Liebe Leserinnen und Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

„Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt!“ (1 Thess 5,19-22). Mit diesen Worten des hl. Apostels Paulus könnte man die neuen Normen des Vatikans zur Beurteilung von übernatürlichen Phänomenen zusammenfassen. Ziel des Dokuments vom 17. Mai 2024 ist es, das Wirken des Geistes für die Kirche fruchtbar werden zu lassen. Dazu legt das Dikasterium für die Glaubenslehre ein Instrumentarium vor, das es den Hirten ermöglicht, flexibler als bisher auf mutmaßliche Erscheinungen und Botschaften einzugehen. Es erlaubt, viel schneller Gutes aufzugreifen und es für die Evangelisierung zu nützen, aber auch einzuschreiten, wenn von solchen Phänomenen ein unguter Geist ausgeht. Schlüssel dafür ist die Entscheidung der Kirche, die Prüfung in Zukunft nicht mehr mit einer Erklärung über den übernatürlichen Ursprung der Phänomene abzuschließen, sondern als höchste Form der Zustimmung ein „Nihil obstat“ (lat. für „es steht nichts entgegen“) zu erteilen. Das ermöglicht, Heiligtümer zu fördern, an denen noch Erscheinungen stattfinden, oder umgekehrt, nach einer zunächst positiven Stellungnahme einzugreifen und Missstände zu beheben. Es scheint wie auf Medjugorje zugeschnitten zu sein.

Das prophetische Charisma gibt es im Alten wie im Neuen Bund. Doch besitzt es in der Geschichte des Volkes Israel einen anderen Charakter als in der Geschichte der Kirche. Die Propheten des Alten Testaments hatten einerseits die Aufgabe, das Volk Gottes an den Bundesschluss am Berg Sinai zu erinnern und zu einem verlässlichen Bundespartner zu „erziehen“. Andererseits kündigen sie die Ankunft des Erlösers an und verheißen sein Wirken in vielen Einzelheiten, wie sie sich in Jesus Christus erfüllt haben. So ist das prophetische Charisma des Alten Bundes Teil der Offenbarung und hat deshalb in die Heilige Schrift selbst Eingang gefunden. In Jesus Christus aber hat sich Gott vollkommen ausgesprochen, weshalb die Kirche lehrt, dass die Offenbarung im eigentlichen Sinn mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen ist. Das Zeugnis der Apostel, das die Offenbarung Gottes in seinem Logos festhält, ist im Neuen Testament und in der Überlieferung der Kirche enthalten. Darüber hinaus kann es keine wesentlich neue Offenbarung mehr geben. Das prophetische Charisma in der Geschichte der Kirche kann immer nur dazu dienen, die Offenbarung, die die Kirche von Jesus Christus empfangen hat, tiefer zu verstehen und vollkommener zu leben.

Genau diese Aufgabe erfüllt das prophetische Charisma, das sich durch die ganze Kirchengeschichte hindurchzieht. Es wird an erster Stelle vom Lehramt der Kirche selbst ausgeübt, dem es zukommt, die Überlieferung in rechter Weise zu deuten. Sodann versehen die Heiligen mit ihrem Lebenszeugnis einen prophetischen Dienst, der durch die kirchliche Kanonisierung bestätigt wird. Im Licht dieses Charismas sieht die Kirche schließlich auch Erscheinungen, Botschaften und andere Manifestationen übernatürlichen Charakters, welche zum evangeliumsgemäßen Leben aufrufen und für die jeweilige Zeit Orientierung geben. Herausragende Beispiele sind die Visionen der hl. Juliane von Lüttich (um 1193-1258) und das Eucharistische Wunder von Bolsena (1263), welche 1264 zur Einsetzung des Fronleichnamsfestes geführt haben. Ähnlich verhält es sich mit der hl. Margareta Maria Alacoque (1647-1690) und dem Hochfest des Heiligsten Herzens Jesu bzw. der hl. Faustyna Kowalska (1905-1938) und dem Barmherzigkeitssonntag. So weisen unsere Kommentatoren, Prof. Dr. Manfred Hauke und P. Gianni Sgreva CP, in ihren Beiträgen darauf hin, dass die Kirche nicht ganz auf die Feststellung des übernatürlichen Charakters von Manifestationen des prophetischen Charismas verzichten könne. Auch das gehöre zum Auftrag: „Prüft alles!“

Liebe Leserinnen und Leser, von Herzen wünschen wir ihnen eine anregende Lektüre. Vergelt’s Gott für Ihre Unterstützung und Gottes reichsten Segen auf die Fürsprache unserer himmlischen Mutter Maria, der Königin des Friedens!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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75 Jahre Anerkennung der Marienerscheinungen im belgischen Banneux 1933

„Ich bin die Jungfrau der Armen“

Der Vatikan hat neue Normen zur Prüfung und Beurteilung von übernatürlichen Phänomenen herausgegeben. In der Präsentation des Dokuments stellte Víctor Manuel Kardinal Fernández, der Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre, fest, nach 1950 seien nicht mehr als sechs Fälle offiziell geklärt worden. Es sei anzunehmen, dass viele andere Fälle anders oder gar nicht behandelt worden seien. Ein Beispiel für die Anerkennung einer Marienerscheinung in der Vergangenheit ist Banneux. Dort erschien die Gottesmutter vom 15. Januar bis zum 2. März 1933 der elfjährigen Mariette Beco acht Mal und nannte sich „Jungfrau der Armen“. Mariette, die am 25. März 1921 geboren wurde, war die älteste von sieben Kindern und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Die Familie Beco bewohnte ein bescheidenes Arbeiterhaus außerhalb des belgischen Dorfes Banneux, etwas abseits der Straße und vor einem großen Fichtenwald gelegen. Am 22. August 1949 wurden die Erscheinungen von der Kirche offiziell anerkannt. Der Rektor des Wallfahrtsortes Banneux, Abbé Leo Palm, bietet eine Zusammenfassung der Ereignisse und wirft einen Blick auf die damalige Prüfung durch die Kirche. In seinem Bericht spiegeln sich die unterschiedlichen Aspekte des neuen Dokuments anschaulich wider.  

Von Leo Palm

Endlich Ruhe! Ja, endlich ist im Hause Beco Ruhe eingekehrt. Drei der sieben kleinen Kinder waren krank und hatten den ganzen Tag über gequengelt. Nun schlafen sie endlich! Mutter döst neben der Wiege des Jüngsten, und Mariette, die älteste, die im März zwölf wird, steht am Küchenfenster und hält Ausschau. Denn ihr um ein Jahr jüngerer Bruder ist noch nicht nach Hause gekommen.

Die Geschichte der acht Erscheinungen

Doch nicht Julien erscheint, sondern eine „schöne Dame“. Im Dunkel der Nacht strahlt sie ein warmes, helles Licht aus, lächelt freundlich und fasziniert das Mädchen durch ihre Schönheit. Im tiefsten Inneren ist das Kind überzeugt, es handele sich um die Muttergottes. Auf Drängen ihrer Tochter kommt auch die Mutter ans Fenster und sieht eine Silhouette. Die Gestalt winkt das Kind nach draußen in den Garten, doch die Mutter verriegelt die Tür. „Das ist höchstens eine Hexe!“, ruft sie ängstlich aus. Als Mariette wieder ans Fenster tritt, ist die Dame verschwunden. Das Kind greift zum Rosenkranz und betet einige Ave Maria. Als Julien dann endlich eintrudelt, gehen alle zu Bett.

So hat am Sonntag, dem 15. Januar 1933 gegen 19 Uhr die Geschichte der Erscheinungen von Banneux begonnen.

Als der Kaplan des Dorfes am Montag durch eine Indiskretion von dem Ereignis erfährt, zeigt er sich skeptisch. „Wir sind hier nicht in Beauraing!“ Damit spielt er auf aufsehenerregende Ereignisse in der kleinen Stadt an der französischen Grenze an. Die Zeitungen hatten ausgiebig über die dreiunddreißig Marienerscheinungen berichtet, die zwischen dem 29. November 1932 und dem 3. Januar 1933 fünf Kindern dort zuteilgeworden waren. Am Mittwoch, dem 18. Januar, jedoch erlebt Kaplan Jamin eine erste Überraschung: Mariette, die den Katechismus seit einiger Zeit an den Nagel gehängt hatte, nimmt an der Frühmesse und an der Katechese teil.

Am Abend, kurz vor sieben Uhr, schleicht sich das Kind aus dem Haus, kniet im Garten und betet Rosenkranz. Ihr Vater ist ihr heimlich gefolgt und sieht, dass sein Kind in Verzückung gerät. Er schwingt sich aufs Rad und holt Hilfe aus dem Dorf. Als er wiederkommt, verlässt Mariette den Garten. Zweimal kniet sie betend nieder. Etwa hundert Meter vom Haus entfernt, fällt sie am Straßenrand auf die Knie. Aus der Böschung fließt eine Quelle in den Graben. Mit den Fäusten zerbricht sie das Eis, das sich auf einer Wasserlache gebildet hat, und taucht die Hände ins Wasser: „Diese Quelle ist mir vorbehalten“, sagt die Dame, „taucht eure Hände in das Wasser.“ Dann verabschiedet sie sich freundlich: „Guten Abend, auf Wiedersehen!“

Am Abend des 19. Januar fragt Mariette auf Geheiß des Kaplans: „Schöne Dame, wer sind Sie?“ „Ich bin die Jungfrau der Armen.“ So hatte man Maria von Nazareth noch nie zuvor genannt. Doch passt dieser neue Name perfekt in die Zeit: seit 1929 tobt eine schwere Wirtschaftskrise und viele waren verarmt. Maria schlägt sich also resolut auf die Seite der Armen. Von der Quelle sagt sie, sie sei für alle Nationen, für die Kranken. Sie gelobt dem Kind: „Ich werde für dich beten.“

Am Freitag, 20. Januar, spielt sich die Erscheinung ausschließlich im Garten ab. „Schöne Dame, was wünschen Sie?“ – „Ich wünsche eine kleine Kapelle!“ Die Muttergottes legt dem Kind die Hände auf und segnet es mit einem Kreuzzeichen. Eine kurze Ohnmacht überkommt das Mädchen und es weiß nicht, wie sich die Dame verabschiedet hat. Für den Kaplan jedoch bedeutet der feierliche Segen das Ende der Erscheinungen.

Und er scheint Recht zu behalten, denn drei lange Wochen ist absolute Funkstille. Zwar betet Mariette jeden Abend im Garten Rosenkranz, doch die „schöne Dame“ lässt sich nicht blicken.

Am 11. Februar aber ist sie wieder zur Stelle. An der Quelle angekommen offenbart sie: „Ich komme, das Leid zu lindern.“ Nachdem ihr Vater ihr das Wort „lindern“ erklärt hat, kullern Freudentränen über Mariettes Wangen. Stolz berichtet sie dem skeptischen Kaplan von der erneuten Erscheinung. Daraufhin erteilt der Priester ihr den Auftrag, beim nächsten Mal um ein Zeichen zu bitten, denn er möchte sich seiner Sache sicher sein.

Am Abend des 15. Februar kommt die kleine Seherin seiner Bitte nach: „Der Herr Kaplan bittet um ein Zeichen.“ Die Antwort aus dem Mund Mariens – „Glaubt an mich, ich werde an euch glauben!“ –  hat eine ungeahnte Wirkung auf sein Priesterherz. Seit langem wurde Kaplan Jamin nämlich von furchtbaren Glaubenszweifeln gequält. Die Worte der „Jungfrau der Armen“ haben ihn im Glauben erneuert und gefestigt und seine Priesterberufung gerettet. „Betet viel!“ fordert Maria an diesem Tag zum ersten aber nicht zum letzten Mal.

Am 20. Februar erscheint die Gottesmutter kurz im Garten und fordert zu emsigem Gebet auf!

Auch die achte und letzte Erscheinung spielt sich allein im Garten ab. Am Abend des 2. März regnet es in Strömen. Kurz nach Beginn des Rosenkranzgebetes klart der Himmel auf und die Muttergottes erscheint. Es ist, als wolle sie die Botschaft feierlich unterschreiben, sagt sie doch: „Ich bin die Mutter des Erlösers, Mutter Gottes.“ Inständig bittet sie um Gebet, legt dem Kind erneut die Hände zum Segen auf und verabschiedet sich: „Adieu!“ Mariette ist untröstlich. Das herzliche und schlichte „Auf Wiedersehen“ war bisher immer Garant für weitere Erscheinungen gewesen. „Ich werde sie nicht wiedersehen,“ sagt das Kind unter Tränen.

Ein wesentliches und grundlegendes Kapitel geht damit zu Ende, doch die Geschichte des Marienwallfahrtsortes Banneux hat gerade erst begonnen.

Vor nunmehr 75 Jahren kam die kirchliche Anerkennung

Die offizielle kirchliche Anerkennung ließ sechzehn Jahre auf sich warten und erfolgte erst am 22. August 1949. Die Wirren des Zweiten Weltkriegs, aber auch die vorsichtige Haltung des Ortsbischofs erklären die späte Anerkennung.

Bischof Louis-Joseph Kerkhofs, Oberhirte des Bistums Lüttich, setzte nacheinander drei Untersuchungskommissionen ein. Die erste Kommission überbrachte dem Bischof 1937 ihren Abschlussbericht, der die Echtheit der Erscheinungen als „sehr wahrscheinlich“ erachtete. Doch erst 1942 erlaubte Papst Pius XII., dass Bischof Kerkhofs die Verehrung der „Jungfrau der Armen“ anerkannte. Um den Kritikern entgegenzukommen, setzte er im gleichen Jahr eine zweite Kommission ein, deren Bericht sehr kritisch ausfiel. Daraufhin bat der Bischof den Jesuitenpater René Rutten um eine kritische Studie aller Zeugenaussagen. Die fundierte 600 Seiten umfassende Studie diente der dritten, 1945 eingesetzten Kommission als Grundlage für ihre Arbeit. Der abschließende Bericht ließ für den Bischof keinen Zweifel mehr zu: vorbehaltlos erkannte er die Wirklichkeit der acht Erscheinungen vom Winter 1933 an.

Mit dem Segen Roms wurde Banneux am 22. August 1949 zu einem der von der katholischen Kirche offiziell anerkannten Marienerscheinungsorte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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Kurzer theologischer Kommentar zu den neuen Normen des Vatikans

Kirchliche Beurteilung übernatürlicher Phänomene

Prof. Dr. Manfred Hauke lehrt Dogmatik an der Theologischen Fakultät in Lugano (Schweiz). Er ist Vorsitzender der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Mariologie und Mitglied der Internationalen Päpstlichen Mariologischen Akademie. Zu seinem Lebenslauf und seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen vgl. manfred-hauke.ch – Nachfolgend bietet er einen kurzen theologischen Kommentar zu den neuen „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“, die am 19. Mai 2024 in Kraft getreten sind.  

Von Manfred Hauke

Am 17. Mai 2024 erschien ein neues Dokument des Dikasteriums für die Glaubenslehre: „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“.[1] Am gleichen Tag gab es eine ausführliche Pressekonferenz, bei denen vor allem Kardinal Victor Manuel Fernández Fragen der Journalisten beantwortete;[2] kürzere Stellungnahmen kamen vom Sekretär des Dikasteriums, Msgr. Armando Matteo, und von der Ordensschwester Daniela Del Gaudio, der Leiterin der am 15. April 2023 errichteten „Beobachtungsstelle für Erscheinungen und mystische Phänomene“ in der Internationalen Päpstlichen Mariologischen Akademie (PAMI = Pontificia Academia Mariana Internationalis).[3] Das neue Dokument ersetzt die früheren „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher Erscheinungen und Offenbarungen“, die Papst Paul VI. 1978 als Hilfe für die Bischöfe „in forma reservata“ gebilligt hatte. Nachdem diese Leitlinien sogar in einem französischen Lexikon der Marienerscheinungen nachzulesen waren, hat sie die Glaubenskongregation dann im Jahre 2012 selbst in mehreren Sprachen veröffentlicht, mit einem Vorwort von Kardinal William Levada am 14. Dezember 2011, dem Gedenktag des hl. Johannes vom Kreuz.[4]

Die Bedeutung der prophetischen Offenbarungen

Der hl. Johannes vom Kreuz ist der meistzitierte Autor des neuen Dokumentes. Er hat selbst mystische Erfahrungen gehabt, ebenso wie die von ihm geistlich begleitete größte Mystikerin der Kirche, die hl. Teresa von Avila. Der Kirchenlehrer betont aber sehr deutlich den außergewöhnlichen Charakter der übernatürlichen Phänomene und die Gefahr der Täuschung. In seinem bekannten Werk über den „Aufstieg zum Berge Karmel“ unterstreicht er die Tatsache, dass uns Gott in Jesus Christus alles geoffenbart hat, was zu unserem Heil notwendig ist. „Wer demnach jetzt noch ihn befragen oder von ihm Visionen oder Offenbarungen haben wollte, der würde nicht bloß unvernünftig handeln, sondern Gott geradezu beleidigen, weil er seine Augen nicht einzig auf Christus richten würde, ohne jegliches Verlangen nach anderen und neuen Dingen."[5]

Der Katechismus der Katholischen Kirche und die Einleitung des neuen Dokumentes,[6] die diesen Text zitieren, betonen freilich auch, dass es „besondere Glaubenserfahrungen“ gibt bzw. „Privatoffenbarungen“, die dazu helfen sollen, in einem bestimmten Zeitalter tiefer aus der endgültigen Offenbarung Christi zu leben.[7] In einer Fußnote nennt das neue Dokument als Beispiel die prophetische Offenbarung von Fatima.[8] Der Begriff „Privatoffenbarung“ bedeutet nicht, dass die von Gott gewirkten prophetischen Phänomene bloß ein „privates“ Interesse beanspruchen, das für die Kirche keine Bedeutung hätte, sondern meint nur den Unterschied zur für alle Gläubigen aller Zeiten bestimmten Offenbarung in Jesus Christus, der „öffentlichen Offenbarung“, die nicht überboten werden kann.[9] Um die Gabe der Prophetie zu betonen, zitiert der hl. Thomas von Aquin das Buch der Sprüche: „Ohne prophetische Offenbarung verwildert das Volk; selig ist es, wenn es die Unterweisung bewahrt“ (Spr 29,18).[10] Hinweisen können wir besonders auf ein Wort des hl. Paulus, das auch im Dokument angedeutet wird: „Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht!“ (1 Thess 5,19f).[11]

Gründe für die Erstellung der neuen Normen

In den früheren Normen lag die Hauptverantwortung für die kirchliche Anerkennung übernatürlicher Phänomene beim zuständigen Ortsordinarius (also in aller Regel beim Bischof). Es war für ihn nicht notwendig, sich an die Glaubenskongregation zu wenden, es sei denn, der Heilige Stuhl hätte selbst schon eingegriffen. Das war etwa der Fall bei den Erscheinungen der „Frau aller Völker“, die das neue Dokument (ohne diesen Titel zu nennen) als Beispiel erwähnt: die Glaubenskongregation hatte 1974 mit päpstlicher Billigung das Urteil gefällt: „die Nicht-Übernatürlichkeit steht fest“ (constat de non supernaturalitate), auch wenn im Schlussdekret die mildere Formulierung gewählt wurde: „die Übernatürlichkeit steht nicht fest“ (non constat de supernaturalitate).[12] Als der zuständige Bischof von Amsterdam im Jahre 2002 trotzdem die Übernatürlichkeit anerkannte, war dies nicht rechtens, aber die Glaubenskongregation unter Leitung von Kardinal Ratzinger reagierte nur sehr milde mit der Korrektur eines bekannten Gebetes (und korrigierte damit die der Seherin mitgeteilte angebliche himmlische Botschaft). Papst Franziskus hingegen sah sich veranlasst durchzugreifen: „Auf Ersuchen der damaligen Kongregation für die Glaubenslehre bekräftigte schließlich im Jahr 2020 ein neuer Bischof ‚das negative Urteil‘, das zuvor von derselben Kongregation gefällt worden war, und ordnete an, dass jegliche Verbreitung der mutmaßlichen Erscheinungen und Offenbarungen eingestellt werden müsse“.[13]

Eine besondere Rolle für die konkrete Ausgestaltung der neuen Normen dürften die angeblichen Marienerscheinungen und Tränenwunder in Trevignano Romano gehabt haben, einer italienischen Kleinstadt, die etwa 50 Kilometer von Rom entfernt liegt. In der medialen Öffentlichkeit Italiens haben sie eine große Rolle gespielt. Die hiermit verbundene Seherin, Gisella Cardia (nach dem Einwohnerregister „Maria Giuseppe Scarpulla“), brachte 2016 aus Medjugorje eine Marienstatue mit, die blutige Tränen geweint haben soll, und veröffentlichte eine Reihe von problematischen Botschaften, die sie zum Teil nachträglich abschwächte. Am 6. März 2024 veröffentlichte der zuständige Bischof das Urteil, dass die Phänomene nicht übernatürlich seien („constat de non supernaturalitate“).[14] Vorausgegangen war die Arbeit einer bischöflichen Kommission, die ein Jahr lang intensiv gearbeitet hatte. Bei der Pressevorstellung der neuen Normen des Heiligen Stuhles erwähnte Kardinal Fernández auf die Frage eines Journalisten, dass das Dikasterium für die Glaubenslehre selbst den zuständigen Bischof zu seinem ablehnenden Urteil ermuntert habe.

Zu beachten ist bei alldem, dass auch physisch feststellbare Phänomene, die durch menschliches Wirken nicht erklärbar sind (wie Tränen, Blut und Wohlgerüche, Levitationen und Stigmata), nicht ohne Weiteres als Beweis für ein göttliches Wirken akzeptiert werden können. Als Beispiel dafür seien hier nur die hierzulande wenig bekannten angeblichen Marienerscheinungen in Bayside genannt, einem Stadtviertel von New York (1968-1995). Bei ihrer ersten „mystischen“ Erfahrung roch die Seherin einen wundersamen Rosenduft und vernahm eine „innere Stimme“, die ihr ein frommes Gedicht diktierte. Die Seherin Veronika Lueken kündigte kosmische Katastrophen an, die nicht eintrafen, und verbreitete die ihr anvertraute Offenbarung, der echte Papst Paul VI. sei durch einen Doppelgänger ersetzt worden. Als 1972 die ersten Polaroid-Kameras benutzt wurden, welche die gemachten Fotos sofort entwickeln, präsentierten die Anhänger der „Erscheinungen“ erstaunliche Fotographien mit „frommen“ Details (wie etwa den Namen „Jacinta“), die sich allem Anschein nach menschlich nicht erklären ließen.[15] Die Seherin und ihre Anhänger sind offensichtlich Opfer des „Vaters der Lüge“ (Joh 8,44), der die Wunder Gottes nachzuäffen versteht. Wer die Ereignisse in ihrem Zusammenhang betrachtet, kann freilich sehr wohl zur Erkenntnis gelangen, wer dahintersteckt.

Eine ausgeprägte Zentralisierung

In dem neuen Dokument wird die Rolle des Papstes auf eine bislang unbekannte Weise betont, denn nur er soll bei seltenen Ausnahmen die Vollmacht haben, die Übernatürlichkeit eines Phänomens festzustellen. Dieser radikale Bruch mit der bisherigen Praxis wird begründet mit dem Einfluss der modernen Massenmedien, weil die das Aufsehen erregenden Phänomene nicht auf eine Stadt oder ein Bistum begrenzt bleiben.[16] Genannt wird sodann das Beispiel der Erscheinungen von Amsterdam, dessen Bischof 1956 „definitiv“ feststellte, es sei nichts Übernatürliches festzustellen, während 2002 ein anderer Bischof die Übernatürlichkeit anerkannte.[17] Nicht ausdrücklich erwähnt wird hier, dass die Anerkennung von 2002 nicht rechtens war und deshalb 2020 (nach der Emeritierung des früheren Bischofs) die Entscheidung auch formal korrigiert wurde.

Eine Approbation von Seiten des Dikasteriums für die Glaubenslehre ist sicher sinnvoll, wenn die Phänomene über das einschlägige Bistum und Land hinausgreifen, aber die Autorität des Bischofs durch die des Papstes zu ersetzen, ist schon sehr radikal. Dass auch eine andere Praxis möglich wäre, zeigt etwa das Verhalten des hl. Karl Borromäus: Nach dem Aufsehen erregenden Wunder von Rho (im Nordwesten von Mailand), wo ein Marienbild Tränen vergossen hatte, sandte er umgehend eine Kommission, um den Vorgang kritisch zu untersuchen; er gelangte zum bestens begründeten Urteil, dass hier der „Finger Gottes“ im Spiel war. Bevor er sein Dekret erließ und die gewaltige Basilika baute, bat er freilich um die Approbation von Seiten des Heiligen Stuhles, die dann auch eintraf.[18] Dieses Vorgehen betont deutlicher die Vollmacht des Bischofs als Nachfolger der Apostel.

Skepsis gegenüber dem Übernatürlichen

Eine weitere Neuigkeit des Dokumentes ist, gemeinsam mit der ausgeprägten Zentralisierung des Vorgehens, die starke Skepsis gegenüber der Möglichkeit, die Übernatürlichkeit eines Ereignisses festzustellen. Seit jeher ist die Kirche hier sehr zurückhaltend, aber die neuen Normen schränken die schon sehr vorsichtige Praxis noch weiter ein. Die vorgelegten „Schlussfolgerungen beinhalten normalerweise keine Erklärung über die Übernatürlichkeit des zu beurteilenden Phänomens, d.h. die Möglichkeit, mit moralischer Gewissheit zu bejahen, dass dies auf eine Entscheidung Gottes zurückgeht, der es direkt gewollt hat“.[19] Nur der Heilige Vater könne ganz ausnahmsweise eine solche Erklärung geben.

Kardinal Fernández kritisiert in seiner Präsentation die sizilianischen Bischöfe, die 1953 das Tränenwunder eines Marienbildes in Syrakus anerkannten mit dem Hinweis darauf, dass die Wirklichkeit des Tränenflusses nicht bezweifelt werden könne.[20] Diese Äußerungen stünden „im Widerspruch zu der Überzeugung der Kirche, dass die Gläubigen nicht verpflichtet sind, die Echtheit dieser Ereignisse zu akzeptieren“.[21] In der überlieferten Praxis der Kirche, wie sie im 18. Jh. vorbildlich von Papst Benedikt XIV. formuliert wurde, war die Anerkennung eines übernatürlichen Ereignisses jedoch keineswegs identisch mit einer Pflicht, daran zu glauben im Sinne der übernatürlichen Tugend des Glaubens, die für unser Heil notwendig ist. Benedikt XIV. betonte die objektive Glaubwürdigkeit eines mystischen Phänomens im Sinne eines gut begründeten menschlichen Glaubens.[22]

Während Papst Benedikt XIV. in den Fußnoten des neuen Dokumentes nicht genannt wird, nimmt Kardinal Fernández Bezug auf eine Aussage Karl Rahners, wonach bei Visionen nicht leicht unterschieden werden könne, was von Gott komme oder vom Teufel oder vom Menschen.[23] Rahner kennzeichnet alle Visionen als eventuell gottgewirkte subjektive Eindrücke der Phantasie und stellt in einem späteren Werk ein unmittelbares Einwirken Gottes in die Welt zugunsten der geschöpflichen Zweitursachen in Frage. Diese relativistische Verallgemeinerung der subjektiven Faktoren stößt sich jedoch mit einem Teil der konkreten Vorgänge, bei denen auch materielle Dinge eine Rolle spielen können, die nicht auf die Phantasie des Sehers reduziert werden können (wie bei der „Tilma“ von Guadalupe). In Spannung steht sie auch zu den Erscheinungen, bei denen eine Gruppe von Sehern das gleiche Ereignis bezeugt (wie etwa in Fatima oder im irischen Cnoc Mhuire). Das Gleiche gilt vom Wirken des Teufels, das abgesehen von dem erwähnten Rahner-Zitat nicht auf dem Radar des Dokumentes auftaucht.

Die Bischöfe können (nach Billigung durch das Dikasterium) zwischen sechs verschiedenen Kategorien unterscheiden, die in etwa mit einer Ampel verglichen werden können (1 grün, 2-4 gelb, 5-6 rot). Dabei werden Echtheit und pastorale Gesichtspunkte nicht klar voneinander abgegrenzt: in der Kategorie 4 etwa („Sub mandato“) ist das Phänomen „reich an positiven Elementen“, aber die Kritik bezieht sich auf Personen, „die missbräuchlich davon Gebrauch machen“.[24] Wenn das Phänomen selbst nur positiv ist, wäre es nicht in die Kategorie 1 hinaufzusetzen (nihil obstat)? Können nicht auch echte Phänomene missbraucht werden?

Ähnliches gilt für fragwürdige Gesichtspunkte: Wenn eine direkt mit der angeblichen Privatoffenbarung verbundene Aussage, die von mehreren Sehern bezeugt wird, falsch ist oder abwegig, dann lässt sich das nicht „pastoral“ relativieren zugunsten einer teilweisen Anerkennung des ganzen pseudomystischen Phänomens. Hier gilt es, die „rote Karte“ zu zeigen. Die Frage nach der Wahrheit wird hier zurückgestellt zugunsten eines „pastoralen“ oder „prudenziellen“ Kalküls, das (so scheint es) auch ohne das übernatürliche Wirken Gottes und das außernatürliche Einwirken des Teufels auskommt.

Die Bedeutung von Wundern und Weissagungen

Was die Gläubigen interessiert, ist zu Recht vor allem die Frage, ob die vorgebliche prophetische Offenbarung echt ist oder nicht. Hierbei wäre es wichtig, die Bedeutung von Wundern und Weissagungen für die Bekräftigung eines Phänomens herauszuarbeiten. Dies geschieht in dem neuen Dokument leider ebenso wenig wie in den vorausgehenden Normen, obwohl die gängige Praxis des Heiligen Offiziums und der Glaubenskongregation dies zweifellos voraussetzte. Das gleiche gilt für die Praxis der Selig- und Heiligsprechungen. Die Bedeutung der Wunder wird nur angedeutet,[25] und die der Weissagungen ist nicht erkennbar. Für die Marienerscheinungen in Fatima war beispielsweise wichtig die konkrete Voraussage am 13. Juli 1917, dass drei Monate später am gleichen Ort zur gleichen Zeit ein großes Wunder geschehen werde, und es geschah am 13. Oktober das Sonnenwunder. Umgekehrt sind nicht eingetroffene Prophezeiungen schon nach der Heiligen Schrift ein negatives Kriterium (Dtn 18,20-22; Jer 28).

Positive Aspekte

In einem kurzen Aufsatz ist es nicht möglich, auf alle Gesichtspunkte des Dokumentes hinzuweisen, die eine Diskussion verdienen. Zu bedenken ist dabei, dass die Arbeiten daran zwar schon 2019 unter der Leitung von Kardinal Ladaria begonnen haben, aber der jetzt vorliegende Text ist offenbar erst in wenigen Monaten zustande gekommen. Die Checkliste von sechs Kategorien zur Einordnung der Phänomene hat meines Wissens keine Entsprechung in der einschlägigen Fachliteratur. Ein solches Vorgehen kann dazu führen, dass nach nicht allzu langer Zeit eine überarbeitete Version erstellt werden muss.

Neben den angedeuteten Problemen gibt es freilich durchaus positive Aspekte, welche die Praxis der Untersuchung einschlägiger Phänomene betreffen. Dazu zählt die substantielle Übernahme der Kriterien zur Beurteilung aus dem Dokument von 1978.[26] Wichtig ist die Weisung, dass sich der zuständige Bischof bei der zumindest wahrscheinlichen Nachricht mutmaßlicher Tatsachen übernatürlichen Ursprungs bezüglich des katholischen Glaubens persönlich oder durch einen Beauftragten „umsichtig“ informieren soll und „dafür sorgen, dass er unverzüglich alle für eine erste Beurteilung nützlichen Informationen sammelt“.[27] Zu begrüßen sind die konkreten Vorschläge für die Einsetzung und die Arbeit der Untersuchungskommission.[28] Auch in den neuen Normen hat der zuständige Bischof eine wichtige Rolle, die er wahrnehmen sollte.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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[1] Vgl. www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20240517_norme-fenomeni-soprannaturali_ge.html (in mehreren Sprachen, auch auf Deutsch; die Originalsprache ist Italienisch). In der Folge zitiert als „Normen (2024)“.
[2] Meines Wissens liegt sie bislang vollständig nur als Video vor (auf Italienisch): unter anderem im Youtube-Kanal von Vatican News: Conferenza Stampa di presentazione delle nuove norme su apparizioni ed altri fenomeni soprannaturali (etwa 110 Minuten), www.youtube.com/watch (Zugang 4.6.2024).
[3] Vgl. www.pami.info/osservatorio-sulle-apparizioni-e-i-fenomeni-mistici (Zugang 4.6.2024).
[4] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher Erscheinungen und Offenbarungen, Libreria Editrice Vaticana, Città del Vaticano 2012.
[5] Aufstieg zum Berge Karmel 2,22, zitiert im KKK (Katechismus der Katholischen Kirche) 65.
[6] Normen (2024), Einleitung, Nr. 2-
[7] KKK 67; Normen (2024), Einleitung, Nr. 4.
[8]Normen (2024), Einleitung, Nr. 4, Fußnote 11.
[9]Vgl. Benedikt XVI.: Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini (2010), 14. Siehe dazu ausführlicher Manfred Hauke: Maria als Prophetin: die theologische Bedeutung der Marienerscheinungen im Leben der Kirche, in Helmut Prader (Hrsg.): 100 Jahre Fatima: der theologische Gehalt der Botschaften anerkannter Marienerscheinungen, Chris-tiana-Verlag im Fe-Medienverlag, Kisslegg-Immenried 2018, 11-38; Ders.: Introduction to Mariology, Washington, D.C. 2021, 375-410.
[10] Vgl. Summa theologiae II-II q. 172 a. 1 ob. 4; q. 174 a. 6.
[11] Normen (2024), Präsentation.
[12] Zu dieser Differenzierung, die in der Präsentation des Dokumentes nicht deutlich wird, äußerte sich Msgr. Charles Scicluna im Auftrag der Glaubenskongregation auf dem Internationalen Mariologischen Kongress von Lourdes 2008: vgl. Manfred Hauke: Die „Erscheinungen“ der „Frau aller Völker“ in Amsterdam. Hinweise zur „Unterscheidung der Geister“, in Reinhard Dörner (Hrsg.): Das große Zeichen am Himmel (nach Apk 12,1). Maria – Urbild der Kirche und Zeichen der Endzeit, Norderstedt 2017, 180-205, hier 181.
[13] Normen (2024), Präsentation.
[14] Das Dekret des 2023 ernannten Bischofs Marco Salvi mit ausführlicher Begründung findet sich auf der Internetseite des Bistums von Civita Castellana: www.diocesicivitacastellana.it (Zugang 4.6.2024).
[15] Vgl. Manfred Hauke: Übernatürlich, präternatural oder bloß menschlich? Kriterien für die Unterscheidung echter und falscher Marienerscheinungen, in: Prader (2017), 39-70, hier 40f.
[16] Vgl. Normen (2024), Präsentation; Einleitung, Nr. 7.
[17] Ebenda.
[18] Vgl. Manfred Hauke: Auf den Spuren des hl. Karl Borromäus. Fernsehsendungen über norditalienische Marienheiligtümer, in: Sedes Sapientiae, Mariologisches Jahrbuch 27 (2023) 125-134, hier 128-130. Die einschlägige Sendung über Rho findet sich gratis im Archiv von K-TV (bzw. Youtube) unter dem Titel „Hier hat die Gottesmutter schon andere Wunder gewirkt“ (15.04.2023, 54 Min.).
[19] Normen (2024), Präsentation.
[20] Zu dieser überzeugenden Schlussfolgerung siehe auch die juristische Doktorarbeit von Harald Grochtmann: Wunder: kirchlich überprüft, nie widerlegt, SJM-Verlag, Neusäß 82020, 64-68. Ebenso etwa Daniela Del Gaudio: Porta del cielo. Le apparizioni di Maria nella storia della salvezza, Milano 2023, 221-228.
[21] Ebenda.
[22] De servorum Dei beatificatione 2,32,11.
[23] Normen (2024), Präsentation.
[24] Normen (2024), I, Nr. 20.
[25] Normen (2024), I, Nr. 10.
[26] Normen (2024), II, Art. 13-17.
[27] Normen (2024), II, Art. 7 §1.
[28] Normen (2024), II, Art. 7-12.

La Vang im Licht der neuen Normen

Marienerscheinung in Vietnam 1798

Die Erscheinung der Gottesmutter im vietnamesischen Dschungel am 17. August 1798 ist ein klassisches Beispiel dafür, wie die Kirche schon immer mit solchen Phänomenen umgegangen ist. Nach dem biblischen Grundsatz „Löscht den Geist nicht aus!“ (1 Thess 5,19) reagierte sie abwartend und richtete ihr Augenmerk auf die guten Früchte. Die kirchliche Anerkennung beschränkte sich dann meist darauf, dass die Volksfrömmigkeit, die sich aus diesen Ereignissen entwickelt hatte, in die Pastoral eingebunden wurde.

Von Erich Maria Fink

An Pfingsten, den 19. Mai 2024, sind neue Normen zur kirchlichen Beurteilung übernatürlicher Phänomene in Kraft getreten. Das einzig wirklich Neue an diesen Regeln, die von nun an gelten, besteht darin, dass die Kirche in Zukunft ganz darauf verzichtet, die Übernatürlichkeit eines Geschehens lehramtlich festzustellen. Das „Nihil obstat“, das von nun an als höchste Form der Bestätigung erteilt wird, entspricht aber letztlich der Art und Weise, wie die Kirche auch in der Vergangenheit normalerweise mit solchen Vorkommnissen umgegangen ist.

Das Beispiel Unserer Lieben Frau von La Vang

Den neuen Normen ist eine Präsentation, also eine Art Hinführung von Víctor Manuel Kardinal Fernández, dem Präfekten des Dikasteriums für die Glaubenslehre, vorangestellt. Gleich zu Beginn heißt es, das Wirken des Heiligen Geistes schließe auch die Möglichkeit ein, unsere Herzen durch bestimmte übernatürliche Ereignisse zu erreichen, wie Erscheinungen der Heiligen Jungfrau. „Oft haben diese Ereignisse einen großen Reichtum an geistlichen Früchten, an Wachstum im Glauben, an Frömmigkeit und Geschwisterlichkeit und Dienstbereitschaft hervorgebracht und in einigen Fällen sind dadurch verschiedene Wallfahrtsorte über die ganze Welt verstreut entstanden, die heute zu einem Kernteil der Volksfrömmigkeit vieler Völker geworden sind.“

Und später unterstreicht der Kardinal in dieser Präsentation: „In den meisten Heiligtümern, die heute bevorzugte Orte der Volksfrömmigkeit des Gottesvolkes sind, hat es im Laufe der dort vollzogenen Verehrung nie eine Erklärung über die Übernatürlichkeit der Tatsachen gegeben, die Anlass zu dieser Andacht gaben. Der sensus fidelium hat gespürt, dass dort ein Wirken des Heiligen Geistes stattfindet, und es sind keine schwerwiegenden Kritikpunkte aufgetreten, die ein Eingreifen der Oberhirten erfordert hätten.“ Und er fügt hinzu: „In vielen Fällen war die Anwesenheit des Bischofs und der Priester bei bestimmten Anlässen wie Wallfahrten oder bestimmten Messfeiern eine implizite Form der Anerkennung, dass es keine ernsthaften Einwände gab und dass diese geistliche Erfahrung einen positiven Einfluss auf das Leben der Gläubigen ausübte.“

Genau so verhielt es sich mit dem Marienerscheinungsort La Vang in Vietnam. Die Erscheinung vom 17. August 1798 wurde von der Kirche nie offiziell anerkannt. Doch fand die Verehrung „Unserer Lieben Frau von La Vang“ eine einzigartige Bestätigung, insbesondere durch die Errichtung einer Kirche, die im 20. Jahrhundert von den vietnamesischen Bischöfen zum Nationalheiligtum erhoben wurde.

Die Überlieferung der Erscheinung

Als 1798 Kaiser Cảnh Thịnh per Edikt eine Verfolgung der Katholiken in Gang setzte, suchten viele Gläubige im Regenwald von La Vang in der Provinz Quảng Trị ihre Zuflucht. Als sie vier Jahre später zurückkehren konnten, berichteten sie von ihrem Erlebnis.

Im Dschungel seien sehr viele von ihnen schwer erkrankt. Die Gemeinschaft habe sich jede Nacht am Fuß eines Baumes versammelt, um den Rosenkranz zu beten. Eines Nachts seien sie von einer Erscheinung überrascht worden. In den Zweigen des Baumes zeigte sich die leuchtende Gestalt einer Frau, die ein Kind auf dem Arm hielt und das traditionelle vietnamesische Kleid áo dài trug. Begleitet war sie von zwei Engeln. Die Beter hatten keinen Zweifel daran, dass es sich um die Jungfrau Maria und das Jesuskind handelte. Sie bezeugten, die Gottesmutter habe sie getröstet und ihnen gesagt, sie sollten Blätter von den Bäumen abkochen, um daraus Medizin für ihre Krankheit zu gewinnen.

Interessant ist, dass der Begriff „La Vang“ als Ableitung sowohl des vietnamesischen Wortes für „flehentliches Rufen“ als auch des Ortsnamens Lá Vằng verstanden werden kann. Dabei steht für „Blatt“ und vằng für eine Jasmin-Art (Jasminum subtriplinerve), eine Baumart, aus deren Blättern ein Aufgussgetränk hergestellt wird. Im Titel „Unsere Liebe Frau von La Vang“ spiegelt sich also der Inhalt der Marienerscheinung und die mütterliche Fürsorge Ma-riens für die verfolgten Christen wider.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Das Heiligtum von La Vang

„Die Gnade ist der Wert der Zeit“

Klaus-Hermann Rössler hat Theologie und Geschichte studiert und ist beruflich in der Sozialverwaltung tätig. In seinem Beitrag stellt er die Bedeutung des Heiligtums Unserer Lieben Frau von La Vang für die katholische Kirche in Vietnam heraus. Mit einem Gang durch die Geschichte dieses Landes zeigt er das leidvolle Schicksal der Katholiken auf, denen die Gottesmutter mit fürsorglicher Liebe zu Hilfe kam. Dass keine schriftlichen Quellen über die Marienerscheinung im Jahr 1798 mehr existieren, stellt für die Forschung eine Hürde dar. Ähnlich zogen im Vorfeld der Heiligsprechung von Juan Diego im Jahr 2002 Historiker die geschichtliche Existenz dieses Sehers von Guadalupe überhaupt in Frage. Doch letztlich konnte durch über 20 Forscher ein Nachweis erbracht werden und Papst Johannes Paul II. stellte sich wie im Fall von La Vang hinter die Überlieferung.

Von Klaus-Hermann Rössler

In diesem Jahr fiel beim Fronleichnamszug in Köln eine Gruppe vietnamesischer Christen besonders auf: Gleich auf zwölf Wimpeln, getragen meist von Kindern, führten sie das Symbol des Marienerscheinungsortes La Vang zur Ehre des Allerheiligsten mit sich.

Die Basilika der Heiligen Jungfrau von La Vang, das Nationalheiligtum der vietnamesischen Katholiken, liegt rund 50 km nördlich der Touristenstadt Hue in Zentralvietnam und gehört zur gleichnamigen Erzdiözese. Das hier so genannte „Heilige Land von La Vang“ im Dschungel spiegelt das geduldige Vertrauen der vietnamesischen katholischen Christen zur Fürsprache der Gottesmutter in einer oft aussichtslos erscheinenden Geschichte politischer und religiöser Unterdrückung und kriegerischer Zerstörungen wider, das auch anderen Christen in der Welt Mut zur Ausdauer im Glauben machen kann.

Im August 1798 veranlassten die Ratgeber des jungen Kaisers Canh Tinh die Verfolgung von Christen, da für die französische Präsenz auf vietnamesischem Boden verantwortlich gemacht wurden. Es wurde befohlen, alle Kirchen und Klöster zu zerstören und alle Gläubigen und Priester gefangen zu nehmen oder zu töten. In ihrer Not versteckten sich die Christen im Dschungel La Vang. Sie hungerten, wurden bedroht von wilden Tieren, waren elend und entkräftet. Trotz allem haben sie ihren Glauben an Gott und die Mutter Maria nicht verloren. Jeden Tag trafen sie sich unter einem großen Baum und beteten den Rosenkranz. Eines Tages erschien der Menschenmenge die liebliche Mutter Maria in einem wunderschönen Gewand mit Jesus auf dem Arm, von zwei Engeln umgeben. Sie forderte die Gläubigen auf, geduldig zu bleiben und den Glauben nicht aufzugeben. Sie versicherte ihnen, dass ihre Gebete erhört werden würden und versprach ihnen ihren Schutz und die Befreiung von ihren Leiden.

Es folgten weitere Erscheinungen. Die Verfolgung ließ nach und 1802 bis 1820 folgte eine Periode völliger Religionsfreiheit für die Christen. Danach war sie ab 1820 wieder eingeschränkt.

Leider gibt es keine schriftlichen Unterlagen dieser Erscheinungen: Solche Dokumente wurden vielleicht in den Hue-Kirchenarchiven aufbewahrt, die aber während zweier lokaler Kriege 1833 und 1861 zerstört wurden.

Kaiser Tu Duc, der von 1847 bis 1883 herrschte, verbot 1848 erneut das Christentum und ließ französische und spanische Missionare hinrichten. Nach einer Anordnung von 1848 forderte Tu Duc alle vietnamesischen Katholiken auf, ihre Religion zu widerrufen, ansonsten würden sie im Gesicht mit dem Zeichen der Häresie gebrandmarkt und alle Rechte verlieren. Das nahm Frankreich zum Vorwand, um militärisch einzugreifen. Im Vertrag von Saigon musste das Kaiserreich Vietnam 1862 dem Kaiserreich Frankreich die Einrichtung einer Kolonie in Cochinchina zugestehen, der Beginn der dauerhaften französischen Oberherrschaft.

1886 endete die Verfolgung. In der Zeit der französischen Kolonialherrschaft ließen sich mehr und mehr Vietnamesen taufen. Die ursprüngliche Kapelle aus Stroh in La Vang wurde bald zu klein. Noch im Jahr 1886 wurde an dem Ort eine kleine hölzerne Kirche errichtet, die bald zum Wallfahrtsort wurde. Nachdem diese erste Kirche von Feinden des Christentums in Brand gesteckt worden war, entstand eine gemauerte Kirche, die 1901 anlässlich der Ernennung der Gottesmutter von La Vang zur „Schutzpatronin der vietnamesischen Christen“ eingeweiht wurde. Seit diesem Jahr gibt es die nationale Pilgerschaft nach La Vang zum 15. August – auch im Gedenken an den ersten Erscheinungstag. 1928 errichtete Bischof Eugen Maria Giuseppe Allys (Ly auf Vietnamesisch), der damals Apostolischer Vikar von Hue war, La Vang als eigene Pfarrei.

Die französische Kolonialzeit endete mit dem Indochinakrieg. Auf der Indochinakonferenz in Genf wurde am 21. Juli 1954 die Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrades in das kommunistische Nordvietnam (Hauptstadt Hanoi) und das antikommunistische Südvietnam (Hauptstadt Saigon) beschlossen. Ungeachtet der Verfassung Nordvietnams, die die Religionsfreiheit vorsah, erfuhren die katholischen Gläubigen dort zahlreiche Verfolgungen und Verbote des kirchlichen Lebens. In einem gemeinsamen Brief vom 8. August 1964 erkannten die südvietnamesischen Bischöfe La Vang als das nationale Marienzentrum an.

Sämtliche daraufhin neuerrichteten Gebäude in La Vang wurden 1972 während des Krieges zwischen dem Norden und dem Süden völlig zerstört, die Ruine des Kirchturms blieb allein übrig. Erst ab 2008 konnten ein Kirchengebäude neu errichtet und andere Liegenschaften schrittweise wiederhergestellt werden. Am 15. August 2012 (Tag der Jungfrau von La Vang) wurde der Grundstein der zukünftigen Basilika gelegt, das neue Heiligtum hat eine typisch vietnamesische Architektur erhalten.

Im Vietnamkrieg eroberte Nordvietnam Südvietnam. Nach der Wiedervereinigung des Landes (30. April 1975) erneuerten alle Bischöfe von Vietnam, die am 1. Mai 1980 in Ha Noi versammelt waren, feierlich die Anerkennung von La Vang als nationalem Marienwallfahrtszentrum und sangen gemeinsam auf Knien mit großem Vertrauen das Salve Regina.

Die Christenverfolgung in Nordvietnam wurde auf den Süden ausgeweitet. Hunderttausende der so genannten „Boatpeople“, darunter viele Christen, flüchteten vor der kommunistischen Herrschaft. 1983 beispielsweise waren mindestens 150 katholische Priester zu Gefängnisstrafen verurteilt oder in Straflager deportiert worden. Die Zahl der Katholiken wuchs jedoch weiter. Mit heute rund sieben Millionen Katholiken (ca. 8% der Bevölkerung) ist Vietnam das Land mit dem viertgrößten Bevölkerungsanteil an Katholiken in Asien. Die Zahl der Pilger nach La Vang ist im Steigen begriffen; 2022 lag sie allein am Himmelfahrtstag Mariens am 15. August bei über 50.000 Pilgern. Sogar von Pilgern, die keine Christen sind, wird berichtet.

Seit langer Zeit hat das Heiligtum La Vang eine enge Beziehung zur Weltkirche. Papst Johannes XXIII. verlieh dem Nationalheiligtum La Vang den Titel und die geistlichen Privilegien einer „basilica minor“ am 22. August 1961. Papst Johannes Paul II. stellte in der Ansprache zum Angelus am Sonntag, den 19. Juni 1988, La Vang in eine Reihe mit den bedeutendsten Marien-Wallfahrtsorten der Welt, und erinnerte zugleich an die 117 Märtyrer von Vietnam, die am selben Morgen heiliggesprochen worden waren. 2015 vertraute Kardinal Filoni im Namen von Papst Franziskus der Gottesmutter von La Vang die Evangelisierung von Vietnam und des ganzen asiatischen Kontinents an.

Die Annäherung zwischen dem kommunistischen Regime und dem Vatikan, die durch beharrliche Bemühungen des Heiligen Stuhls in den letzten zwölf Jahren zustandekam und die Freiheit zur Religionsausübung in Vietnam verbessert hat, führen viele Gläubige nicht zuletzt auf die Fürbitte der Muttergottes von La Vang und das große Vertrauen der Gläubigen in sie zurück.

Im März diesen Jahres sprach der Stellvertretende Innenminister Vu Chien Thang gegenüber dem ersten residierenden Vertreter des Heiligen Stuhls in Hanoi, dem polnischen Erzbischof Marek Zalewski, sogar von „freundschaftlichen Beziehungen“ und davon, dass diese „günstige Beziehungen der lokalen Kirche in die Weltkirche schaffen“; er führte weiter aus: „Die vietnamesische Regierung würde sich freuen, Papst Franziskus willkommen zu heißen“. Das ist ein großer Fortschritt für eine Kirche, die noch vor verhältnismäßig wenigen Jahren Schicksale zu beklagen hatte wie das von Kardinal Nguyên Van Thuân (1928-2002), der dreizehn Jahre in einem Umerziehungslager gefangen gehalten wurde, davon neun Jahre in Einzelhaft.

Dass die lange und oft qualvolle Zeit des abwartenden Vertrauens in die Fürsprache der Gottesmutter große Gnaden hervorbringt – Gnaden gegen jede menschliche Erwartung –, das können wir von den vietnamesischen Mitgläubigen und ihrem nie beendeten Vertrauen in die Wallfahrt nach La Vang lernen. Die Gnade ist der Wert der Zeit – eine Erkenntnis nicht nur für Fronleichnam.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Geschichtliche Einordnung der neuen Normen

Eingreifen Gottes in die menschliche Geschichte

Der Passionistenpater Gianni Sgreva wurde am 2. März 1949 in Caldiero (Verona) geboren. Nach seinem Studienabschluss in Theologie und seiner Promotion in patristischen Wissenschaften am Patristischen Institut Augustinianum in Rom übte er etwa vierzig Jahre lang (1980-2020) an verschiedenen theologischen Instituten eine Lehrtätigkeit in diesen Fächern aus. 1985 gab er im Einvernehmen mit seinem Ordensoberen P. Paul Michel Boyle CP, dem damaligen Generaloberen der Passionisten, diesen Dienst auf und widmete sich der seelsorglichen Betreuung von jungen Menschen, die in Medjugorje eine Bekehrung erlebt hatten. Daraus entwickelte sich die Marianische Gemeinschaft „Oase des Friedens“, für die er die Regeln verfasst hat und als deren Gründer er gilt. Bis zum 16. Juli 2001 widmete er sich der Leitung der Gemeinschaft. P. Gianni Sgreva sah die guten Früchte von Medjugorje, rang aber auch mit vielen offenen Fragen und Vorkommnissen, die mit den mutmaßlichen Erscheinungen verbunden waren. Auf dem Hintergrund seiner reichen Erfahrung versucht er in seinem Beitrag, die neuen Normen des Vatikans zur Beurteilung übernatürlicher Phänomene geschichtlich einzuordnen und theologisch zu interpretieren. Für ihn wäre es ein großer Verlust, wenn die Kirche vollkommen darauf verzichten würde, die verschiedenen Formen des übernatürlichen Eingreifens Gottes in die Geschichte endgültig zu bewerten. Eine wichtige Art der Fruchtbarkeit des Gnadenwirkens des Heiligen Geistes für das Leben der Kirche ginge seiner Ansicht nach dadurch verloren.

Von Gianni Sgreva CP

Am 17. Mai 2024 veröffentlichte das Dikasterium für die Glaubenslehre ein von Papst Franziskus approbiertes Dokument mit dem Titel „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“. Das letzte Dokument zu diesem Thema, das vom gleichen Dikasterium herausgegeben und von Papst Paul VI. approbiert worden war, stammt vom 25. Februar 1978. Der Text war jedoch für die Bischöfe bestimmt, die für ihre jeweiligen Ortskirchen die Kompetenz und die Aufgabe der Beurteilung innehatten. Dieses Dokument wurde von Papst Benedikt XVI. am 14. Dezember 2011 veröffentlicht, damit es nicht nur für die Bischöfe, sondern auch für Theologen und Experten, die den Bischöfen zur Seite stehen sollten, von Nutzen sei.

1. Beurteilung vor 1978

Bis 1978 wurden die Normen des Konzils von Basel (1431-1448) befolgt, das beschlossen hatte, die Offenbarungen der heiligen Brigitte († 1373) zu untersuchen. Sie waren in der gesamten Christenheit verbreitet und bekannt und übten einen starken Einfluss auf das Volk Gottes aus. So kam ihnen ein öffentlicher Charakter zu.

Es wurden verschiedene Theologen mobilisiert, die dafür oder dagegen argumentierten, und so entstanden die ersten systematischen Darstellungen über die Unterscheidung der Geister: „De probatione spirituum“ (Über die Prüfung der Geister) von Jean Gerson (1363-1429) und „Defensorium“ (Verteidigung) von Kardinal Juan de Torquemada (1388-1468). Die Modalitäten wurden erst auf zwei späteren Konzilien festgelegt (Lateran 1516 und Trient 1563). Auf dem Gebiet der Unterscheidung wurde im 16. Jahrhundert ein großer Schritt nach vorne gemacht, und zwar dank der Erfahrung so bedeutender Mystiker wie des hl. Ignatius von Loyola, der hl. Teresa von Avila und des hl. Johannes vom Kreuz, die in der Lage waren, den Zusammenhang zwischen dem Wirken der Gnade und den psychologischen Mechanismen genauer darzulegen. So verspürte die Theologie das Bedürfnis, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Diesem Umstand verdanken wir vor allem die Abhandlungen von Francisco Suárez SJ (1548-1617), Kardinal Giovanni Bona SOCist (1609-1674) und Eusebius Amort (1692-1775). Aber die entscheidende Schrift bis 1978 war „De revelationibus“ (Über Offenbarungen) von Kardinal Prospero Lambertini, dem späteren Papst Benedikt XIV. († 1758).

Die von den beiden genannten Konzilien, dem Laterankonzil (1512-1517) und dem Konzil von Trient (1545-1563), festgelegten Modalitäten übertrugen dem Diözesanbischof die Kompetenz, mit Hilfe einiger „docti et gravi“ (Gelehrten und Fachleuten) (Laterankonzil) und „theologi et pii“ (Theologen und geistlich Erfahrenen) (Tridentinisches Konzil) über alle übernatürlichen Phänomene zu urteilen und zu entscheiden. Es handelte sich um ein duales Prinzip – Kompetenz des Bischofs und Rückgriff auf Experten –, das einerseits die Dimension der hierarchischen Gemeinschaft und andererseits die notwendige Wissenschaft und Kompetenz garantierte, um zu einem Urteil zu gelangen, das der moralischen Gewissheit so nahe wie möglich kam. Alternativ dazu wurde der Metropolitan-Erzbischof (heute wäre es die Bischofskonferenz auf nationalem oder regionalem Gebiet) mit der Beurteilung des Wahrheitsgehalts der behaupteten Tatsachen bzw. des Gegenteils betraut, wenn es sich um Tatsachen handelte, die über die Grenzen der Diözese hinausgingen, sowie der Papst oder der Apostolische Stuhl (heute wäre es das Dikasterium für die Glaubenslehre, das Erbe des früheren Heiligen Offiziums).

Der Codex des kanonischen Rechts von 1917 und der aktuell gültige Codex des kanonischen Rechts von 1983 haben diese Hinweise nicht wesentlich aufgegriffen. Vielmehr lehnten sich die Antworten der damaligen Ritenkongregation (nach der 1969 von Paul VI. durchgeführten Reform hieß sie Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung) auf die Fragen, die von den verschiedenen Episkopaten zu diesem Thema gestellt wurden, an die Position von Kardinal Prospero Lambertini an. Pius X. (1903-1914) hatte diese Lehre und Praxis in seiner Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ (Die Herde des Herrn zu weiden) vom 8. September 1907 bestätigt, die sich gegen modernistische Lehren richtete und in der die Norm des Lehramtes in Bezug auf Erscheinungen und Offenbarungen präzisiert wurde.

Dies führte zu den Normen von 1978, die wie gesagt 2011 veröffentlicht wurden. Sie fassten die lange geschichtliche Entwicklung zusammen, indem sie einige positive und negative Kriterien aufzählten, anhand derer der Ordinarius den betreffenden Sachverhalt unter Berücksichtigung der Beziehungen zur zuständigen Bischofskonferenz und zur Kongregation für die Glaubenslehre beurteilen konnte. Die genannten Normen (Normæ) dienten dazu, „zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit“ über den möglichen übernatürlichen Ursprung des betreffenden Phänomens zu urteilen.

Unter Beachtung der damals gültigen Kriterien wurden bis 1978 zehn Erscheinungen anerkannt:

in Rom 1842 an Alfonso Ratisbonne; in La Salette (Frankreich) 1846 an Massimino Giraud und Melania Calvat; in Lourdes (Frankreich) 1858 an Bernadette Soubirous; in Champion (USA) 1859 an Adele Brise; in Pontmain (Frankreich) 1871 an Eugène und Joseph Barbedette, François Richer und Jeanne Lebossé; in Gietrzwald (Polen) 1877 an Justine Szafrynska und Barbara Samulowska; in Knock (Irland) 1879 an Margaret Beirne und mehrere Personen; in Fatima (Portugal) 1917 an Lucia Dos Santos, Francisco und Jacinta Marto; in Beauraing (Belgien) 1932 an Fernande, Gilberte und Albert Voisin sowie Andrée und Gilberte Degeimbre; in Banneux (Belgien) 1933 an Mariette Béco.

Nach den Kriterien von 1978 wurden fünf Erscheinungen anerkannt:

in Laus (Frankreich) 1664-1718 an Benôite Rencurel (anerkannt am 4. Mai 2008); in Akita (Japan) 1973-1981 an Agnes Sasagawa (anerkannt am 22. April 1984); in Bethanien (Venezuela) 1976-1988 an Maria Esperanza Medano (anerkannt am 21. November 1987); in Kibeho (Ruanda) 1981-1986 an Alphonsine Mumereke, Nathalie Ukamazimpaka und Marie-Claire Mukangango (anerkannt am 29. Juni 2001).

Ein gesondertes Wort zu den Erscheinungen in Amsterdam (Holland) 1945-1959 an Ida Peerdemann:

Im Mai 1974 bestätigte die Kongregation für die Glaubenslehre mit Zustimmung des heiligen Papstes Paul VI. ein Urteil von „non constat de supernaturalitate“ (die Übernatürlichkeit steht nicht fest), das der Bischof von Haarlem 1956 gefällt hatte. Doch am 31. Mai 2002 erkannte der Bischof von Haarlem, Joseph Maria Punt, die Echtheit der Erscheinungen der „Frau aller Völker“ an. Am 30. Dezember 2020 schrieb der neue Bischof von Haarlem, Johannes Hendriks, dass „die Verehrung Mariens unter diesem Titel erlaubt ist“, fügte aber hinzu: „Was als (implizite) Anerkennung der Botschaften und Erscheinungen verstanden werden kann, muss vermieden werden, da die Kongregation [für die Glaubenslehre] in dieser Hinsicht ein negatives Urteil gefällt hat, das von Papst Paul VI. bestätigt wurde.“

Gerade die Erscheinungen in Amsterdam mit den wechselnden Positionen der Bischöfe von Haarlem (zusammen mit vielen anderen Episoden überstürzter offizieller Anerkennungen durch Bischöfe) und die zunehmenden Vorkommnisse von Erscheinungen, Botschaften und Reaktionen des Volkes veranlassten das Dikasterium für die Glaubenslehre nun zu einer erneuten Stellungnahme und Erklärung. Doch kehren wir zur Erklärung vom 25. Februar 1978 unter Papst Paul VI. zurück.

2. Erklärung von 1978

Nach der Erklärung von 1978 gibt es am Ende einer kirchlichen Untersuchung über mutmaßliche übernatürliche Phänomene drei mögliche Urteile.

Die drei möglichen Urteile:

constat de supernaturalitate (die Übernatürlichkeit steht fest), womit der übernatürliche Ursprung der Ereignisse bejaht wird;

non constat de supernaturalitate (die Übernatürlichkeit steht nicht fest), womit zum Ausdruck gebracht wird, dass die verfügbaren Daten und Elemente unzureichend sind, um den übernatürlichen Charakter einer angeblichen Privatoffenbarung zu bestätigen oder zu verneinen;

constat de non supernaturalitate (es steht fest, dass es nicht übernatürlich ist), womit der übernatürliche Charakter der untersuchten Tatsachen verneint wird.

Die zweite Formel ist die am häufigsten verwendete, weil mit ihr das endgültige Urteil ausgesetzt oder faktisch aufgehoben wird. Es handelt sich um eine Vorsichtsformel, mit der eine Erscheinung weder gebilligt noch verurteilt wird, und die Kirche bleibt offen für künftige Entwicklungen und Untersuchungen, die mit größerer Sicherheit eine positive (constat) oder negative (non constat) Position zu den untersuchten Vorgängen einnehmen können.

Diese Urteile (Schlussfolgerungen) werden durch ein ernsthaftes Prüfungsverfahren erreicht, das folgende Punkte voraussetzt:

1) genaue Information über den Sachverhalt durch Beobachtung und Sammlung glaubwürdiger Zeugenaussagen;

2) Prüfung der dem übernatürlichen Ereignis zugrunde liegenden Botschaft, die nicht im Widerspruch zum christlichen Glauben stehen darf;

3) eine medizinisch-psychologische Diagnose, um den Gesundheitszustand und die Normalität des Sehers festzustellen und um die Möglichkeit halluzinatorischer Phänomene auszuschließen;

4) Erhebung über den Grad der Bildung des Sehers, seine Kenntnis der kirchlichen Lehre und sein geistliches und sakramentales Leben sowie den Grad der kirchlichen Gemeinschaft;

5) Beobachtung geistlicher Früchte wie die Rückkehr von Fernstehenden zum Glauben, sittliche und kirchliche Haltung, Mitwirkung an der Evangelisierung der Welt, der Kulturen und Bräuche;

6) Untersuchung von eventuellen wundersamen Heilungen, die aufgrund der angeblichen Erscheinung oder vielmehr auf die Fürsprache der Mutter Christi oder eines Heiligen geschehen sind, von Heilungen, die unmittelbar und stabil sein müssen und aus Sicht der Wissenschaft und der Medizin unerklärlich sind;

7) ein notwendiges strenges Urteil der Kirche, die die schwere lehrmäßige und pastorale Aufgabe hat, die Echtheit oder Nichtechtheit der behaupteten Tatsachen festzustellen, zu bestätigen und zu verkünden.

Die Aufgabe der kirchlichen Autorität:

„Sobald die kirchliche Autorität über irgendwelche mutmaßlichen Erscheinungen oder Offenbarungen Kenntnis erhält, ist es ihre Aufgabe:

a) an Hand der positiven und negativen Kriterien über die Geschehnisse zu urteilen; 

b) sofern diese Prüfung zu einem positiven Ergebnis führt, einige Ausdrucksformen des öffentlichen Kultes oder der Verehrung zu erlauben, wobei diese zugleich weiterhin mit großer Klugheit überwacht werden müssen (dies ist gleichbedeutend mit der Formel „pro nunc nihil obstare“);

c) im Licht der mit der Zeit gewonnenen Erfahrung und unter besonderer Berücksichtigung der geistlichen Fruchtbarkeit, die aus der neuen Verehrung hervorgeht, ein Urteil über die Wahrheit und Übernatürlichkeit zu fällen, wo der Fall es erfordert“ (Nr. 2).

Wir verzichten darauf, die positiven und negativen Kriterien des Dokuments von 1978 aufzulisten (im Dokument Nr. I), da sie im Wesentlichen mit denen übereinstimmen, die im jüngsten Dokument vom 17. Mai 2024 erneut aufgeführt werden.

Wie wir sehen, war sich das Dokument von 1978 bereits der „Schnelligkeit“ bewusst, mit der sich die Nachrichten über angebliche Phänomene heute verbreiten, sowie der „heutigen Mentalität und der Notwendigkeit einer kritischen wissenschaftlichen Untersuchung“, die es „schwieriger, wenn nicht fast unmöglich“ machen, „mit der gebotenen Schnelligkeit jenes Urteil zu fällen, das in der Vergangenheit die Untersuchungen zur Sache abgeschlossen hat (constat de supernaturalitate, non constat de supernaturalitate) und den Ordinarien die Möglichkeit bot, den öffentlichen Kult oder andere Formen der Verehrung durch die Gläubigen zu gestatten oder zu verbieten“ (Nr. 2).

Aber gerade wegen dieser Schwierigkeiten wurden die Normæ erlassen: „Aus den genannten Gründen und damit die Verehrung durch die Gläubigen, die durch solche Geschehnisse hervorgerufen wird, sich in voller Übereinstimmung mit der Kirche entfalten und Frucht tragen kann, woran die Kirche selbst in Zukunft den wahren Charakter dieser Phänomene erkennen kann, haben die Väter beschlossen, dass in diesem Bereich das folgende Verfahren Anwendung findet“ (Nr. 2).

In der Tat war die Haltung der Kirche immer eine der Beobachtung, der Prüfung und der Sichtung, um zu einem positiven oder negativen Urteil über den möglichen übernatürlichen Ursprung bestimmter Phänomene zu gelangen. Denn das Vorgehen der Kirche in dieser Frage war immer von äußerster Vorsicht geprägt, ohne Eile, sich in die eine oder andere Richtung zu äußern, aber auch offen dafür, die Gegenwart des Geistes anzuerkennen, im Erweis von Elementen, die an die Vernunft des Menschen appellieren und die in der Lage sind, zu einem höchst wahrscheinlichen Urteil und zu moralischer Gewissheit zu gelangen.

3. Dokument vom 17. Mai 2024

Hinsichtlich der methodologischen Normen für die Untersuchung von mutmaßlich übernatürlichen Phänomenen, die einer Beurteilung bedürfen, gibt es im Grunde keine Neuheit und keinen Unterschied zwischen dem jüngsten Dokument von 2024 und dem vorherigen von 1978.

Der Unterschied besteht in den Formeln des endgültigen Urteils, das der Bischof nach der kirchlichen Untersuchung und nach Genehmigung durch das römische Dikasterium fällen kann, nämlich: 1: Nihil obstat; 2: Prae oculis habeatur; 3: Curatur; 4: Sub mandato; 5: Prohibetur et obstruatur; 6: Declaratio de non supernaturalitate.

3.1. Die vier Begründungen

Zunächst ein Wort zu den Begründungen, die wir in der von Kardinal Fernández unterzeichneten Präsentation lesen und die im Wesentlichen auf vier reduziert werden können:

1: Die Notwendigkeit größerer Vorsicht seitens der Kirche aufgrund der Verwirrung, die durch die Handlungen einiger Bischöfe und durch widersprüchliche Verlautbarungen entstanden ist, wie es bei den Amsterdamer Erscheinungen mit dem Karussell von Anerkennungen und Dementis der Fall gewesen sei.

Wir erlauben uns zu sagen, dass das Problem in Wahrheit nicht im Fehlen von Normen oder deren Unklarheit liegt, sondern ganz einfach im unvorsichtigen Handeln einzelner Hirten, so dass die neuen Normen im Wesentlichen die Kriterien des Dokuments von 1978 aufgreifen.

2: Um zu verhindern, dass der Prozess der Unterscheidung zu lange dauert, wie es in der Präsentation heißt:

„Um die Lösung eines konkreten Falles, bei dem es um ein Ereignis mutmaßlichen übernatürlichen Ursprungs ging, nicht länger hinauszuzögern, hat das Dikasterium dem Heiligen Vater kürzlich vorgeschlagen, die entsprechende Untersuchung nicht mit einer Erklärung de supernaturalitate, sondern mit einem Nihil obstat abzuschließen, das dem Bischof gestatten würde, aus diesem geistlichen Phänomen pastoralen Nutzen zu ziehen. Diese Erklärung wurde abgegeben, nachdem die verschiedenen geistlichen und pastoralen Früchte und das Fehlen größerer Kritikpunkte an diesem Ereignis bewertet worden waren. Der Heilige Vater betrachtete diesen Vorschlag als eine ‚gerechte Lösung‘.“

3: Aufgrund der Befürchtung, dass eine positive Feststellung der Übernatürlichkeit der angeblichen Phänomene (Erscheinungen, Stigmata, Blutungen, anderen Manifestationen und Botschaften) die Gläubigen dazu verleiten könnte, zu denken, sie seien verpflichtet, an diese Manifestationen zu glauben, die „manchmal mehr geschätzt wurden als das Evangelium selbst“. In Artikel 22 §2 heißt es ausdrücklich: „Der Diözesanbischof wird auch darauf achten, dass die Gläubigen keine der Entscheidungen als Approbation des übernatürlichen Charakters des Phänomens auffassen.“

4: Und schließlich, um mögliche Verwirrung und Zweifel zu vermeiden, wie es bei den Erscheinungen von Amsterdam der Fall gewesen sei.

3.2 Der Zweck der Unterscheidung

Die eigentliche Neuerung des Dokuments liegt somit darin, dass von nun an die Möglichkeit ausgeschlossen ist, eine positive Feststellung der Übernatürlichkeit eines Ereignisses zu äußern. Das Urteil muss sich bestenfalls auf ein Nihil obstat beschränken. Auch der erwähnte Vorbehalt in Artikel 22 § 2 bringt diese Neuerung zum Ausdruck.

Diese Beschränkung könnte man auch als „Aussetzung des Urteils“ bezeichnen. Und es ist wahr, dass sie den Unterscheidungsprozess kürzer und flexibler macht.

Mit dieser Erleichterung und Verkürzung der Zeit ist auch die Chance verbunden, Konflikte zu vermeiden, die bei diesen angeblich übernatürlichen Vorkommnissen zwischen Gruppen von Gläubigen, die dafür, und Gruppen von Gläubigen, die dagegen sind, entstehen. Aber gleichzeitig verzichtet das Lehramt der Kirche darauf, die Natur des Baumes, der die Früchte hervorbringt, zu benennen, sowohl, was die Ereignisse selbst betrifft, als auch die Wahrhaftigkeit und Authentizität der Protagonisten dieser Ereignisse.

Es stimmt, dass damit der Schwerpunkt auf den positiven Früchten in der Pastoral liegt, wie Jesus im Evangelium sagt: „An den Früchten werdet ihr den Baum erkennen“ (vgl. Mt 7,16-20). Der Abschluss des Unterscheidungsprozesses mit dem Nihil obstat begünstigt sicherlich die Kultivierung von guten Früchten durch eine gute pastorale Betreuung solcher geistlicher Zentren, die im Zusammenhang mit den Vorkommnissen entstanden sind. Es ist nicht mehr nötig, weiter auf das Urteil de supernaturalitate zu warten. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Bischof einem Ort den Charakter eines „Heiligtums“ zuerkennt, an dem Früchte der Bekehrung, der geistlichen Erneuerung und von geistlichen Berufungen gewachsen sind.

Das Nihil-obstat-Urteil beschränkt sich auf eine Vorsichtsentscheidung und will vermeiden, dass die Gläubigen zur Annahme gedrängt werden, sie dürften aufgrund der Erklärung des übernatürlichen Ursprungs keine Zweifel mehr hegen. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass auch im Fall eines Urteils de supernaturalitate kein Gläubiger verpflichtet ist, den Gehorsam des Glaubens zu leisten, da es sich nicht um eine Offenbarung im strengen Sinn handelt. Das Dokument stellt klar, dass das einfache Nihil obstat nur ein „Hilfsmittel“ darstellt, „von dem man nicht Gebrauch machen muss“. Es lässt die Möglichkeit offen, an die Übernatürlichkeit der in Betracht gezogenen Ereignisse zu glauben oder nicht zu glauben, wie schon Papst Benedikt XVI. hervorgehoben habe.

Es könnte sicherlich positiv sein, wenn man auf den sensus fidelium vertraut, den Glaubenssinn, das intuitive Gespür der Gläubigen, das das Wirken des Heiligen Geistes erkennt. Ohne offizielle Erklärungen der Übernatürlichkeit haben sich in der Vergangenheit verschiedene Heiligtümer etabliert, die keine Kritik hervorgerufen und positive Früchte gebracht haben. Dies war beispielsweise bei den Erscheinungen der „Jungfrau der Offenbarung“ in Tre Fontane in Rom der Fall.

Der umstrittene Fall von Medjugorje, der in den letzten vierzig Jahren weltweit so viele Pros und Kontras aufgeworfen hat, scheint nun durch ein implizites Nihil obstat gekennzeichnet zu sein. Nach der Untersuchungsarbeit der von Papst Benedikt XVI. beauftragten päpstlichen Kommission (2010-2015) und der Entsendung eines Apostolischen Visitators durch Papst Franziskus zur Begleitung der Pastoral an diesem Ort, an dem die ausgezeichneten Früchte die unvermeidlichen Kritiken überwiegen, muss der Fall nicht mehr weiter untersucht werden.

Im Zusammenhang mit den als authentisch angenommenen Ereignissen bietet die Kirche also nicht mehr ihr eigenes prophetisches Charisma an, die Gnade prophetischer Intervention. Sie legt also viel weniger Wert auf die positive Betrachtung solcher Ereignisse als Gaben des Herrn, die, ohne der Offenbarung etwas hinzuzufügen, dazu beitragen können, die lebendige Tradition zu nähren und zu vertiefen. Doch gibt es im Leben des Gottesvolkes, in dem die Tradition der lex orandi (Gesetz des Betens) und der lex credendi (Gesetz des Glaubens) und, wie ich hinzufügen möchte, auch der lex vivendi (Gesetz des Lebens) fortbesteht, auch die Gabe der unentgeltlichen Eingriffe Gottes wie Erscheinungen und andere Arten von übernatürlichen Zeichen (eucharistische Wunder, Blutungen von Bildern, auch die mystischen Erfahrungen verschiedener Heiliger wie der heiligen Gemma Galgani oder des heiligen Pater Pio von Pietrelcina), die das Leben des Gottesvolkes inspirieren, auch als Exegese der Heiligen Schrift selbst.

Die Erklärung der Heiligkeit eines Gläubigen ist die Frucht eines langen Prozesses der Untersuchung. Nach der Erklärung der Ehrwürdigkeit folgt die Selig- und Heiligsprechung, Dadurch fügt die Kirche der Offenbarung nichts hinzu, doch ist jeder Heilige oder jede Heilige eine Exegese der Heiligen Schrift, wie Papst Benedikt XVI. hervorgehoben hat (vgl. Verbum Domini, Nr. 49). Das Lehramt der Kirche verzichtet nicht auf die Anerkennung der Heiligkeit eines Mitglieds der Kirche und verweist auf ihn als Vorbild, dem man folgen und das man anrufen kann.

So fügen die anerkannten Ereignisse übernatürlicher Art der Offenbarung, die mit dem Tod der Apostel abgeschlossen ist, nichts hinzu, aber unbeschadet der Tatsache, dass sie nicht als Glaubensdogmen anzunehmen sind, handelt es sich dennoch um Gaben von oben, die die Kirche pastoral als weitere Gaben des Himmels anerkennen muss, die dem Volk Gottes als prophetische Hermeneutik der Schrift selbst angeboten werden.

Es ist wahr, dass es sich um Ereignisse handelt, die den Glauben nicht verpflichten, aber die Klugheit gebietet, dass diese Ereignisse, wenn sie als übernatürlich erkannt werden, nicht ignoriert werden. Sie können nicht übersehen werden. Sie verdienen Respekt und Beachtung als Zeichen, die vom Wohlwollen des Himmels kommen. Sie müssen gewürdigt werden. Sich dem möglichen autoritativen Urteil des Bischofs in solchen Fragen zu widersetzen, würde an sich bestenfalls Leichtsinn, nicht aber Häresie oder Schisma bedeuten.

In diesem Sinn gebe ich einem Kommentator Recht, der zum Dokument vom 17. Mai 2024 geschrieben hat:

„Die neuen Normen, die nicht mehr die offizielle Anerkennung von Ereignissen durch das Lehramt der Kirche vorsehen, die alle Garantien der Übernatürlichkeit aufweisen, schließen in der Tat die Möglichkeit aus, die Spuren des Eingreifens Gottes in die menschliche Geschichte anzuerkennen.“ Das schlichte Nihil obstat, auch wenn es nach einer ernsthaften Untersuchung ausgesprochen wird, birgt die Gefahr, dass man Reaktionen zulässt, die die Eingriffe Gottes nicht würdigen und die Achtung vor den Personen, die vom Himmel als Protagonisten dieser Ereignisse auserwählt worden sind, beeinträchtigen könnten. Wenn ein Hellseher alle Bedingungen der Glaubwürdigkeit und Authentizität erfüllt, weil er ein Fenster zum Übernatürlichen darstellt, warum sollte man dann nicht die Ehrlichkeit und Wahrheit dessen anerkennen, wofür er steht, auch wenn man nicht zum Glauben verpflichtet ist? Ein bloßes Nihil obstat ist keine Garantie für die Wahrhaftigkeit der Botschaft und der Person, die sie verkündet. Das am 17. Mai vorgelegte Dokument scheint uns in klarem Widerspruch zu der Haltung zu stehen, die die Kirche immer gegenüber übernatürlichen Phänomenen eingenommen hat.

Umso wichtiger ist es, dass in dem von der Klugheit diktierten Handeln auch das vom Apostel Paulus vorgeschlagene proaktive Kriterium zum Tragen kommt: „Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1 Thess 5,19ff.). Die Kirche ist also aufgerufen, alles zu prüfen, um so weit wie möglich zu moralischer Gewissheit darüber zu gelangen, ob ein bestimmtes Ereignis tatsächlich eine Manifestation des Geistes ist. Und die Klugheit ruft auch dazu auf, die vom Geist frei geschenkten Ereignisse zu „bewahren“, das heißt, sie zu betrachten und deren „Verbreitung zu fördern“. In der Präsentation des Dokuments taucht die Befürchtung auf, dass die Zustimmung zu bestimmten Offenbarungen dazu führt, dass man sie „mehr schätzt als das Evangelium selbst“; deshalb sei es besser, keine Zeichen der Zustimmung, sondern nur des Entgegenkommens zu geben. Es sollte demgegenüber aber festgehalten werden, dass die Anerkennung der Gründe für die Glaubwürdigkeit eines Ereignisses, dessen übernatürlicher Ursprung vermutet wird, zu einer Hilfe für den eigentlichen Glaubensakt und nicht zu einem Hindernis wird. Dies gilt für Marienerscheinungen wie für die Erscheinungen Jesu (vgl. beispielsweise an die hl. Margareta Maria Alacoque und die hl. Faustyna Kowalska) oder für eucharistische Ereignisse, die den Glauben der Menschen immer gestützt haben, besonders in Zeiten der Dunkelheit. Es gibt in dieser Hinsicht auch die Gefahr der „Glaubensverhinderung“.

Ergänzend möchte ich noch ein weiteres Element erwähnen, welches das Dokument von 1978 von dem von 2024 unterscheidet. Nach der Erklärung von 1978 musste der Bischof, wenn er die Glaubenskongregation um Erlaubnis gebeten hatte, den Heiligen Stuhl im Text seiner Erklärung nicht erwähnen. Nach dem jüngsten Dokument von 2024 muss das Nihil obstat des Bischofs oder der Bischofskonferenz jedoch mit der Erwähnung der Genehmigung des Heiligen Stuhls einhergehen, d.h. mit der öffentlichen Beteiligung des Dikasteriums für die Glaubenslehre.

Schlussfolgerung

Nach den neuen „Normen für das Verfahren zur Beurteilung mutmaßlicher übernatürlicher Phänomene“ spricht die Kirche als Schlussfolgerung positiver Untersuchungen eines Ereignisses das Nihil obstat aus. Damit begünstigt und belohnt sie letztlich den sensus fidelium des Gottesvolkes, strafft den Untersuchungsprozess und stellt die ausdrückliche Unterstützung des Heiligen Stuhls für die Erklärungen des Ortsbischofs bzw. der regionalen oder nationalen Bischofskonferenz im Falle einer Ausweitung des Phänomens für alle sechs möglichen Urteile sicher, zu denen die Bewertung dieser Ereignisse führen wird. In jedem Fall besteht immer die Möglichkeit eines direkten Eingreifens des Glaubensdikasteriums und in Ausnahmefällen des Papstes selbst.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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Neue Begegnung mit biblischen Texten

Biblischer Personalismus

P. Franz Prosinger (geb. 1953) ist seit 2020 für biblische Studien freigestellt. Frucht seiner exegetischen Forschungsarbeit ist ein Buch über den „biblischen Personalismus“, das 2023 erschienen ist.[1] In seiner Rezension skizziert P. Engelbert Recktenwald die eindrucksvolle Anthropologie Prosingers als Dialog mit Gott.

Von Engelbert Recktenwald FSSP

Dass der hl. Anselm von Canterbury keine Bibelkommentare verfasst hat, ist unbestreitbar. Dass der Grund davon aber, wie Kurt Flasch behauptet, darin lag, dass diese literarische Gattung auf Grund des Sola-ratione-Programms (Erkenntnis allein mit Hilfe der Vernunft) „aus inneren Gründen im Werk des Erzbischofs von Canterbury keinen Ort gehabt habe“, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, setzt diese Auffassung doch den Begriff einer Vernunft voraus, die sich vor jedem Zuspruch eines göttlichen Wortes verschließt. Kant mag einen solchen besessen haben, wodurch er sich genötigt sah, die Religion in die Grenzen der bloßen Vernunft hineinzupressen. Seine in der Kritik der reinen Vernunft beschriebene Bescheidung rationaler Erkenntnisansprüche in die Grenzen sinnlicher Anschauung verwandelt sich in seiner Religionsschrift in eine Beschneidung göttlicher Offenbarungsmöglichkeiten: Durch die vorgebliche Unmöglichkeit intellektueller Anschauung auf Seiten des Menschen wird der göttlichen Allmacht die Unmöglichkeit unterstellt, die menschliche Vernunft zu erleuchten. Gott kann sich dem Menschen nicht mitteilen, selbst wenn er wollte. Die Vernunft ist gegen jede Erkenntniserweiterung durch göttliche Offenbarung abgeschottet.

Dass es auch anders geht, beweist der Exeget Franz Prosinger in seinem kürzlich erschienenen Werk „Leibhaftige Welt. Biblischer Personalismus“. Aus der transzendentalphilosophischen Schule Reinhard Lauths kommend, ist er mit Anselms Sola-ratione-Methode bestens vertraut. Ihre konsequente Anwendung führt aber zur Entdeckung einer Vernunft, die im nach Erkenntnis strebenden Menschen letztlich von einem Licht lebt, das sie sich nicht selbst gibt und das deshalb eine unabschließbare Offenheit der Vernunft anzeigt. Diese Offenheit bedeutet die Empfänglichkeit für eine göttliche Anrede, deren Möglichkeit und Wirklichkeit für Anselm außer Frage stand. Im Glauben wird diese Offenheit sich selbst durchsichtig: Vernunft erkennt sich als das, was sie immer schon war, als Antwortvermögen auf göttlichen Anruf, den sie immer schon empfangen hat. Erkenntnis, in der Vernunft zu sich selbst kommt, wird zur personalen Begegnung. Dass die menschliche Existenz nur aus dieser personalen Begegnung heraus verstanden werden kann, ist der rote Faden, der das Buch durchzieht.

In traditioneller Terminologie: Glaube ist nicht eine irrationale Zugabe zur Vernunfterkenntnis, vielmehr gilt: Glaubenslicht und Vernunftlicht haben in Gott ihren gemeinsamen Ursprung. Deshalb ergänzen und erhellen sie sich gegenseitig und begründen die Legitimität von Anselms Lebensmotto: fides quaerens intellectum (der Glaube, der das Verständnis sucht). Weder braucht der Glaube die konsequente Reflexion zu fürchten, noch die Vernunft eine Selbstentfremdung durch ihre gläubige Hingabe an Gottes Wort. Beide können voneinander nur profitieren. Die Probe aufs Exempel liefert uns das dichte und tiefschürfende Werk Prosingers. Er selbst schreibt im Vorwort: „Die Beziehung von Glaube und Vernunft, etwa das Prinzip der ‚fides quaerens intellectum‘ bei Anselm von Canterbury, kann in dieser bibeltheologischen Arbeit nicht systematisch entfaltet werden, kommt aber in den einzelnen Argumenten immer wieder zum Vorschein.“

„Biblischer Personalismus“ bedeutet: „Die personale Herkunft und die personale Begegnung kennzeichnen die gesamte Wirklichkeit“ (S. 208). Prosinger beginnt mit dem biblischen Schöpfungsbericht. „Es werde Licht!“ lautet das erste Schöpferwort. Mit dem Gedanken, dass Schöpfung eine Sprachhandlung sei, macht Prosinger Ernst und fragt nach dem Hörer. Gleichzeitig ist das Licht nur dann Licht, wenn es jemanden gibt, der es wahrnimmt. Das Selbstbewusstsein des Menschen setzt „eine lichtvolle Begegnung voraus: dass ich gemeint bin, weil ich gerufen bin“ (S. 45). Schon vom Schöpfungsbericht her wird der Mensch als „responsoriale Existenz“ verständlich: Er ist gerufen, Antwort zu geben. Prosinger nennt den Schöpfungsbericht das „Portal der Bibel“. Den im Schöpfungsbericht grundgelegten Personalismus buchstabiert er durch und zeigt dessen Fortschreibung in den Weisheitsbüchern, im Johannesprolog und im Jakobusbrief. Man beginnt zu ahnen, welche Schätze in der Heiligen Schrift zu heben sind. Dieses Buch hilft dabei.

Prosinger arbeitet stets hart am Text, stellt überraschende Querverbindungen her und zeigt, wie die biblische Botschaft das menschliche Selbstverständnis auf eine Weise erhellen kann, die sich in lichtvoller Evidenz bewährt. Wenn er zustimmend Hugo Rahners Aussage zitiert, der Mensch sei „der fleischgewordene Dialog mit Gott“, hat dies nichts mit dem populistischen Dialogverständnis eines endlosen und darum immer unverbindlich bleibenden Austausches von Meinungen zu tun. Vielmehr gilt: „Der Mensch ist nicht selbständiger Partner, der seinen eigenen Part beitragen könnte, sondern darauf angewiesen, das ihn erst ins Leben rufende Wort Gottes zu vernehmen und aufzunehmen. Dann ist es aber doch so, dass der Mensch in seiner je eigenen Situation auf je eigene Weise das Wort vernimmt und es in einer entsprechenden Weise beantworten kann und soll. So hört Gott sein Wort in der Antwort aus einem je eigenen lebendigen Resonanzkörper. Es ist Gottes eigenes Wort, das ins Leben ruft und als Antwort einstimmt. In ihm wird auch die ganze Welt sichtbar und ansprechend. Ohne das ansprechende Wort wäre die Welt stumm und der Mensch wäre taub. Die Welt wäre nicht Schöpfung“ (S. 240).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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[1] Franz Prosinger: Leibhaftige Welt. Biblischer Personalismus, EOS Verlag 2023, 282 S., Softcover, 24,95 Euro, ISBN 978-3-8306-8202-8 – Tel.: +49 (0) 8193 71701.

„Troiza“ – die bedeutendste Ikone der Russisch-Orthodoxen Kirche

Ein Meisterwerk christlicher Kunst

Die Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rubljow (um 1360-1430) gilt als das wichtigste Werk der russischen Ikonenmalerei. Über diese Ikone hat Marie Czernin (geb. 1971) ein Buch in italienischer Sprache verfasst. Am 28. Oktober 2022 ist sie viel zu jung verstorben. Nach ihrem Tod wurde das Buch 2024 auch auf Deutsch veröffentlicht.[1] Es handelt von der spannenden Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte dieses Meisterwerks der christlichen Kunst. Dabei nimmt die Autorin ihre Leser mit in die Welt der russischen Kultur und Geschichte. Auf anschauliche Weise führt sie in die orthodoxe Spiritualität und in das Geheimnis der Dreifaltigkeitsikone ein, das, wie sie abschließend bemerkt, von keinem der Autoren, die sich mit Rubljow befasst haben, gänzlich gelüftet wurde. Für Marie Czernin, die in Rom Kunstgeschichte studierte und seit 2011 für Missio arbeitete, war die Ikone Kunst- und Glaubenswerk zugleich, ja, die Ikone war für sie persönlich zu einer Erleuchtung geworden. So hoffte sie, dass die enorme innere Kraft der Ikone den christlichen Konfessionen zu einer größeren Einheit verhelfen und zu einer Erneuerung der christlichen sakralen Kunst führen könnte.

Von Dominic Lieven

Es ist mir eine große Freude, ein Vorwort zu Marie Czernins Studie über die Rezeption von Andrej Rublëvs Dreifaltigkeitsikone zu schreiben. Eine Freude, die jedoch durch die Trauer über den tragisch frühen Tod der Autorin im Jahr 2022 getrübt wird. Marie Czernin ertrug ihre Krankheit mit großer Tapferkeit und ohne jegliches Selbstmitleid. Ihr Buch über Andrej Rublëvs Dreifaltigkeitsikone, dieses Meisterwerk religiöser Kunst, spiegelt ihr feines Gespür für Fragen des Glaubens, des Sinns und der Schönheit wider, welche die Quintessenz eines wertvollen menschlichen Daseins ausmachen.

Aufgrund der intensiven Recherchearbeit, zahlreicher Betrachtungen und vieler origineller Einsichten leistet dieses Buch in mehrfacher Hinsicht einen wertvollen Beitrag. Laien (zu denen ich mich unbedingt zähle) dient es als Einführung zu einem der berühmtesten Kunstwerke Russlands. Dafür wird zu Beginn des Buches eine gesellschaftliche, kulturelle und zeitliche Einordnung der Ikone und ihres Schöpfers Andrej Rublëvs vorgenommen. Ohne diese Einführung wäre alles Weitere im Buch für die meisten Leser nur schwer zu verstehen. Anschließend wird beleuchtet, wie sich das Verständnis und die Rezeption der Ikone in Russland, in der Welt und vor allem im deutschen Sprachraum entwickelt haben.

Natürlich ist das Buch auch eine Studie über Ästhetik und Kunstgeschichte. Wie ein Kunstwerk in unterschiedlichen Gesellschaften, Kulturen und Epochen aufgenommen und interpretiert wird, sagt schließlich ebenso viel über die Rezipienten wie über das Werk und seinen Schöpfer aus. Nach über zweihundert Jahren der Vernachlässigung durch den gebildeten Teil der russischen Gesellschaft erwachte ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein neuerliches Interesse an Ikonen, verbunden mit dem weitverbreiteten Wunsch, wieder mit der einheimischen, präpetrinischen Kultur in Berührung zu kommen und die einzigartige Identität Russlands dadurch herauszustellen. In grober Verallgemeinerung wurde diese grundlegende Meinungs- und Gefühlsströmung oft als „Slawophilie“ bezeichnet. Das zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl in Russland als auch in Europa stark gestiegene Interesse an Ikonen war dann zum großen Teil Veränderungen in der künstlerischen Mode und Sensibilität geschuldet – konkret Bewegungen wie dem Symbolismus und einem breiteren Interesse am Primitiven, Exotischen und scheinbar Naiven. Diese galten oftmals als Mittel und Wege, zu einer tieferen Wahrheit vorzudringen, die sich durch die Natur und den Verstand allein nicht erschließen lässt.

Das Buch deckt thematisch ein weites Feld ab und regt zu vielen Gedanken und Fragen an. Mal geht es um Restaurierungstechniken alter Kunstwerke sowie um die Überlegung, inwiefern sich die Restaurierung auf Wahrnehmung und Rezeption des Werkes auswirkt. Oder es wird die Frage aufgeworfen, ob und inwiefern ein Werk, das tief im religiösen Bewusstsein des mittelalterlichen Moskaus verwurzelt ist, von Europa und seinen Menschen im 20. und 21. Jahrhundert, ihrem weitgehend säkularen Wertesystem und Mindset überhaupt verstanden werden kann. Im Anschluss befasst sich Marie Czernin mit den spezifisch deutschen Vorstellungen von Orthodoxie und von Russland sowie damit, wie sich diese über die Generationen hinweg entwickelt haben. Über diese und viele andere Fragen, die in diesem Buch explizit und implizit aufgeworfen werden, könnten dicke Wälzer geschrieben werden. Doch auch wenn diese Bände noch so umfangreich und gelehrt wären, würden sie kaum endgültige Antworten auf derart grundlegende Fragen und Debatten liefern können. Auch Marie Czernin erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Endgültigkeit, auch nicht im Hinblick auf die deutschsprachige Literatur. Was sie hier präsentiert, ist ein origineller, individueller und zum Nachdenken anregender Essay.

Ich bin weder Kunst- noch Kulturhistoriker und erst recht kein Kenner der deutschen Kunst- und Kulturszene. Daher überlasse ich es den Experten auf diesen Gebieten, sich mit den meisten der von Marie Czernin gestellten akademischen Fragen und vorgeschlagenen Interpretationen auseinanderzusetzen. Ich selbst bin Russland-Historiker und kann als solcher die Bedeutung und Aktualität einiger der in diesem Buch aufgeworfenen politischen Fragen bescheinigen.

Andrej Rublëv und zumal das Dreifaltigkeitskloster des Heiligen Sergius sind Herzstücke des Gedächtnisses, des Bewusstseins und der Identität Russlands. Die Orthodoxie war zusammen mit der Geografie des Landes das Schlüsselelement, das die Einzigartigkeit Russlands prägte, und dies umso mehr, als die Russen im Lauf ihrer Geschichte von Heiden, Muslimen und lateinischen Christen umgeben waren. Der Heilige Sergius, das Dreifaltigkeitskloster und das von ihnen verkörperte kulturelle Gedächtnis stehen für zivilisatorische Einzigartigkeit, Integrität und Stärke. Sie wurden im 15. und 16. Jahrhundert beschworen, als Russland sich von der Tatarenherrschaft befreite und die Grundlagen für ein mächtiges Reich schuf. Sie wurden auch während der sogenannten „Zeit der Wirren“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts beschworen, als Russland mit Bürgerkrieg, fremder Invasion und möglicher Zersplitterung konfrontiert war.

Wie viele Russen sieht auch das Regime von Wladimir Putin die Tatsache, dass Russland seit 1991 an Territorium und internationaler Bedeutung eingebüßt hat, lediglich als letzten in einer langen Geschichte von Rückschlägen. Einmal mehr, so deren Sicht, kreisen die ausländischen Geier am Himmel mit dem Ziel, Russlands Größe, Einheit und Einzigartigkeit zu negieren. Der russische Präsident sieht sich in der Nachfolge derer, die 1613 die Polen vertrieben und unter den frühen Romanows die russische Unabhängigkeit und Größe wiederherstellten. Er sieht sich auch als Erbe Josef Stalins, der das Land wieder zu imperialer Größe führte, nachdem es während der Russischen Revolution, der Anarchie und der Bürgerkriege von 1917-21 seine Einheit und Macht beinahe verloren hatte. Nun, da der Marxismus-Leninismus vollends delegitimiert ist, stützt Putin sein Regime auf die uralte zaristische Allianz aus Orthodoxie, autokratischer Führung und russischer Identität. Ein kleines, aber nicht unbedeutendes Element in seiner Kampagne, um die Russen für seine Sache zu gewinnen, war die Entscheidung im Jahr 2022, die Dreifaltigkeitsikone von Andrej Rublëv an das Kloster des Heiligen Sergius zurückzugeben, wo sie Jahrhunderte verbracht hatte, bevor sie nach der Revolution von 1917 in die Tretjakow-Galerie in Moskau überführt wurde. 

Marie Czernin hätte all dies nicht überrascht. Ihr war bewusst, und dies erläutert sie auch in ihrem Buch, dass verschiedene Herrscher im Lauf der Jahrhunderte die Dreifaltigkeitsikone und das Kloster für ihre politischen Ziele vereinnahmt haben. Doch ihr Buch verdeutlicht auch, dass die Geschichte der Ikone zwar einerseits untrennbar mit politischer Manipulation verquickt ist, die Ikone selbst jedoch andererseits – und dies ist weit bedeutender – eine erhabene Schönheit ausstrahlt sowie die ewige Suche nach spiritueller Wahrheit versinnbildlicht, etwas, das seit jeher zum Menschsein gehört, sich der politischen Kontrolle jedoch entzieht.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Marie Czernin: Die Dreifaltigkeitsikone des Andrej Rublëv. Mit einem Geleitwort von Christoph Kardinal Schönborn, Be+Be-Vlg. Heiligenkreuz 2024, HC, 215 S., ISBN 978-3-903518-07-0; Euro 29,90 – www.bebeverlag.at/

Das Geheimnis einer Ikone

Offenbarung einer göttlichen Realität

Von Marie Czernin († 2022)

Das Bezeichnende und Besondere an einer Ikone ist, dass sie für sich selber spricht, während ihr Urheber – sei er noch so talentiert und berühmt – in den Hintergrund tritt. Die Ikone bezeugt jenes Mysterium, das der Künstler mit seinem Pinsel nur andeuten und „umschreiben“ kann. Sie ist die Offenbarung einer anderen Realität, die wie ein Licht durch ein Fenster – die Ikone – in unsere Welt hineinscheint. Demnach ist der Ikonenmaler kein „Künstler“ – gemäß dem westlichen Verständnis des Künstlers als freien Interpreten des Sichtbaren –, sondern ein bescheidener Handwerker, eine Art „Fensterputzer“, wenn man so will, der das unsichtbare und überirdische Licht in den Raum eindringen lässt. Aber durch das Eindringen des überirdischen Lichtes wird der Ikonograf selbst allmählich durch dieses Licht verwandelt. Der Ikonograf begibt sich in eine Schule, wie die drei Apostel, die Jesus auf den Berg Tabor folgten und den Herrn im göttlichen Licht verklärt sahen: Gott selbst schenkte den Aposteln die Gnade, Jesus in seiner göttlichen Natur zu erkennen. Daher erblickten die Apostel Jesus nicht nur plötzlich in den Strahlen des göttlichen Lichts, sondern sie wurden selbst in dieses göttliche Licht verwandelt. Das ist der Grund, warum jeder Ikonograf als ersten Schritt „göttlicher Initiation“ zuerst eine Ikone der Verklärung „schreibt“, bevor er sich anderen Themen widmet.

Aus den vorhandenen Quellen und Chroniken jenes ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts geht deutlich hervor, dass sich der Malermönch Andrej Rublëv einer solchen Unterweisung und Einweihung durch seine spirituellen Meister, nicht zuletzt durch den politischen Visionär und Dreifaltigkeitsmystiker Sergij Radonežskij, unterzog und somit der Ikonenmalerei zu ihrer Zeit der Hochblüte verhalf.

Bis keine überzeugendere Dreifaltigkeitsikone aus jener Zeit entdeckt wird, die aufgrund ihrer Vollkommenheit und Schönheit dem Genie eines Andrej Rublëv gleichkommt, können wir weiterhin annehmen, dass es sich bei jener lichtdurchfluteten Troica um die Ikone jenes berühmten Ikonenmalers handelt, dessen Wirken selbst – wie die alten Quellen bezeugen – von jenem immateriellen Licht durchdrungen scheint.

Einem einfachen Maler mag es nicht ausreichend gelingen, das Mysterium der Dreifaltigkeit bildlich darzustellen und festzuhalten, insbesondere wenn er nicht von der göttlichen Gnade durchdrungen ist. Diese Erkenntnis brachte den großen russischen Denker und Theologen Pavel Florenskij während einer ausführlichen Zeit der Betrachtung von Rublëvs Troica[1] in der Dreifaltigkeits-Lavra (dem Dreifaltigkeitskloster, in das die Ikone 2023 zurückgekehrt ist) dazu, den bekannten Ausspruch René Descartes – cogito ergo sum – umzudeuten in den lakonischen Satz: „Es gibt die Troica Andrej Rublëvs, folglich gibt es Gott.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Marie Czernin: Die Dreifaltigkeitsikone des Andrej Rublëv. Mit einem Geleitwort von Christoph Kardinal Schönborn, Be+Be-Vlg. Heiligenkreuz 2024, HC, 215 S., ISBN 978-3-903518-07-0; Euro 29,90 – www.bebeverlag.at/

Symbolfigur des neuen Aufbruchs

Heiliger Seraphim von Sarow

Von Kindheit an verspürte Pfarrer Erich Maria Fink den Wunsch, einmal als Priester in Russland zu arbeiten. Doch wegen des Priestermangels stand sein Bischof diesem Plan zunächst ablehnend gegenüber. Als Pfr. Fink noch nicht wusste, dass er ab Januar 2000 für die Seelsorge in Russland freigestellt wird, besuchte er bereits in den 90er Jahren das Wirkungsfeld des hl. Seraphim von Sarow (1754-1833) in Zentralrussland. 1999 organisierte er sogar eine Pfarrwallfahrt zu heiligen Stätten der Russisch-Orthodoxen Kirche, allen voran zum Grab des hl. Seraphim in der Dreifaltigkeitskathedrale von Diwejewo. Denn 1994 hatte er Lehrerinnen mit ihrem geistlichen Mädchenchor aus Moskau kennengelernt, die eine Pilgerfahrt durch Deutschland machten und ihm das Geheimnis dieses Heiligen eröffneten, einer Symbolfigur des neuen Aufbruchs, die auch uns Katholiken viel zu sagen hat.

Von Erich Maria Fink

Ein orthodoxer Heiliger für die katholische Kirche?

Der heilige Seraphim von Sarow (1754-1833)[1] ist einer der bekanntesten und beliebtesten Heiligen der Russisch-Orthodoxen Kirche, wird aber auch von vielen Katholiken verehrt. Die katholische „Gemeinschaft der Seligpreisungen“ beispielweise hat ihn ausdrücklich als ihren Schutzpatron erwählt. Auch andere neue geistliche Bewegungen wie die Gemeinschaft „Chemin Neuf“ (Neuer Weg) sehen in seiner Spiritualität eine programmatische Bedeutung für unsere Zeit und rufen ihn in ihren gemeinsamen Gebeten an. Seraphim von Sarow ist bislang nicht in den offiziellen Heiligenkalender der römisch-katholischen Kirche, das sog. Römische Martyrologium, aufgenommen – wie z.B. die beiden frühen russisch-orthodoxen Heiligen Sergius von Radonesch (um 1314-1392) und Stefan von Perm (1340/45-1395) –, ist aber im Direktorium der katholischen Kirche in Russland am 15. Januar[2] aufgeführt. Ohne Zweifel hat er auch den Gläubigen anderer Konfessionen Wichtiges zu sagen.

In vieler Hinsicht weist der hl. Seraphim von Sarow Parallelen zu katholischen Heiligen seiner Zeit auf – wie dem hl. Jean-Marie Vianney (1786-1859), bekannt als der hl. Pfarrer von Ars, oder dem hl. Charbel Makhlüf (1828-1898), dem berühmten maronitischen Mönch vom Libanon. Gemeinsam ist diesen Heiligen das asketische Leben und die segensreiche Ausstrahlung auf ihre Mitmenschen, verbunden mit verschiedenen Charismen wie der Herzensschau oder der Gabe der Heilung.

Der Blick auf den hl. Seraphim von Sarow besitzt also eine besondere ökumenische Dimension. Es ist nicht zu übersehen, dass der Heilige Geist im Leben dieses orthodoxen Heiligen machtvoll gewirkt hat. Und so dürfen wir dem Aufruf des hl. Papstes Johannes Paul II. in seiner Ökumene-Enzyklika Ut Unum Sint (Damit sie eins seien) vom 25. Mai 1995 folgen, in der es heißt: „Durch den Ökumenismus wurde die Betrachtung von ,Gottes großen Taten‘ (mirabilia Dei) um neue Räume bereichert, in denen der dreieinige Gott das Wirken der Gnade weckt: die Wahrnehmung, dass der Heilige Geist in den anderen christlichen Gemeinschaften tätig ist; die Entdeckung von Beispielen der Heiligkeit; die Erfahrung der unbegrenzten Reichtümer der Gemeinschaft der Heiligen; der Kontakt mit unvorhersehbaren Aspekten des christlichen Engagements“ (Nr. 15). Gerade in der Verehrung von konkreten Heiligen anderer Konfessionen sah Johannes Paul II. einen Dienst an der Einheit der Christen. In demütiger Offenheit sollten wir anerkennen, dass der Heilige Geist die Schranken zwischen den Konfessionen überschreitet und auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche Heiligkeit hervorbringt (vgl. Nr. 12). Das habe bereits das II. Vatikanische Konzil in seinen Dokumenten unterstrichen – wie z.B. im Dekret Unitatis redintegratio über den Ökumenismus (besonders Nr. 15).

An der Hand der Gottesmutter

Die Gottesmutter spielte im Leben des hl. Seraphim von Sarow eine ganz besondere Rolle. Wichtige Weichenstellungen nahm er auf ihr Geheiß vor. Ohne ihre übernatürliche Führung wäre er wohl nicht in der Lage gewesen, noch im fortgeschrittenen Alter seine strenge Einsamkeit aufzugeben und künftig ganz für die Menschen da zu sein. Doch erst durch diesen entscheidenden Schritt gelangte sein Wirken zur vollen Blüte. Dabei war es nicht seine Initiative, die Hand der himmlischen Mutter zu ergreifen, vielmehr trat sie von sich aus schon früh in sein Leben ein.

Geboren wurde er am 19. Juli 1754[3] als drittes Kind von Isidor und Agafia (Agatha) Moschnin in der russischen Stadt Kursk, die rund 500 km südlich von Moskau liegt. Getauft wurde er auf den Namen Prochor (vgl. Apg 6,5). Sein Vater, der Kaufmann und Besitzer einer Ziegelei war, hatte den Auftrag für den Bau einer neuen Kathedrale in Kursk angenommen. Er starb jedoch bald nach der Geburt von Prochor, noch bevor er den Bau des Gotteshauses zu Ehren des hl. Sergius von Radonesch und der Ikone der Gottesmutter von Kasan abschließen konnte. Um der eingegangenen Verpflichtung nachzukommen, setzte seine Frau Agafia die Bauarbeiten fort. Als sie eines Tages den siebenjährigen Prochor mit auf die Baustelle nahm, stürzte dieser vom Gerüst des Glockenturms in die Tiefe. Auf wundersame Weise blieb er unverletzt.

Mit zehn Jahren erkrankte er so ernsthaft, dass man um sein Leben fürchtete. Da erschien ihm im Traum die Gottesmutter und versprach ihm, ihn zu besuchen und zu heilen. Dies sollte sich auf eindrückliche Weise erfüllen. Kurze Zeit später fand eine Prozession statt, bei der die wundertätige Ikone der Gottesmutter von Kursk durch die Stadt getragen wurde. Dargestellt ist die „Muttergottes vom Zeichen“ (vgl. Jes 7,14). Es handelt sich dabei um eines der ältesten Ikonenmotive, welches die Jungfrau Maria mit zum Gebet erhobenen Händen und vor ihrem Schoß in einer Aureole den göttlichen Erlöser als segnendes Kind zeigt. In dem Augenblick, als die Ikone vor dem Haus, in dem sich Prochor befand, vorbeigetragen wurde, setzte ein heftiger Platzregen ein. Die Träger suchten Zuflucht im Vorhof des Hauses und wollten auf diese Weise zugleich den Weg abkürzen. Da trug die Mutter ihren kranken Jungen hinaus, sodass er die Ikone verehren und ihren Segen empfangen konnte. Von diesem Augenblick an begann er zu genesen und erlangte die volle Gesundheit wieder.

Insgesamt wurden dem hl. Seraphim von Sarow, wie er gegen Ende seines Lebens selbst bezeugte, zwölf Erscheinungen der Gottesmutter zuteil. Mit mütterlicher Fürsorge begleitete sie ihn auf seinem Weg und kam ihm besonders dann zu Hilfe, wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Die letzte Erscheinung erfolgte am 25. März 1831, dem Hochfest der Verkündigung des Herrn, bei der ihm die Gottesmutter ankündigte: „Bald, mein Vielgeliebter, wirst du bei uns sein.“ Augenzeugin war die Nonne Jewdokia,[4] die der Heilige bewusst eingeladen und auf das Ereignis eingestimmt hatte. Während die beiden kniend in seiner Zelle beteten, erschien plötzlich Maria mit einer Schar von Heiligen. Sie war von einem so hellen Licht umstrahlt, dass Jewdokia zunächst in Ohnmacht fiel. Als sie wieder zu sich kam, sah sie den hl. Seraphim, wie er vor der Muttergottes stand und sich mit ihr „wie mit einem Verwandten“ unterhielt. Maria war umgeben von zwei Engeln, dem hl. Johannes dem Täufer, dem hl. Apostel und Evangelisten Johannes und von zwölf Jungfrauen, Märtyrerinnen der frühen Kirche, die sich alle namentlich vorstellten. Die Begegnung dauerte vier Stunden lang und bereitete den hl. Seraphim auf die letzte Etappe seines Lebens und sein Sterben vor.

Die Marienikone, welche der hl. Seraphim am innigsten verehrte und die auch seine Zelle schmückte, trägt den Titel „Freude aller Freuden“, eine Darstellung der Gottesmutter ohne das Jesuskind und mit übereinandergelegten Händen auf der Brust. Meist brannten viele Kerzen davor und seine Mitbrüder machten sich immer wieder Sorgen, dass er dadurch ein verheerendes Feuer auslösen könnte. Doch er beruhigte sie mit der Zusicherung, dies werde nicht passieren, solange er lebe, sondern erst wenn er sterbe. Als die Mönche am 2. Januar 1833 bemerkten, dass Rauch aus seiner Zelle aufstieg, öffneten sie die Türe und fanden ihn vor der Ikone kniend, die Hände über der Brust gekreuzigt, aber bereits aus dieser Welt geschieden.

Allen riet der hl. Seraphim, sich der Gottesmutter anzuvertrauen und das marianische Gebet zu pflegen, das dem Rosenkranz in der katholischen Kirche entspricht. Seine geheimnisvollen Worte über die Zeit des Antichristen lassen verstehen, dass dieser Ungeist, der immer mächtiger über die Welt hereinbrechen werde und den Glauben zu vernichten suche, keinen Zutritt zu den Herzen der Menschen habe, die ihren Weg an der Hand der Gottesmutter gehen.

Weg der Berufung zum Priestermönch

Trotz der übernatürlichen Gnadenerweise, die der hl. Seraphim in seinem Leben erfahren durfte, musste er seine Berufung auf dem „gewöhnlichen“ Weg finden, wie er jedem Gläubigen offensteht: Schriftlesung und Sakramentenempfang, Gebet und Betrachtung, Offenheit für den Rat weiser Menschen, kirchliches Leben und Gehorsam.

Schon in jungen Jahren besuchte Prochor so oft wie möglich den Gottesdienst, las die Psalmen des Stundengebets sowie Heiligenbiographien und ließ sich von einem frommen Mann seiner Heimatstadt Kursk unterweisen. Er hieß Josif (Josef), wurde „Narr um Christi willen“ genannt und trug den Ehrentitel „Starez“. Damit ist in der Ostkirche ein „älterer“, weiser Mann gemeint, der nicht unbedingt Mönch sein muss, aber mit seinem Charisma Suchende im geistlichen Leben unterweisen kann. Als bekanntester Starez des 19. Jahrhunderts sollte Prochor selbst einmal in die Geschichte eingehen.

Seine Mutter beobachtete mit Wohlwollen, wie in ihrem Sohn der Wunsch nach einem gottgeweihten Leben heranreifte, und schenkte ihm als Ausdruck ihres mütterlichen Segens ein kupfernes Kreuz, das er bis zu seinem Lebensende trug. Mit dem Entschluss, Mönch zu werden, pilgerte er 1776 nach Kiew zum berühmten Höhlenkloster, der Wiege des russischen Mönchtums. Er besuchte die Gräber der beiden Gründer Antonij (983-1073) und Feodossij (um 1034-1074), die – nach der Kirchenspaltung von 1054 – ebenfalls in den katholischen Heiligenkalender aufgenommen worden waren (Antonius und Theodosius von Kiew). Dort begegnete Prochor dem Starez Dosifej, der ihn segnete und ihm den Rat gab, in das Kloster von Sarow einzutreten. Dort werde er mit Gottes Hilfe seinen Weg auf Erden vollenden. Und er entließ ihn mit der Verheißung: „Der Heilige Geist, als Hort aller Güter, behütet dich und leitet dein Leben im Heiligtum deiner Gnade.“

Prochor befolgte den Rat und erreichte das Kloster, das sich 800 km nordöstlich seiner Heimatstadt Kursk befindet, am 20. November 1778. Abt des Klosters war zu dieser Zeit Vater Pachomij, der ebenfalls aus Kursk stammte und die Eltern des Neuankömmlings gekannt hatte. Im Rahmen der Vesper dieses Vorabends zum Fest der Einführung der Gottesmutter in den Tempel von Jerusalem nahm ihn Vater Pachomij als Novizen ins Kloster auf. Prochor arbeitete während seines Noviziats unter anderem als Bäcker und Tischler, zog sich aber schon damals oft in die umliegenden Wälder zum persönlichen Gebet zurück. 1780 erkrankte er schwer, doch die Ärzte konnten die Ursache für das Anschwellen seines Körpers nicht ermitteln. Drei Jahre hindurch war er fast ständig bettlägerig. Sein Zustand verschlechterte sich zusehends, bis ihm die Gottesmutter erschien und ihn mit einem Stab berührte. Die Schwellung nahm ab und er war geheilt. Am 13. August 1786 konnte er schließlich die Mönchsgelübde ablegen. Dabei erhielt er den Namen Seraphim, ein passendes Omen für sein künftiges Wirken. Denn dieses hebräische Wort bedeutet „der Entflammte“ oder „der Flammende“. Am 27. Oktober desselben Jahres wurde er zum Diakon und 1793 zum Mönchspriester geweiht.

Als Vater Pachomij 1794 starb, erhielt er von dessen Nachfolger Isaija die Erlaubnis, sich als Einsiedler in den Wald zurückzuziehen. Etwa fünf Kilometer vom Kloster entfernt baute er sich eine kleine fensterlose Zelle und versuchte in dieser seiner „Wüste“, den heiligen Antonius den Großen (251-356) nachzuahmen: ständig pflegte er das Herzensgebet (Jesusgebet), täglich feierte er die Heilige Liturgie und jede Woche las er die vier Evangelien. Er lebte von einem kleinen Gemüsegarten, den er neben seiner Hütte angelegt hatte, sowie von einem Bienenstock. Mehrere Jahre hindurch aber ernährte er sich nur von wilden Kräutern. Nach dem Vorbild der Säulenheiligen brachte er einmal tausend Tage und Nächte betend auf einem Stein zu und zog sich von 1807 bis 1810 in völliges Schweigen zurück. Nach diesen 16 Jahren Eremiten-Dasein folgte er der Aufforderung des neuen Abtes Nifont und kehrte ins Kloster zurück. Aber auch dort lebte er noch 15 Jahre lang in völliger Abgeschiedenheit. Erst 1825 öffnete er auf Anweisung der Gottesmutter die Tür seiner Zelle.

Bote der Freude

Von da an begann der hl. Seraphim, Besucher zu empfangen. Jeden begrüßte er mit den Worten: „Meine Freude! Christus ist auferstanden!“ Dabei bezeichnete er den Eintretenden selbst als seine Freude. Er hatte keine Hemmungen, auch Frauen und Klosterschwestern mit einer Umarmung oder einem Kuss willkommen zu heißen. Oft warf er sich vor dem Ankommenden demütig zu Boden. Und die Worte „Christus ist auferstanden!“, die nach allgemeinem Brauch nur von Ostern bis Christi Himmelfahrt ausgesprochen wurden, verwendete er das ganz Jahr hindurch.

Bei den Begegnungen hörte er seinem Gegenüber zunächst aufmerksam zu, um ihm dann in knapper Form entscheidende Lebensweisungen mit auf den Weg zu geben. Oft kam dabei seine Gabe der Herzensschau zur Geltung, durch welche er in die innersten Geheimnisse der Seelen vordringen konnte. Meistens ging es darum, die Hilfesuchenden im Gebet und in der Gottesbeziehung voranzubringen. Häufig erschloss er den Menschen ihren Berufungsweg, der ihnen teilweise sehr viel abverlangte, oder er machte sie auf die notwendigen Schritte zu einer echten Bekehrung aufmerksam. Ständig brachen Besucher in Tränen aus. Davon wird unter anderem von einem hartgesottenen General sowie von bekannten Adeligen berichtet. Immer wieder heilte er Kranke, denen die Ärzte nicht mehr weiterhelfen konnten. Nicht selten waren es am Tag 1000 bis 2000 Besucher, die er geduldig, demütig und herzlich aufnahm. Unzählige Zeugnisse belegen sein segensreiches Wirken als geistlicher Lehrer, Beichtvater und Ratgeber in allen Fragen des Lebens. Geheimnisumwoben blieb bis heute die Reise, die Kaiser Alexander I. im Jahr 1825 nach Sarow unternahm, um Starez Seraphim zu treffen.

In der Ausstrahlung des hl. Seraphim auf seine Mitmenschen bestätigt sich die tiefe Wahrheit, dass wir im Weinberg des Herrn nur das an andere weitergeben können, was wir zuvor von Gott empfangen haben. 70 Jahre lang hatte sich Seraphim vorbereitet, bis er schließlich die letzten acht Jahre seines Lebens zum Quell der göttlichen Gnade werden konnte. Er ließ sich zunächst vom Geist Gottes erfüllen, um so die Möglichkeit zu erlangen, andere zu erleuchten und aufzubauen. Darin wurde er letztlich auch Jesus selbst ähnlich, der 30 Jahre lang im Verborgenen gelebt hatte, bevor er dann die kurze Zeit von drei Jahren öffentlich auftrat und das Erlösungswerk vollbrachte.

Entflammt vom Heiligen Geist

Das Leben des hl. Seraphim von Sarow war ein einziges Wunder des Heiligen Geistes. Alles an seiner Gestalt spiegelte göttliche Gnadengaben wider. Im Gebet und im Absterben seiner selbst war er ganz durchlässig geworden für das Licht, das durch ihn in die Welt hineinstrahlen konnte.

Gleichzeitig lehrte er seine Mitmenschen, dass der Sinn des ganzen christlichen Lebens darin bestehe, immer mehr vom Heiligen Geist erfüllt zu werden. In seiner Familie hatte er gelernt, dass ein Kaufmann stets darauf bedacht sein muss, aus jedem Geschäft einen Gewinn zu ziehen. So müsse ein Christ jede Situation seines Lebens dazu nützen, Heiligen Geist zu erwerben. Und dies könne nur dadurch geschehen, dass er alles aus Liebe zu Christus tue, Gebet, Fasten, gute Werke, Arbeit und Ruhe, und zwar in dem Bewusstsein, dass er dadurch schon jetzt das himmlische Gut, den Heiligen Geist, in immer größerer Fülle erlange.

Über dieses Thema hatte der Gutsbesitzer und Friedensrichter Nikolaj Motowilow Ende November 1831 mit dem hl. Seraphim eine ausführliche Unterredung. Auf der Grundlage von Notizen, die Motowilow schon bald nach seiner Begegnung mit dem Heiligen gemacht hatte, wurde das Gespräch im Jahr 1903 unter dem Titel „Unterweisungen über den Erwerb des Heiligen Geistes“ veröffentlicht. Die Publikation enthält eines der wichtigsten Vermächtnisse, welche der hl. Seraphim seiner Nachwelt hinterlassen hat. Motowilow war durch den hl. Seraphim von einer schweren Krankheit geheilt worden und in seinen Dienst getreten. Er stand ihm vor allem beim Aufbau des Klosters im nahegelegenen Diwejewo zur Seite und verfasste nach dem Tod des Heiligen auch seine erste Biographie. – Das besagte Treffen fand in einer schneebedeckten Waldlichtung außerhalb des Klosters statt und wurde zu einem echten Tabor-Ereignis. Denn der hl. Seraphim erklärte dem jungen Nikolaj nicht nur die entscheidenden Zusammenhänge hinsichtlich des Lebens im Heiligen Geist, sondern bat Gott auch darum, ihn noch während der Begegnung diese Wirklichkeit unmittelbar erleben zu lassen. Da erschien das Gesicht des hl. Seraphim, der ihn mit verklärten Augen anblickte, plötzlich wie von der Sonne umstrahlt. Etwas später wurde auch Nikolaj selbst in dieses Licht hineingenommen. Gleichzeitig erfuhr er in seinem Herzen die Wirkungen des Heiligen Geistes, nämlich einen unaussprechlichen Frieden, ebenso Freude, Wärme und Glückseligkeit.

In dieser Spiritualität formte der hl. Seraphim ab 1825 auch das Frauenkloster von Diwejewo. Er nahm sich hingebungsvoll der Schwestern an und wurde ihr geistlicher Vater. Auf Weisung der Gottesmutter baute er neben dem Kloster einen eigenen Konvent für Jungfrauen auf, in den keine Witwen aufgenommen werden durften, wie es sonst der Brauch war. Die Gründung dieser „Gemeinschaft bei der Mühle“, wie sie genannt wurde, erfolgte am 9. Dezember 1826. Der Konvent ist mit zahlreichen prophetischen Worten des Heiligen über die Zukunft des Klosters und der ganzen Welt verbunden, die schwer zu interpretieren sind und rätselhaft bleiben.

Versöhnt mit Gott, Mensch und Schöpfung

Zu einem einschneidenden Erlebnis für den hl. Seraphim wurde ein Raubüberfall am 12. November 1804 in seiner Einsiedelei. Er befand sich gerade beim Holzhacken, als sich ihm zwei Räuber näherten, die in seiner Zelle Geld vermuteten. Er legte sein Beil vor sich auf die Erde, kreuzte die Arme über der Brust und sagte: „Ich nehme von niemandem Geld. Tut, was ihr nicht lassen könnt!“ Da ergriffen sie das Beil, schlugen ihn nieder und fesselten ihn. Bewusstlos und blutüberströmt ließen sie ihn liegen. Erst am nächsten Morgen kam er zu sich und schleppte sich mit letzter Kraft zum Kloster. Der Arzt konnte nur noch unheilbare Verletzungen feststellen. Doch wieder erschien ihm die Gottesmutter, dieses Mal zusammen mit den hl. Aposteln Petrus und Johannes. Er hörte, wie sie zu ihnen sagte: „Dieser ist von unserer Art!“ Bald wurde er gesund, konnte aber von da an nur noch gebückt und auf einen Stock gestützt gehen. In dieser Haltung ist er gewöhnlich auch auf den Ikonen abgebildet. Fünf Monate nach dem Verbrechen konnte er wieder in seine Einsiedelei zurückkehren. Sein überwältigendes Zeugnis aber bestand darin, dass er die Freilassung der beiden Räuber verlangte, welche ermittelt und festgenommen werden konnten. Denn er hatte ihnen vergeben. Nun drohte er sogar damit, Sarow zu verlassen, falls man seiner Bitte nicht nachkomme.

Wie der hl. Pfarrer von Ars oder der hl. Pater Pio von Pietrelcina (1887-1968) erlebte auch der hl. Seraphim von Sarow über mehrere Jahre hinweg tätliche Angriffe des Widersachers. Nachts hörte er oft ohrenbetäubendes Gebrüll, Geheule von fremden Raubtieren. Es kam vor, dass ihn der Teufel in die Luft riss und zu Boden schleuderte. Ein anderes Mal zerstörte er die Wände seiner Zelle, mit der Folge, dass sich wildes Getier auf ihn stürzte und ihn zu zerreißen drohte. Ein unerklärliches Vorkommnis sollte beweisen, dass es sich nicht nur um Wahnvorstellungen handelte. Eines Tages sah er eine Art Aufstand. Eine aufgehetzte Volksmenge brach seine Türe auf und warf einen riesigen Holzblock vor ihn hin. Es war die Kraft von acht Männern nötig, um den Block später zu entfernen. Wie bei Jesus in der Wüste war es ein Kampf, den der hl. Seraphim nicht für sich selbst führte, sondern stellvertretend für die Menschheit. Und es kam der Augenblick, da der Teufel vom hl. Seraphim mit dieser Art von Angriffen für immer abließ – der Weg für das Gnadenwirken Gottes war frei.

Einen besonderen Beistand erfuhr der hl. Seraphim durch einen großen Bären. Von Zeugen wird berichtet, dass der Bär regelmäßig bei seiner Zelle im Wald vorbeikam und von ihm gefüttert wurde. Mit ihm teilte der hl. Seraphim seine kärgliche Mahlzeit. Diese Geschichte erinnert an den hl. Hieronymus (348/349-420) und seinen Löwen in Bethlehem sowie an den hl. Franz von Assisi (1181 /1182-1226) und den Wolf von Gubbio. Sie spiegelt die umfassende Harmonie mit der Schöpfung wieder, welche jemand erlangen kann, der ganz mit Gott versöhnt ist.

Symbolfigur des neuen Aufbruchs

Der hl. Seraphim hatte einen Brief für den Zaren hinterlassen, der einmal nach Sarow kommen werde. Dies sollte sich 70 Jahre nach seinem Tod erfüllen. Nikolaus II. reiste anlässlich der Heiligsprechung des hl. Seraphim am 19. Juli 1903 nach Sarow und bekam den Brief überreicht. Der Inhalt soll den Zaren dazu bewogen haben, nach seiner Abdankung mit seiner Familie nicht ins ausländische Exil zu gehen, sondern für sein Volk in Russland zu bleiben und im äußersten Fall sogar sein Leben hinzugeben. Am 17. Juli 1918 wurde die Familie in Jekaterinburg von den Bolschewiken ermordet. Auf diesem Hintergrund kann auch verstanden werden, warum die Russisch-Orthodoxe Kirche die siebenköpfige Zarenfamilie nach der Perestroika am 20. August 2000 als Märtyrer heiliggesprochen hat, allerdings zusammen mit 1100 weiteren Märtyrern der Sowjetherrschaft.

In der Botschaft von Fatima wurde 1917 das Schicksal Russlands vorausgesagt, und zwar sowohl die atheistische Ideologie, die an die Macht kommen werde, und die damit verbundene Christenverfolgung als auch die anschließende Bekehrung Russlands. Ähnlich hatte der hl. Seraphim von Sarow fast 100 Jahre früher das Ende des Zarentums, die Verfolgung der Kirche und eine geistliche Auferstehung der russischen Nation prophezeit. So ist er nach der Perestroika zu einer wichtigen Symbolfigur für den neuen geistlichen Aufbruch in Russland geworden.

Sein Grab befindet sich in der Dreifaltigkeitskathedrale des Frauenklosters von Diwejewo etwa 15 Kilometer von Sarow entfernt. Der Ort hat sich inzwischen zu einem der bedeutendsten Wallfahrtszentren der Russisch-Orthodoxen Kirche entwickelt. Mit seinen heiligen Quellen und dem Brauch, dreimal unterzutauchen, erinnert das Heiligtum an den Pilgerbetrieb in Lourdes. Möge der heilige Seraphim von Sarow zu einem Fürsprecher aller Christen werden und den Weg für die Wiederherstellung der sichtbaren und vollkommenen Einheit zwischen orthodoxer und katholischer Kirche ebnen!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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[1] In der deutschsprachigen Literatur über den hl. Seraphim von Sarow ist bislang meist 1759 als Geburtsjahr angegeben. Bei dieser Datierung handelt es sich nach neueren historischen Forschungsergebnissen jedoch um einen Fehler. Inzwischen nennt die Russisch-Orthodox Kirche offiziell 1754 als das Jahr seiner Geburt.
[2] Seraphim von Sarow starb am 2. Januar 1833. Da die Russisch-Orthodoxe Kirche die sog. Gregorianische Kalenderreform vom Jahr 1582 nicht übernommen hat, begeht sie sein Gedenken 13 Tage später, also am 15. Januar. Dem schließt sich die katholische Kirche in diesem Fall an.
[3] Die Russisch-Orthodoxe Kirche begeht das Gedenken an die Geburt des hl. Seraphim von Sarow ebenfalls 13 Tage später, also nicht am 19. Juli, sondern am 1. August.
[4] Jewdokia (Eudokia) Jefremowna hieß später mit ihrem Klosternamen Mutter Jewpraksia.

Zum 80. Jahrestag des 20. Juli 1944

Stauffenbergs religiöse Wurzeln

Studiendirektor a. D. Jakob Knab hat sich mit der ganzen Kraft seiner Seele dem Widerstand gegen das Regime der Nationalsozialisten 1933 bis 1945 in Deutschland verschrieben. Kaum jemand hat so intensiv die religiösen Wurzeln der Protagonisten dieses Widerstands zu erforschen versucht wie er. Zum 80. Jahrestag des fehlgeschlagenen Attentats vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler wagt Jakob Knab auch einen Blick auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der die Sprengladung im Führerhauptquartier Wolfsschanze deponiert hatte. Stauffenberg war als Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres die Schlüsselfigur des Umsturzversuchs. Knab zeigt seine bewegte Entwicklung und sein ehrliches Ringen auf. Dabei arbeitet er vor allem die religiösen Wurzeln Stauffenbergs heraus, die seinen Charakter geformt und letztlich zu seinen Entscheidungen geführt haben. Stauffenberg wurde noch in derselben Nacht gemeinsam mit seinen Vertrauten im Hof des Berliner Bendlerblocks erschossen. Im Zug der Ermittlungen gegen die Verantwortlichen dieser Erhebung gegen das Regime wurden über 200 Personen hingerichtet.

Von Jakob Knab

Stauffenberg wurde am 15. November 1907 auf Schloss Jettingen im damaligen Königreich Bayern geboren. Schon seine drei Taufnamen Claus Philipp Maria zeugen von einer katholisch geprägten Tradition. Bei einer Aufführung von Schillers „Tell“ am traditionsreichen Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart hatte Stauffenberg in der Rolle Stauffachers beeindruckt:

Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht... / Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr / Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.

Im Jahr 1923 waren Claus und seine Brüder Berthold und Alexander dem Dichterfürsten Stefan George vorgestellt worden. Claus begeisterte sich für das Elitedenken des „Meisters“ Stefan George. Überdies hatte das Soldatische einen hohen Wert im „Geheimen Deutschland“ des „Meisters“. Bald gehörten sie zum Kreis um George und sie lernten, was ein Bund ist – etwas diesseits des Staates und jenseits der Freundschaft. Das Kultbuch war Georges „Stern des Bundes“ von 1914:

Den fremden schadern aber ruft getrost: / Hemmt uns! untilgbar ist das wort das blüht. / Hört uns! nehmt an! trotz eurer gunst: es blüht – / Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!

Nach dem Abitur im Februar 1926 war sein Berufsziel Offizier. Spätestens vom September 1930 an, mit dem Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen, wurden mit der Gestalt des „Führers“ Adolf Hitlers auch in den Offizierskasinos Hoffnungen verbunden: Jetzt sympathisierte auch Stauffenberg mit der NS-Bewegung. Gerne hörten er und seine Kameraden Hitlers Bekenntnisse zum Soldatentum und zum Militär als der „gewaltigsten Schule der Nation“. Unermüdlich wurde der „Schandfriede von Versailles“ verdammt.

Ende September 1933 heiratete Stauffenberg in der Bamberger St.-Jakobs-Kirche die Freiin Nina von Lerchenfeld. Sie stammte aus einer protestantischen Familie. Den Hochzeitsurlaub verbrachte das junge Paar in Rom. Am 4. Dezember 1933 starb Stefan George im Tessin. Die Brüder Stauffenberg hielten Totenwache an der Bahre des Meisters. Der Sarg wurde unter den Worten des Schlusschores aus dem „Stern des Bundes“ zu Grabe getragen:

„Gottes pfad ist uns geweitet / Gottes land ist uns bestimmt / Gottes krieg ist uns entzündet / Gottes kranz ist uns erkannt.“ 

Der Kranz mit dem Hakenkreuz auf der Schleife wurde erst am Tag danach überbracht.

Als Stauffenberg zusammen mit einem Offizierskameraden an einer Bamberger Parallelveranstaltung zum Nürnberger Parteitag 1934 in Uniform teilnehmen musste, verließen sie spontan durch den Mittelgang den Saal, als Julius Streicher, der Herausgeber des Hetzblattes „Der Stürmer“, in seiner Propagandarede gegen die Juden lästerte. Von 1936 bis 1938 besuchte Stauffenberg die Kriegsakademie in Berlin-Moabit. Bei der Abschlussfahrt der Generalstabsausbildung setzte er den gemeinsamen Besuch der Kaiserdome Speyer, Worms und Mainz durch. Er selbst führte durch diese Bauten von abendländischem Rang; hier beeindruckte und begeisterte er die Zuhörerschaft durch seine Bildung, sein Temperament und seine Redegewandtheit.

Die Ausschreitungen gegen die Juden in der Reichspogromnacht vom November 1938 erschütterten Stauffenbergs Einstellung zum Nationalsozialismus, so dass er danach erste Gespräch über Möglichkeiten zum Widerstand mit seinem Onkel, Graf Nikolaus von Üxküll-Gyllenband, führte. Hitlers riskante Politik während der Sudetenkrise verstärkten seine Zweifel: „Der Narr macht Krieg.“ Am 1. September begann mit dem Angriff der Wehrmacht auf Polen der Zweite Weltkrieg. Mitte September 1939, als Polen bereits besiegt war, schrieb Stauffenberg über das für ihn so trostlose Land: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu gebrauchen, arbeitsam, willig und genügsam.“ Aus diesen Worten spricht der deutsche Herrenmensch Graf Stauffenberg. Insgesamt wurden 1,5 Millionen polnischer Menschen ins Großdeutsche Reich verschleppt, um als Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft und in der Rüstungsindustrie eingesetzt zu werden. Als Stauffenberg Mitte Oktober 1939 aus dem Polenfeldzug zurückkam, war er von den Siegen der Wehrmacht berauscht. Es ist nicht bekannt, wie Stauffenberg auf Georg Elsers Attentatsversuch vom 9. November 1939 reagierte. Ende Mai 1940 sprach Stauffenberg zustimmend vom möglichen „Vernichtungskampf gegen England.“

Am 22. Juni 1941 überfiel Hitlers Wehrmacht die Sowjetunion. Während der Winterkatastrophe 1941/42 vor Moskau beteuerte der Generalstabsoffizier Stauffenberg: „Aber letzten Endes hat es noch keinen Krieg ohne Rückschläge und schwierige Situationen gegeben. Sie müssen in Gottes Namen überwunden werden.“  Er glaubte an den Sieg der deutschen Waffen. Freilich: Im Frühjahr und Sommer 1942 hatten ihn immer wieder Berichte über die Massenverbrechen an Kranken und an Menschen mit Behinderungen sowie über die Ausgrenzung, Gräueltaten und Massentötungen von Juden erreicht. In seinen Kontakten mit Mitgliedern des „Kreisauer Kreises“ erfuhr Stauffenberg von der gezielten Tötung psychisch kranker Menschen und von der fabrikmäßigen Vernichtung jüdischer Menschen.

Schritt für Schritt erkannte Stauffenberg die Bosheit Hitlers und des rassistisch motivierten Vernichtungskrieges. Die Verluste an der Kriegsfront sowie die Zeugenberichte über die Vernichtung der Juden verstärkten seine Zweifel angesichts von abgründigem Elend, verursacht von menschenverachtendem Rassenwahn, Ausrottung und Krieg. Im Sommer 1942 war er überzeugt, dass dieser mörderische Krieg nur beendet und das Deutsche Reich vor der totalen Niederlage bewahrt werden könnte, wenn Hitler getötet würde.  Vom Ende des Sommers 1942 an häufen sich Äußerungen Stauffenbergs über die Notwendigkeit, Hitler zu stürzen, der „ein Narr und ein Verbrecher“ sei.

Im August 1942, im Hauptquartier bei Winniza in der Ukraine, empörte sich Stauffenberg gegenüber einem Offizier, der sein Vertrauen genoss: „Die täglichen Berichte von Stäben über die Behandlung der Bevölkerung durch die deutsche Zivilverwaltung, der Mangel an politischer Zielgebung für die besetzten Länder, die Judenbehandlung beweisen, dass die Behauptung Hitlers, den Krieg für eine Umordnung Europas zu führen, falsch sind. Damit ist dieser Krieg ungeheuerlich.“

Nach einer Besprechung am 24. September 1942 sprang Stauffenberg auf und stieß hervor: „Hitler ist der eigentliche Verantwortliche; eine grundsätzliche Änderung ist nur möglich, wenn er beseitigt wird. Ich bin bereit, es zu tun!“

In jenem Sommer 1942 sprach Stauffenberg bei gemeinsamen Ausritten mit einem Stabsoffizier das brandgefährliche Thema der Tyrannentötung an. Der Offizier wandte ein, auch Tyrannenmord sei Mord. Stauffenberg hingegen berief sich auf Thomas von Aquin, dem bedeutendsten Theologen des Mittelalters. Dessen Lehrmeinung lässt sich so zusammenfassen: Wenn die Tyrannis ein unerträgliches Maß erreicht hat und wenn keine gewaltfreien Mittel und keine Hilfe von höherer Instanz gegeben sind, ist der gewaltsame Widerstand gegen die Tyrannis nicht als Aufruhr zu beurteilen, außer er erfolgt so ungeordnet, dass er mehr Unrecht und Leid bewirkt als die Tyrannentötung. Gegen den rechtmäßig an die Macht gekommenen Tyrannen darf nicht aus privater Anmaßung, sondern nur durch eine legitimierte öffentliche Autorität vorgegangen werden. Diese Fragen trieben Stauffenberg um. Um auch Stärkung durch einen Amtsträger der Kirche zu bekommen, suchte Stauffenberg etwa drei Wochen vor dem Attentat den Berliner Bischof Konrad Graf von Preysing auf; denn dieser wäre jene „Autorität“ gewesen, um Stauffenbergs geplante Tötung des Tyrannen den kirchlichen Segen zu erteilen. Nach dem Ende des Krieges schrieb Preysing an Stauffenbergs Mutter, die Gräfin Caroline, er habe ihrem Sohn nicht den Segen der Kirche erteilt, wohl aber seinen eigenen priesterlichen Segen.

Ende Januar 1943 bahnte sich die endgültige Katastrophe von Stalingrad an. Gleichzeitig forderten die Alliierten auf der Konferenz von Casablanca die „bedingungslose Kapitulation“ der Achsenmächte. Gleichzeitig wurde am 30. Januar 1943 in der Reichshauptstadt Berlin der zehnte Jahrestag der sog. „Machtergreifung“ gefeiert; Göring sprach vom „Heroenkampf“ in Stalingrad: „Der Kampf der 6. Armee wird in die Geschichte eingehen als ein Langemarck des Draufgängertums, als ein Narvik des Heldenmutes und als ein Stalingrad der Selbstaufopferung!“ Tags darauf kapitulierte die 6. Armee im Kessel von Stalingrad.

Am 3. Februar 1943 gab das „Führerhauptquartier“ bekannt: „Der Kampf um Stalingrad ist zu Ende.“ An diesem Tag kam Stauffenberg nach Berlin; dort erfuhr er, dass er nach Tunis zur 10. Panzer-Division versetzt würde, die Rommels Rückzug in Afrika deckte. Gleichzeitig war den Verschwörern klar, dass der Augenblick der Niederlage von Stalingrad genutzt werden müsse. Am 10. Februar flog Stauffenberg von München aus in Richtung Tunis. Ein Offizier seiner Division erinnert sich, dass Stauffenberg oft über Geschichte, Geographie, Literatur, auch Politik sprach. Aus seiner religiösen Einstellung machte er kein Geheimnis; seine religiöse Einstellung habe zu seinen „Geschäftsgrundlagen“ gehört. Dies sei für einen Offizier des Generalstabes eher ungewöhnlich gewesen.

Am 7. April 1943 wurde Stauffenberg schwer verwundet; die rechte Hand, der kleine Finger und der Ringfinger der linken Hand und das linke Auge mussten amputiert werden. Am 21. April wurde er in das Reserve-Lazarett München aufgenommen. Am Karfreitag, den 23. April 1943, sah ihn seine Frau zum ersten Mal seit seiner Verwundung. Als ihn sein Vetter Markwart Graf Stauffenberg im Juni besuchte, fragte er nach den Studenten von der „Weißen Rose“. Sein Vetter meinte, die Mehrzahl der Studenten sympathisiere nicht mit dem Regime, aber auch nicht mit der Gruppe der „Weißen Rose“ und ihrem Aufstand. Stauffenberg meinte, Deutschland brauche also wohl das ‚Führerprinzip‘. In den langen Wochen im Lazarett sagte er immer wieder: „Wir müssen Deutschland retten.“

Nach seiner Genesung wurde Stauffenberg im Oktober 1943 Stabschef im Allgemeinen Heeresamt Berlin und anschließend beim Befehlshaber des Ersatzheeres. Mit ihm kam jene dynamische Spannung in den Widerstand, an der es so lange gefehlt hatte. Stauffenberg war von dem inneren Feuer eines Menschen erfüllt, der die Aufgabe seines Lebens vor sich sah. In seinen Kontakten mit Mitgliedern des „Kreisauer Kreises“ und des Widerstands erfuhr Stauffenberg auch mehr von den Ungeheuerlichkeiten, die den Juden und den Geisteskranken von den Nazis angetan wurden.

Im Juni und Juli 1944, in den Wochen vor dem Attentat, zitierte Stauffenberg mit Vorliebe Stefan Georges Gedicht „Der Widerchrist“, das in großen, entrückten Bildern von der Sinnverwirrung spricht, die die Herrschaft des Antichrist heraufführen: 

Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich / Kein schatz der ihm mangelt / kein glück das ihm weicht./ Zu grund mit dem rest der empörer! / Ihr jauchzet / entzückt von dem teuflischen schein / Verprasset was blieb von dem früheren sein / Und fühlt erst die not vor dem ende.

Am 6. Juni 1944, dem sog. D-Day, als die alliierten Streitkräfte in der Normandie landeten, hielt sich Jesuitenpater Alfred Delp, der zur Mitte des „Kreisauer Kreises“ gehörte, in Bamberg auf. Am Abend besuchte er Stauffenberg in dessen Privatwohnung. Schon am nächsten Tag war Oberst Stauffenberg als Chef des Stabes des Allgemeinen Heeresamts Berlin zum Vortrag im „Führerhauptquartier“ auf dem „Berghof“ auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden. „Hitlers Augen“ – so der Eindruck Stauffenbergs – „seien wie hinter Schleiern, hinter einem Vorhang gewesen, die Atmosphäre faul und verrottet, als bekäme man keine Luft.“ Am Tag darauf nahm Stauffenberg in Uniform an der Fronleichnamsprozession in Berchtesgaden teil. Hier legte er ein öffentliches Bekenntnis zu seiner katholischen Herkunft ab.

Am Abend vor dem Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 ließ Stauffenberg seinen Wagen vor der Rosenkranz-Basilika an der Grenze zwischen den Berliner Stadteilen Dahlem und Steglitz anhalten. Zur Zeit des Abendgottesdienstes trat er in die Kirche ein. Vor dem linken Seitenaltar verweilte er vor dem Votivbild mit der Rosenkranz-Madonna. Es trägt eine lateinische Inschrift: „ACCIPE SANCTUM GLADIUM A DEO“ (dt. „Empfange das heilige Schwert von Gott“). Es steht uns frei, uns auszudenken und uns vorzustellen, wie wohl diese Inschrift auf Stauffenberg wirkte. Diese Stelle ist dem zweiten Buch der Makkabäer entnommen und lautet: „Nimm das heilige Schwert, das Gott dir schenkt. Mit ihm wirst du die Feinde schlagen“ (2 Makk 15,16). Mit den „Feinden“ sind die Feinde Israels gemeint. Im Zweiten Buch der Makkabäer geht es um die Verfolgung der jüdischen Religion, um den Aufstand des Judas Makkabäus, um das Martyrium der sieben Brüder und ihrer Mutter sowie um die Reinigung des entweihten Tempels. Stauffenberg konnte diese Zusammenhänge nicht ahnen, als er am Abend vor der Tat „im hinteren Kirchenraum verharrte“...

Das Attentat und der Umsturz vom 20. Juli 1944 scheiterten. Noch am Abend wurde das Todesurteil vollstreckt. Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg starb mit dem Ruf: „Es lebe das heilige Deutschland!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2024
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