verlangen nach dem großen Gut der Una Sancta sowie der Pax Christi in regno Christi zugute, wenn ich vielleicht nicht in allem das rechte Wort fand. Ich mußte aber dem Drängen meines Gewissens entsprechen und meine Gedanken dem Stellvertreter des geliebten göttlichen Herrn und Königs in aller Ehrfurcht unterbreiten. Ich lege alles vertrauensvoll in die Hand Ew. Heiligkeit und bete, daß der Heilige Geist alles leiten und lenken möge zum Heil der armen Menschheit und zur vollen Verwirklichung des Reiches Christi des Königs.

Ew. Heiligkeit bin ich in tiefster Ehrfurcht und kindlichem Gehorsam ergebenster Dr. Max Josef Metzger

Generalleiter der Christkönigsgesellschaft Vom Weißen Kreuz, Meitingen bei Augsburg

Geschrieben im Advent 1939

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Max Josef Metzger: Christuszeuge in einer zerrissenen Welt. Briefe aus dem Gefängnis 1934-1944, hrsg. von Klaus Kienzler, Herder, Freiburg/Basel/ Wien 1991, S. 82-90.

Einleitung der theologischen Abhandlung über das Königtum Christi

Grundlage der Einheit der Kirche

In der Todeszelle, mit gefesselten Händen und ohne literarische Hilfsmittel, schrieb Dr. Max Josef Metzger eine theologische Abhandlung über das Königtum Christi, die eine erstaunliche Fülle an Gedanken und Zitaten birgt. Er konnte sie am 27. März 1944, drei Wochen vor seiner Hinrichtung, beenden und dem Gefängnisseelsorger Pater Buchholz bei dessen letzten Besuch übergeben. 1919 hatte Dr. Metzger in Graz die „Missionsgesellschaft vom Weißen Kreuz“ gegründet, die 1928 nach Meitingen bei Augsburg verlegt wurde und von da an den Namen „Christkönigsgesellschaft“ (Societas Christi Regis) trug. So nannte Dr. Metzger sein Vermächtnis auch „Theologische Abhandlung über die geistigen Grundlagen der Societas Christi Regis“. Das Kirchenbild, das darin aufleuchtet, ist von einer prophetischen Vision der Einheit und des ökumenischen Auftrags der katholischen Kirche geprägt.  Durch das Zweite Vatikanische Konzil fanden seine Überlegungen eine eindrucksvolle Bestätigung. Nachfolgend die Einleitung der umfangreichen Abhandlung im Wortlaut.[1]

Von Max Josef Metzger

In einer Zeit, da es zum Modewort geworden ist, bedarf das Wort Königtum Christi einer Definition = Abgrenzung [Anm. d. R.: 1925 hatte Papst Pius XI. im Kampf gegen den Laizismus das Christkönigsfest eingeführt]. Es hat dieser Ausdruck in unserm Mund nicht das Mindeste zu tun mit „politischem Katholizismus“ – nichts liegt uns ferner als Streben nach kirchlicher Machterweiterung! Wenn wir vom Königtum Christi sprechen, so ganz im Sinn der Heiligen Schrift. Und hier steht das Wort – im Neuen wie im Alten Testament – gleichsinnig mit einem andern, das fast noch eindeutiger und gewaltiger ist: KYRIOS. Kyrios, das ist der Name für den Pantokrator, den Allherrscher, vor dem alle anderen Götter und Herren Nichtse sind: GOTT in seiner ewigen Majestät und „Herr“lichkeit, dessen Ruhm das Weltall kündet, das sein Schöpferwort ins Dasein gerufen, die Son-ne in ihrem unbeschreiblichen Glanz und all ihre Trabanten am Himmelszelt, die Himmel oben, in denen Cherubim und Seraphim mit all den Himmelsheeren ihr Dreimalheilig dem Herrn singen von einer Ewigkeit zur andern, und die Erde, wohin der Mensch gestellt ist, als Herr der ihm unterworfenen Schöpfung „wenig unter Gott gestellt“ (Ps 7,6), um durch sie und mit ihr den ewigen HERRN in Wort und Tat dankend zu preisen.

Diesen Kyrios-Namen teilte von Ewigkeit her mit dem VATERgott der LOGOS, der vom Vater, im Vater und „zum Vater hin“ (Joh 1,1) war und ist und sein wird. (Quod de tua gloria credimus, hoc de Filio tuo sine differentia discretionis sentimus [vgl. Präfation: Was wir von deiner Herrlichkeit glauben, das bekennen wir ohne Unterschied von deinem Sohn]), der „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott…“ (Gloria). Wenn der „Mensch Jesus“ (1 Tim 2,5) in der apostolischen Verkündigung den Kyrios Namen trug, ja, wenn der „Menschensohn“ selbst ihn für sich in Anspruch nimmt (Joh 13,13), so ist es dieser sinngefüllte Name, den im Sinn der Offenbarung nur der tragen konnte, der von sich selbst aussagte „Ich und der Vater sind eins…“ (Joh 10,29).

Das Kyriosrecht des menschgewordenen Logos für diese Weltzeit gründet in der Sendung durch den Vater, einem Geheimnis, kraft dessen es von Ewigkeit her der Wille des Vaters war, dass die ganze Schöpfung unter ihm, dem zweiten Adam, als dem Haupt gesammelt und in ihm allein Bestand haben soll (Eph 1,10; Kol 1,16; Hebr 2,10; vgl. Joh 11,52), dass sie durch ihn aus der Sündenverhaftung erlöst und wieder zum allheiligen Vater zurückgeführt werden soll, verwandelt in das Reich Gottes, bis nach Vollendung seiner Mission der Sohn dem Vater das Reich und die Herrschaft wieder zurückgeben kann, da wieder „Gott alles in allem“ geworden ist (1 Kor 15,28).

Christi Königtum, zwar nicht „von dieser Welt“ (Joh 18,36), aber in dieser Welt, auf dieser Erde, was will es? Was ist die „Mission“ des großen „Gesandten“ (Joh 17,18; 20,21) des Vaters an die Menschheit? Er selbst sagt es uns: „Ich bin (ein) König. Dazu bin ich geboren und in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe“ (Joh 18,37). Dazu empfing der Sohn vom Vater „Macht über alle Menschen“, dass er allem, was ihm der Vater gab, „ewiges Leben“ gebe (Joh 17,2). Dazu ist er in die Welt gesandt, dass die „Welt durch ihn selig“ werde (Joh 3,17; 11,52; 1 Tim 2,4; 4,11; Tit 2,11; Hebr 2,9), selig durch die „Erlösung“ (Joh 3,14-18; Röm 3,24; Eph 1,7; Hebr 9,12), die „Vergebung der Sünden“ (Apg 10,43; Kol 1,14), die „Friedensstiftung“ (Eph 1,13.17; Kol 1,20; 3,15; 2 Thess 3,16), die durch sein „Blut“ (1 Kor 10,16; 11,25.27; Eph 2,13; Kol 1,20; Hebr 9,12; 10,19; 12,24; 13,20; 1 Petr 1,19; 1 Joh 1,7; Offb 1,5; 5,9; 12,11; Mt 26,28; Mk 14,24; Lk 22,20; Joh 6,53 ff.; Apg 20,28) uns zuteil wird. Dazu kam er, „alles im Himmel und auf Erden wieder unter ein Haupt zu bringen“ (Eph 1,10), alles auf Erden und im Himmel mit Gott zu versöhnen (Kol 1,19), „die zerstreuten Kinder Gottes zu sammeln und zu vereinigen“ (Joh 11,52), die „Scheidewand“ zwischen ihnen niederzureißen (Eph 1,14) und sie „alle eins“ (Joh 17,20 f.; Gal 3,28; Eph 2,15) zu machen, ein „Leib“ (Röm 12,5 ff.; 1 Kor 6,15; 12,12 ff.; Eph 1,22; 4,4; 5,30; Kol 3,15) und ein „Geist“ (Röm 15,5; 1 Kor 6,17; Eph 2,18; 4,3; Phil 1,27). Dazu kam er, dass die Jünger, die seinen Namen tragen, sich lieben lernen mit der unerhörten Liebe, die er in Wort und Opfertat der Welt vor Augen stellte, der sich selbst verschenkenden, sich bis aufs Blut opfernden Liebe (Joh 13,34; 15,12 f.; 1 Joh 3,16), und dass sie in dieser heiligen Bruderliebe „eins“ werden, gleich wie der Sohn eins ist mit dem Vater, ja „vollkommen eins“ (Joh 17,11.21-23), eine „Gemeinschaft der Heiligen“ auf Erden, die Vorbildung derselben Liebesgemeinschaft ist, die das eigentliche Ziel und die ideale Erfüllung der Herrengemeinde auf Erden (κυριακή) [Das deutsche Wort Kirche leitet sich vom griechischen Adjektiv „kyriaké“ ab und bedeutet „die zum Herrn gehörende“] darstellt.

Das also heißt „Königtum Christi“: Reich Gottes, wie es in diese Weltzeit gekommen ist durch die Inkarnation des ewigen Logos, durch die vom Gottes- und Menschensohn verkündete beseligende Frohbotschaft, durch den Opfertod des Erlösers am Kreuz, durch die geheimnisvolle Eintauchung aller Erlösten in das gottmenschliche Leben Christi (Taufe, Glaube, Eucharistie, Kirche), schließlich durch die hienieden begonnene und drüben zu vollendende „Gemeinschaft der Heiligen“, die Kirche Christi, in der das heilige Pneuma durch die Zeiten hindurch gnadenhaft fortsetzt, was Christus im Fleische begonnen.

Damit rühren wir an das „Geheimnis Kirche“.

Es gehört zum ewigen Geheimnis des fleischgewordenen Kyrios, dass dieser seinen, die ganze Welt durchwaltenden Auftrag – sein Königtum – erfüllt in einer täglich neuen Verwirklichung seiner einmaligen „Fleischwerdung“ durch den geisthaften Leib, in dem der verklärte Herr durch die Zeiten hindurch sichtbar und wirksam wird, den Leib, der „die letzte Vollendung dessen ist, der selbst alles in allem vollendet“ (Eph 1,23), die ἐκκλησία τοῦ κυρίου, die Gemeinde des Herrn, die Kirche.

Wie der Kyrios vom Vater seine Sendung empfing, so gab und gibt er diese – durch den in ihr waltenden Geist, den er vom Vater ihr bis ans Ende der Zeiten sendet (Joh 14,26; 20,23) – weiter in seine Kirche, die seine „Gesandte“, Vollmachtsträgerin und Willensvollstreckerin in dieser Weltzeit ist, da er selbst verklärt zur Rechten des Vaters thront. Diese seine Kirche ist nicht das „Reich Gottes“, aber in ihr und durch sie soll in dieser Weltzeit Reich Gottes, d. i. Königsherrschaft Christi, Wirklichkeit werden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] KYRIOS – 50 Jahre Dienst am Wort 1915/16 – 1965/66 (Festschrift zur 50-Jahrfeier des Kyrios-Verlages), Freising 1966, S. 20ff.

Metzgers theologische Gedanken über die Einheit der Kirche 1943/44

Una Sancta

Das Standardwerk über Dr. Max Josef Metzger war lange Zeit die theologische Dissertation von Marianne Möhring (1932-2002), die 1966 unter dem Titel „Täter des Wortes. Max Josef Metzger – Leben und Wirken“ im Kyrios-Verlag des Christkönigs-Instituts Meitingen veröffentlicht worden war. Darin ist auch der volle Wortlaut der „Theologischen Abhandlung über die geistigen Grundlagen der Societas Christi Regis“ wiedergegeben. Im nachfolgenden Artikel, der in der Festschrift zur 50-Jahrfeier des Kyrios-Verlages (Freising 1966) publiziert worden ist, arbeitet Möhring die Grundlinien des ökumenischen Engagements Dr. Metzgers heraus. Auf dem Hintergrund der bevorstehenden Seligsprechung ist ihre theologische Deutung des Ansatzes Max Josef Metzgers von besonderer Aktualität.[1]

Von Marianne Möhring

Metzgers Mühen um die Wiedervereinigung der Christen entzündete sich am Erleben und Erleiden der gespaltenen Christenheit. Er sah in dieser Trennung das große Hindernis für das überzeugende Darleben des Christentums. Am Anfang seiner Una Sancta-Arbeit stand also keine theologische Spekulation. Wir finden zwar verschiedene kurze Vorträge und Abhandlungen Metzgers – so die Thesen zur Una Sancta von 1942 – über die Einheit der Kirche, aber seine eigentlichen theologischen Gedanken entstehen erst 1943. Seine letzte Abhandlung schrieb er mit gefesselten Händen in der Todeszelle. Er beendete sie am 27.3.1944, drei Wochen vor seinem gewaltsamen Tode, und er gab sie dem damaligen Gefängnisseelsorger Peter Buchholz bei seinem letzten Besuch.

Die Abhandlung Metzgers lässt sich in zwei große Abschnitte einteilen: Das Kapitel über die Kirche und das über die Societas Christi Regis.

Einleitend spricht Metzger über das Königtum Christi. Unter diesen Gedanken stellt er die ganze Abhandlung. Er will Christi Königtum dabei nur aus der Schrift verstanden wissen, wie ja überhaupt diese Arbeit fast ausschließlich bibeltheologisch ausgerichtet ist.

„Das also heißt Königtum Christi: Reich Gottes, wie es in dieser Weltzeit gekommen ist durch die Inkarnation des ewigen Logos, durch die vom Gottes- und Menschensohn verkündete beseligende Frohbotschaft, durch den Opfertod des Erlösers am Kreuz, durch die geheimnisvolle Eintauchung aller Erlösten in das gottmenschliche Leben Christi, schließlich durch die hienieden begonnene und drüben zu vollendende Gemeinschaft der Heiligen, die Kirche Christi, in der das heilige Pneuma durch die Zeiten hindurch gnadenhaft fortsetzt, was Christus im Fleische begonnen.“

Anschließend entfaltet Metzger den Begriff Kirche, indem er folgende These aufstellt:

„Die Kirche ist die Gemeinde oder das Volk der von Christus dem Herrn zum Heil (Reich Gottes) Gerufenen, in die Reichsgemeinschaft Aufgenommenen und in ihr lebenden Menschen.“

1. Die Kirche ist die Gemeinde der Gerufenen.

Nicht von „unten“, sondern von „oben“ entsteht Kirche. Gott ruft aus Gnade den Menschen. Metzger sucht hier anhand der Schrift nachzuweisen, dass der Ruf Gottes nicht an einzelne Auserwählte ergangen ist, sondern an alle Menschen. So kommt er zum allgemeinsten Begriff von Kirche:

„Hier haben wir den allgemeinsten, freilich irgendwie doch mehr uneigentlichen Begriff von Kirche. Denn, wenn diese unsere miterlösten Brüder auch die Berufung zum Heil mit uns teilen, wenn sie auch irgendwie in die heilige Reichsgemeinschaft Christi aufgenommen wurden – wenigstens die (entscheidende) des ewigen Heils – und dies doch auch irgendwie aufgrund eines Lebens in dieser Heilsgemeinschaft, so war doch dieses Leben in der Wahrheit und Gnade Christi überaus unvollkommen, eigentlich nur im geheimen Willenssatz gegeben. Von Volk und Gemeinde – was doch die eigentliche Grundbestimmung der Ecclesia ist – kann man bei ihnen kaum oder doch nur in uneigentlichem Sinn sprechen.“

2. Kirche sind die in die Reichsgemeinschaft Aufgenommenen.

Auch die Aufnahme ist Sache des Herrn, „gemäß den Aufnahmebestimmungen, die der Kyrios aus seiner Vollmacht festgesetzt hat“. Durch die Verbindung eines äußeren und eines inneren Elementes „vollzieht sich nach den Aussagen des Neuen Testaments diese Aufnahme, nämlich durch Taufe und Glaube, die als Synonima gebraucht werden könnten“. Seine Ausführungen über die Taufe und den Glauben münden in der Folgerung, dass alle gültig Getauften zur „Reichsgemeinschaft Christi, zur Una Sancta Catholica et Apostolica“ gehören.

3. Kirche bilden die in der Reichsgemeinschaft Lebenden.

Die Zugehörigkeit zur Kirche durch die „echte, wurzelhafte und unverlierbare Gliedschaft“ wird nur „heilswirksam“ durch das „Leben aus Gnade, Glaube und Liebe“. Eigentlicher Sinn und das Ziel der Kirche ist dieses „Leben in Christus“ bzw. „Christus in uns“. Dieses Leben, obwohl es unzählige Formen der Verwirklichung im einzelnen Menschen hat, ist durch drei Momente bestimmt: vom „inneren Geist“; von der „kirchlich-sakramentalen Betätigung“ und vom „religiös-sittlichen Leben“. Entscheidendes Kriterium der Gliedschaft in der Kirche als dem Leibe Christi ist nicht äußeres, sondern inneres Leben, welches nur Gott richten kann. Echtes Kriterium ist:

„Glaube, Hoffnung und Liebe. Und da-mit ist gesagt, dass die Kirche letztlich ein Geheimnis bleibt (Kol 1,26; Eph 3,4), das nie in dieser sichtbaren Welt sich voll erschöpft, das nicht in ihr, sondern in der anderen Welt ihre Wurzeln hat (Phil 3,20), und dass sie, die sichtbar in diese Welt eintritt und die Gliedschaft der einzelnen in ihr sichtbar begründet, doch in letzter Wesens-tiefe unsichtbar ist wie der Gottmensch, den sie in dieser Zeit darstellt, unsichtbar ist in seinem göttlichen Wesen, das seine gottmenschliche Persönlichkeit begründet.“

4. Die Kirche ist, obwohl ein „unsichtbares Mysterium fidei“ doch sichtbare Gemeinde, Volk Gottes.

Vom Begriff der Ekklesia erläutert er die Kirche als Volk Gottes, die auf den Felsen Petri gegründet ist. Er kommt zu den beiden Feststellungen:

„Die Kirche Christi ist die Una Sancta Catholica et Apostolica Ecclesia derer, die durch die Taufe in seine Reichsgemeinschaft aufgenommen wurden, und führt alle ihre Glieder zum Heil, soweit sie in gläubiger Liebe Christus als Herrn ihres Lebens anerkennen.“

„Die Kirche Christi ist die Una Sancta Catholica et Apostolica Ecclesia unter der Führung des römischen Papstes und der mit ihm in Verbindung stehenden Bischöfe, die von Christus bestimmte Anstalt zur Vermittlung des Heils durch sein Wort und Sakrament.“

In den vier Grundbezeichnungen der Kirche, die im Symbolum ausgedrückt sind, sieht Metzger den Wesens-Charakter der Kirche. Er erläutert diesen Charakter bezüglich der „Sinnmeinung und der konkreten Verwirklichung“.

Die Una in der Bedeutung von Unica besagt „Einheit in der Liebe, das ist Einheit im Heiligen Geist schlechthin“, „Einheit im Glauben“, auch in der res quae creditur; Einheit der „Verfassung des Rechtes sowie des Kultes“, die keineswegs eine „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ ausschließt. Diese Einheit ist geschwächt durch Sünde und Unvollkommenheit der Menschen, sie konstituiert sich am sichtbarsten in der Eucharistia.

Die Sancta der Kirche ist nach Metzger begründet in der Zugehörigkeit der Kirche zum Herrn.

Die Catholica bedeutet „räumlich Ökumenizität, inhaltlich Universalität der Kirche“.

Die Apostolica drückt die „Identität der Kirche von heute mit der Kirche der Apostel“ aus.

Am Ende des ersten Teils stellt Metzger die Frage: „Ist die Una Sancta Catholica Apostolica identisch mit der römisch-katholischen Kirche?“ Kann die römisch-katholische Kirche „allein auf diese Merkmale der wahren Kirche Christi Anspruch erheben?“ Er kommt zu folgender Feststellung:

„Das ,Una Sancta Catholica Apostolica‘ kommt als Wesensmerkmal der ganzen Kirche Christi zu und ist ihr vor allem als Talent zur Verantwortung vom Herrn gegeben, der ganzen Heilsgemeinschaft Christi, die als solche konstituiert ist durch den gnadenhaften Lebenszusammenhang der berufenen Heiligen mit ihrem Haupt und Herrn aufgrund der einen Taufe. Insofern als iure Divino der Fels Petri für die ganze Kirche bleibende Seinsgrundlage ist und insofern als Rom diesen Felsen darstellt, ist die ganze Kirche mit all ihren Gliedern auf Rom bezogen, also die Kirche Christi identisch mit der römischen Kirche.“

„Einheit, Heiligkeit, Katholizität, Apostolizität ist der ganzen Kirche Christi als eine Art wesensmäßiger charakter indelebilis, aber vor allem als stets neue Aufgabe gegeben. Verwirklichung des Königtums Christi in dieser Weltzeit. Diese aber ist in ihr nicht zu erwarten, vielmehr erst als eschatologische Tatsache – auf den Tag des Gerichtes – verheißen. So ist es im Wesen der Sache gegeben, dass die empirische Kirche Christi nur in Näherung an das Ideal als una sancta catholica apostolica in Erscheinung tritt, in den einzelnen Gliedern, Gemeinden usw., in denen die Kirche Christi sich leibhaftig darstellt, ebenso wie in der Ecclesia als ganzer. Es bleibt freilich die unabweisbare Forderung des Herrn, die mit dem Wesen der Kirche gegeben ist, als aller gemeinsamer Verantwortung. Seine Gemeinde als eine in der Tat Una Sancta Catholica Apostolica-Gemeinschaft aller zum Heil Berufenen darzustellen, der Welt zum Glaubenszeugnis.“

Die Abhandlung Metzgers durchzieht eine gewisse Polarität, eine Gegenüberstellung, die meist durch ein Sowohl-als-auch gelöst wird. Durch die Inhaltsfülle dieser Schrift – Metzger versucht alle aktuellen Probleme zu tangieren (Primat, Amt, Laienapostolat, Stellung der Frau in der Kirche…) – wird diese Polarität teilweise verdeckt. Sie tritt aber im Aufbau klar zutage in den beiden Kirchenbegriffen, in denen er die „ecclesia Christi“ von der „communio ecclesiastica“ unterscheidet; ebenso in der Darstellung der Una Sancta Catholica et Apostolica, indem er jeweils die „Sinnmeinung“ der „Verwirklichung“ gegenüberstellt. Metzger gebraucht selten die Bezeichnung sichtbare und unsichtbare Kirche, aber diese Polarität steht durchwegs hinter seinen Ausführungen. Der Grund dieser Polarität liegt in der behandelten Materie. Die Kirche ist ein Mysterium fidei, das logisch-spekulative Aussagen nie ganz erreichen. An anderer Stelle sagt Metzger: „Die Kirche ist ein Glaubensgeheimnis, dessen paradoxaler Charakter sich einer eindeutigen Begriffsbestimmung entzieht.“

Metzgers Kirchenbegriff basiert auf den Bildern, die wir für die Kirche in der Heiligen Schrift finden. Er vertritt eine Synthese zwischen den Begriffen „Volk Gottes“ und „Leib Christi“, wobei das Schwergewicht auf der ersten Bezeichnung liegt. Dabei kommen freilich die anderen Bilder: Kirche als Braut Christi, himmlisches Jerusalem … etwas zu kurz. Für die Ekklesiologie seiner Zeit war diese Synthese keineswegs üblich. Seit dem Erscheinen von Max Schelers Aufsatz 1915 „Die soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Krieg“ war der „Corpus-Christi-Mysticum-Gedanke“ zur Zentralidee der Ekklesiologie geworden. Schon zuvor hatten Möhler und Scheeben diesen Begriff neu entdeckt, indem sie auf die Kirchenväter zurückgriffen. Sie blieben aber in einer „organizistischen“ Auffassung vom Leibe stecken. Durch das Aufbrechen der Gemeinschaftssehnsucht zwischen den beiden Weltkriegen gewann man auch für die Kirche neues Interesse. Dabei rückte die Bezeichnung der Kirche als dem mystischen Leib Christi in den Mittelpunkt der Diskussion. Mystisch wurde im Sinne der neuzeitlichen Innerlichkeitsmystik bzw. des Mystizismus gedeutet, nicht im patristischen Sinne von μυστικόν-sakramentale [mystisch-sakramental]. So kam es zu Übertreibungen und Überspitzungen des Unsichtbaren und Pneumatischen an der Kirche als eine Gegenreaktion zur apologetischen Kirchenbetrachtung.

Besonders in Deutschland kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Befürwortern und Gegnern des „Corpus-Christi-Mysticum-Gedankens“. Der Höhepunkt dieser Krisis war Ende der Dreißiger-, Anfang der Vierzigerjahre. 1940 schrieb Koster sein Buch über die „Ekklesiologie im Werden“ und betonte darin stark den Volk-Gottes-Gedanken. Die Enzyklika Mystici Corporis Christi vom 29.6.1943 suchte den Streit durch eine Synthese zu schlichten. Ihr kommt in dieser „Entwicklung die Bedeutung zu, den Ausdruck ,corpus Christi mysticum‘ in die Sprache des kirchlichen Lehramtes zurückgeholt und einer bloß juridischen wie einer mystisch-organizistischen Auffassung des Wortes wieder ein echt theologisches Verständnis entgegengestellt zu haben, das zugleich zu weiterer Forschung anregte“.

Metzger schrieb seine Abhandlung über die Kirche ohne Kenntnis dieser Enzyklika. Er wurde am 29.6.1943 verhaftet, am Tage des Erscheinens von Mystici Corporis Christi. Er hatte in den Jahren vorher die Diskussion um die Ekklesiologie verfolgt. Die Beschäftigung mit den beiden extremen Auffassungen von Kirche als „Leib Christi“ und als „Volk Gottes“ haben sicher seine Schrift beeinflusst, nicht aber entscheidend bestimmt. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen über die Kirche war ihm ausschließlich die Heilige Schrift. Deshalb war es ihm möglich, diese Synthese zu finden. Seine Schrift ging unter im Wirrwarr des Zusammenbruchs 1945. Sie hat wohl kaum direkt die heutige Ekklesiologie beeinflusst, da sie nicht veröffentlicht wurde. Aber sie deutet klar in die Richtung, die heute die Ekklesiologie eingeschlagen hat, die neuerdings dargelegt wird in der Konstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
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[1] KYRIOS – 50 Jahre Dienst am Wort 1915/16 – 1965/66 (Festschrift zur 50-Jahrfeier des Kyrios-Verlages), Freising 1966, S. 24-29.

Aktualität des Lebenszeugnisses von Wanda Półtawska

Leben für die Menschenwürde – leben in Ewigkeit

Wanda Wiktoria Półtawska wurde am 2. November 1921 in Lublin geboren und starb kurz vor ihrem 102. Geburtstag am 24. Oktober 2023 in Krakau. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre lebenslange Freundschaft mit Karol Wojtyła, dem späteren Papst Johannes Paul II., den sie auch im Sterben begleiten durfte. Während des Zweiten Weltkriegs war sie im deutschen Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert und musste die schlimmsten Erniedrigungen durchmachen. 1951 schloss sie ein Medizinstudium ab, erwarb 1964 einen Doktortitel in Psychiatrie, war von 1952 bis 1969 Assistenzprofessorin an der Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Universität Krakau und von 1955 bis 1997 Dozentin für Pastoralmedizin an der Päpstlichen Theologischen Fakultät in Krakau. 1967 gründete sie das Institut für Familientheologie an der Päpstlichen Theologischen Fakultät in Krakau und leitete es 33 Jahre lang als Professorin. In den Jahren 1981 bis 1984 war sie zudem Dozentin am Päpstlichen Institut für Studien zu Ehe und Familie an der Lateranuniversität in Rom. In den Fragen Ehe, Sexualität, Empfängnisverhütung und Abtreibung arbeitete sie eng mit Papst Johannes Paul II. zusammen und hatte damit einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Morallehre der Kirche.

Von Klaus-Hermann Rössler

Der Beginn der Bundesrepublik Deutschland wird häufig mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 ineinsgesetzt. 1990 wurde es zur gesamtdeutschen Verfassung. Allerorten wird 2024 in Deutschland des 75-jährigen Jubiläums gedacht. Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland lautet bekanntlich: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Tiefe Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung

Nach einer YouGov-Studie vom 23. Mai 2024 in Kooperation mit dem SINUS-Institut halten 52 Prozent der Bevölkerung die hier kodifizierte Menschenwürde für das wichtigste Grundrecht, sie erhält die höchste Zustimmung als „besonders wichtig“ unter allen Grundrechten. Allerdings antwortet in der Umfrage des Insa-Instituts im selben Zeitraum im Auftrag des Magazins GranDios „nur jeder Dritte (34 Prozent), dass die Würde des Menschen aktuell in Deutschland unantastbar ist. Eine Mehrheit (51 Prozent) verneint das“. Da das gesamte Grundgesetz gewissermaßen auf der Unantastbarkeit der Menschenwürde beruht, muss hier eine tiefe Verunsicherung der Menschen nicht nur über dessen Verwirklichung, sondern auch über seine grundsätzliche Wirkmöglichkeit im alltäglichen Leben überhaupt befürchtet werden.

Wanda Półtawska und ihre unzerstörbare Würde

Ob Artikel 1 und damit das gesamte Grundgesetz im Letzten nur eine papierne Größe ist, Deklaration von Irrealem oder Feststellung einer anthropologischen Tatsache, entscheidet sich daran, ob die Würde des Menschen auch da erfahren werden kann, wo sie radikal in Frage gestellt wird und mit äußeren Mitteln nicht mehr verteidigt werden kann. Höchste Zeit, nach einem überzeugenden Lebenszeugnis für die in Artikel 1 behauptete Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu suchen. Ein solches überzeugendes Lebenszeugnis ist in der polnischen Medizinerin und Psychiaterin Wanda Półtawska zu finden.

„Ja, ich hatte ein schönes Leben und ich habe ein schönes Leben.“ Das sagte die im Laufe ihres Lebens mit hohen Ehren ausgezeichnete Dr. Wanda Półtawska anlässlich ihres 100. Geburtstags, den sie noch um fast zwei Jahre überleben sollte, bevor sie am 24. Oktober 2003 in Krakau verstarb.

Mit 20 Jahren „Kaninchen“ im Frauen-KZ Ravensbrück

Wanda Półtawska kam 1921 in Lublin als Tochter eines Postbeamten zur Welt und engagierte sich früh schon in einer Pfadfindergruppe, was sie nach der Besetzung Polens durch Hitler-Deutschland umgehend zum Widerstand im Untergrund als Überbringerin von Postsendungen, Waffen und Geld prädestinierte. Der 17. Februar 1941 wurde für die Zwanzigjährige zum Schicksalstag: sie wurde von der Gestapo verhaftet, gefoltert und zunächst sechs Monate in das Lubliner Schloss ins Gefängnis, später als „Schutzhäftling 7709“ in das Frauen-KZ Ravensbrück zur Zwangsarbeit verbracht. Hier zählte sie zu den sogenannten „Kaninchen“, also zu den Frauen, die unter eigentlich nicht zu schildernden Bedingungen medizinische Operationen, zum Beispiel an Beinknochen, über sich ergehen lassen mussten, die angeblich den Zweck hatten, für Kriegszwecke Infektionen zu studieren. Dementsprechend entsetzlich hatten diese Frauen – für ihr Leben gezeichnet – zu leiden, wenn sie nicht ohnehin starben – oder wie andere KZ-Opfer auf andere grausame Weise ums Leben kamen. Sie gehörte also selbst im KZ noch zu denjenigen, die in ganz besonderer Weise in ihrer Menschenwürde verhöhnt wurden.

Aufs schwerste traumatisiert: „Und ich fürchte meine Träume“

Anfang 1945 erreichte sie und die anderen Frauen die Nachricht, dass sie alle erschossen werden sollten. Mit falschen Häftlingsnummern konnten sie sich jedoch in einem Gefangenentransport ins Außenlager Neustadt-Glewe in Mecklenburg-Vorpommern retten, aus dem sie im Mai 1945 befreit wurde. Wanda Półtawska kehrte am 8. Mai 1945 nach Polen zurück, aufs schwerste traumatisiert. „Tag für Tag oder besser Nacht für Nacht träumte ich von Ravensbrück – wobei die Träume so unfassbar plastisch waren, dass ich nicht unterscheiden konnte, ob dies nun ein Traum oder ich noch im Lager war.“ So beschreibt sie diesen Zustand später. Sie spricht mit niemandem darüber und – weil sie ihre Träume vom Lager nicht ertragen konnte – schläft sie nicht mehr, bis sie auch diesen Zustand nicht mehr aushält. Eine alte Lehrerin gibt ihr schließlich den Rat, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Erst zehn Jahre nach der Niederschrift vertraute sie jemandem an, dass sie ihre Erinnerungen niedergeschrieben hatte – und nach 15 Jahren wurde sie überredet, es zu veröffentlichen unter dem Titel „Und ich fürchte meine Träume."[1] Weil ihr manche Passagen „zu intim und makaber“ erschienen, strich sie diese.

Unglaubliche Tapferkeit angesichts entsetzlicher Erfahrungen

Das Buch ist Seite für Seite ein Dokument darüber, wie die Opfer in stetiger Erwartung entsetzlicher Qualen und des Todes ihre Menschenwürde behielten und die entmenschten Täter sie aus freiem Willen verloren hatten. Wie haben sie das nur geschafft? Wanda Półtawska berichtet in ihrem Buch ebenfalls Seite für Seite vom Zusammenhalt der Gequälten, von sich gegenseitigem Mutmachen in völlig aussichtsloser Situation. Sie berichtet von der Überwindung der Einschüchterung durch den alltäglichen Terror und der tapferen Gleichgültigkeit der Opfer gegenüber den Drohungen und sadistischen Strafen der Täter. Sie berichtet von Aktionen, die in teils unglaublicher Weise den Protest und den Widerstand der Häftlinge ihren Peinigern gegenüber zeigten. Im Grunde berichtet sie davon, wie die Liebe zum Nächsten den Hass überwindet. Es ist wohl anzunehmen, dass ihr Glaube ihr zu dieser Haltung des Heroismus verholfen hat.

Fester Glaube an die Möglichkeit der Bekehrung

Über den Zweck der Veröffentlichung ihrer Aufzeichnung schreibt sie, dass sie sich an diejenigen wendet, die „die Wahrheit über den Menschen suchen“. Ihr Fazit aus ihren entsetzlichen Erfahrungen: „Meine Geschichte unserer Jugend zeigt etwas, was die sogenannte Welt der ,westlichen Zivilisation‘ zu demonstrieren unfähig ist – die Tatsache, dass sich die menschliche Natur von Heroismus bis Bestialität erstrecken kann. Meine Geschichte (...) ist daher eine Warnung an junge Menschen, denn jeder kann werden wie ein Mitglied der Gestapo oder, andererseits, wie Maximilian Kolbe.“

Besonderen Wert legte Wanda Półtawska auf ein heimlich geschriebenes und aus dem Lager geschmuggeltes „Testament der Ravensbrücker ,Kaninchen‘“, von denen sehr viele in der Folgezeit erschossen wurden. Darin hatte die Hoffnung in einer besonderen Weise Ausdruck gefunden, dass die Verachtung der Menschenwürde nicht das letzte Wort in der Geschichte sein kann: „Die ‚Kaninchen‘ haben ein Testament geschrieben, in dem mit der Niederlage Deutschlands rechnend, sie ihren Willen ausdrückten, dass man nach dem Kriege eine Schule, eine große Erziehungsanstalt für Frauen gründen sollte, die durch ihre Haltung und ihre Aktivität es nicht zum Krieg und zu solch verbrecherischen Experimenten mit Menschen, denen wir ausgesetzt worden sind, kommen lassen.“ So unglaublich es klingt – selbst im KZ hielten diese Frauen Bekehrung für möglich.

Freundschaft mit Karol Wojtyła auch während seines Pontifikats

Wanda Półtawska hatte auch lange nach dem Krieg unter dem Trauma ihrer Zeit im KZ Ravensbrück gelitten. 1953 suchte sie zum wiederholten Male Hilfe in der Beichte. Alle Geistlichen, bei denen sie zuvor in der Beichte war, hatten ihr Ratschläge nach Patentrezepten gegeben, wie sie das Trauma überwinden konnte, aber nichts davon hatte ihr geholfen. Der Beichtvater, zu dem sie diesmal ging, tat dies nicht, sondern empfahl ihr, mit dieser Last täglich zur Messe zu gehen. Es war das tiefe Vertrauen auf die heilende Kraft der Barmherzigkeit Gottes, die aus diesen Worten sprach und ihr den Weg wies. Sie hatte Gott auf ihrer Seite, auch wenn sie noch immer innerlich um ihre Menschenwürde kämpfte. Der Priester war der spätere Papst Johannes Paul II., Karol Wojtyła, und diese Beichte war der Beginn ihrer langen Freundschaft mit Karol Wojtyła; unter anderem war ein fünfzig Jahre andauernder Briefwechsel die Folge. Als Wojtyła Erzbischof von Krakau wurde, prägte Półtawska die akademische Seelsorge der Diözese Krakau auf den Gebieten Familienseelsorge und Lebensschutz. Auch später im Vatikan hielten beide einen engen seelsorgerlichen und wissenschaftlichen Kontakt; der heilige Papst nannte sie seine Schwester. Sie machte ihn auch aufmerksam auf Missbrauchsfälle in der polnischen Kirche, auf die er durchgreifend und schnell reagierte.

Verankerung der Menschenwürde in der Ewigkeit Gottes

Noch einmal wollen wir uns fragen: Was macht die Menschenwürde aus? In der am 8. April 2024 vom Dikasterium für die Glaubenslehre veröffentlichten und von Papst Franziskus approbierten Erklärung „Dignitas infinita“ wird eine wichtige vierfache Unterscheidung und Definition des Verständnisses von Menschenwürde getroffen: die ontologische Würde, die sittliche Würde, die soziale Würde und die existentielle Würde des Menschen. Die wichtigste Sinngebung sei an die ontologische Würde gebunden, heißt es in dem Schreiben. Diese beschreibe, dass die Person „existiert und von Gott gewollt, geschaffen und geliebt ist“. Im Gegensatz zu der sittlichen Würde, die an die Entscheidung des einzelnen gebunden sei, könne diese nicht ausgelöscht werden. Freilich hängt auch die sittliche Menschenwürde nicht einfach von den eigenen Anstrengungen des Menschen ab. Ohne die Gnade Gottes keine Menschenwürde. Der Würdebegriff der Vatikan-Erklärung und der katholischen Kirche ist anders als säkulare Auffassungen darüber, was Menschenwürde ausmacht, völlig klar hinsichtlich dessen metaphysischen Charakters. So zitiert das Dikasterium für die Glaubenslehre in Nummer 20 die Enzyklika „Evangelium vitae“ des hl. Papstes Johannes Paul II.: „Die Würde dieses Lebens hängt nicht nur von seinem Ursprung, von seiner Herkunft von Gott ab, sondern auch von seinem Endziel, von seiner Bestimmung als Gemeinschaft mit Gott im Erkennen und in der Liebe zu ihm“ (Evangelium vitae, Nr. 38). Die Menschenwürde ist auf die Ewigkeit Gottes angelegt.

Voller Hoffnung und Gottvertrauen

Wanda Półtawska war eine Heldin der Menschenwürde, zweifellos. Aber sie wusste um die entscheidende Bedeutung der Gnade Gottes. Und für diese Überzeugung ist sie auch international zum Zeichen geworden. Als sie Anfang der sechziger Jahre schwer krebskrank wurde, bat der Papst in einem Brief an den mystischen Heiligen Pater Pio diesen darum, für sie zu beten. Kurz darauf wurde sie – für die Ärzte unerklärlich – vom Krebs vollständig geheilt.

Wenn man nun dieses Lebenszeugnis sieht, ist dann die Skepsis gegenüber der Bedeutung der Unantastbarkeit der Menschenwürde bei so vielen – ja vergleichsweise noch immer gutsituierten – Deutschen noch verständlich? Kommt der Zweifel an einem an sich hochgeschätzten Wert vielleicht daher, dass Deutschland das Denken an die Ewigkeit und das Vertrauen in Gott verloren hat, das dieser Frau und ihren Leidensgenossinnen selbst im KZ und im Angesicht des Todes nicht abging?  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
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[1] Wanda Półtawska: Und ich fürchte meine Träume, Fe-Medienverlag, 200 S., Paperback, 9,95 Euro (D), ISBN 978-3-86357-224-2 / www.fe-medien.de

Über politische Bestrebungen im Lebensrechtsbereich

Dichtung und Wahrheit

Alexandra Maria Linder M.A. (geb. 1966) ist seit 2017 die Bundesvorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht e.V. Sie zeigt auf, wie mit Unwahrheiten Politik gemacht wird, um das Grundrecht auf Leben immer weiter auszuhöhlen. Sie ruft dazu auf, jede Gelegenheit zu nützen, um die „Dichtung“ im gesellschaftspolitischen Diskurs zu entlarven und die Wahrheit zu verbreiten. Einen wichtigen Beitrag könne jeder durch die Teilnahme am 20. Marsch für das Leben leisten, der am 21. September 2024 in Berlin und parallel in Köln stattfinden wird.

Von Alexandra Maria Linder

Während sich die Menschen auf Sommertage mit Fußball freuten, nutzte die Politik diese Ablenkung: Ein ideologisches Projekt wurde unmittelbar vor der Sommerpause noch durchgepeitscht. Das Schwangerschaftskonfliktgesetz wurde um das Verbot der „Gehsteigbelästigung“ erweitert. Angeblich werden Schwangere und Mitarbeiter regelmäßig vor Beratungsstellen oder Abtreibungseinrichtungen belästigt und brauchen eine Schutz-Bannmeile von 100 Metern (Dichtung). Abgeordnete zeichneten Horrorszenarien: „Sogenannte Lebensschützer“ werfen sich mit „blutigen Föten“ vor Frauen (Dichtung)! Nur gibt es keine Strafanzeigen, Verurteilungen oder Berichte zu solchen Vorkommnissen. Eine Befragung der Bundesländer zeigte dasselbe Ergebnis: nichts (Wahrheit). Dennoch wurde die Gesetzesänderung, die niemandem hilft, Gutes verhindert, Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit einschränkt, mit 381 Stimmen verabschiedet.

Eine von der Bundesregierung recht einseitig besetzte Kommission schlägt eine neue Abtreibungsregelung vor: Bis zur 12. Schwangerschaftswoche keine Regulierung. Bis zur 22. Woche kann es Sonderregelungen geben. Ab der 22. Woche kann es gesetzliche Einschränkungen geben. Zu Beginn der Schwangerschaft, wo Kinder wie Mütter besonders viel Schutz und Unterstützung brauchen, will man ihnen jeglichen Schutz und jegliche Unterstützung nehmen. Obwohl etwa zwei Drittel der Schwangeren aufgrund von Druck aus ihrem Umfeld zur Abtreibung gehen. Obwohl der Mensch sich ab der Zeugung kontinuierlich weiterentwickelt (Wahrheit). Es gilt das Narrativ, dass Abtreibung selbstbestimmte „Gesundheitsversorgung“ und das Kind ein „Zellhaufen“ sei (Dichtung).

Freuen können sich auch Vereine, die Menschen in schweren Lebenslagen den Tod als Lösung anbieten. Denn der assistierte Suizid ist nach wie vor ungeregelt, unheilvolle „Sterbehilfe“ hält in Wohnungen, Pflegeeinrichtungen und Hospizen Einzug. Sogar die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die besonders konsequent als Lebensoase wirkten, wollen dem assistierten Suizid Einlass geben, statt ihm Einhalt zu gebieten. Ein Gesetz, das Suizidprävention fördern soll, liegt trotz Beschluss des Bundestages nicht vor. Laut Bundesverfassungsgerichtsurteil sei Suizid ohnehin eine autonome Entscheidung (Dichtung). Dass dahinter Dramatik, Einsamkeit und Krankheit stecken und weitere Menschen davon betroffen sind (Wahrheit), passt nicht zum Wolkenkuckucksheim.

Der Lebenswert alter Menschen bemisst sich zunehmend an Nutzen, Gesundheitszustand und den Kosten, die sie verursachen. Ein vorgeburtlicher Bluttest filtert Kinder mit genetischen Besonderheiten heraus, um sie abzutreiben. Bei der künstlichen Befruchtung sucht man mit Präimplantationsdiagnostik nach Abweichungen von der Norm, um nicht gelungene Produkte zu „verwerfen“ oder für Forschungszwecke zu zerlegen. Man möchte gesunde Wunschkinder zum richtigen Zeitpunkt – auch durch „Leihmutterschaft“, eine neue Form des Menschenhandels.

Man könnte sagen: Was soll ich da tun? Wie kann ich etwas ändern oder beeinflussen? Ich bin doch machtlos? Wenn die Urchristen, in Diktaturen lebende Christen, die Lebensrechtsbewegung, die caritativ tätigen Organisationen, die Familien und Lebensgemeinschaften diese mutlosen Fragen gestellt und dann aufgegeben hätten, sähe es in unserer Welt tatsächlich grauenvoll aus. Genau in dieser Welt für die Menschen eintreten, Gutes tun, Werte verteidigen und leben, ist Ausdruck der umfassenden Menschenwürde, die jeden Menschen von seinem Entstehen bis zu seinem Tod als Person respektiert und behandelt. Auch wenn es Regierungen, politische Richtungen, gesellschaftliche Entwicklungen gibt, die versuchen, Menschen genau dies abzusprechen.

Es ist unsere Aufgabe, die Dichtung zu entlarven und die Wahrheit zu verbreiten. Jeder in seinem Bereich und wir gemeinsam im größeren Rahmen. Zum Beispiel beim 20. Marsch für das Leben am 21. September 2024 in Berlin und parallel in Köln. Wir freuen uns auf Sie!

Weitere Informationen unter: www.bundesverband-lebensrecht.de  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
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Lateinamerika – Eine Kirche, die Wunden heilt

An der Seite der Menschen

Lateinamerika gehört zu den Kernregionen des katholischen Glaubens. Der Subkontinent leidet unter vielen Problemen wie Drogen- und Menschenhandel, politischer Instabilität und gewaltsamen Unruhen. Sekten nehmen einen enormen Aufschwung. Viele Menschen sehen in der Auswanderung ihre einzige Chance. Die katholische Kirche in Lateinamerika ist an der Seite der Menschen. Das päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ unterstützt sie dabei. Drei beeindruckende Initiativen stellt dieser Artikel vor.

Von Tobias Lehner

Mexiko: Pfarrer Fili trotzt der Gewalt

Mexiko versinkt immer mehr im Bandenkrieg. Das betrifft auch die katholische Kirche. Der Priester José Filiberto Velázquez Florencio leitet ein Zentrum für Opfer der Bandengewalt in der Diözese Chilpancingo-Chilapa. Sie liegt im Bundesstaat Guerrero im Süden Mexikos. „Ich fühle mich hier wie ein Kriegsseelsorger“, sagt der Priester, den sie hier nur Pfarrer Fili nennen. Im Jahr 2022 hatte ihn ein Mitbruder um Hilfe gebeten, in dessen Kirche über 500 Gläubige Zuflucht vor der Bandengewalt suchten. Der Priester begann, humanitäre Hilfe für sie auf die Beine zu stellen.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten: Drohungen, Erpressungen, Mordanschläge. Der Priester hat bereits zwei solcher Anschläge überlebt. Auf dem Weg zu einem Gottesdienst wurde er verschleppt und sollte hingerichtet werden. Stundenlang musste er auf Knien ausharren, während die Gemeindemitglieder um sein Leben verhandelten. Im Oktober vergangenen Jahres wurde er in seinem Auto beschossen. „Normalerweise habe ich keine Angst, aber manchmal überkommt sie mich doch“, erzählt Pfarrer Fili. „Ich weine oft, aber mich tröstet das Wissen, dass ich nicht allein bin und Gott für mich sorgt.“

Dennoch suchen Pfarrer Fili und seine Mitstreiter den Dialog mit den bewaffneten Gruppen, um mäßigend auf sie einzuwirken. So war es auch bei einem der schwersten Zusammenstöße zwischen kriminellen Gruppen und Militär im Januar und Februar dieses Jahres. Wochenlang legten die Kämpfe weite Regionen des Bundesstaats Guerrero lahm. „Dann begann die Kirche, mit den Anführern zu reden, und der Konflikt konnte gelöst werden“, berichtet Pfarrer Fili. Dennoch seien Kirchenvertreter von Behördenseite schikaniert und in Verbindung mit dem kriminellen Verbrechen gebracht worden. Doch das ficht Pfarrer Fili nicht an. Er wird weiter für Gewaltopfer da sein und den Dialog suchen: „Indem wir auf die Mitglieder des organisierten Verbrechens zugehen, zeigen wir, was die Kirche ausmacht: Barmherzigkeit.“

Ecuador: Seelsorge an Gefangenen

„Niemand glaubt an die Gefängnispastoral. Die Menschen denken, darum müsse man sich nicht kümmern. Aber die Bibel sagt mir, dass die Barmherzigkeit Gottes auch für die verstocktesten Sünder da ist.“ Maria Christina Santacruz spricht das wie ein trotziges Bekenntnis aus. Sie koordiniert die Seelsorge in Gefängnissen auf dem Gebiet der Erzdiözese Guayaquil im Westen von Ecuador. Fünf Gefängnisse sind zu betreuen, darin sind über 12000 Menschen inhaftiert – Tendenz steigend. Viele der Inhaftierten sind zwischen 15 und 27 Jahren alt. Manche werden in den Gefängnissen für eine weitere kriminelle Karriere rekrutiert. Sie brauchen Umkehr und neue Perspektiven. Dafür setzt sich ein Team von gut 100 Personen ein, die in der Gefängnisseelsorge tätig sind.

Eine der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen ist Aleida Mejia. Ob sie denn keine Angst hat, mit Schwerkriminellen zu arbeiten? Doch, bekennt sie, und ihrer Familie falle es jedes Mal schwer, sie in den Dienst gehen zu lassen. Aber dennoch ist sie überzeugt: „Genau hier will Jesus uns haben. Er ruft uns auf, alle seine Kinder zu lieben.“ Mejia und ihre Kollegen besuchen die Gefangenen, sie feiern regelmäßige Gottesdienste, sie halten Kontakt zu den Angehörigen. Essenziell sind auch Kurse, die auf ein Leben nach dem Gefängnis vorbereiten und über Perspektiven jenseits der Kriminalität informieren. Sie sind gut besucht, Erfolge sind sichtbar, wie Mejia betont. Sie sei dankbar, dass Gott sie zur Seelsorge an den Gefangenen berufen habe; ihr tägliches Gebet laute: „Hier bin ich, Herr, um deinen Willen zu tun und die Gefangenen zu trösten und in die Freiheit zu führen, wie du mich befreit hast.“

Panama: An der Seite der Migranten

Der Darién-Dschungel (auch „Darién Gap“) ist ein Urwaldgebiet an der Grenze zwischen Kolumbien und Panama. Jährlich durchqueren hunderttausende Menschen das unwegsame Gelände Richtung Norden, um vorrangig in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Der direkte Weg durch unwegsames Gelände ist circa 100 Kilometer lang. Der Darién Gap gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten Lateinamerikas, wird aber immer mehr genutzt: Beobachter schätzen, dass dieses Jahr die Millionen-Marke erreicht werden könnte. „In Anbetracht der zunehmenden humanitären Krise, der Todesgefahren und der extremen Verwundbarkeit, der die Migranten ausgesetzt sind, möchten wir unsere Stimme erheben“, sagte Erzbischof José Domingo Ulloa Mendieta aus Panama-Stadt. Die Bischöfe aus Panama, Kolumbien und Costa Rica haben beschlossen, die Seelsorge und humanitäre Betreuung der Auswanderer entlang des Darién-Dschungels zur verstärken.

Ulloa berichtete von einem Besuch zusammen mit Bischofskollegen aus den Grenzregionen: „Es brach uns das Herz, die Gesichter der Migranten zu sehen. Ungefähr 40 Prozent der Menschen, die den Dschungel durchqueren, sind weiblich. Dazu kommen viele Kinder.“ Die Zahl der Toten entlang der Fluchtroute kenne niemand, da viele verunglückte Menschen nicht geborgen werden könnten. Nun will die Kirche zum Beispiel Kliniken für Kinder oder für Frauen einrichten, die missbraucht wurden und eine besondere Traumabehandlung benötigen. Auch eine Beratung über die Sozialen Medien ist angedacht, denn viele Menschenhändler werben über diese Kanäle ihre Opfer an. Erzbischof Ulloa bittet um Unterstützung für die pastorale und karitative Sorge um die Migranten im Darién-Dschungel: „Ich wünsche mir, dass die Menschen spüren, dass die Kirche eine Mutter ist, die ihre Wunden heilen will.“  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Die Mystikerin Kreszentia (Centa) Segerer (1906-1953) aus München

Verborgene Sühneseele mit Wundmalen

Alois Bäuml ist pensionierter Gymnasiallehrer und hat die Geschichte der Münchener Passionsmystikerin Kreszentia (Centa) Segerer (1906-1953) an die Öffentlichkeit gebracht. Doch warum blieb sie solange verborgen? Während der NS-Zeit musste man befürchten, dass die Behörden Centa in eine Anstalt einweisen und dort umbringen, so Bäuml. Die umfangreiche Sammlung der von der Mystikerin überlieferten Worte – sie befinden sich seit 2009 im Archiv des Erzbistums von München und Freising – beinhalten nicht nur ekstatische Äußerungen und Worte für das geistliche Leben, sondern auch Gespräche mit Besuchern und familieninterne Dinge. Letzteres dürfte der Grund dafür gewesen sein, warum man diese Unterlagen seitens der Familie Segerer erst nach dem Tod der letzten Schwester Centas 1992 in kirchliche Hände übergeben hat. Bäuml, der dieses Material gesichtet hat, veröffentlichte ein dreibändiges Werk mit dem Titel: „Der Wille Gottes ist mir alles!"[1] Anlass für den Beitrag über Centa Segerer ist auch der bevorstehende 800. Jahrestag der Stigmatisierung des hl. Franz von Assisi. Er soll die Wundmale am 14. September 1224 auf dem Berg La Verna empfangen haben. Das Eigenfest wird am 17. September gefeiert.

Von Alois Bäuml

Dem Schuhmacher Mathias Segerer und seiner Ehefrau Anna wird am 31. Oktober 1906 als elftes von zwölf Kindern eine Tochter geboren und am 4. November in ihrer Pfarrkirche Hl. Kreuz in München-Giesing auf den Namen Kreszentia Josefa getauft. Zum Rufnamen wird später die Kurzform Centa. 1928 zieht die Familie in einen Gebäudekomplex an der Arminiusstraße in der Nähe der St. Franziskuskirche und gehört nun zu dieser Pfarrei.

Die Zenzi, wie man Centa als kleines Kind und auch als Jugendliche nennt, ist sehr temperamentvoll und zu allerlei Streichen aufgelegt, etwa wenn sie es sich auf einem Zwetschgenbaum gemütlich einrichtet, fremde Kühe melkt, um ihre Kätzchen füttern zu können, für die sie dann noch Dachziegel durchschlägt, damit sie auch Licht bekommen. In diesen jungen Jahren ist Centas Seele aber schon ganz auf Gott ausgerichtet. Zu ihm betet sie, seine Nähe sucht sie, bevorzugt in der Natur, v.a. wenn sie auf dem benachbarten Bauernhof in den Ferien mithilft und hinausfahren darf auf die Felder und Wiesen. Mit knapp vier Jahren darf sie in einer Vision den übernatürlichen Wert des Kreuzes erkennen. Mit 8 ½ Jahren melden sich bei ihr Arme Seelen, doch glaubt sie, dass das normal sei.

Als für Centa im Alter von sieben Jahren die Volksschule beginnt, möchte sie auch schon Missionsschwester werden. Als 11-Jährige spricht sie bei ihrer hl. Erstkommunion zu den Plänen Gottes mit ihr ein klares „Ja, Vater!“, das sie bald darauf bei der hl. Firmung bekräftigt. Diese Zustimmung zum Willen Gottes wird ihr ganzes Leben entscheidend prägen. Nach Beendigung der Schule besucht sie ab 1918 Kurse in Kinderpflege, hilft nach Kräften im Haushalt mit und ersetzt sogar eine Zeitlang die schwerkranke Mutter.

Centa ist 15 ½ Jahre alt, als eine Halsoperation unumgänglich wird. Vermutlich wegen Herzproblemen muss sie diese ohne Narkose aushalten. Die Schmerzen opfert sie für die Priester auf. Das Wort „Priesteropfer“ hält Einzug in ihr junges Leben. Im Frühsommer schickt man sie zur Erholung nach Bad Tölz. Auf dem dortigen Kalvarienberg mit der Kreuzigungsgruppe belebt sich vor ihren Augen die Jesusfigur. Zutiefst ergriffen vom Todesleiden Jesu, bittet sie ihn, ihr sein Kreuz zu schenken. Im Verlauf des Jahres kommen weitere Krankheiten auf sie zu.

Als im Dezember aus der Notkirche das Allerheiligste geraubt wird, bietet Centa Gott an, dafür Sühne zu leisten. Bis zu ihrem 30. Lebensjahr werden Krankheiten ihre ständigen Begleiter. Im Alter von 18 Jahren bricht über ihre Seele eine fünf Jahre andauernde geistige Finsternis herein. Schwer leidet sie unter einer vermeintlichen Gottverlassenheit. Was ihr sicherlich hilft, diese Durststrecke durchzustehen, ist ihre Mitgliedschaft im Clara-Jugendverein und das Geigenspiel. Tanzen wird zwar zu ihrer Leidenschaft, doch spürt sie in ihrer Seele ein Verlangen nach MEHR, schreit förmlich zu Gott: „Mein Gott, wann rufst du mich? Wann gibst du mir das, wonach ich mich sehne seit den jüngsten Lebensjahren?“ Am liebsten möchte sie Ordensschwester werden, wird jedoch wegen fehlender Mitgift in keinem Kloster aufgenommen.

Im Frühjahr 1930 bietet sich für Centa die Gelegenheit, im Heim für geistig behinderte Kinder in Ecksberg bei Altmühldorf mitzuwirken. Gesundheitlich dieser Aufgabe nicht gewachsen, kehrt sie schon bald nach München zurück, wo sie im städtischen Kinderasyl eine Anstellung als Kinderbetreuerin erhält. Doch schon drei Monate später muss sie auch diese Arbeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Gott lässt sie erkennen, dass er sie zum Leiden berufen hat. Anfang 1936 zeichnet sich ab, dass Centa die Wohnung kaum mehr verlassen kann.

Nach bisherigem Kenntnisstand empfängt Centa am Weihnachtsfest 1936 die Wundmale Jesu, die sie bis zu ihrem Tod 1953 behalten wird. Hören wir dazu ihre Worte: „Weißt du, die Wucht erschlägt, die an Christi Geburt kam! Christi Wunden tragen: Eine Marter! … Schaut, es war ein Lichtermeer, unsagbar! Flammen schlugen empor, herrliche große Flammen. … Es ist eine unendliche Qual, Christi Wunden zu tragen! Herrgott, erhör mich doch endlich! Ich will alles, aber nur das nicht! Herrgott, nimm die Wunden, nicht der Schmerzen wegen, sondern der Menschen wegen!“ Aber Centa muss erkennen, dass das der Wille Gottes für sie ist.

Ab diesem Zeitpunkt erleidet Centa nahezu wöchentlich – in ihrem Bett liegend – die Passion Christi, angefangen vom Ölbergleiden in der Nacht zum Freitag, bis zur Kreuzigung gegen Freitagmittag. Wie ausgeblutet, immer blasser und kälter werdend stirbt Centa meist gegen 15 Uhr auf mystische Weise, liegt danach mit gebrochenen Augen, geöffnetem Mund und weit zurückgeneigtem Kopf wie tot im Bett. Mehrmals ist von einem Erstickungstod die Rede. Stets kehrt nach einer gewissen Zeit das Leben auf wunderbare Weise in sie zurück. Von einigen Augenzeugen dieser Passion gibt es beglaubigte Aussagen, in denen die Echtheit der Wundmale Centas bezeugt wird. Ihre Wohnung kann Centa nicht mehr verlassen, da sie dann ohnmächtig wird – vielleicht ein göttlicher Schutz gegen die Nazis. Während der ganzen Zeit ihrer Stigmatisation lebt Centa nur von der hl. Eucharistie, die ihr von Priestern der Pfarrei St. Franziskus nach Möglichkeit täglich gebracht wird.

Mitte 1937 beginnt man, die von Centa an den Passionstagen gesprochenen Worte mitzuschreiben. Diese Manuskripte sind erhalten geblieben und wurden im Archiv des Erzbistums von München und Freising als „Akten Centa Segerer“ archiviert. Die hier verwendeten Zitate sind ihnen entnommen.

Den tieferen Grund von Centas Sühneleiden offenbart ihr Jesus selbst: „Ich bin es, Der dir voll unendlich großer Liebe das Kreuz in deine Arme gelegt. Sieh, Meine Tochter, dieses grenzenlose Elend der Welt ruft nach Sühne. Liebe und sühne!“ Und: „Meine Tochter, Ich will dich haben für Mich und für Meine Seelen, für meine Diener, die Mir so am Herzen liegen, für Meine Priester, für Meine Söhne!“ Für die ihr anvertrauten Menschen überträgt Er ihr die Aufgabe der geistigen Mutterschaft.

Vielen Sterbenden steht Centa bei, übernimmt für sie nicht selten den Todeskampf. Arme Seelen suchen sie auf und bitten um ihre Hilfe. Als am 10.  Februar 1939 Papst Pius XI. stirbt, übernimmt sie die Leiden seiner Seele, die dadurch noch am selben Tag in den Himmel einziehen kann, was sie mit großer Freude schauen darf. Schon 1940 muss Centa visionär sehen, was ihrer Stadt im Krieg bevorsteht. Ihre Antwort: „Ich biete täglich mein Leben, damit die Münchner Stadt verschont bleibt! Es ist ein Grauen! Es ist furchtbar!“

Für ihr geliebtes Bayernland bittet sie: „Herr, lass nicht verwüsten! Einzeln nimm mich! Nimm einzeln jede Faser! Nimm nicht mein Bayernland!“ Durch die Gabe der Bilokation kann sie im Krieg vielen Priestern an der Front beistehen und sie manchmal sogar vor dem Tod bewahren.

Heilige erscheinen Centa. Vor allem ist es die Gottesmutter Maria, die sie stärkt, tröstet und sie ermutigt: „Zehntausenden von Seelen musst du Mutter sein!“ Eine innige Beziehung hat sie auch zum hl. Josef. Der Gründer des Passionistenordens, der hl. Paul vom Kreuz, besucht sie öfter und bittet sie: „Mutter, nimm all das, was Gott dir schenkt!“ Zu ihrem himmlischen Freundeskreis zählen auch der Jugendheilige dieses Ordens, Gabriel Possenti, den sie anfleht, die Jugend zu beschützen, und die hl. Gemma Galgani, die sie ihre Schwester nennt. Die damals noch selige Kreszentia Höß von Kaufbeuren bestärkt sie in einem Zwiegespräch: „Gehe diesen bittersten Kreuzweg! Fürbittende will ich sein und dich nicht verlassen!“ Die hl. Theresia vom Kinde Jesu bittet sie um Beistand für ihre Priester: „Theresia, wo hast du deine Rosen? Schenk sie meinen Brüdern!“ Vom hl. Franziskus darf sie mehrere Visionen erleben. Zu ihren Besuchern zählt nicht zuletzt die hl. Elisabeth von Thüringen, die ihr schon als Jugendliche im Kloster Andechs öfter erschienen ist.

Durch den Teufel hat Centa arg zu leiden. Er versucht sie, schlägt sie, schleudert ihr Worte entgegen wie diese: „Dir kann ich so nichts anhaben. Drum schlag ich dich. Du nimmst mir die Seelen weg!“ Sie fragt den hl. Pfarrer von Ars: „Mein Pfarrer von Ars, hast Du auch das gespürt, diese vielen Anfechtungen?“ Noch an ihrem Sterbetag setzt ihr der Böse zu. Sofort ruft sie die Gottesmutter um Hilfe an und vernimmt daraufhin die Worte: „Dieser Frau, dieser großen Frau kann ich nicht an!“

Ihren Tod erwartet Centa mit größter Freude und bittet sogar: „Ihr müsst jubeln an meinem Sterbetag! Ihr müsst Gott danken an meinem Sterbetag! Ich bitt um ein Te Deum beim letzten Atemzug! … Und wenn ich daheim bin, werde ich sorgen, immer sorgen! Es soll ein linder Tau sein, der auf die Bedrängten fällt, ein linder Tau!“ Am Freitag, den 15. Mai 1953 verstirbt Centa Segerer. Die Beerdigung durch den Stadtpfarrer von St. Franziskus findet am Dienstag, den 19. Mai auf dem Münchner Ostfriedhof statt, das Requiem am Mittwoch. Das Grab von Centa Segerer mit einem rotbraunen Sandsteinkreuz befindet sich an einer Ziegelsteinmauer bei Sektion 36b. 

Gebetserhörungen mögen berichtet werden an den Freundeskreis Centa Segerer:

Ludwig-Erhard-Allee 9, 81739 München oder fk-centa-segerer(at)mnet-mail.de – Internetseite: centa-segerer.de   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Alois Bäuml (Hrsg.): Der Wille Gottes ist mir alles! Centa Segerer, Band 1: Bebilderte Biografie, 192 S., € 10,00; Band 2: Vorträge/Texte für das geistliche Leben, 188 S., € 10,00; Band 3: Äußere Lebensumstände und Inneres Leben, 653 S., € 19,80 – Miriam-Verlag, Brühlweg 1, 79798 Jestetten, Tel. (0) 77 45 / 929830 – www.miriam-verlag.de

Franziskus begegnet Jesus auf dem Berg La Verna

Umarmte Wunden

P. Dr. Paul Zahner OFM (geb. 1966) ist seit 2020 Guardian im Franziskanerkloster Näfels in der Schweiz, wo er 1991 seine Ewige Profess abgelegt hat. Er gehört zur Kustodie der Franziskaner in der Schweiz. An der Hochschule Heiligenkreuz doziert er franziskanische Kirchen- und Ordensgeschichte. In seinem Beitrag über die Stigmatisierung des hl. Franz von Assisi im September 1224 auf dem Berg La Verna bietet er eine tiefe geistliche Deutung dieser Begegnung mit dem Herrn und führt zugleich in das Geheimnis der franziskanischen Kontemplation ein.

Von Paul Zahner OFM

Franziskus träumte davon, das Evangelium Jesu Christi in seiner Gemeinschaft leben zu können. Einfältige Mitbrüder, einfache Unterkünfte und die Unsicherheit des Evangeliums. Das war sein Beginn und der Beginn der ersten Brüder. Jahre später erlebte er aber die auf Hunderte, ja Tausende gewachsene Gemeinschaft, die Besitz und Sicherheit brauchte, deren ältere Brüder umsorgt werden mussten und die in der Kirche einen immer größeren und mächtigeren Einfluss bekamen. Das war es nicht, was seine ursprüngliche Berufung war. Jesus wollte das nicht, davon war Franziskus überzeugt. Auch Franziskus erlebte seine eigene Krankheit (Malaria, Augenkrankheit, Magenkrankheit), die ihn häufig zu lähmen drohte, und er zweifelte an der Nähe Gottes, der einfach nicht mehr erfahrbar war. Gingen die Brüder falsche Wege? Ging er selber einen falschen Weg? Ging die Kirche einen Weg mit Jesus? War Jesus noch bei ihm?

La Verna: Abgelegener Berg der Einsamkeit

So zog sich Franziskus im Jahre 1224 auf den Berg La Verna zurück. Ein einsamer Berg, ein abgelegener Wald, ein Ort ohne Menschen. Dort wollte er Gott suchen und eine Antwort von ihm hören. Bruder Leo begleitete ihn und nach den Fioretti („Die Blümlein“ – Buch über das Leben des hl. Franz von Assisi aus dem späten 14. Jahrhundert) blieb Franziskus alleine und wenn Bruder Leo ihm etwas bringen wollte, musste er mit der Erlaubnis von Franziskus über einen Baumstamm klettern, der über ein enges Tälchen gelegt war, so dass dann eine Begegnung möglich war. Aber das war selten. Nach den Fioretti hatte Franziskus die geistliche Versuchung durch Dämonen, sich in einen Abgrund zu stürzen. Aber der Fels gab nach und schützte ihn, so dass er gerettet wurde. Wir würden spekulieren, dass er mit Suizid-Fantasien spielte. Vermutlich ist beides wahr: Der Abgrund des Bösen in ihm und gegen ihn und die Versuchung, dem endgültig ein Ende zu setzen. Gott aber führte ihn am Abgrund einen neuen Weg in ein neues Leben hinein. Und der Weg waren gerade seine eigenen Wunden.

Intensive Begegnung mit dem Seraph

Die Quellen berichten aus dem Wissen des Franziskus heraus von einer Erscheinung eines Seraphs am 17. September 1224, so sagt die franziskanische Tradition, kurz nach dem Fest der Kreuzerhöhung. Ein Seraph ist ein Engel des Feuers und der Liebe. In ihm erkennt Bonaventura dreißig Jahre später die Begegnung des Franziskus mit dem dreieinen Gott. Im Engel verbirgt und verhüllt sich der unfassbare Gott, der auch in drei Engelsgestalten Abraham in der Wüste begegnet ist. Der uns zugewandte Teil des dreieinen Gottes ist Jesus Christus selber, der am Kreuz die Menschen trug. Auch der Seraph wirkte wie gekreuzigt. Spätere Bilder zeigen deutlich Christus am Kreuz dargestellt, aber Franziskus erlebte einzig das Geheimnis des unfassbaren dreieinen Gottes, das sich ihm zuwandte. Er allein erlebte Jesus im dreieinen Gott so und unsere Bilder sind und bleiben immer völlig ungenügend. Aus dieser Begegnung heraus soll Franziskus an seinem Leib, an Händen, Füßen und an der Seite, die Wundmale Jesu getragen haben. Diese zeigte er aber niemandem, denn sie waren die leibliche Darstellung seines tiefen Geheimnisses.

Das Geheimnis der Kontemplation im dreieinen Gott

Jesus Christus umarmte bewusst die Wunden des Franziskus, die Wunden der Gemeinschaft, der Kirche und seines eigenen Herzens, mit seinen eigenen Wunden. Und Franziskus umarmte die Wunden Jesu und verband seine Wunden mit den Wunden Jesu. Darin liegt das innere Geheimnis dieser Begegnung mit dem dreieinen Gott auf dem Berg La Verna. Die Wunden meines Körpers und meines Lebens sind die Berührungsorte mit den Wunden des gekreuzigten Herrn. Ein geschenktes Geheimnis. Der Apostel Thomas will im Evangelium (Joh 20,24-29) die Wunden Jesu berühren und erst dann kann er glauben, dass der Gekreuzigte der Auferstandene ist. Genauso geht es Franziskus: nur in der Berührung der Wunden Jesu kann er glauben und nur, wenn seine Wunden mit den Wunden Jesu in Kontakt kommen, ist Glaube möglich. Für Bonaventura wird darum die Stigmatisierung des Franziskus zum Grundbild der franziskanischen Kontemplation. Meine Wunden sind der Ort der Gottesnähe und in ihnen schaue ich den Verwundeten und den Lebendigen selber ganz nahe bei mir, ja ganz in meinem Inneren. Christus ist da. „Tritt ganz und gar durch das Tor seiner (verwundeten) Seite ein, bis zum Herzen Jesu selbst“, so schreibt Bonaventura (Von der Vollkommenheit des Lebens VI,2) und beschreibt damit den Apostel Thomas, Franziskus von Assisi und alle Menschen im Geheimnis der Kontemplation. Wir sollen durch das Tor der Seitenwunde Jesu eintreten und dann erleben wir die Wunde seiner unfassbaren Liebe in unseren eigenen Wunden.

Ermutigung und Freude für Bruder Leo

Als Bruder Leo am Berg La Verna erlebte, dass Franziskus Gott ganz neu begegnet ist, wurde er traurig, um nicht zu sagen depressiv. Er war immer da, diente ihm als Beichtvater und Mitbruder und bekam selber gar nichts, als Franziskus eine Fülle in Gott erlebte. Dieser spürte die Enttäuschung von Bruder Leo und schrieb ihm auf einem Zettel einen Segen und den Lobpreis Gottes auf. Bruder Leo nähte diesen Zettel in seine Kutte ein und trug ihn ein Leben lang bei sich. Kein anderer Text deutet das Erlebnis auf dem Berg La Verna tiefer als dieser Lobpreis. Für Bruder Leo wurde dieser Lobpreis zum Lebenstext schlechthin. Der Text formuliert letztlich die franziskanische Mystik bis Heute: „Du bist allmächtig, du heiliger Vater, König des Himmels und der Erde. Du bist die Liebe. Du bist die Demut. Du bist die Geduld. Du bist die Schönheit. Du bist die Sicherheit. Du bist die Ruhe. Du bist unsere Hoffnung. Du bist die Freude und Fröhlichkeit“ (Auswahl aus dem Lobpreis Gottes).

Gott ist das „DU“ schlechthin. Franziskus mag Gott wieder als „Du“ ansprechen, weil er von ihm auf dem Berg La Verna als „Du“ angesprochen wurde. Dieses „Du“ zerreißt unsere Gottesvorstellungen, weil es die Allmacht mit der Demut und der Geduld versöhnt und Gott mehr als Alles ist, was wir uns vorstellen können. DAS ist das Geheimnis des Franziskus: Berührt von Gott selber wird er zum Abbild der Wunden Jesu und erfährt in seinen Wunden die Gegenwart Gottes. Darum ist der Lobpreis die einzig tiefe Antwort auf diese intensivste Gotteserfahrung.

So betet Papst Franziskus in diesem Jahr, am 5. April 2024, zum hl. Franziskus: „Heiliger Franziskus, von der gekreuzigten Liebe an Leib und Seele verwundeter Mensch, wir schauen auf Dich, der du mit den heiligen Wundmalen geschmückt bist, damit wir lernen, Jesus, den Herrn, und unsere Brüder und Schwestern mit deiner Liebe, mit deiner Leidenschaft zu lieben. … Mögen unsere Wunden durch das Herz Christi geheilt werden, damit wir, wie du, Zeugen seiner Barmherzigkeit werden können, die immer wieder das Leben derer heilt und erneuert, die ihn mit aufrichtigem Herzen suchen.“   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
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Widerstandskämpfer Alfred Kranzfelder

Unser Wollen muss zum Guten führen

Vor 80 Jahren, am 10. August 1944, wurde Alfred Kranzfelder aus Kempten im Allgäu als Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 in Berlin-Plötzensee auf grausame Weise hingerichtet. Er war Korvettenkapitän im Oberkommando der Kriegsmarine und kam immer mehr zur Überzeugung, dass der NS-Staat beseitigt werden müsse. Studiendirektor Jakob Knab versucht aufzuzeigen, dass auch für Kranzfelder das christliche Wertefundament die entscheidende Rolle für seine Beteiligung am Attentat auf Hitler gespielt hat.

Von Jakob Knab

Alfred Kranzfelder kam am 10. Februar 1908 in Kempten (Allgäu) zur Welt. Er wurde in der Pfarrkirche St. Lorenz getauft. Das Leben des Patrons seiner Taufkirche, des heiligen Märtyrers Laurentius von Rom, endete am 10. August 258 qualvoll auf einem glühenden Rost. Alfred Kranzfelder, der begabte und vielseitig interessierte Schüler des Humanistischen Gymnasiums in Kempten (jetzt Carl-von-Linde-Gymnasium) schloss sich der Marianischen Kongregation an, die von den Kapuzinern der Kemptener Pfarrei St. Antonius betreut wurde. Nach dem Abitur im Frühjahr 1927 verließ Kranzfelder seine Allgäuer Heimat. Aus dem tiefen Süden Deutschlands zog es ihn in den hohen Norden. Als Offiziersanwärter trat er der Reichsmarine bei. Im Frühjahr 1929 schloss er seine Ausbildung an der Marineschule Mürwik als Jahrgangsbester ab. Diese traditionsreiche Ausbildungsstätte, auch bekannt als Rotes Schloss am Meer, befindet sich im Nordosten der Stadt Flensburg an der Flensburger Förde. Anschließend unterrichtete Kranzfelder als Jahrgangsbester u.a. an der Artillerieschule in Kiel. Auf der „weltumspannenden Fahrt“, die Kranzfelder während seiner Ausbildungsjahre auf einem Kriegsschiff unternahm, konnte er ganz neue Eindrücke sammeln, wie ein Brief an seine Verlobte Ruth belegt. Beeindruckt berichtete er ihr von den buddhistischen Meditationspraktiken, die er in Asien kennengelernt hatte, und empfahl ihr: „Suche Ruhe in Dir.“ Denn man brauche Ruhe und Geborgenheit des Herzens, so der Verlobte Alfred, sonst sei man nicht Mensch. Freilich: Ein nationalprotestantisch gesinnter Kamerad sah in Kranzfelder den „katholischen Bayern“, der an seiner süddeutschen Heimat hing. Angesichts der Verpreußung Deutschlands machte der Allgäuer Kranzfelder aus seiner Abneigung gegen Luther, Friedrich den Großen, Bismarck und Hitler keinen Hehl.[1] Im Rückblick erinnerte sich ein anderer Weggefährte, dass Kranzfelder „stark bayrisch-katholisch eingestellt und ohne Furcht“ gewesen sei.[2]

An Bord des Panzerschiffs „Admiral Scheer“ nahm er am Spanischen Bürgerkrieg teil; am 1. Oktober 1936 wurde er zum Kapitänleutnant befördert. Aufgrund einer Erkrankung – Blutsturz, d.h. plötzliche, starke Blutungen – konnte er keinen weiteren Dienst an Bord eines Schiffes leisten. Er wurde nach Berlin in das Referat für Völkerrecht und Politik versetzt. Seine dienstliche Beurteilung fiel hervorragend aus, da er sich durch Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein auszeichnete. Am 1. September 1941, zwei Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, wurde er zum Korvettenkapitän befördert. Indes: Seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des deutschen Angriffskrieges wuchsen, denn er war innerlich erschüttert darüber, wie willfährig deutsche General- und Admiralstabsoffiziere die Befehle in diesem völkerrechtswidrigen Krieg ausführten. Bei einer Dienstreise nach Paris konnte er ein Orgelkonzert besuchen, wo auch Werke von Bach aufgeführt wurden. Er war fasziniert von dieser Klangwelt; auch so konnte er sich abgrenzen von der Gleichschaltung durch die NS-Ideologie. Sein Empfinden für Gerechtigkeit war stark ausgeprägt.

Ihn bewegte die Frage nach dem Sinn und Ziel des menschlichen Daseins. Im Sommer 1943 hielt er in einem Brief an seine Verlobte fest: „Machen wir ruhig Pläne, denn die Hoffnung ist die unversiegliche Kraft, aus der wir schöpfen können und sollen.“

Der eher schüchterne und zurückhaltende Kranzfelder freundete sich an mit Marineoberstabsrichter Berthold Graf von Stauffenberg, einem Bruder von Oberst Claus Graf von Stauffenberg. Dieser weihte ihn im Laufe der Monate in die Pläne zum Attentat und Umsturz ein. Nur wenige Offiziere der Kriegsmarine (u.a. Korvettenkapitän Dr. Sydney Jessen) schlossen sich dem Widerstand gegen das NS-Regime an. Nach Anfechtungen und quälenden Zweifeln gelangte Kranzfelder schließlich mit Stauffenberg zur Überzeugung: „Es gibt keine andere Wahl. Der Rubikon ist überschritten.“ Sein Auftrag im Umfeld des 20. Juli 1944 bestand darin, Bericht zu erstatten, wie sich Großadmiral Dönitz als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine nach einem erfolgten Attentat auf Hitler verhielte.

Nach dem gescheiterten Attentat und Umsturzversuch führte die Spur von Oberst Claus von Stauffenberg rasch zu seinem Bruder Berthold, von dort zu Kranzfelder. Er wurde am 24. Juli 1944 verhaftet und nach Berlin zur Gestapo überstellt. Am 10. August 1944 verurteilte ihn „Blutrichter“ Roland Freisler vor dem Volksgerichtshof wegen Hoch- und Landesverrat zum Tode. „Ich will, daß sie gehängt werden, aufgehängt wie Schlachtvieh“, so lautete die Anweisung des „Führers“. Auf dessen Befehl hin mussten die Filmkameras ohne Unterbrechung surren, damit er sich noch am selben Abend in der Reichskanzlei an dem menschenverachtenden Schauspiel ergötzen konnte. An Fleischerhaken aufgehängt erlitten die Verurteilten einen qualvollen Tod.[3]

Alfred Kranzfelder war in der Kemptener Kirche St. Lorenz getauft worden. Am 10. August 1944, am Gedenktag des hl. Märtyrers Lorenz, endete sein irdisches Leben in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee. Kurz vor Stauffenbergs Umsturzversuch hatte er seiner Verlobten Ruth anvertraut: „Wenn ich sterben sollte, so müsst ihr weiterleben um der guten Eigenschaften des deutschen Volkes willen. Unser Wollen muss zum Guten führen.“

Im Abschiedsbrief bat er die Verlobte, seine arme Mutter Marie zu trösten. Und er sprach von seiner Hoffnung, dass Gott ihm gnädig sein möge.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 8/9 August/September 2024
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[1] Weiterführend Ralf Lienert (Hrsg.): Kemptener Widerstandskämpfer. Alfred Kranzfelder und Franz Sperr, Kempten (Allgäu) 2008. – Rainer Florie: Alfred Kranzfelder (1908-1944), Korvettenkapitän; in: Thomas Groll und Walter Ansbacher (Hg.): Augusta Sacra. Heilige, Selige und Glaubenszeugen des Bistums Augsburg, Augsburg 2018, 340-349. – Jörg Hillmann: Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder; in: Jann Markus Witt (Hrsg.): Eckernförde. Geschichte einer Hafen- und Marinestadt, Hamburg 2006, 99-104.
[2] IfZ München, Sign. 3121/63.
[3] Am 10. August 2020, am Jahrestag der Hinrichtung, legte Admiral Brinkmann in Eckernförde am Gedenkstein für Korvettenkapitän Kranzfelder einen Kranz nieder; er verbeugte sich und schloss mit dem Bekenntnis: „Die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie bleiben die unerschütterlichen Grundpfeiler unseres Wertekanons, unseres Landes, unserer Bundeswehr und unserer Marine. Diese zu schützen und zu bewahren, bleibt auch in Zukunft unsere heilige Pflicht. Die Deutsche Marine wird diese Pflicht und die Menschen, die für sie starben, niemals vergessen.“   

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