Liebe Leser
Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel
Wir erleben gerade einen einzigartigen geistesgeschichtlichen Vorgang. Unerbittlich prallen zwei Welten aufeinander. Zwei Positionen, die sich gegenseitig ausschließen, treten zeitgleich auf unübersehbare Weise in Erscheinung: das Zeugnis der katholischen Kirche für das christliche Menschenbild und die unverhohlene Abkehr Europas von seinem christlichen Wertefundament. Auf der einen Seite veröffentlicht das Dikasterium für die Glaubenslehre das Dokument „Dignitas infinita“ über die Menschenwürde, auf der anderen Seite erheben die politischen Volksvertreter in Europa die Abtreibung in den Rang eines Menschenrechts.
Die Ansätze könnten widersprüchlicher nicht sein. Sie stehen einander gegenüber wie das Reich Gottes, das mit dem Erlösungswerk des Sohnes Gottes angebrochen ist, und das Reich des Antichristen, der sich dem göttlichen Rettungsplan widersetzt und das Volk des Neuen Bundes mit allen Mitteln bekämpft. Schon im Neuen Testament kündigte der hl. Apostel Johannes an, der Antichrist werde die Menschheit täuschen und eine letzte Konfrontation zwischen Gut und Böse herbeiführen. Zwar zieht sich diese Auseinandersetzung wie ein roter Faden durch die ganze zweitausendjährige Geschichte des Christentums hindurch, doch nimmt sie in unseren Tagen Formen an, wie sie noch vor kurzer Zeit unvorstellbar waren.
Der Titel „Dignitas infinita“ bedeutet zu Deutsch die „unendliche“ bzw. „nicht zu reduzierende Würde“ des Menschen. Das Dokument ist nicht zufällig auf den 25. März 2024, das Hochfest der Verkündigung des Herrn, datiert. Veröffentlicht wurde es am 8. April, an dem heuer dieses Fest liturgisch nachgefeiert wurde, da es in die Karwoche fiel. In vielen Ländern der Welt, vor allem in Südamerika, wird es als „Tag des ungeborenen Lebens“ begangen. Neben zahlreichen anderen Verstößen gegen die Würde des Menschen wird im Dokument gerade die Abtreibung als besonders schwerwiegendes und verwerfliches Verbrechen gebrandmarkt. Denn, so Papst Franziskus, wenn wir uns über die unveräußerliche Menschenwürde hinwegsetzen, die jedem Kind vom Augenblick der Empfängnis an zukommt, stehen alle Menschenrechte auf dem Spiel.
Ohne Zweifel wird die Erklärung „Dignitas infinita“ als herausragender Meilenstein des kirchlichen Lehramts in die Geschichte eingehen und als „Markenzeichen“ des derzeitigen Pontifikats in Erinnerung bleiben. Nicht etwa, weil das Dokument die Würde eines jeden Menschen so überzeugend oder philosophisch unwiderlegbar begründet hätte, auch nicht, weil es die aktuellen Verletzungen der Menschenwürde umfassend und differenziert dokumentiert hätte. Vielmehr zeigt Papst Franziskus seine Souveränität und Unabhängigkeit gegenüber dem aggressiven Mainstream und dem weltweiten gesellschaftspolitischen Druck. Unbeirrt stellt er das katholische Menschenbild der Agenda der neuen Welt mit ihrer absoluten Selbstbestimmung entgegen. Das Recht auf assistierten Suizid lässt deutlich werden, wie die Auflehnung gegen Gott unweigerlich in die „Kultur des Todes“ einmündet und letztlich zum Untergang führt.
Papst Franziskus bringt viele heiß umkämpfte Themen zur Sprache. Überrascht hat er auch mit der eindeutigen Ablehnung der Gender-Theorie, welche die Unterschiede der Geschlechter auszulöschen versuche. Der Mensch dürfe nicht der uralten Versuchung nachgeben, sich selbst zu Gott zu machen. Wie die Faust aufs Auge passt dazu das neue Selbstbestimmungsgesetzt der Bundesregierung, nach dem jeder nach Belieben sein Geschlecht wählen kann. Immer mehr ist die Kirche zum Bekennermut herausgefordert, sei es im Verständnis von Ehe und Weiheamt, sei es im medizinischen Bereich, wo katholische Krankenhäuser zunehmend ihre Lizenz verlieren werden. Jedenfalls lässt „Dignitas infinita“ das Petrusamt als Felsen aufleuchten, den die Pforten der Hölle nicht zu überwältigen vermögen. So wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, auf die Fürsprache Mariens, der Mutter aller Menschen, einen gesegneten Marienmonat Mai!
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Die Kirche ist Garantin und Mitstreiterin
Bedingungslose Verteidigung der Menschenwürde
In brennenden Fragen unserer Zeit bringt die Erklärung „Dignitas infinita“ über die unantastbare Würde des Menschen die Position der Kirche unmissverständlich zum Ausdruck. Sie bleibt bei ihrem strikten Nein zu Abtreibung und Sterbehilfe. Ebenso lehnt sie Leihmutterschaft grundlegend ab, auch Geschlechtsumwandlung, außer zur medizinischen Behebung von Anomalien. Sie verurteilt die Gendertheorie als Irrlehre, insofern sie den Unterschied der Geschlechter aufzuheben versucht. Gegen die Menschenwürde verstoßen nach der Erklärung auch Armut, Krieg, Leiden der Migranten, Menschenhandel, sexueller Missbrauch oder Gewalt gegen Frauen. Diesen mahnenden Ruf begrüßen die Bischöfe Österreichs, wie der Salzburger Erzbischof und Vorsitzende der Bischofskonferenz Dr. Franz Lackner in einer Stellungnahme unmittelbar nach der Veröffentlichung des Dokuments unterstrichen hat.
Von Erzbischof Franz Lackner, Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz
Es ist sehr zu begrüßen, dass die Kirche mit „Dignitas infinita“ erneut das Wort für die Würde und Rechte aller Menschen ergreift und sich selbst als Garantin und Mitstreiterin für ihren Erhalt vorstellt.
Die Würde des Menschen gilt ausnahmslos
Die unendliche Würde der Person, die von keiner anderen menschlichen Instanz verliehen oder genommen werden kann und darf, ist Ergebnis und Errungenschaft einer großen Begegnung: jener der philosophischen Kultur des antiken Griechenlands und der religiösen Offenbarung des Judentums und des Christentums. Der Begriff der Person, wie er Jahrhunderte später Eingang in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gefunden hat, nahm hier seinen Anfang. Diese Personenwürde gilt somit ausnahmslos für alle Menschen, immer und überall – jene, die glauben; jene, die nicht glauben; alle Geschlechter, alle Altersstufen, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, Geborene und Ungeborene.
Geschöpf Gottes, der selbst Mensch geworden ist
Der christliche Glaube ist immer persönlicher Glaube. Die Würde der Person ist hier unverrückbar wesenseigen, denn der Mensch ist persönlich Geschöpf Gottes; als Mensch hat Gott, der Sohn, sich inkarniert und so all unsere Existenz mitgetragen; im ewigen Heil durch seine Erlösungstat liegt schließlich auch das je persönliche Ziel aller Menschen in allen Zeiten und an allen Orten.
Vielfache Herausforderungen und Angriffe
Die Menschenwürde ist heute vielfach Herausforderungen und Angriffen ausgesetzt – manche direkt, manche indirekt. Menschliches Leben und der ihm eigene Wert wird oftmals bereits an seinem Anfang wie auch an seinem natürlichen Ende negiert, dazwischen vielfach von Krieg und Gewalt bedroht. Gleichzeitig fristen Unzählige in Armut und Not ihr Dasein – besonders diese Armut prangert Papst Franziskus wiederholt an. Auch werden Frauen immer wieder Opfer von gesellschaftlicher Benachteiligung, Diskriminierung oder gar direkter körperlicher Gewalt. In nicht wenigen Regionen der Welt werden Menschen allein aufgrund ihrer Orientierung oder Lebensweise verfolgt oder gar getötet.
Mahnende Stimme für die Menschlichkeit
Mit „Dignitas infinita“ bekräftigt die Kirche die grundsätzliche Würde aller, immer und überall; gleichzeitig stellt sie klar, dass aus eben jenem Personenverständnis heraus menschliches Leben und Lebensweise vor Ideologisierungen geschützt werden müssen. Weiterhin wird die Kirche die Würde des Menschen im gesellschaftlichen Kontext bedingungslos verteidigen. Sie tut dies mit einer Klarheit, die nicht immer auf Verständnis und Einigkeit mit manchen Sichtweisen heutiger Zeit stoßen kann. Nicht alle Standpunkte werden gerne gehört; die Stimme der Kirche ist auch mahnend, ruft zum Innehalten auf. Jedoch ist sie klar eine Stimme für den Menschen, für seine Würde und Rechte, und damit für die Menschlichkeit.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Die Menschenrechte stehen auf dem Spiel
Deutliche Worte zur Abtreibung
Beim Thema Abtreibung wird die Erklärung besonders deutlich. Papst Franziskus stellt klar: An der Verteidigung des ungeborenen Lebens hängen alle Menschenrechte. Und gerade im Blick auf die Tötung der Ungeborenen im Mutterschoß sollten wir bedenken: Wenn wir es vom Glauben her betrachten, dann ,schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor dem Angesicht Gottes nach Rache und ist Beleidigung des Schöpfers des Menschen‘. Ausführlich erinnert die Erklärung an die Aussagen des hl. Papstes Johannes Paul II. und zitiert auch die Stelle: „In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: ,Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen‘ (Jes 5,20).“ Wer denkt nicht sofort an die Versuche, der Abtreibung einen Menschenrechtscharakter zu verleihen.
Erklärung „Dignitas infinita“, Nr. 47
Die Kirche hört nicht auf, daran zu erinnern, dass „die Würde eines jeden Menschen einen intrinsischen Charakter [hat] und sie gilt von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Gerade die Bejahung dieser Würde ist die unveräußerliche Voraussetzung für den Schutz der persönlichen und sozialen Existenz und zugleich die notwendige Bedingung für die Verwirklichung von Brüderlichkeit und sozialer Freundschaft unter allen Völkern der Erde."[1]
Besonders schwerwiegendes und verwerfliches Verbrechen
Auf der Grundlage dieses unantastbaren Wertes des menschlichen Lebens hat sich das kirchliche Lehramt stets gegen die Abtreibung ausgesprochen. In diesem Zusammenhang schreibt der heilige Johannes Paul II.: „Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und verwerflich machen. […] Doch heute hat sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des Vergehens nach und nach verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewusstseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, selbst dann, wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht. Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: ,Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen‘ (Jes 5,20). Gerade in Bezug auf die Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen Sprachgebrauchs festzustellen, wie die Formulierung ,Unterbrechung der Schwangerschaft‘, die darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen und ihre Schwere in der öffentlichen Meinung abzuschwächen. Vielleicht ist dieses sprachliche Phänomen selber Symptom für ein Unbehagen des Gewissens. Doch kein Wort vermag die Realität der Dinge zu ändern: die vorsätzliche Abtreibung ist, wie auch immer sie vorgenommen werden mag, die beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz."
Die Schutzlosesten und Unschuldigsten von allen
Ungeborene Kinder sind somit „die Schutzlosesten und Unschuldigsten von allen, denen man heute die Menschenwürde absprechen will, um mit ihnen machen zu können, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und Gesetzgebungen fördert, die erreichen, dass niemand das verbieten kann“.[3] Deshalb muss auch in unserer Zeit mit aller Kraft und Klarheit festgestellt werden, dass „diese Verteidigung des ungeborenen Lebens eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden [ist]. Sie setzt die Überzeugung voraus, dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen. Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben keine festen und dauerhaften Grundlagen für die Verteidigung der Menschenrechte; diese wären dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligen Machthaber unterworfen. Dieser Grund allein genügt, um den unantastbaren Wert eines jeden Menschenlebens anzuerkennen. Wenn wir es aber auch vom Glauben her betrachten, dann ,schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor dem Angesicht Gottes nach Rache und ist Beleidigung des Schöpfers des Menschen‘."[4] Hierbei verdient das großzügige und mutige Engagement der heiligen Teresa von Kalkutta für die Verteidigung jeder empfangenen Person in Erinnerung gerufen zu werden.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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[1] Franziskus: Ansprache an die Vollversammlung der Kongregation für die Glaubenslehre (21.01.2022), in: L’Osservatore Romano (21.01.2022), S. 8.
[2] Hl. Johannes Paul II.: Enz. Evangelium vitae (25. März 1995), Nr. 58, in: AAS 87 (1995), S. 466-467. Zur Frage der Achtung gegenüber menschlichen Embryonen siehe Kongregation für die Glaubenslehre: Instr. Donum vitae (22. Februar 1987): „Die Praxis, menschliche Embryonen in vivo oder in vitro für experimentelle oder kommerzielle Zwecke am Leben zu erhalten, steht in völligem Widerspruch zur menschlichen Würde“ (I, 4), in: AAS 80 (1988), S. 82.
[3] Franziskus: Ap. Schreiben Evangelii gaudium (24. 11.2013), Nr. 213, in: AAS 105 (2013), S. 1108.
[4] Ebd.
Marsch für das Leben voller Frische und Lebensfreude
Pro-Life ohne Wenn und Aber
Bischof Dr. Rudolf Voderholzer von Regensburg rief in seiner Ansprache beim Münchner Marsch für das Leben am 13. April 2024 den Teilnehmern zu: „Wir geben denen eine Stimme, die noch keine oder keine mehr haben, und diese Stimme werden wir uns nicht verbieten lassen. Wer uns daran hindern will, ist ein Feind der Demokratie.“ Mit dabei waren auch die Weihbischöfe Florian Wörner (Augsburg) und Thomas Maria Renz (Rottenburg-Stuttgart). Die Bischöfe von Eichstätt und Passau, Gregor Maria Hanke und Stefan Oster, steuerten ein Grußwort bei.
Von Kristijan Aufiero
Unter den unterschiedlichsten Überschriften melden dieser Tage die Medien, dass die Geburtenzahlen in Deutschland regelrecht implodieren. Immer weniger Kinder werden geboren. Gleichzeitig meldete das Statistische Bundesamt, dass parallel dazu die Abtreibungen im vergangenen Jahr hierzulande dagegen auf Rekordniveau lagen.
Zukunftsangst – Gesellschaft im Krisenmodus
In den Artikeln finden sich unterschiedliche Hypothesen über die Ursachen des drastischen Geburtenrückgangs: Da ist die Rede von schlechter Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es gebe zu wenig Kita-Plätze. In manchen Berichten wird ein Phänomen thematisiert, das wir aus unserer täglichen Beratung nur zu gut kennen: Es herrscht Angst. Immer weniger Menschen blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Immer mehr junge Paare fragen sich, ob man in diesen Zeiten überhaupt noch eine Familie gründen kann und soll.
Pandemie, Krieg und Klimawandel: Seit Jahren ist die Gesellschaft im Krisenmodus. Immer mehr Frauen schreiben uns, dass es ihnen unverantwortlich vorkommt, ein Kind zur Welt zu bringen bzw. ausgerechnet noch in diese Welt „hineinzugebären“. Es häufen sich E-Mails, in denen Schwangere sich fragen, ob es nicht egoistisch sei, jetzt ein (weiteres) Kind zu bekommen. Und sie fragen sich, welche Zukunft dieses Kind haben wird? Ob das Leben, das ihrem Kind bevorsteht, überhaupt noch lebenswert sein kann?
Jedes Leben ist schön, kostbar und lebenswert
Auf diese unheilvolle Entwicklung gibt es im Grunde genommen keine bessere Antwort, als jeder einzelnen Schwangeren in Not, die doch eigentlich die Zukunft und Hoffnung in sich trägt, zu sagen, wie wertvoll und schön das Leben ist!! Wie kostbar jedes Leben ist und was für ein Geschenk es für diese Welt bedeutet. Es gibt keine wichtigere Aufgabe, als diesen verzweifelten Frauen Mut zuzusprechen, ihnen die Hoffnung zurückzugeben und ihnen zu versichern, dass sie diese Welt nicht schlechter, sondern besser machen, wenn sie ihrem kleinen Baby das Leben schenken!
Individuelle und persönliche Beratung und Hilfe war und ist immer notwendig, wo eine endgültige Entscheidung über Leben und Tod zu treffen ist. Aber ebenso wichtig und bedeutsam ist es heute – vielleicht mehr denn je –, der allgemein verbreiteten Hoffnungslosigkeit die wundervolle Botschaft der Kultur des Lebens entgegenzusetzen: Jedes Leben ist kostbar und wert, geliebt und gelebt zu werden!
Der einzig richtige Weg
Vor diesem Hintergrund war der Münchner Marsch fürs Leben, der am Samstag, den 13. April, wieder durch die Straßen der bayerischen Landeshauptstadt gezogen ist, eine sichtbare Manifestation der Kultur des Lebens, ein starkes Ausrufezeichen der Hoffnung, das nicht wirkungslos bleiben kann. Über 4.500 Teilnehmer strahlten auf dem Königsplatz und beim anschließenden Marsch mit der Sonne um die Wette und feierten gemeinsam ein buntes, großes Fest des Lebens.
1000plus hatte entschieden, den Münchner Marsch fürs Leben in diesem Jahr als Partner zu unterstützen und zu fördern. Und der Marsch war in seiner Frische und Lebensfreude, mit seinen vielen jungen Menschen und Familien, ein unübersehbarer Beweis dafür, dass tatsächlich sehr viele Menschen auch inmitten unserer bedrückenden Zeit „Pro-Life ohne Wenn und Aber“ sind. Sie alle haben genauso deutlich wie fröhlich – sehr zum Ärgernis der rund 1.000 Gegendemonstranten – Zeugnis von ihrem Glauben an die Zukunft und an den Wert und die Schönheit eines jeden Lebens gegeben. Sie alle haben „den Stillen eine Stimme gegeben“ – jenen, die noch keine, oder die in unserer Gesellschaft keine mehr haben. Die Klänge der Bayernhymne und die vielen bunten, blauen und gelben Luftballons stiegen am Ende als Zeichen der Hoffnung gen Himmel. Und mit ihnen die Botschaft und das Versprechen, dass unser bedingungsloses Ja zum Leben ein ebenso verlässliches Ja zu jeder Schwangeren in Not, ihren Babys und Familien ist – und dass sie jederzeit und bedingungslos auf echte Hilfe und unsere Nächstenliebe zählen können.
Info: Der 5. Münchner Marsch fürs Leben findet am 3. Mai 2025 statt.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Zu den Empfehlungen der Kommission der Bundesregierung
Hilfe für die Betroffenen?
Zu den Empfehlungen der „Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ im Hinblick auf Abtreibung sagt Alexandra Linder, Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht e.V.: „Sie bringen Frauen im Schwangerschaftskonflikt in noch größere Nöte.“
Von Alexandra Linder
Abtreibung soll gemäß der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission erwartungsgemäß teilweise ganz legalisiert werden, in Abhängigkeit vom vorgeburtlichen Kindesalter. In den ersten Lebenswochen des Kindes seien die Grundrechte der Mütter höher zu werten. Menschenwürde würde damit rechtlich stufenweise gewährt und manchen Menschen auch verwehrt, abhängig von willkürlich gesetzten Bedingungen und Fähigkeiten. Dies würde für alle nicht erwünschten Kinder sowie Kinder mit Krankheiten und genetischen Besonderheiten lebensbedrohlich. Die Schutzpflicht des Staates soll für diese Lebensphase aufgegeben werden, was faktisch durch den fahrlässigen Umgang mit dem bestehenden § 218, ohne vollständige Statistik, Prüfung und Motivforschung, sowie durch teils schlechte Beratung bereits der Fall ist.
Die Empfehlungen der Kommission bringen Frauen im Schwangerschaftskonflikt in noch größere Nöte. So soll die Beratung zwar ausgebaut werden, aber keine Pflicht mehr sein. Dies entspringt einer vollkommen lebensfremden Einschätzung. Denn in der Realität bekommen vor allem diejenigen Frauen, die Beratung und Schutz vor (männlichem) Druck am meisten brauchen, durch die Beratungspflicht eine Zugangs- und Schutzmöglichkeit, die sie ohne diese Pflicht nicht mehr haben. Und besonders in den ersten Wochen einer Schwangerschaft, in denen die Kommission eine schrankenlose Abtreibungsfreigabe empfiehlt, brauchen diese Frauen besonderen Schutz vor Abtreibungsdruck und einen zeitlichen Schutzraum für Lebensentscheidungen. Diese beiden wichtigen Schutzfaktoren für Schwangere in besonderen Konfliktlagen – darunter vor allem sozial benachteiligte Frauen, junge alleinstehende Frauen und Frauen mit Migrationshintergrund – würden bei Umsetzung der Kommissionsvorschläge vollständig entfallen.
Es gibt keine wissenschaftliche Studie, die nachweist, dass Abtreibung einen psychischen oder physischen Nutzen für Frauen hat. Es gibt keinen Nachweis dafür, dass Abtreibung den Respekt vor Frauen oder die Emanzipation und die Stärkung von Frauen fördert. Es gibt keinen Beleg dafür, dass Abtreibung die Müttersterblichkeit senkt. Hingegen weisen viele Studien und Analysen nach, dass Abtreibung negative Folgen für Frauen haben kann und meistens keine selbstbestimmte, sondern häufig durch Männer herbeigeführte Entscheidung ist, was das Argument einer vorgeblichen Emanzipation von und Errungenschaft für Frauen endgültig konterkariert.
Daher sind die aktuellen Entscheidungen und Vorlagen zu dieser Thematik anders zu betrachten: In Deutschland sind sie im Rahmen der Strategie zu werten, möglichst viele vernunftmäßig unhaltbare bis absurde Ideologieprojekte durchzubringen, solange man die Möglichkeit dazu hat. Dass man sich seiner Sache dennoch nicht ganz so sicher ist, bestätigt unter anderem die einseitige Besetzung der Kommission. Die Ergebnisse dieser Woche zeigen einmal mehr, dass sich Abtreibungs-Protagonisten im Grunde weder für die betroffenen Menschen und ihre Lebenslagen noch für die Gesellschaft interessieren.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Redebeitrag auf dem Münchner Marsch für das Leben
Wir hier verteidigen Kinderrechte
Birgit Kelle (geb. 1975), Mutter von vier Kindern, wurde in Siebenbürgen/Rumänien geboren. Sie arbeitet als freie Journalistin und ist Autorin verschiedener Bestseller wie der Feminismus-Kritik „Dann mach doch die Bluse zu“, der satirischen Genderkritik „GenderGaga“ und der Streitschrift für Freiheit, Respekt und Selbstbestimmung der Frau mit dem Titel „Muttertier“. Ein brandaktuelles Thema behandelt sie in ihrem neuesten Buch „Ich kauf mir ein Kind: Das unwürdige Geschäft mit der Leihmutterschaft“,[1] erschienen am 19. März 2024. In der deutschen Medienlandschaft und in diversen Parlamenten ist sie gefragte Expertin in den Themenkomplexen Gender, Frauen- und Familienpolitik. Neben anderen Rednern wie Isabel Vaughan-Spruce begeisterte auch sie die Teilnehmer am Marsch für das Leben in München.
Von Birgit Kelle
Liebe Freunde, ich sehe so viele bekannte Gesichter hier und ich freue mich, wieder bei einem Marsch für das Leben zu sprechen. Es ist schön zu sehen, wie vielfältig die kleinen und großen Initiativen sind, ich begrüße alle meine langjährigen Weggefährten von der Aktion Lebensrecht für Alle, von den Christdemokraten für das Leben, Sundays For Life, die Jugend für das Leben, 1000plus, und viele mehr.
Man darf einen Menschen nicht aussortieren
Ich sehe Junge und Alte und Familien, manche sind von weither angereist, um ein Zeichen zu setzen, dass wir uns nicht damit abfinden werden, dass wir es nicht zur Normalität werden lassen, dass in einem der reichsten Länder der Erde Frauen sich alleingelassen fühlen und daran zweifeln, ob sie ein Kind bekommen können. Wir sind hier, weil uns jeder Mensch gleich wertvoll ist und wir nicht nur von Vielfalt reden, sondern sie auch dann leben, wenn andere glauben, man dürfe einen Menschen aussortieren, weil er gerade ungelegen kommt, nicht den gesundheitlichen Normen entspricht, zu viel Anstrengung bereitet oder auch nur das falsche Geschlecht hat.
Wir nehmen Anfeindungen mit Gelassenheit hin
Es wird ja immer viel Geschrei gemacht, wenn in Deutschland ein Marsch für das Leben ansteht. Wir werden auch heute wieder auf unserem friedlichen Marsch aggressiven Menschen begegnen, die uns anschreien mit den immer selben Parolen seit Jahrzehnten. Jedes Mal, wenn ein Marsch für das Leben stattfindet, wird aufs Neue versucht, auch in den Medien diese friedliche Demonstration zu diskreditieren. Wir sind das gewohnt, nehmen wir es mit Gelassenheit hin. Sie wissen nicht, was sie tun. Sie wissen nicht, dass wir auch für sie kämpfen, damit auch sie immer noch als lebenswert und liebenswert gelten, auch dann, wenn sie alt und krank sind und Geld und Mühe kosten.
Die Politik will uns zum Schweigen bringen
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sich für die Schwächsten in unserer Gesellschaft einzusetzen, für die ungeborenen Kinder, für Mütter in Not, ist politisch weder rechts noch links, sondern sogar Auftrag unserer Verfassung. Es wäre die Aufgabe jedes anständigen Menschen und auch jeden Politikers, egal aus welcher Partei, sich für das Leben dieser Kinder und ihre Rechte einzusetzen.
Wir lassen uns nicht für politische Grabenkämpfe missbrauchen, die sowieso nur ein Ziel haben: Man will uns lieber zum Schweigen bringen, anstatt über die Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe oder auch Leihmutterschaft zu reden. Und deswegen ist es gut, dass hier einige Tausend stehen, die sich nicht abschrecken lassen und trotzdem kommen und damit sagen: Wir lassen uns nicht den Mund verbieten und auch nicht die ausgestreckte helfende Hand.
Liebe Freunde, aktueller könnten wir hier nicht stehen. Gerade erst hat man in Berlin neue Vorschläge auf den Tisch gelegt, um Abtreibung zu legalisieren – oder um es im Beamtensprech der Ampel-Ideologen zu formulieren: Man will die Abtreibung außerhalb des Strafrechtes regeln. Übersetzt in die Realität bedeutet diese Forderung der Legalisierung innerhalb der ersten 12 Wochen jedoch, dass wir als Gesellschaft zustimmen sollen, dass man in den ersten 12 Wochen ein Kind töten darf, weil es gar kein Kind sein soll.
Wie sollte man einen Menschen spenden oder kaufen können?
Man kann sich zudem jetzt schon ausmalen, wie sich diese Forderung in den kommenden Jahren immer weiter verschieben wird, bis wir dort sind, wo man in New York heute schon steht: dass es bis zum Eintritt der Wehen angeblich immer noch kein Kind mit Menschenwürde ist und kein Lebensrecht besitzt.
Aber damit nicht genug, auch die Eizellspende, die Embryonenspende und sogar die Leihmutterschaft will man für den deutschen Markt möglich machen. Meine lieben Freunde, wie sollte man einen Menschen spenden können? Oder kaufen?
Manche wissen es wahrscheinlich, ich habe gerade erst ein aktuelles Buch herausgegeben über das unwürdige Geschäft der Leihmutterschaft und ich kann Ihnen allen nur sagen: Es gibt keinen guten Weg, ein Kind absichtlich von seiner Mutter zu trennen, weder im Mutterbauch, noch nach der Geburt. Es gibt keinen guten Weg, eine Frau wie einen Brutkasten zu benutzen, als sei sie eine seelenlose Hülle ohne Gefühle.
Diese Regierung will Kinderrechte in die Verfassung stellen?
Kinder sind keine Spielzeugpuppen, die man verschenkt, kauft oder verkauft. Ich will kein einziges Wort mehr über Kinderrechte in diesem Land hören, wenn wir uns im 21. Jahrhundert nicht darauf einigen können, dass auch kleine Menschen volle Menschenrechte genießen.
Diese Regierung will unseren Kindern zwar neuerdings das Recht geben, ihr Geschlecht zu wechseln, aber nicht das Recht, in jedem Alter wie ein Mensch und nicht wie eine Sache behandelt zu werden.
Diese Regierung will Kinderrechte in die Verfassung stellen, sieht aber seelenruhig zu, wie mitten in Deutschland sogenannte Babywunschmessen stattfinden, auf denen Agenturen aus der ganzen Welt Verkaufsgespräche führen und deutsche Kunden beraten, wie man das deutsche Leihmutterschaftsgesetz umgeht und sich aus Zypern, aus der Ukraine, aus Georgien, aus den USA oder aus Mexiko ein Kind kauft.
Ich habe es selbst erlebt, wie man mir vor gerade mal vier Wochen für 50.000 Euro ohne Probleme ein garantiert gesundes Kind im Geschlecht meiner Wahl angeboten hat. Mitten in Berlin. Man bleibe mir also fern mit Forderungen nach Kinderrechten. Ich kann Ihnen eines sagen: Wir hier verteidigen Kinderrechte, nicht die in Berlin!
Jedes Jahr werden rund 100.000 Kinder eben nicht geboren
Als ob es damit nicht genug wäre, will unsere Bundesregierung sogar gesetzlich verbieten, dass noch irgendjemand vor einer Abtreibungsklinik auch nur stillstehen darf, um zu protestieren. Man will verhindern, dass über das große Tabu geredet wird, dass ein Grund für den Geburtenrückgang in Deutschland auch jener ist, dass wir zusehen, wie jedes Jahr rund 100.000 Kinder eben nicht geboren werden,
• weil ihre Mütter sich in Not fühlen,
• weil sie keine Unterstützung aus ihrem Umfeld bekommen und
• weil sie nicht selten sogar von ihren Partnern dazu gedrängt werden.
Jede anständige Feministin müsste hier bei uns mitlaufen, anstatt uns am Wegrand anzuschreien.
Hier sind Tausende, die sagen: Wie schön, dass du eine Mutter bist!
Wir sind heute nicht hier, um Frauen zu verurteilen, sondern um eine Hand auszustrecken, damit sie wissen, dass sie nicht allein sind. Wir sind hier, weil wir nicht hinnehmen wollen, dass man in unserem Land das Töten von Kindern zu einer medizinischen Dienstleistung machen will und Medizinstudenten dazu zwingen will, sich an diesem Unrecht zu beteiligen.
Wir sind hier, weil es nicht eine Errungenschaft, sondern ein Drama ist, Frauen die Abtreibung zu bezahlen, anstatt ihnen zu helfen, das Kind großzuziehen.
Ich stehe als Frau und Mutter hier, die selbst erlebt hat, wie es ist, wenn man ungeplant schwanger ist, mit den Nerven runter und dieses kleine Wesen im Bauch einem die ganze Welt auf den Kopf stellt. Ich habe erlebt, wie wichtig es ist, dass man in diesem Moment auf Menschen trifft, die sagen: Oh wie schön, dass du Mama wirst – und nicht nur auf die Reichsbedenkenträger, die sagen: Oh mein Gott! Ohne Menschen wie Sie alle hier hätte ich heute vielleicht nicht vier großartige Kinder. Also lasst uns gleich auf die Straße gehen und diese Botschaft aussenden an alle Frauen, die gerade vor einer Situation stehen, die sie zu überfordern scheint, damit sie wissen, hier sind Tausende, die sagen: Wie schön, dass du eine Mutter bist.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Birgit Kelle: Ich kauf mir ein Kind – Das unwürdige Geschäft mit der Leihmutterschaft, FinanzBuchVerlag, Softcover, 256 Seiten, ISBN: 978-3-95972-770-9, Euro 18,00 – https://www.m-vg.de
In der Frage des Lebens scheiden sich die Geister
Ein Wettlauf ums Leben
Bei seiner Osterpredigt im Augsburger Dom am 31. März 2024 forderte Bischof Dr. Bertram Meier die Gläubigen auf, entschiedene Anwälte für das Leben zu werden. Ein leuchtendes Vorbild im Einsatz für das Leben sei der hl. Papst Johannes Paul II. gewesen. Wir alle müssten dazu beitragen, „dass das Wort des heiligen Papstes nicht die Stimme eines ‚einsamen Rufers in der Wüste‘ bleibt“. Und er nannte die aktuellen „Anschläge auf das Leben“: angefangen von der Manipulation im Reagenzglas über die Verankerung des Rechts auf Abtreibung in der französischen Verfassung bis hin zur geplanten Streichung des Paragraphen 218 (Strafgesetzbuch) in Deutschland. Wir dürfen den Dingen nicht ihren Lauf lassen, so Bischof Meier, denn die Frage nach dem Leben sei unsere Überlebensfrage als Christen.
Von Bischof Bertram Meier, Augsburg
Zeugnis geben vom „Evangelium vitae“, von der Frohen Botschaft des Lebens, das ist unsere Mission als Kirche. Eindringlich erinnert der hl. Papst Johannes Paul II. in seiner gleichnamigen Enzyklika (1995), „durch den Aufbau einer echten Zivilisation der Wahrheit und der Liebe eine neue Kultur des Lebens“ zu verwirklichen (Nr. 6). Der Papst ermahnt uns: „Die Verpflichtung zum Dienst am Leben lastet auf allen und auf jedem einzelnen. Es handelt sich um eine kirchliche Verantwortlichkeit im eigentlichen Sinn, die das aufeinander abgestimmte Handeln aller Mitglieder und aller Gruppierungen der christlichen Gemeinde erfordert“ (Nr. 79).
Ich wünsche uns allen, dass wir uns in der Frage nach dem Leben nicht auseinanderdividieren lassen. Die Frage nach dem Leben ist unsere Überlebensfrage als Christen. An diesem Punkt scheiden sich die Geister. Hier zeigt sich, wes Geistes Kinder wir sind. Grundsätzlich gibt es zwei Einstellungen zum Leben. Die einen sagen: Leben – das ist unsere Sache. Das machen wir schon, darüber verfügen wir. Wir sind die Herren des Lebens. Was ist das Ergebnis? Menschen, die sich selbst machen wollen, eine Gesellschaft der Macher – letztlich nichts als Mache. Es trägt nicht.
Das Leben selbst machen wollen: Dahinter steckt eine überhebliche „Prometheus-Haltung des Menschen (...), der sich derart der Illusion hingibt, Herr über Leben und Tod werden zu können, dass er über sie entscheidet, während er in Wirklichkeit von einem Tod überwunden und erdrückt wird, der sich jeder Sinnperspektive und jeder Hoffnung unrettbar verschließt“ (Nr. 15). Das Leben machen: Das kann bei der Manipulation im Reagenzglas beginnen. Und es geht weiter, wenn es heißt: Mein Bauch gehört mir – mit der Folge, Abtreibung als in der Verfassung verankertes Recht zu proklamieren, wie es unlängst in Frankreich im historischen Schloss Versailles geschehen ist.
Mit der geplanten Streichung des Paragraphen 218 (Strafgesetzbuch) sind wir auch in Deutschland auf dem besten Weg dazu. Was tun wir als Christinnen und Christen? Ich danke den engagierten Laien, den Politikerinnen und Politikern, die sich für den Schutz des Lebens einsetzen – von der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Doch mitunter sind wir versucht, uns schüchtern zurückzuhalten. Wir lassen den Dingen ihren Lauf – und dann reiben wir uns die Augen, wo wir gelandet sind. Wie am Anfang, so am Ende: Dann kann man schließlich sich selbst und anderen das Leben nehmen – unter dem Deckmantel der Nächstenliebe. Wie am Anfang, so am Ende „Anschläge auf das Leben“, wie Johannes Paul es wiederholt beim Namen nannte. Es braucht auch heute Stimmen, die auf der Seite der Schwachen und Ungeschützten stehen. Tragen wir dazu bei, dass das Wort des heiligen Papstes nicht die Stimme eines „einsamen Rufers in der Wüste“ bleibt. Es ist das „Evangelium vom Leben“, das er unermüdlich und unbestechlich verkündet hat. Papst Johannes Paul war ein Anwalt des Lebens. Es ist die Lebenseinstellung, an der die Geister sich scheiden.
Wir Christen wissen: Nicht wir sind Herren über Leben und Tod. Nicht wir sind es, die das Leben geben und es uns wieder nehmen können. Unser Leben ist weniger Tat als vielmehr Gabe, weniger unser Werk als vielmehr Geschenk. Das gilt für die ganze Schöpfung. Das gilt für den Menschen. Das gilt auch für die Kirche. Sind wir nicht manchmal geneigt zu meinen, wir müssten mit unseren Aktivitäten Jesus am Leben erhalten oder gar zum Leben erwecken?
Wer sind wir denn! Wir müssen weder Jesus retten noch die Kirche, die seine ist. Das ist nicht unser Werk. Das ist Gottes Vorgabe, sein Geschenk an uns. Was uns aufgetragen ist: Diener am Evangelium des Lebens zu sein. Seit Ostern sind wir das „Volk des Lebens“. Ich wünsche uns, dass wir immer mehr „das Volk für das Leben“ werden (vgl. Nr. 101). Unsere Stimme ist gefragt als Anwälte für das Leben.
Am ersten Ostermorgen war ein Wettlauf zum Grab. In unserer Zeit laufen wir um das Leben, um das Leben der Welt! Wie schön, wenn wir Christen die siegreiche Mannschaft wären. „Das ist der Tag, den Gott gemacht.“ Amen. Halleluja.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Abkehr vom christlichen Menschenbild
Europa am Scheideweg
Das Europäische Parlament hat am 11. April 2024 eine Resolution verabschiedet, nach der ein fundamentales Recht auf Abtreibung in die EU-Grundrechte-Charta aufgenommen werden soll. Mit 336 Ja-Stimmen, 163 Gegenstimmen und 39 Enthaltungen fordern die Abgeordneten die Mitgliedsstaaten auf, im Rahmen der „sexuellen und reproduktiven Gesundheit“ Abtreibungen vollständig zu entkriminalisieren und alle Hindernisse zu beseitigen, die den Zugang hierzu erschweren. Im Visier stehen insbesondere Polen und Malta, welche bislang an strengen Gesetzen zum Schutz des ungeborenen Lebens festhalten. Der Antrag ruft auch dazu auf, EU-Fördermittel für Organisationen, die gegen das Recht auf Abtreibung arbeiten, zu streichen. Die Föderation der Katholischen Familienverbände in Europa (FAFCE) kritisierte die Resolution scharf. Vincenzo Bassi, Präsident der FAFCE, bezeichnete die Abstimmung als „zynisches politisches Manöver“ im Vorfeld der Europawahlen. Er betonte, dass Abtreibungsregelungen in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen und durch das Prinzip der Subsidiarität geschützt sind. Auch die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V. zeigte sich entsetzt über das Votum des Europäischen Parlaments. Ein Statement der Bundesvorsitzenden Cornelia Kaminski.
Von Cornelia Kaminski
Die Annahme der Resolution, die die Aufnahme eines „Rechts auf Abtreibungen“ in die EU-Grundrechte-Charta fordert, ist eine menschliche Bankrotterklärung eines Parlaments, dessen Gründer sich einst verpflichtet hatten, eine europäische Wertegemeinschaft zu erschaffen. Sie ist eine Schande für Europa. Sie ist zugleich Wasser auf die Mühlen all derjenigen, die im geeinten Europa nicht mehr das Versprechen von Freiheit und Frieden sehen, sondern vielmehr eine Gefahr für die Grundrechte eines Teils ihrer Bürger.
Nicht nur, weil Fragen, die die Gesundheitspolitik und Abtreibungsgesetzgebung betreffen, überhaupt nicht in den Kompetenzbereich der EU, sondern in jene der 27 Mitgliedstaaten fallen, sondern vor allem, weil die Tötung eines unschuldigen und wehrlosen Menschen niemals ein Recht und schon gar kein Grundrecht sein kann. Wer ein „Recht“ auf Tötung ungeborener Kinder in den Rang eines europäischen Grundrechts erhebt, verhält sich barbarisch und begräbt damit eine Vielzahl anderer Grundrechte: Ärzte werden sich nicht länger unter Berufung auf ihre Gewissensfreiheit weigern können, an vorgeburtlichen Kindstötungen mitzuwirken. Kirchliche Krankenhäuser werden sich nicht mehr unter Berufung auf ihre Religionsfreiheit darauf berufen können, keine Abtreibungen anzubieten. Lebensrechtler werden sich nicht mehr unter Berufung auf ihre Meinungs- und Demonstrationsfreiheit öffentlich für die ungeborenen Kinder einsetzen dürfen.
Der große Protest in den Mitgliedsstaaten zeigt mehr als deutlich, dass nicht nur Lebensrechtler die Resolution für skandalös erachten. Auch die Bischofskonferenzen und Laienorganisationen zahlreicher EU-Mitgliedsstaaten haben die Resolution mit scharfen Worten kritisiert.
Das alles hat die Parlamentarier unberührt gelassen – wohl aus wahltaktischem Kalkül. Die Abtreibungslobby zählt seit jeher zum Wählerklientel der Grünen und Linken. Es ist jetzt die Aufgabe der EVP-Fraktion, sich klar zu den Menschenrechten aller Menschen zu bekennen. Ein starkes Europa kann nur ein Europa der Menschenrechte für alle sein: Wer diese nicht bereit ist, konsequent zu vertreten, muss sich nicht wundern, wenn bei den Wahlen die Stimme an Parteien gegeben wird, denen die europäische Union selbst ein Dorn im Auge ist.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Vision für die letzte Phase der Synode über die Synodalität
Maria und die Kirche
Agostino Kardinal Marchetto (geb. 1940) stammt aus der norditalienischen Stadt Vicenza. In der dortigen Kathedrale wurde er am 28. Juni 1964 zum Priester geweiht. Als Kurienerzbischof arbeitete er lange Jahre im diplomatischen Dienst des Vatikans. Von 2001 bis 2010 war er Sekretär des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs. Seither widmet er sich der wissenschaftlichen Forschung über das Zweite Vatikanische Konzil. Papst Franziskus, der ihn als „den besten Hermeneutiker des Zweiten Vatikanischen Konzils“ bezeichnete, ernannte ihn am 30. September 2023 zum Kardinal. In der Basilika Santa Maria di Monte Berico bei Vicenza hielt er am Barmherzigkeitssonntag, den 7. April 2024, einen Dankgottesdienst, bei dem er eine Ansprache über „Maria und die Kirche“ hielt. Anlass dazu bot ihm das Marienheiligtum, das auf zwei Marienerscheinungen am 7. März 1426 und am 1. August 1428 während einer schrecklichen Pestepidemie zurückgeht.
Von Agostino Kardinal Marchetto
Das Thema meiner Predigtmeditation ist die Verbindung zwischen Maria und der Kirche, deren Mutter und Urbild sie ist, wie das Zweite Vatikanische Konzil bezeugt, und zwar der Kirche, die aus dem Wort Gottes lebt. Ich glaube in der Tat, dass das Insistieren auf diese Verbindung und Beziehung unsere traditionelle marianische und, wie ich zu betonen wage, kirchliche Frömmigkeit auf eine gute Weise nähren und erneuern kann, in einem delikaten Augenblick der Geschichte der „Kirche als einem einzigen Subjekt“, nach der Großen Zweiten Vatikanischen Synode, wie ich sie immer genannt habe.
Damit wird sofort die Verbindung klar, die in unserer heutigen marianischen und kirchlichen Vision mit der dogmatischen Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils besteht (Dei Verbum Nr. 2 und 8 sowie Lumen Gentium Nr. 53, 61, 62 und 63). Sie unterstreicht die dialogische und auch bräutliche Dimension des Offenbarungsgeschehens. Und dies führt uns zu einer neuerlichen Lektüre des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens Verbum Domini von 2012 (Nr. 6, 124 und insbesondere 28), in dessen Schlussfolgerung die „wahre Größe Marias“ gepriesen wird, d.h. ihr Glaube, der sie selig macht und aufgrund dessen sie es verdient, von jedem Christen als „Mater Verbi“ (Mutter des Wortes) und „Mater laetitiae“ (Mutter der Freude) anerkannt zu werden.
1. Die personale Dimension der Offenbarung
Es geht um die personale und personalisierende Dimension der Offenbarung. Ich halte an diesem Punkt inne, weil die persönliche Gestalt Marias die dialogische Perspektive der Offenbarung unmittelbarer lesbar macht. Gewiss ist die Kirche die Empfängerin des Wortes, aber Maria ist – wie wir sagten – ihr „Modell und ihre bleibende Form“, die „erste Kirche“, „die personale Verkörperung der Kirche“. Wenn man Maria, eine einzelne Person, betrachtet, erkennt man leichter, dass sich das Wort Gottes an jeden einzelnen auf einzigartige Weise richtet (VD 22), und es geht noch weiter. Der Rückgriff auf Maria als Frau – Jungfrau, Braut und Mutter – begründet eine „bräutliche Ekklesiologie“, die „von sich aus das Klima der Liebe und der Gegenseitigkeit schafft, das die Betrachtung der Heiligen Schrift begünstigt“. Nun, indem Maria das Wort aufnimmt und ihm mit der völligen Hingabe ihrer selbst antwortet, entdeckt sie ihr wahres „Ich“. Es ist ein Beweis dafür, wie sehr die Annahme des Wortes Gottes uns „personalisiert“, uns wachsen lässt, uns unsere persönliche Berufung offenbart (VD 27).
2. Die Tradition als pneumatisches Ereignis
Der zweite Punkt ist das Herzensgedächtnis Marias, das Herz des Geheimnisses der Tradition. Ich sage hier, dass das Beispiel Marias uns hilft, unseren Blick auf das zu erneuern, was die Tradition ist. Ein außergewöhnliches Zeugnis dafür ist ihr Magnificat, das „ganz aus den Fäden der Heiligen Schrift gewoben ist, aus Fäden, die dem Wort Gottes entnommen sind“ (VD 28). Maria allegorisiert, indem sie sich Worte, die Jahrhunderte zuvor gesprochen worden sind, zu eigen macht, wie z.B. die Worte des Hanna-Liedes. Von der Mutter Samuels bis zur Mutter Christi sind mehr als tausend Jahre vergangen, aber es ist dasselbe Wort, gereift, bereichert durch die ganze große messianische Erwartung Israels, das Wort der Barmherzigkeit, dieser Richtungspfeil, der das ganze Alte Testament durchdringt und der auf den hinweist, der kommen soll, den Messias, den Retter. Die von Hanna ausgesprochenen Worte erhalten ihre volle Bedeutung auf den Lippen Marias. Das „Herzensgedächtnis“ der Gottesmutter besteht nicht in einer festen, materiellen, toten Erinnerung; es ist vielmehr eine „innere Begegnung mit dem Ereignis“, mit den Wort-Ereignissen des Lebens Jesu. So ist auch das „Gedächtnis der Kirche“, die Tradition, ein pneumatisches Ereignis. Die Überlieferung, die von den Aposteln ausgeht, schreitet in der Kirche mit Hilfe des Heiligen Geistes voran (DV 7 und 8).
Diese Vision vertraue ich Ihnen und Ihrem Gebet für die letzte Phase der Synode über die Synodalität an, die, wie wir sagen können, der Heilige Geist in Zusammenarbeit mit uns allen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen wird.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Möglichkeit persönlicher Begegnung mit Gott
Gottes Fügungen wahrnehmen
Kann der Mensch die Wege der Vorsehung Gottes erkunden? Dieser Frage geht Dr. Richard Kocher im dritten Beitrag der Artikelserie über den Vorsehungsglauben nach. Einerseits müsse sich der Gläubige vor der Anmaßung hüten, die verborgenen Pläne und Absichten Gottes erforschen zu wollen. Er müsse sich dem Geheimnis Gottes beugen und sich vertrauensvoll seinem unergründlichen Willen fügen. Andererseits aber sei er verpflichtet, nach dem Willen Gottes zu fragen und seiner Führung zu folgen. In dieser Spannung gelte es, den Weg seines Lebens zu finden und seiner persönlichen Berufung gerecht zu werden. Eine wertvolle Hilfe sieht Pfr. Kocher im praktischen Vorsehungsglauben, wie ihn P. Josef Kentenich, der Gründer der Schönstatt-Bewegung, entwickelt hat.
Von Richard Kocher
1. Die Anmaßung, Gottes Willen erkunden zu wollen
Die Wege der göttlichen Vorsehung erkunden zu wollen, scheint von vornherein ein Unternehmen menschlicher Anmaßung zu sein. Mit der Stelle bei Jesaja, nach der die Gedanken und Wege Gottes nicht die Gedanken und Wege der Menschen sind (vgl. Jes 55,8), dürfte diese Absicht schwer zu vereinbaren sein. „Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen, oder wer begreift, was der Herr will?“ (Weish 9,13). Gottes Absichten sind für den Menschen unerforschlich (vgl. Röm 11,33). Was wäre das auch für ein Gott, der von Menschen erfasst werden könnte? Es wäre sicher nicht mehr jener, der sich in der Bibel offenbart als mysterium tremendum et fascinosum.
Bruder Juniper in Thornton Wilders Roman „Die Brücke von San Luis Rey“
Der forsche Anspruch, genau zu wissen, wie es um die Pläne Gottes in einzelnen konkreten geschichtlichen Belangen bestellt ist, kann kaum eingelöst werden. Als warnendes Beispiel, Gottes Willen nicht vorschnell mit Geschichtsereignissen zu identifizieren, kann auf Bruder Juniper in Thornton Wilders „Die Brücke von San Luis Rey“ verwiesen werden. Der Roman Wilders spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Peru. Die berühmteste, von Inkas aus Weidenzweigen geflochtene Brücke des Landes, die nach dem Namen des heiligen Königs Ludwig von Frankreich benannt wurde, brach am 20.7.1714 auseinander und riss fünf Reisende wie zappelnde Ameisen in den tödlichen Abgrund. Der Franziskanermönch Juniper wurde Zeuge des Unglücks. Er hatte als nächster die Brücke überqueren wollen. Die Frage beschäftigte ihn, warum gerade jene Menschen sterben mussten. „Wenn es überhaupt einen Plan im Weltall gab, wenn dem menschlichen Dasein irgendein Sinn innewohnte, musste er sich, wenn auch noch so geheimnisvoll verborgen, sicherlich in diesen fünf so jäh abgeschnittenen Lebensläufen entdecken lassen. Entweder leben wir durch Zufall und sterben durch Zufall, oder wir leben nach einem Plan und sterben nach einem Plan.“ Der kleine Franziskaner fasste den Entschluss, die Lebensgeschichte der jäh Dahingerafften zu erforschen und eine Art „Denkschrift über den Unglücksfall“ herauszugeben. Mit großer Akribie setzte er seinen Plan in die Tat um. Jahrelang klopfte er an den Türen Limas und stellte tausende von Fragen. Das Ergebnis seiner Nachforschungen fasste er in einem mächtigen Folianten zusammen. Ziel seiner Arbeit war es, der Theologie ihren Platz unter den exakten Wissenschaften zu sichern. Das Ergebnis stand für Bruder Juniper von vornherein fest. „Er wollte es bloß beweisen, historisch, mathematisch beweisen, zu Nutz und Frommen seiner Bekehrten.“ Es kam, wie es zu erwarten gewesen war: Juniper scheiterte an seiner selbstgestellten Aufgabe: „Es gelang ihm letztlich nicht, die zahllosen und verwirrenden Einzelheiten zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammenzufügen.“ Sein tragisches Lebensende erscheint wie ein Sinnbild für das Scheitern seines Unternehmens: Er wurde von der Inquisition als Ketzer öffentlich verbrannt mitsamt seinem Folianten.
Das British Empire als Bestätigung für göttliche Erwählung?
Wenn ein Brite verflossener Tage das British Empire als Bestätigung dafür ansah, dass Gott das britische Volk auserwählt habe, so ruft das bei uns heute nur ein müdes Lächeln hervor. „Für Gottes Auserwählung liegen uns hier zu viel raffinierte Geschäfte und glückliche Zufälle und zu wenig religiös-prophetischer Geist vor. Das stete Hochkommen des gottlosen Kommunismus vermögen wir jedoch wieder als vorsehende Mahnung Gottes zu deuten, dass sich die christlichen Konfessionen endlich in Liebe zusammensuchen, statt sich zu befehden und zu verketzern und dadurch unglaubwürdig zu machen“ (Hossfeld). Offensichtlich fällt es uns leicht, hier zu unterscheiden: beim einen glauben wir, eine Absicht Gottes erkennen zu können, beim anderen nicht. Wenn man sich aber nicht nur dem „vagen Geschäft des natürlichen Ahnens“ anvertrauen möchte, dann erhebt sich die Frage, ob es Kriterien der Urteilsfindung gibt und wie diese lauten.
2. Die Verpflichtung, nach dem Willen Gottes zu fragen
Trotz der Erfahrung von Bruder Juniper und trotz aller Vorbehalte biblischer und theologischer Art soll die These aufgestellt und vertreten werden, dass eine gewisse Erkenntnis des Planes der göttlichen Vorsehung nicht nur wünschenswert, sondern sogar notwendig ist für ein Leben aus dem Glauben. Basis hierfür ist, dass der Vorsehungsglaube ein articulus mixtus ist, der bis zu einem gewissen Grad mit den Kräften der Vernunft erreicht werden kann; andererseits ist er aber auch ein Glaubenssatz, der nicht einfach eine Vernunfteinsicht repetiert. Eine Spannung wird hier sichtbar, die nicht aufgehoben werden darf.
Hat Gott einen Plan für mich?
Nur jener kommt in das Himmelreich, der den Willen des Vaters erfüllt (vgl. Mt 7,21). Bruder, Schwester und Mutter ist für Jesus, wer dem Willen Gottes nachkommt (vgl. Mt 12,50; Mk 3,35). Im Vaterunser beten wir darum, dass Gottes Wille geschehe. Welchen Sinn hätte dieses Gebet und die anderen Worte Jesu, wenn wir nicht wissen können, was dieser Wille ist? Die Frage des vor Damaskus vom Pferd gestürzten Paulus „Herr, was soll ich tun?“ (Apg 22,10) ist von fundamentaler Bedeutung für den glaubenden Menschen, der darauf vertraut, dass Gott einen Plan für sein Leben bereithält. Wie oft wird in der Seelsorge die Frage des Paulus nach dem konkreten Willen Gottes in einer bestimmten Lebenssituation gestellt! Obwohl man sich hierbei mit direkten Antworten nicht leichttun wird, so muss man doch auf Kriterien zurückgreifen und aufmerksam machen können, die zur Entscheidungsfindung beitragen, zumal wenn hierbei die Weichen für das ganze Leben gestellt werden. Aber nicht nur an einmaligen Entscheidungspunkten des Lebens ist es notwendig, den Willen Gottes zu erfragen; dies ist vielmehr eine lebenslange Aufgabe, zumal der Plan Gottes keineswegs wie nach einem Drehbuch abläuft, sondern offensichtlich auch menschliche Freiheitsentscheidungen miteinbezieht und somit entsprechend variabel ist.
„Die Zeichen dieser Zeit“
Der Herr verweist darauf, dass es notwendig ist, die Zeit zu prüfen, sie auf den Willen Gottes hin zu befragen (vgl. Lk 12,56). Bei der Beobachtung des Wetters vermag das Volk sehr wohl aufgrund bestimmter äußerer Zeichen zu prognostizieren, was kommen wird: „Sobald ihr im Westen Wolken aufsteigen seht, sagt ihr: Es gibt Regen. Und es kommt so“ (Lk 12,54). Die Zeit des messianischen Wirkens Jesu hat ebenfalls ihre Zeichen, die gedeutet und im Leben umgesetzt werden wollen. Doch hier versagen die Menschen in schuldhafter Weise: „Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr deuten. Warum könnt ihr dann die Zeichen dieser Zeit nicht deuten?“ (Lk 12,56). Jesus nennt sie Heuchler, denn sie wissen auch diese Zeichen zu deuten, aber sie wollen sie nicht auslegen, denn sie wollen nicht umkehren. Es ist also nicht nur der Beliebigkeit des einzelnen anheimgestellt, ob er die Zeitzeichen prüft und deren Kairos erkennt; es ist für ihn eine Verpflichtung, um dem an ihn ergehenden Willen Gottes gerecht zu werden.
Eine gottgewirkte Exegese der Zeit zu betreiben, ist gewiss eine schwierige, aber zugleich unentbehrliche Aufgabe. Die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ spricht von einer Pflicht (!), die Zeichen der Zeit zu erforschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten: „Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“ (GS, Nr. 4). Das Konzil spricht von einem Skrutinium („signa temporum perscrutandi“), einer Untersuchung; immer wieder neu muss geprüft werden, inwiefern die Stimme der Zeit die Stimme Gottes ist. Ein beachtliches Instrumentarium hierfür hat Joseph Kentenich, der Gründer von Schönstatt, erarbeitet.
3. Der praktische Vorsehungsglaube als Erkenntnisquelle bei Kentenich
Eine Hermeneutik im oben genannten Sinn ist nicht einfach eine wissenschaftlich erlernbare technische Methode; sie setzt Gebet, Opfer und ein waches Gebetsleben voraus. Kentenich unterscheidet Zeit-, Seelen- und Seinsstimmen, die zwar in ihrer je eigenen Art bedacht, letztlich aber doch in synthetischer Zusammenschau verstanden werden müssen. Jede einzelne „Stimme“ ist auf die Quelle ihrer Inspiration zu prüfen.
„Zeitgeist“ und „Geist der Zeit“
In eigener Wortprägung differenziert er zwischen „Zeitgeist“ und „Geist der Zeit“. Beide Wirkgrößen stehen in Spannung zueinander. Es ist kennzeichnend für Kentenichs realistische Weltbetrachtung, dass er weder einer Schwarzmalerei noch einem unbegründeten Optimismus verfällt; trägt doch selbst der (schlechte) Zeitgeist in sich positive Elemente, die auf eine berechtigte, aber fehlgeleitete Erlösungshoffnung des Menschen verweisen können. Deshalb ist der Gang ins Lager Andersdenkender nicht zu scheuen, da dort das Moderne oft stärker ausgeprägt und ein besseres Gespür für die Nöte einer Zeit vorhanden ist. Die Kunst des „Heraushörens“ und „Herauslesens“ der Stimme Gottes zeigt sich also auch in der Bereitschaft, sich umfassend mit Strömungen der Zeit auseinanderzusetzen und das in ihnen enthaltene Positive herauszufiltern. Es genügt nicht, nur die Irrlichter auszulöschen.
„Seelenstimme“ als Einsprechung des Heiligen Geistes
Bei der „Seelenstimme“ geht es um das Buch der innerseelischen Führungen und Fügungen Gottes, um die Einsprechungen des Heiligen Geistes, die nicht zu verwechseln sind mit besonderen mystischen Eingebungen. Die Nähe zu den Zeitstimmen ist offensichtlich, da sich beim einzelnen Menschen das Ganze im Fragment spiegelt. Eine gewisse Nüchternheit ist notwendig, um zu prüfen, ob etwas aus einer krankhaften Natur, einem ungeläuterten Triebleben (Geltungs-, Macht- und Genussstreben) oder vom Bösen kommt; ferner sind die ignatianischen Regeln zur Unterscheidung der Geister heranzuziehen. Paulus mahnt eine Wandlung und Erneuerung des Denkens an, um den Willen Gottes erkennen zu können (vgl. Röm 12,2). Damit ist angezeigt, dass es auch von der sittlichen Lauterkeit und Offenheit abhängt, ob jemand die “Stimme Gottes“ vernehmen kann. Ein wirklich Liebender achtet auf die kleinsten Zeichen, die den Willen des Geliebten zum Ausdruck bringen; er wird versuchen, den erkannten Wunsch des anderen zu erfüllen. In ähnlicher Weise ist es bei den Heiligen, die streng darauf bedacht waren, selbst in den kleinsten Dingen des Alltags den Willen Gottes zu erspüren. Ihr Leben ist überhaupt zu charakterisieren als intensives und liebevolles Hinhören darauf, was Gott ihnen zu sagen hat.
Anerkennung einer vorgegebenen Ordnung
Die beiden geschichtlichen Erkenntnisquellen von Zeit und Seele bedürfen mit innerer Notwendigkeit einer Ergänzung durch das „Sein“. Kentenich wusste durchaus, dass diese Quelle für weiteste Kreise verstopft und problematisch geworden ist. Trotzdem hielt er daran fest, weil die Anerkennung einer gottgewollten, dem Menschen vorgegebenen Ordnung, nach der er sich in seinem Handeln zu richten hat, fundamental und unverzichtbar ist. Deshalb kann für ihn etwa die gottgegebene biologische und psychische Seinsbestimmtheit von Mann und Frau trotz aller geschichtlichen Wandlungen nicht durch ein funktionales Rollenspiel abgelöst werden. Ein weiteres Beispiel ist, dass ein Mensch alle individualgeschichtlichen Entwicklungsstufen durchlaufen muss und keine ungestraft auslassen oder überspringen darf, will er sich zu gesunder Reife entwickeln.
Verbindung von drei Erkenntnisquellen: Zeit, Seele und Sein
Um die Vieldeutigkeit der Zeiten-, Seelen- und Seinsstimmen in die Eindeutigkeit der Gottesstimme zu überführen, bedarf es einer großen Öffnung für das Wirken des Heiligen Geistes und nicht wenig Mühe und Erfahrung seitens der einzelnen Person. Alle drei Erkenntnisquellen sind in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit und Vernetzung zu berücksichtigen. Selbst wenn diese drei Größen richtig geortet und ausgewertet werden konnten, ist immer noch das Handlungsgesetz der geöffneten Tür zu berücksichtigen. Mit diesem paulinischen Ausdruck (vgl. 1 Kor 16,8f.; 2 Kor 2,12) wird angezeigt, dass Gott es ist, der Türen öffnet und in seiner Freiheit den Zeitpunkt und die Art und Weise dafür festlegt. Da mit Willkür und eigenmächtigem Handeln nichts erreicht werden kann, gilt es darauf zu achten, wann und wie Gott durch bestimmte Verhältnisse und Umstände eine Tür öffnet oder schließt. Das bedeutet freilich nicht, dass der Mensch nur in bloß passiver Offenheit diesen Augenblick abwarten soll; er muss auch selbst aktiv Wege und Mittel zum Ziel suchen.
Der Entwurf Kentenichs ist beachtlich. Ihm ist es in einer Synthese gelungen, verschiedenste Erfahrungen und Wirklichkeitsbereiche zu kombinieren und auf das Wesentliche hin durchsichtig zu machen.
Möglichkeit persönlicher Begegnung mit Gott
Diese Überlegungen zeigen, dass es sehr wohl eine Aufgabe des Vorsehungsglaubens ist, sich um die Erkenntnis des Willens Gottes zu mühen. Es erschließt sich hier – unter Vermeidung allen Aberglaubens – eine Möglichkeit persönlicher Begegnung mit Gott. Der Mensch ist angewiesen auf Fügungen Gottes, die er als Antwort auf die Sinnfragen des Lebens versteht. Es ist erstaunlich, wie wenig in der Vorsehungsliteratur unterschieden wird zwischen einer törichten und letztlich hybriden Neugier, Gott in die Karten schauen zu wollen, und einer durchaus berechtigten und notwendigen Erkundung des Willens Gottes für eine bestimmte Zeit und für das Leben des einzelnen Menschen. Bildlich gesprochen wird es darum gehen, den Verlauf bestimmter Fäden im Leben lokalisieren zu können, durch die eine Ahnung von Sinngehalten sich abzeichnet, nicht aber das ganze Muster erkennen zu dürfen. Der Vorsehungsglaube vermag sich an „Zeichen und Zeugen“ aufzuhellen; es ist ihm aber nicht gestattet, diesen Glauben – wie bei Bruder Juniper – an Einzeltatsachen mit exakter Präzision zu demonstrieren. Eine gewisse Bescheidung ist somit gegeben. Diesem Geheimnis Gottes muss der Mensch sich beugen.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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Die slowenische Mystikerin Magdalena Gornik (1835-1896)
Prophetischer Aufruf für unsere Zeit
Der slowenische Dogmatikprofessor Dr. Anton Štrukelj (geb. 1952) hat ein Büchlein über eine Mystikerin seines Heimatlandes herausgegeben, die bereits im 19. Jahrhundert gelebt hat. Anlass ist der Seligsprechungsprozess, den der Erzbischof von Ljubljana im Herbst 2022 für Magdalena Gornik eröffnet hat. Entscheidend sei nicht die Fülle der mystischen Phänomene, so Štrukelj, sondern die Botschaft, die uns Gott durch ihr Leben vermitteln wolle. Es gehe um grundlegende Wahrheiten des katholischen Glaubens. Nachfolgend eine Zusammenfassung der Publikation.[1]
Von Anton Štrukelj
Bereits zu Lebzeiten hatte Maria Magdalena Gornik (1835-1896) vorausgesagt, sie werde nach sechs Generationen wiederkommen und Wunder wirken. In der Tat kommt die Dienerin Gottes aufs Neue ins Bewusstsein der Menschen, obwohl sie immer unter uns war. Das Interesse für ihre Person und Botschaft wird immer größer. In den vergangenen Jahrzehnten erschienen einige kleinere Schriften. Besonders wertvoll aber ist das umfangreiche Buch von Martina Kraljič mit dem Titel „Magdalena Gornik".[2] Die gesamte historische Dokumentation, welche 6.800 Seiten umfasst, ist im Erzbischöflichen Archiv von Ljubljana aufbewahrt. Von Bedeutung sind vor allem die Originalmanuskripte der Mystikerin. Denn ihre Visionen und Erlebnisse notierte sie selbst in slowenischer Sprache. Dazu kommen die umfangreichen Berichte von Augenzeugen, verfasst zumeist auf Deutsch oder Slowenisch.
Pilger von nah und fern besuchen immer wieder ihr Grab auf dem Friedhof von Gora bei Sodražica. Am 14. September 2022 eröffnete Erzbischof Stanislav Zore von Ljubljana mit Genehmigung aus Rom offiziell den Seligsprechungsprozess auf diözesaner Ebene.
Berufung in jungen Jahren
Zur Pfarrei Gora (Berg) bei Sodražica, Unterkrain in Slowenien, mit ihrer Kirche „Maria Schnee“ gehörten fünf kleinere Dörfer, darunter Janeži, das eine Viertelstunde von der Kirche entfernt liegt. Hier stand das Geburtshaus von Magdalena Gornik. Sie war das dritte von sieben Kindern der Eltern Jožef und Ana Gornik. Das Licht der Welt erblickte sie am 19. Juli 1835 und wurde noch am selben Tag auf den Namen Maria Magdalena getauft. Man nannte sie auch Lenka oder Alenčka, doch unterzeichnete sie selber immer mit Magdalena.
Ihre Eltern waren sehr fromm und erzogen ihre Kinder im christlichen Geist. Mutter Ana liebte besonders Magdalena, weil diese immer aufs Wort gehorchte und ihr im Haushalt und bei anderen landwirtschaftlichen Arbeiten gerne half. Magdalena war ein lebhaftes und aufgewecktes Mädchen mit blauen Augen, aber schwächlich. Ihr Äußeres strahlte edle Einfachheit und Sanftheit aus. Sie war gern zusammen mit ihren Altersgenossinnen beim Spiel, bei der Arbeit und beim Gebet. Sie unterrichtete diese in den grundlegenden Glaubenswahrheiten, die sie selber im Religionsunterricht beim Kaplan gelernt hatte. Sie war ein Vorbild an Reinheit und anständigem Verhalten, fand für jeden ein freundliches Wort und half ihrem Alter entsprechend in der Landwirtschaft mit, aber ganz besonders widmete sie sich dem Gebet. Ihre große Liebe galt Jesus im Allerheiligsten Altarsakrament, auch schon vor der Erstkommunion. Sie weilte oft in der Pfarrkirche und redete vertraulich mit dem Heiland. Ihre tiefe Frömmigkeit blieb aber lange verborgen.
Die erste Erscheinung der Gottesmutter
Es war im Frühjahr 1847. Mutter Ana sagte der 12-jährigen Tochter Magdalena, sie solle am nahegelegenen Acker Unkraut für die Schweine holen. Sie machte sich auf den Weg zum Feld, das nicht weit vom Haus der Familie entfernt lag. Beim Feld wollte sie gerade vom Weg abbiegen, als sie plötzlich vor sich eine unbekannte Frau erblickte. Magdalena erschrak und floh auf das nahe Feld. Sie erzählte später: „Die Frau winkte mir, ohne sich zu bewegen, mit dem Finger der rechten Hand zu und sagte: ‚Komm her!‘ Ich gehorchte und ging näher zu ihr. Sie hielt ihre Arme über der Brust geschlossen.“ Im Lauf des Gesprächs offenbarte sich die Frau als Mutter Jesu. Doch Magdalena dachte sich, wäre sie die Mutter Gottes, müsste sie schöner gekleidet sein. Ihr weißes Kleid, ihr blaues Vortuch und ihr weißes Kopftuch – all das war zu wenig schön. Doch als die Muttergottes ankündigte: „Von nun an werden wir uns noch mehrmals sehen“, wurde ihr Kleid ganz weiß und schön. Sie erhob sich und verschwand plötzlich vor ihren Augen.
Im selben Jahr durfte Magdalena die heilige Erstkommunion empfangen. Es wird berichtet, dass Gott ihr reines Herz „mit einer so brennenden Liebe entflammte, dass ihre körperlichen Kräfte nachzulassen begannen. Nur mit Mühe konnte sie die wenigen Schritte zur Kirchbank schaffen. Hier sank sie auf die Knie nieder und schaute eine Viertelstunde reglos auf das Bild Maria Schnee am Hauptaltar... Nach der hl. Messe hörte sie die Stimme vom Altar: ‚Sag niemandem, was du erlebt hast.‘ Seitdem sehnte sie sich noch mehr nach inniger Vereinigung mit dem Herrn.“ Ihre eigenen Notizen, die auf Anregung ihres Beichtvaters entstanden sind, und ihre Aussagen gegenüber Vertrauenspersonen bezeugen das Wachstum dieser geheimnisvollen Liebe zwischen ihr und ihrem geliebten Heiland. Schon als Mädchen schenkte sie sich vorbehaltlos dem Herrn und opferte ihm alle Leiden als Genugtuung für die Sünder und die Rettung der Seelen auf.
Am 30. Mai 1847, dem Hochfest der Heiligsten Dreifaltigkeit, pilgerte sie mit ihrer Mutter zur Wallfahrtskirche von Nova Štifta. Später berichtete sie: „Während der Wandlung, als der Priester die Hostie hochhob, erblickte ich darin das himmlisch schöne und liebenswürdige Antlitz Jesu. Mit seinem Blick voller Liebe schaute er mich an und erhob meine Seele zu sich, die ihn in unsagbarer Vision schaute.“ Auf innere Anweisung hin schwieg sie darüber. Ihr Eifer nahm zu. Doch bald schickte ihr Gott die erste große Prüfung.
Die zweite Erscheinung
Im Advent 1847 wurde Magdalena sehr krank. Sie ertrug alle Leiden mit erstaunlicher Geduld und Ergebenheit. In ihrer Krankheit schmeckte ihr keine Speise mehr. Nur mit großer Mühe konnte sie etwas Suppe, Milch und Brot zu sich nehmen. Am 2. August 1848, als sie allein zu Hause war, fiel sie aufgrund unerträglicher Schmerzen in Ohnmacht. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, war sie von allen Qualen geheilt. Sie erblickte vor sich die Gottesmutter, die sie ermunterte, sie solle alles Leiden im Gedenken an Christi Leiden ertragen. Maria kündigte ihr an, dass sie von nun an keine irdische Nahrung mehr brauche. Hunger und Durst werde sie nicht mehr haben, weil sie eine Speise vom Himmel erhalten werde. Maria gab ihr den Auftrag, sie solle die Menschen warnen, sie zu Buße und Umkehr auffordern, sonst würden sie von schweren Prüfungen heimgesucht werden. Maria erwähnte ihr gegenüber, dass Hirten in La Salette in Frankreich eine ähnliche Botschaft erhalten hätten. Sie ermutigte Magdalena, sie solle sich darum bemühen, vollkommen zum Eigentum Jesu zu werden. Sie solle immer an ihn denken und alles, was sie tue, um seinetwillen tun. Danach verschwand sie mit den Worten: „Wir werden uns wiedersehen.“
Das läuternde Leiden dauerte fast ein Jahr lang, vom Advent 1847 bis August 1848. Es war die Vorbereitung auf die Lebensaufgabe Magdalenas. Sie sollte ihr Leiden dem Herrn als Sühneopfer für die Sünden der Menschen anbieten und diese zur Bekehrung und Buße ermahnen. Diese Sendung nahm Magdalena mit offenem Herzen und vollkommener Hingabe an. In der Ekstase, die sie am Freitag, den 11. August 1848, zu Hause erlebte, wurde ihr gesagt, sie werde auf „einem steilen, schmalen und dornigen Wege gehen“ müssen, wenn sie in den Himmel kommen wolle. Auf dieses Angebot Gottes antwortete sie einfach und ohne Bedenken: „Gern, gern will ich auf diesem Weg gehen.“
Fortan hatte sie jeden Tag Verzückungen, so dass ihre Angehörigen und auch ihr Beichtvater Jožef Žagar darauf aufmerksam wurden. Ende August und Anfang September 1848 sah sie in einigen aufeinander folgenden Visionen den von der Geißelung blutenden und zerfleischten Christus und bei ihm Maria, die ihr anbot, aus seinem Kelch zu trinken. Im September 1848 wurde Magdalena gelähmt; sie konnte nicht mehr gehen. Sieben Jahre lang musste sie getragen werden. Am Fest Mariä Geburt 1848 luden sie Jesus und Maria in einer Vision ein, sie auf dem schwach beleuchteten, steilen, schmalen und steinigen Weg zu begleiten. Am Ende dieses Weges ließen die himmlischen Mitwanderer Magdalena für einen Augenblick den Himmel schauen und darin den Platz, der für sie vorbereitet werde, sollte sie treu ihren irdischen Auftrag erfüllen. Zwei Tage später erhielt sie zum ersten Mal die himmlische Speise, äußerlich sichtbar als kleines Korn. Diese Speise ersetzte ihr von nun an vollständig alle irdische Nahrung. In einer Ekstase am 20. September hatte sie eine Vision des sterbenden Christus am Kreuz. Sie entschloss sich, zur Verwirklichung ihrer Sendung bereitwillig zu leiden, mit ihrer eigenen Lebensführung die Sünder zur Bekehrung zu ermahnen und für die Sünden der Menschheit Sühne zu leisten.
Mystische Phänomene
Folgende Phänomene sind ukundlich nachgewiesen: Ekstasen, Visionen, die Stigmata, die mystische Kommunion und das Leben ohne jegliche irdische Speise, der Schwebezustand und einige weitere Charismen. Entscheidend jedoch ist die Botschaft, die durch das Leben von Magdalena vermittelt werden soll. Die außergewöhnlichen Erscheinungen sind eher ein Beweis dafür, dass Gott selbst am Werk ist.
Die Ekstasen
Die Verzückung war das häufigste mystische Phänomen im Leben der Dulderin. Die Ekstasen begannen bei ihr mit dreizehn Jahren und traten bis zu ihrem Tod regelmäßig auf. Sie dauerten unterschiedlich lang, am Abend gemeinhin etwa eine halbe Stunde, am Freitagmittag von 12 bis 15 Uhr, in der Karwoche und in der Osteroktav oft sogar mehrere Tage hindurch. Während der Verzückung veränderte sich ihr Gesicht, ihre Augen wurden wie vergeistigt, ihr Leib nahm ganz andere Eigenschaften an. Im Geist trat sie in die unsichtbare Welt ein. Meist waren die Ekstasen von schweren Leiden begleitet.
Die Visionen
Auch Visionen hatte Magdalena bis zum Tod. Während sie in der Ekstase den Kontakt mit ihrer Umgebung verlor, konnte sie bei den Visionen sehen, hören, riechen und fühlen. Sie schaute die Gottesmutter, Engel und Heilige, am häufigsten jedoch die Passion Jesu. Oft durfte sie die Herrlichkeit des Himmels sehen und einen Blick in das Fegfeuer werfen. Ein paar Mal ließ es der Herr zu, dass sie auch die Höllenqualen erlitt. In ihren Aufzeichnungen steht, dass sie schon beim Wort Hölle zu zittern begann. Gehorsam dem Willen des Herrn gegenüber stürzte sie plötzlich in den Abgrund. Die schwarzen Höllenflammen verhüllten sie wie Wellen. Höllenqualen peinigten ihren Körper. Das Schlimmste aber war die abgrundtiefe Abwesenheit des Trostes. Sie hörte menschliche und tierische Stimmen, die sich gegenseitig und auch Gott verfluchten. Die Seelen befänden sich im Zustand der Verzweiflung und der Furcht. Obwohl Magdalena die Hölle nur einige Minuten lang erlebte, war es ihr, als sei sie viele Jahre darin gewesen. Der Herr sagte ihr, dass hier jene Seelen seien, die in ihrem Leben keine Liebe erwiesen hätten.
Die Stigmen
Das Außergewöhnliche, das Magdalena zur Erfüllung ihrer Mission zu ertragen hatte, waren die Stigmen, die Jesus ihr im Voraus angekündigt hatte. Magdalena nannte sie „Wunden“. Sie erhielt die Stigmen bereits als Dreizehnjährige und trug sie teils bis zum Ende ihres Lebens. Es waren sehr schmerzende und blutende Wunden an Händen, Füßen, an der Seite, am Kopf (Wunden der Dornenkrone), an der Schulter (vom Tragen des Kreuzes) und am Körper (Geißelung). Sie verbarg die Stigmen ständig. Sogar ihre Familie bemerkte sie erst ziemlich spät. Die Wunden an den Händen waren so tief, dass man durch sie hindurchsehen konnte.
Die Mystische Kommunion
Bei der mystischen Kommunion wird die hl. Kommunion ohne einen menschlichen Spender in den Mund gelegt. Sie wurde von Jesus Christus selbst oder von der Jungfrau Maria, einem Heiligen oder Engel gespendet. Dies geschah nur im Zustand der Verzückung und wurde von mehr als tausend Personen aus allen Volksschichten beobachtet. Magdalena bereitete sich mit großer Andacht darauf vor, sprach meistens zuvor ein Schuldbekenntnis und verweilte dann in der Danksagung.
Das Leben ohne irdische Speise
Aus Lebensbeschreibungen mancher Heiliger kennen wir dieses mystische Phänomen, das die Wissenschaft nicht erklären kann. So lebte die hl. Katharina von Siena acht Jahre lang ohne irdische Speise, der hl. Nikolaus von Flüe 20 Jahre lang und Terese Neumann soll sich 36 Jahre allein von der hl. Kommunion ernährt haben. Magdalena nahm vom dreizehnten Lebensjahr an bis zu ihrem Tod, also volle 47 Jahre, keine irdische Nahrung zu sich. Dafür bekam sie eine himmlische Speise, die ihr die Muttergottes bei ihrer zweiten Erscheinung versprochen hatte. Es war ein kleines Körnchen, das Magdalena in die Hand oder in den Mund bekam, meistens einmal pro Tag, und zwar von der Jungfrau Maria oder von einem Engel. Dies geschah immer nach der mystischen Kommunion, niemals vorher.
Die Botschaft für uns
Aus der reichen Fülle der mystischen Gaben, die Magdalena geschenkt wurden, um uns im Glauben zu festigen und zu Gott zu führen, kann man folgende Botschaften hervorheben: Maria, Eucharistie, Erlösung und ewiges Leben.
Erstens: Maria als Vermittlerin aller Gnaden. Seit der ersten Erscheinung der Mutter Gottes im Frühjahr 1847 war die Jungfrau Maria immer die Vermittlerin zwischen Magdalena und Jesus. Sie war in allen Visionen anwesend. Maria machte sie mit dem leidenden Jesus bekannt und lud sie ein, zusammen mit ihm die Leiden auf sich zu nehmen, und zwar als Sühne für die Sünden, mit denen Menschen Gott beleidigen. Maria trug ihr auf, sie solle die Menschen zum Gebet und zur Bekehrung aufrufen. Auch klärte sie Maria über Ereignisse in der Welt auf, etwa über die Erscheinung in La Salette und die Flucht von Papst Pius IX. aus Rom.
Zweitens: Eucharistie als Sonne des Lebens. Schon als Kind spürte Magdalena eine besondere Liebe und Verehrung zum Allerheiligsten Sakrament des Altares. Sie hatte sozusagen ein angeborenes Gefühl dafür, dass wir die meisten Gnaden durch einen würdigen Empfang des eucharistischen Jesus erlangen.
Drittens: Stellvertretendes Leiden ist zutiefst mit der marianischen Frömmigkeit und der eucharistischen Verehrung verbunden. Magdalena trug an ihrem Leib die sichtbaren Wundmale des Leidens Christi. Ihre mystischen Erfahrungen sind ein geheimnisvolles Mitleiden mit dem Erlöser. Am Karfreitag erlitt sie sogar den mystischen Tod am Kreuz. Sie nahm teil am Höllenabstieg Christi am Karsamstag. Und am Ostertag erlebte sie die glorreiche Auferstehung Jesu Christi um 4 Uhr morgens. Es lag im Plan Gottes, dass Magdalena auf eine besondere, mystische Weise litt und Sühne für die Sünden der Mitmenschen leistete.
Viertens: Der Glaube an Gott und der Aufruf zur Umkehr, um zu leben. Die Botschaft des Evangeliums lautet: „Bekehrt euch!“ Jesus will uns das Leben in Fülle schenken. Papst Benedikt XVI. sah im Fehlen der Eschatologie ein ganz ernstes Problem. Die sogenannten „letzten Dinge sind ein hartes Brot für die Menschen von heute. Sie erscheinen ihnen irreal. Sie möchten stattdessen konkrete Antworten für jetzt, für die Drangsale des Alltags. Aber diese Antworten bleiben halb, wenn sie nicht auch verspüren und erkennen lassen, dass sie über dieses materielle Leben hinausreichen, dass es das Gericht gibt, und dass es die Gnade gibt und die Ewigkeit. Insofern müssten wir auch neue Worte und Weisen finden, um den Menschen den Durchbruch durch die Schallmauer der Endlichkeit zu ermöglichen."[3]
Vielleicht hilft uns dabei das starke Wort unserer Mystikerin. Ihre erschütternden Erfahrungen sind die wichtigste Botschaft für diese Zeit der Gottvergessenheit. Die realistischen Bilder sollten die Herzen wachrütteln und uns erneut das Ziel unseres Lebens vor Augen stellen. Nochmals Benedikt XVI.: „Wenn die Kirche nicht das ewige Leben verkündet, ist sie nur ein Klumpen Erde, sie ist unnütz.“
Prophetische Aufgabe
Man kann die außerordentliche Sendung von Magdalena Gornik, die am ersten Fastensonntag, den 23. Februar 1896, in die ewige Heimat eingehen durfte, als eine prophetische Gabe und Aufgabe bezeichnen, als eine von Gott erhaltene Sendung für die Menschen. Ihre Botschaft erinnert uns an die ernsten Wahrheiten des Evangeliums, denn das Christentum ist kein versüßtes Wasser. Die grundlegende Antwort darauf zielt auf die ständige Umkehr, die Buße, das Gebet und die drei göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Die frische und starke Botschaft Magdalenas ist wie ein Abbild der himmlischen Schönheit – imago paradisi.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Anton Štrukelj: Magdalena Gornik. Eine slowenische Mystikerin (1835-1896), Christiana-Verlag im Fe-Medienverlag, Kisslegg-Immenried 2024, 84 Seiten, A6-Format, geheftet, ISBN/EAN: 978-3-7171-1373-7; Euro 3,50 – Bestell-Tel.: +49 (0)7563-608-998-0 – www.fe-medien.de
[2] Martina Kraljič: Magdalena Gornik, Medvedica 2009, 248 S. mit Bildern. Dieses Buch bleibt wegweisend für weitere Studien und Veröffentlichungen.
[3] Joseph Ratzinger: Im Gespräch mit der Zeit. Licht der Welt, in: Joseph Ratzinger Gesammelte Schriften (JRGS) 13/2, Herder, Freiburg 2016, 981.
Beiträge zur Erneuerung des Glaubens und der Kirche
Klarheit durch die Wahrheit
Der in Theologie und Bioethik promovierte Professor Dr. Dr. Ralph Weimann (geb. 1976) hat ein neues Buch veröffentlicht, das den Titel „Klarheit durch die Wahrheit. Beiträge zur Erneuerung des Glaubens und der Kirche"[1] trägt. Wahrheit ist für Weimann ein Grundbedürfnis des Menschen, an dem niemand vorbeikommt. Sie ist nichts Starres, sondern das Lebenselixier, das sich aus der lebendigen Beziehung mit Gott ergibt. Je mehr die Kirche den Anspruch auf Wahrheit aufgibt und aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten des modernen Menschen dem Zeitgeist huldigt, umso mehr verdunstet der Glaube, verliert sich der Horizont des ewigen Lebens und fällt der Mensch auf sich selbst zurück. Den Gläubigen die geoffenbarte Wahrheit ohne Abstriche zu verkünden, ist ein zentrales Werk der Barmherzigkeit und die Voraussetzung für eine echte Erneuerung der Kirche. Denn nur die Wahrheit kann den Menschen wirklich frei machen. Prof. Weimann stellt nachfolgend sein neues Buch vor.
Von Ralph Weimann
Der Titel des Buches ist so provokativ, wie die christliche Botschaft selbst provokativ ist. Denn es geht um die Wahrheit! Jesus Christus ist nämlich nicht in diese Welt gekommen, um den Menschen eine gemütliche, angepasste oder gar woke Botschaft zu verkündigen, sondern er kam in die Welt, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen (vgl. Joh 18,37). Wenn sich Gott als die Wahrheit offenbart, dann handelt es sich um jene absolute und unübertroffene Wahrheit, an der sich die Geister scheiden müssen.
Die Wahrheit konfrontiert uns mit unserem eigenen Leben
So nehmen damals wie heute Menschen daran Anstoß, denn die Wahrheit fordert heraus, sie ist wie ein Spiegel, durch den wir unverblümt mit der Wirklichkeit in unserem Leben konfrontiert werden. Daher auch die unterschiedlichen Reaktionen ihr gegenüber: einige meinen, die Wahrheit sei zu groß für sie, sie sei der Inbegriff für Intoleranz und Dogmatismus, sie halten es nicht aus, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Wieder andere suchen sie und folgen ihr. So heißt es im Johannesevangelium: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37). An diese Menschen richtet sich das vorliegende Buch. – Dabei wird gleich zu Beginn deutlich, dass der Verzicht auf Wahrheit das Leben keineswegs leichter macht, denn der Mensch ist kein blind Geborener, der nicht in der Lage ist, den Weg des Lebens zu erkennen. Es ist vielmehr die Lüge, die den Menschen versklavt und ihn in falschen Vorstellungen lässt, die ihn von seinem Weg abbringen. Wenn sich Jesus Christus als die Wahrheit offenbart, dann, um uns wirkliche Befreiung zu schenken, denn die Wahrheit befreit (vgl. Joh 8,32); sie lässt den Weg des Lebens sichtbar werden.
Wenn die Kirche „aus Rücksicht“ dem Zeitgeist huldigt
Aber selbst unter Christen und auch in Teilen der katholischen Kirche erfreut sich der Anspruch auf Wahrheit, den der Glaube erhebt, keiner großen Beliebtheit, vor allem dann nicht, wenn die Wahrheit des Glaubens im direkten Widerspruch zum Zeitgeist steht. So wurden seit Jahrzehnten „unliebsame Themen“ in der Verkündigung und Pastoral ausgeklammert, um zu verhindern, dass sich die Gläubigen an der Wahrheit stoßen. Doch auf diese Weise wird die Botschaft des Evangeliums ihres Rückgrats beraubt, denn das Evangelium ist deswegen frohe Botschaft, weil uns darin die Wahrheit über Gott verkündet wird. Jeder Verzicht auf Wahrheit führt zu fehlender Klarheit, während umgekehrt die Wahrheit zur Klarheit führt, sie ist die Bedingung, um Orientierung und Zuversicht zu vermitteln.
In dem vorliegenden Buch dient die geoffenbarte Wahrheit als Maßstab. Auf diese Weise bleibt der Stachel im Fleisch, die Provokation, die die Wahrheit mit sich bringt, erhalten. An ihr darf kein Christ vorbeigehen, denn der Christ wird dadurch zum Christen, indem er sich der Wahrheit unterstellt. Daraus ergibt sich auch die Struktur des Buches.
In einem ersten Kapitel wird dargelegt, wie der Glaubensverlust und der Verlust der Wahrheit zusammenfallen. Zu dieser Entwicklung beigetragen hat u.a. jene Geisteshaltung, die die Wahrheit auf eine abstrakte und kaltherzige Größe reduziert und sie schließlich ablehnt. Dies geschieht nicht selten unter Berufung auf die Menschenfreundlichkeit, schließlich wolle man niemanden mit der Wahrheit vor den Kopf stoßen und die Liebe sei wichtiger. Je mehr sich eine derartige Geisteshaltung den Weg bahnte, umso mehr wurde der Mensch zum Maß aller Dinge. Das Gesagte tritt in der Feier der Liturgie besonders augenscheinlich in den Vordergrund; in der Zelebrationsweise zeigt sich, ob sie dem Maßstab des Göttlichen oder des Selbstgemachten und Menschen-zentrierten folgt.
Kontinuität in der Lehre erweist sich als Grundprämisse
Im zweiten Kapitel wird gezeigt, dass sich diese geistesgeschichtliche Entwicklung keineswegs überraschend den Weg gebahnt hat, vielmehr gab es Zäsuren, die den Weg in diese Richtung wiesen. Dabei sind zwei solcher Einschnitte hervorzuheben, die bis in unsere Zeit die Geistesgeschichte prägen. Das hat wiederum Auswirkungen auf den Umgang und das Verständnis von Wahrheit.
In der Kirche wurde und wird daher immer wieder neu um das richtige Verstehen von Wahrheit gerungen. Dabei erweist sich die Kontinuität in der Lehre als wichtige Grundprämisse, zumal sich die Wahrheit dadurch auszeichnet, dass sie wahr ist und wahr bleibt. Dazu kommt eine kirchliche Grundhaltung, denn kein Mensch und auch kein Gläubiger ist Herr über die Wahrheit. Vielmehr ist dieser Schatz der Kirche anvertraut und der Einzelne trägt diesen Schatz in zerbrechlichen Gefäßen (vgl. 2 Kor 4,7).
Nicht nur zur Zeit Jesu Christi, sondern zu allen Zeiten ist die geoffenbarte Wahrheit Stein des Anstoßes. Das Geheimnis des Christseins besteht darin, sich unter den Maßstab eben dieser Wahrheit zu stellen. Dabei müssen zwei Haltungen vermieden werden. 1) Niemand ist Herr über die Wahrheit. Daher besitzen wir sie nicht, sondern verwalten sie; sie ist uns anvertraut; 2) Die Versuchung, wie alle anderen sein zu wollen, die Versuchung, auf die Wahrheit verzichten oder davon Abstriche machen zu können. Wenn immer die eine wie die andere Haltung vorherrscht, ist nicht der Wahrheit gedient, sondern sie droht verfälscht und manipuliert zu werden.
Der Relativismus ist eine der größten Bedrohungen für den Glauben
Zu keiner Zeit der Geschichte war es einfach, sich von diesen beiden Geisteshaltungen im Hinblick auf den Umgang mit Wahrheit zu befreien, schon gar nicht in der Gegenwart. Vielleicht war die Wahrheit noch nie so gefährdet, wie in unserer Zeit. Weil die Wahrheit aber untrennbar mit dem Glauben verbunden ist, hat die aktuelle Glaubenskrise ein historisches Ausmaß erreicht. Der Relativismus, die Verneinung absoluter Wahrheiten, erweist sich als eine der größten Bedrohungen für den Glauben, der auf der Wahrheit gründet. Wenn immer sie eingeschränkt wird, kann sich die befreiende Kraft der Wahrheit nicht entfalten.
Um besser einschätzen zu können, was das bedeutet, ist es wichtig, daran zu erinnern, welche Bedeutung die Wahrheit für den Glauben hat. Im fünften Kapitel wird deutlich, dass es sich keineswegs um eine abstrakte, kaltherzige Wahrheit handelt, sondern um die personale Wahrheit Jesu Christi. Gott selbst offenbart sich der Menschheit als Wahrheit. Sie ist keineswegs unvernünftig, oder einschränkend, sondern übervernünftig und entschränkend. Denn die Glaubenswahrheit erweitert die Perspektive, sie übersteigt den Horizont der Vernunft, weil sie durch das Licht Gottes den ganzen Horizont des menschlichen Lebens sichtbar werden lässt.
Das eigentliche Problem des „modernen Christen“ besteht darin, sich mit dem Horizont des Hier und Jetzt zufrieden zu geben. Ausgeliefert an die Technik und den Fortschritt, trauen viele dem geoffenbarten Wort Gottes nicht mehr zu, „mehr“ zu bieten. Aber genau an dieser Stelle gilt es eine wichtige Weichenstellung vorzunehmen, die alternativlos zwischen Schein und Sein unterscheidet. Wer auf das Sein setzt, der setzt auf den Schöpfergott, der uns durch seine Gnade erlöst und sich geoffenbart hat. Wer hingegen auf den Schein setzt, versucht, ausgehend von rein menschlichen Kriterien die göttliche Wahrheit zu erklären, was im Grund nicht gelingen kann, weil auf diese Weise im letzten auf die Perspektive des Glaubens verzichtet wird. Papst Benedikt XVI. hatte dies sehr deutlich beschrieben und forderte eine „entweltlichte Kirche,“ die sich nicht aus der Welt zurückzieht, wohl aber sich auf eine andere Erkenntnisordnung stützt.
Ein toter Baum kann keine Früchte hervorbringen
Die Quelle der Erneuerung ist die Offenbarung und daraus schöpfen kann nur, wer sich ihr mit lebendigem Glauben nähert. Wie ein toter Baum keine Früchte hervorbringen kann, so kann auch ein toter Glaube keine Früchte hervorbringen. Dieser offensichtliche Aspekt wird oft übersehen, wenn von Reform und Erneuerung die Rede ist. Von diesem wichtigen Thema handelt das achte Kapitel des vorliegenden Buchs. Mit aller Klarheit wird jene Quelle sichtbar, aus der die Gläubigen und die Kirche schöpfen müssen.
Daran schließt sich ein Kapitel über die Einheit im Glauben an. Darüber wird zwar viel gesprochen und es gibt unzählige Initiativen und Versammlungen. Doch darf nicht vergessen werden, was die Grundlage für die Einheit ist: die Begegnung mit dem lebendigen Gott. Letztlich sind es nicht die menschlichen Dinge, die die Einheit garantieren, sondern nur die Rückkehr zu jenem Quellgrund, der Gott selbst ist.
Wie dies konkret gelingen kann, davon handelt das letzte Kapitel des vorliegenden Buches. Die Nachfolge Christi ist das Entscheidende; sie besteht grundlegend aus Umkehr, die nichts anderes ist als eine Hinkehr zur geoffenbarten Wahrheit und eine Abwendung vom Eigenen. Umkehr richtig verstanden führt zur inneren Erleuchtung, durch die die Wahrheit des Glaubens erkennbar wird. Ausgehend von dieser Gemeinschaft in der Wahrheit kann eine Gemeinschaft untereinander – Gemeinschaft durch die Wahrheit – gelingen.
Erneuerung kann nur durch den Blick auf das Eigentliche gelingen
Das Buch „Klarheit durch die Wahrheit“ beinhaltet wichtige Impulse für die Erneuerung der Kirche und des Glaubens. Dabei wird der Finger immer wieder auf die Wunde gelegt und die Wahrheitsfrage steht kontinuierlich im Mittelpunkt. Denn eine Erneuerung wird nur dann gelingen können, wenn die Kirche das Eigentliche nicht aus dem Blick verliert: die Verkündigung der Wahrheit, die ihr anvertraut ist. Jeder falsche Kompromiss, jede Verwässerung oder Relativierung der Wahrheit führt vom Weg ab, und ist der Barmherzigkeit entgegengesetzt, die darin besteht, die Wahrheit ob gelegen oder ungelegen zu verkünden.
Wenn sich eine Art Wohlfühlreligion breit macht, die fast nur noch am Menschen Maß nimmt und nicht mehr an der göttlichen Wahrheit, dann entsteht ein Vakuum. Es führt in der Regel dazu, dass sich die Menschen vom Glauben abwenden, denn wenn der Glaube nicht wahr ist, warum sollte man ihm folgen? Wenn sie diese nicht in der Kirche finden, werden sie diese woanders suchen. Mit anderen Worten: an der Wahrheit führt kein Weg vorbei, auch wenn man sich an ihr reibt und stößt. Gerade in unserer Zeit suchen immer mehr Menschen nach Wahrheit, sie wollen Klarheit, denn die Unwahrheit trägt nicht. Selbst wenn es unbequem ist, die Wahrheit zu suchen und ihr zu folgen, letztlich muss man sich ihr stellen. Das vorliegende Buch will dies erneut in Erinnerung rufen und ist als Ermunterung zu verstehen, nicht billigen Wahrheiten hinterherzulaufen, sondern jene göttliche Wahrheit zu suchen, die sich finden lässt und wahrhaft frei macht.
Jesus Christus ist „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Die Wahrheit Gottes ist demnach keineswegs bedrohlich, sondern das wahre Licht, dass die Finsternis der Lüge erleuchtet und diese vertreibt. Wer meint, ohne sie auskommen zu können, der täuscht sich, weil die Annahme dieser Wahrheit untrennbar mit der Annahme des Weges und des ewigen Lebens verbunden ist.
Klarheit durch die Wahrheit kann es nur dann geben, wenn die Wahrheit erkannt und angenommen wird. Wo dies geschieht, da geht dem Menschen nichts von dem verloren, was das Leben schön und groß macht. Im Gegenteil, erst im Licht der Wahrheit wird dies sichtbar. Dazu soll das vorliegende Buch eine wichtige Hilfe sein.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
[1] Ralph Weimann: Klarheit durch die Wahrheit. Beiträge zur Erneuerung des Glaubens und der Kirche, Media Maria Verlag, Illertissen 2024, geb., 160 S., ISBN 978-3-947931-59-0, Euro 17,95 (D), 18,40 (A); Homepage: www.bebeverlag.at
Ein entführter Priester erzählt von seinem Kreuzweg
Nigeria: Innerer Frieden trotz Todesangst
Entführungen von Priestern und Ordensfrauen nehmen in zahlreichen Ländern besorgniserregend zu. Das weltweite katholische Hilfswerk „Kirche in Not“ erhält wöchentlich neue Schreckensmeldungen. Ein besonderer Brennpunkt ist Nigeria. Dort wurden in den vergangenen Jahren hunderte Geistliche verschleppt. Einer von ihnen ist Pfarrer Idahosa Amadasu aus der Diözese Benin im südnigerianischen Bundesstaat Edo. Mehrere Tage lang litt er unter Angst, Demütigung, Hunger und Kälte. Er konnte nicht ahnen, ob er lebend entkommen würde. Sein Glaube gab ihm Kraft. „Kirche in Not“ hat das beeindruckende Zeugnis dieses Priesters aufgezeichnet.
Von Idahosa Amadasu
Im Juli 2020 war ich auf der Landstraße unterwegs. Ich hatte gerade in einer meiner Gemeinden die heilige Messe gefeiert und trug meine Soutane, war also als Priester zu erkennen. Aus dem Autofenster sah ich maskierte Männer näherkommen. Sie schossen auf mein Auto. Es war mir sofort klar, dass es sich um Entführer handelte. Ich stellte den Motor ab, damit sie das Feuer einstellten, und stieg mit erhobenen Händen aus. Einer der Entführer rannte in meine Richtung und schrie mich an: „Leg dich auf den Boden!“ – Später wurde mir klar, dass ich großes Glück gehabt hatte. Ursprünglich hätte mich ein anderer Priester begleiten sollen. Hätte er auf dem Beifahrersitz gesessen, wäre er mit ziemlicher Sicherheit von den Kugeln getroffen worden.
Mit dem Messopfer vereint
Die Entführer zwangen mich, ihnen in den Wald zu folgen. Als wir einen Hügel erreichten, stellten sie fest, dass es für mich wegen meiner Soutane schwierig war, hinaufzusteigen. Einer der Entführer öffnete meine Tasche, die er aus dem Kofferraum mitgenommen hatte. Er fand darin mein grünes Messgewand: „Zieh das an!“ Ich hätte fast eingewendet: „Dieses Gewand trage ich nur während der heiligen Messe.“ Doch ich befand mich in einer Lage, in der ich ihren Befehlen besser gehorchen sollte.
Letztendlich trug ich das grüne Messgewand von da an fünf Tage lang, in denen ich mich in der Hand der Entführer befand. Nach und nach entdeckte ich einen geistlichen Sinn darin: Es war eine Möglichkeit, in geistiger Weise an der heiligen Messe teilzunehmen, da ich sie in diesen Tagen nicht sakramental feiern konnte. Das Messgewand hatte auch einen praktischen Nutzen: Es schützte mich vor Insektenstichen und wärmte mich in den kalten und regnerischen Nächten.
Die Gesichter meiner Entführer konnte ich nicht sehen, weil sie Masken trugen. Die Entführer drohten mir häufig damit, mich zu töten, wenn ich nicht kooperiere. Ich durfte nichts tun, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Aber ich war mehr darauf bedacht, dass sie mir nicht meine innere Freiheit nahmen. Das Gebet hat mir dabei am meisten geholfen. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass ich nur dann einen klaren Kopf behalten würde, wenn ich meinen inneren Frieden bewahrte.
Die Entführer blieben nie am selben Ort. Wir bewegten uns vor allem nachts durch unwegsames Gelände und über steile Hügel. Wäre ich nicht körperlich stark, hätte ich diese Gewaltmärsche niemals bewältigen können. Ich dankte Gott auch dafür, dass ich festes Schuhwerk trug, denn mit Sandalen wäre es unmöglich gewesen.
„Gott ist mächtiger als alle Gewehre“
Jedes Mal, wenn ich Angst bekam oder die Entführer mich mit ihren Gewehren bedrohten, erinnerte ich mich daran: Gott ist mächtiger als alle Gewehre. Ich betete oft das Gebet zum heiligen Erzengel Michael. Ich habe nämlich meine Situation, in der das menschliche Leben nichts zählt, als etwas regelrecht Dämonisches erlebt. Ich habe immer auf den besonderen Schutz des Rosenkranzes vertraut, und ihn oft gebetet. Es ist tröstlich zu wissen, dass Gottes besonderer Schutz zwar nicht verhindert, dass Unglück geschieht, jedoch verhindert, dass dieses Unglück uns innerlich auffrisst.
Ich hegte keinen Groll gegenüber meinen Entführern. Vielmehr war ich voller Mitleid für sie: Wenn diese noch jungen Männer die besten Jahre ihres Lebens für solche niederträchtigen Machenschaften nutzten, was würden sie nur später in ihrem Leben tun? Ich nehme an, dass die meisten von ihnen verheiratet sind und Kinder haben. Ich habe mich oft gefragt, was sie ihrer Familie und ihren Kindern von dem erzählten, was sie taten.
Manchmal erlebte ich unerwartete freundliche Gesten. Sie haben mich daran erinnert, dass auch diese Männer trotz allem Kinder Gottes und zur Erlösung berufen sind. Ich hatte den Eindruck, dass die Entführer immer noch mit einem gewissen Bewusstsein für Gottes Gegenwart lebten. Als ich zum Beispiel fragte, ob ich mit einem ihrer Anführer sprechen könne, sagte einer von ihnen, ich solle warten, bis dieser mit dem Beten fertig sei. Und als mir einer der Kidnapper einmal gerösteten Mais gab und ich mich bedankte, antwortete er: „Bedanke dich bei Gott.“ Diese Vorkommnisse veranlassten mich, für die Bekehrung dieser Kriminellen zu beten.
Kraft aus Gottes Wort
Insgesamt habe ich versucht, die Tage so viel wie möglich im Gebet zu verbringen. Mir klangen immer wieder die Worte aus dem Ersten Johannesbrief in den Ohren: „Er, der in euch ist, ist größer als jener, der in der Welt ist“ (vgl. 1 Joh 4,4). Auch erinnerte ich mich an die Worte Christi bei seiner Passion: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11).
Genauso plötzlich wie ich gefangen genommen worden war, wurde ich am fünften Tag wieder freigelassen. Menschlich gesehen waren diese Erfahrungen voller Angst und Ungewissheit zu viel für ein einziges Menschenleben. Aber Gott weiß, wie er selbst aus den schlimmsten Situationen das Beste herausholen kann; seine Hand ist „nicht zu kurz“ (Jes 59,1). Sein ständiger Schutz führt uns durch alle Schwierigkeiten hindurch, bis wir unser endgültiges Ziel erreichen, wo das Böse unseren inneren Frieden nicht mehr trüben kann. Darauf vertraue ich und das verkünde ich als Priester – heute noch entschiedener denn je.
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)
Gottes Heimführung der Schöpfung in das ewige Reich des Friedens
Der Sinn des christlichen Kreuzes
In einem ersten Beitrag hatte der Philosoph, Arzt und Psychotherapeut Dr. med. Dr. phil. Boris Wandruszka (geb. 1957) eine „Metaphysik des Leidens“ skizziert und die verschiedenen Sinndimensionen angedeutet, die sich dem Menschen durch die Erfahrung des Leids erschließen können.[1] Darauf aufbauend geht Wandruszka nun der Frage nach, welche Antwort die christliche Offenbarung auf die Frage nach dem Sinn des Leidens gibt. Er taucht dabei in die Tiefen des Erlösungsgeheimnisses ein und stellt Jesus Christus als das Alpha und Omega der ganzen Schöpfung heraus. In den Plan der Wiederherstellung des Alls und seiner Heimführung in das Reich des Vaters aber ist jeder Einzelne einbezogen und zur aktiven Mitwirkung berufen.
Von Boris Wandruszka
Wie es kein Christentum ohne Auferstehung gibt, so gibt es auch kein Christentum ohne Kreuz, d. h. ohne das entsetzliche Leiden, das Christus Jesus am Kreuz durchlitten hat.[2] Während es aber niemandem Mühe macht, die Auferstehung als Zeichen des geretteten und alle irdische Negativität endgültig überwindenden Lebens anzunehmen, tut sich die Menschheit seit den Tagen des Pilatus unendlich schwer, in diesem Kreuzestod des „einzig Gerechten“ die gütige, liebevolle, ja rettende Hand Gottes zu sehen. Darum kann es nicht verwundern, dass seither immer wieder neue Auslegungs- und Deutungsversuche unternommen werden, dieses alle Weltvernunft sprengende Geschehen irgendwie verständlich zu machen.[3] Doch viele dieser Versuche enden mit dem nicht selten resignierten Eingeständnis, hier handele es sich um ein Mysterium, ein Paradoxon oder gar um eine sinnlose Absurdität, die, wenn als paradoxes Mysterium geglaubt, einfach hingenommen (Kierkegaard) oder, wenn als Absurdität empfunden, als verzweifelter Heilswahn des Menschen verworfen werden müsse (Celsus, Porphyrius, Julian, Goethe u.a.). In jedem Fall sei hier, so sagen diese „agnostischen“ Positionen, nicht wirklich etwas zu verstehen, da sowohl die Idee eines hingerichteten Gottes als auch die Idee einer barbarischen Hinrichtung als Erweis göttlicher Gerechtigkeit und Liebe schlichtweg aller rationalen und ethischen Vernunft ins Gesicht schlage. Ist das aber wirklich so? Lässt sich hier tatsächlich gar nichts verstehen? Können wir am Ende im Sinne des „credo quia absurdum“ - „ich glaube, weil es der Vernunft zuwiderläuft“ (Tertullian) nur blind und wider alle Vernunft „glauben“?
Vordergründiger Verstoß gegen geltendes Recht
Wollen wir nicht sogleich bei den höchsten spirituellen Mysterien einsetzen, sondern zunächst einmal ganz schlicht von „unten, am Sitz des Lebens“ beginnen, so lässt sich durchaus manches – historisch, politisch und sozialpsychologisch – verstehen.
Am Anfang möge daher das einfache, nichtsdestotrotz erschreckende Faktum stehen, dass Jesus keineswegs als erster und einziger ans Kreuz geschlagen wurde, die Kreuzigung vielmehr sowohl vor als auch nach ihm im Römischen Reich bei tausenden von unglücklichen Menschen zum grauenvollen Einsatz gekommen ist. Dabei hatten beide, die Römer wie die jüdische Elite, durchaus ihre „guten Gründe“, ihn zu beseitigen. Für die Römer war er nämlich ein Aufrührer und Rebell, der die Königsherrschaft in Israel beanspruchte und so die als göttlich gesetzte Autorität des römischen Kaisers infrage stellte; für die jüdische Elite dagegen galt er als unerträglicher Gotteslästerer, der nach altem Gesetz den Tod verdiente, weil er sich anmaßte, was nur dem einzigen Gott zusteht, nämlich Sünden zu vergeben und letztgültiges Heil zu spenden.
Aus der jeweiligen Sicht ihrer Ideologie befanden sich also beide Macht- bzw. Gesetzesrepräsentanten im vollen Recht und durften darauf pochen, sich ganz und gar „vernünftig“, d. h. im Sinne ihres Rechts- und Gottesverständnisses, zu verhalten. Oder anders: Jesus wurde hingerichtet, weil er sich den damals geltenden Vorstellungen von dem, was recht, gut und gottgemäß ist, in angeblich selbstherrlicher Anmaßung nicht fügte und rebellisch widersetzte. Während die Römer als Vertreter von „law and order“ in dieser Kreuzigung die Wiederherstellung und Wahrung der öffentlichen Ordnung sahen, hieß es in den Worten des obersten Priesters Kajaphas: „Ihr versteht nichts. Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht“ (Joh 11,49f.). Das war der offensichtliche, der „empirisch“ auf der Hand liegende Doppelsinnzusammenhang, den die Tafel am Kreuz – „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (Joh 19,19-22) – unmissverständlich zum Ausdruck brachte und der von den meisten Zeitgenossen Jesu durchaus in diesem Sinne verstanden wurde. Denn sie alle erinnerten sich sehr wohl der berühmten Stelle im 5. Buch Mose, die da lautet: „Wer am Kreuz hängt, ist verflucht. Seine Leiche darf nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn unbedingt am selben Tag begraben. Denn ein Aufgehängter ist ein Fluch Gottes“ (vgl. Dtn 21,23).
Keine Infragestellung der Autorität des Kaisers
Also alles in bester Ordnung? Bzw. mit dieser grauenvollen Kreuzigung wieder alles in Ordnung gebracht? Natürlich nur, wenn wir diese beiden Ideologien teilen, aber nicht, wenn wir begreifen, dass damit der tiefere bzw. vollständige Sinnzusammenhang nicht einmal berührt wird. Wie wir bald sehen werden, kündigt sich hier nämlich in der Tat ein ganz anderer, ein unendlich tieferer Sinn an, der zwar nicht auf der Hand liegt, aber – wie schon von den ersten Christen (und vor allem von Paulus und seiner „Kreuzestheologie“) – durchaus freigelegt werden kann.
Tasten wir uns also vor, Schritt für Schritt, und nehmen zuerst Jesu Gefangennahme und seinen Verurteilungsprozess in den Blick, und zwar so, wie ihn die Evangelien (bekanntlich die einzigen Zeugnisse in dieser Hinsicht) überliefern. Was sehen wir dann? Wir sehen als Erstes, dass dieser „Prozess“ selbst nach damaligen Maßstäben schon als solcher fragwürdig und voller formaler Unzulänglichkeiten und Fehler war. Weder hatte sich Jesus nämlich gegen die römische Besatzung aufgelehnt (wie z. B. die Sikarier und die Zeloten), noch hatte er die Autorität des Kaisers infrage gestellt (wie die Pharisäer und Essener), im Gegenteil sagte er: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Mt 22,21).[4]
Darüber hinaus kann ernstlich nicht behauptet werden, dass er mit seinem Einzug in Jerusalem und mit seiner Tempelreinigung einen politischen Aufstand anzetteln wollte, auch wenn er zugegebenermaßen mit beiden Handlungen eine religiöse Vollmacht beanspruchte, die der jüdischen Führungsschicht zum Stein des Anstoßes wurde und von ihrer Seite eine Steinigung (aber eben keine Kreuzigung) „gerechtfertigt“ hätte.[5]
Radikale Offenlegung der Gesinnung der Menschen
Damit tritt aber schon eine tiefere Sinnschicht von Jesu Schicksal in unser Gesichtsfeld: Mit seinem kompromisslosen, radikal wahrheitsverbundenen Auftreten forderte er jeden heraus, Stellung zu beziehen, die eigene – fragwürdige – Gesinnung offen zu legen und die „Komfortzone“ – das „Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Dasein“ – zu verlassen. Oder in seinen Worten: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ (Mt 12,22-32). Was hier von Jesus schonungslos aufgedeckt wird, ist die ernüchternde Tatsache, dass wir Menschen, freundlich ausgedrückt, einen labil-schwankenden Charakter haben, weniger freundlich, dass wir Mitläufer und Heuchler sind, die nur ihren eigenen Vorteil im Blick haben, vor allem den Vorteil der eigenen Sicherheiten und Pfründe (selbstverständlich bis heute). Damit lehrt uns Jesus zweierlei ungeschminkt: erstens, dass gesellschaftlich-politische Institutionen zu Machtmissbrauch und Korruption neigen (vgl. Jesu Mahnung Mt 20,25), und zweitens, dass der von Gott losgelöste Mensch der Selbstherrlichkeit, Selbsttäuschung, Lüge und Intrige verfällt (Mt 16,4): „Diese böse und treulose Generation fordert ein Zeichen, aber es wird ihr kein anderes gegeben werden als das Zeichen des Jona.“
Sich dessen schon am Anfang seines öffentlichen Wirkens voll bewusst, ahnte Jesus also, was „ihm blühen würde“ – mindestens, wie in Nazareth, Unverständnis, bald aber auch Hass, Verfolgung und Mordgesinnung. Ja, es war sogar der Sinn dieser öffentlichen Dynamik und damit Jesu Wille, dass nichts unter dem Scheffel bleibe, sondern alles, Gutes wie Schlimmes, offenbar werde. Diese radikale Offenlegung erfolgte aber keineswegs nur, wie vielleicht bei Johannes dem Täufer, um zu warnen und anzuklagen, sondern um eines letzten positiven Sinnes willen, nämlich darum, „das Himmelreich“, sprich die Befreiung und glückselige Vollendung der menschlichen Existenz im nahenden Gott zu verkünden.
Unausweichlicher Konflikt mit dem Anspruch dieser Welt
Schon mit diesen ersten Auslegungen wird deutlich, dass das Leiden Christi keineswegs erst mit der Kreuzigung begann, nicht einmal mit Gethsemane, sondern mindestens seit seinem öffentlichen Auftreten drohte, nach den Evangelien sogar schon vor seiner Geburt angebahnt und mit seiner Geburt – Myrrhe und Flucht nach Ägypten! – zum Thema wurde. Und der Sinn davon? Dass das Göttliche in dieser Welt eine Provokation ist und darum Ablehnung und Anfeindung erfährt; dass ihm also sein rechtmäßiger Platz in der Welt streitig gemacht wird. Doch gerade dadurch, dass Jesus (als Messias und Gottes Sohn) in seiner eigenen Person den Anbruch des Gottesreiches manifestiert, wird die Welt in ihrer Selbstsicherheit entlarvt und in ihrer scheinbaren Selbstgenügsamkeit erschüttert.
Was folgt? Ein unausweichlicher Konflikt auf Leben und Tod: Als Vertreter und Mittler von Gottes grenzenlosem Liebes- und Heilsangebot muss Jesus um Gottes Wahrheit und Liebesangebot willen sein eigenes Leben einsetzen, d. h. bereit sein, sein irdisches Leben (nicht sein Leben überhaupt!) für die Rettung der Menschen als Opfer darzubringen. Nicht die Besänftigung eines angeblich göttlichen Zorns,[6] sondern die Treue Jesu zu seinem Auftrag stehen am Anfang seines Leidensweges und verlangen seine Selbsthingabe.
Halten wir fest: Leiden und Tod Jesu sind als erstes die bittere und unausweichliche Konsequenz seines Selbst- und Gottesverständnisses, darüber hinaus seines göttlichen Heilsauftrages und seiner sittlichen Lauterkeit, die es nicht zulassen, dass er der Wahrheit untreu wird und auf Hass mit Hass, auf Gewalt mit Gewalt, auf Lüge mit Lüge antwortet.
Die vollkommen neue „Für-uns-Dimension“
Das ist aber längst nicht alles, das lehren sowohl die Evangelien als auch Paulus. Zentral steht für dieses Neue der bekannte Satz: „Er ist für unsere Sünden gestorben“ (1 Petr 2,4; 1 Joh 2,2; Röm 6,10; Gal 1,4; 1 Kor 15,3-5) – ein ungeheuer bedeutungsvoller, tiefer, aber auch schwieriger und oft missverstandener Satz, der einer behutsamen Auslegung bedarf. Entscheidend darin ist zweifellos das „für uns“, dem wir näherkommen, wenn wir uns seine drei Bedeutungen klar machen:
• Erstens wird dieses „für uns“ im Sinne von „an Stelle von uns“ gebraucht und meint Jesu Übernahme unseres Verlorenenstatus, damit aber seine grenzenlose Solidarität mit allen in die Irre gegangenen Geschöpfen: Mitleid, Mitgefühl, Schicksalsgemeinschaft in Leid, Tod, Gottesferne und Nichtswürdigkeit;
• zweitens wird das „für uns“ im Sinne der Wiederherstellung der Gerechtigkeit verstanden, d. h. als Wiederaufrichtung der rechten Schöpfungs- und Wertordnung: Trauerprozess/Wiedergutmachung/Sühne/Buße, die wir nie voll leisten können, die aber Jesus als „heiler und vollkommener Mensch“ für uns leisten kann;
• und drittens bedeutet das „für uns“ so viel wie „zu unserer Rettung“, „zu unserem Heil“, also Befreiung, Reinigung, Vervollkommnung und Heiligung der gebrochenen menschlichen Existenz erst durch Jesu absoluten Gehorsam am Kreuz und dann durch seine Auferstehung, d. h. durch die absolute Bejahung und Annahme seitens Gottes.
Erklärt dies aber auch schon zur Genüge sein Leiden und seinen Tod, gar in dieser grausamen Weise? Hätte Gott nicht, so fragen immer noch und trotz der drei „Für-uns-Dimensionen“ viele, einen weniger barbarischen Weg für die Rettung der Welt wählen können?
Aufdeckung der abgründigen Grausamkeit des Menschen: „homo homini lupus"[7]typo3/#_ftn7
Die eine Antwort kennen wir schon: In Leiden und Tod Jesu offenbart sich – wenigstens zunächst – keineswegs nur oder vornehmlich Gottes Härte und „Zorn“, sondern des Menschen Grausamkeit, Herzlosigkeit und damit eigentlich seine radikale Nichtsverfallenheit und Nichtswürdigkeit. Es sollte darum an uns das „Ecce homo!“ ergehen und ausrufen: „Seht, dazu seid Ihr, die Menschen, fähig, das musste in all seiner finsteren Abgründigkeit offenbar werden.“ Und in der Tat reicht die Neigung zum Bösen im Menschen so tief, dass es wohl kaum weniger sein konnte als diese grausame, ungerechte, höhnische Hinrichtung, um eine Ahnung von der Tiefe dieses Abgrundes zu bewirken. Was aber ist das Böse? Es ist die bewusste und gewollte Abwendung vom Guten, vom Leben, vom heiligen Sein Gottes und die Zuwendung hin zum Schlechten, zum Tod, zu Zerstörung und letztlich zum unheiligen Nichts. Denn wenn Gott Gott ist, also die urpositive Fülle des Seins und Lebens selbst, dann muss schon die geringste Abwendung von ihm, wenn sie bewusst und willentlich geschieht, die Bejahung des Nichts, des Todes, der Zerstörung, also „Nekrophilie“ bedeuten, was den ersten Tiefsinn von Jesu Leiden offenbart: Der gute lichte heile Abyssus Gottes fordert den düsteren unheilen Abyssus seiner selbstsüchtigen Geschöpfe heraus, dass er sich zeige, ungeschminkt und uneingeschränkt.
Mit seiner Hinrichtung, der er sich freiwillig und widerstandslos ausliefert, beweist uns Jesus so nicht nur verbal und theoretisch, sondern existenziell und praktisch, was es bedeutet, sich von Gott zu trennen: Es bedeutet nichts weniger als ins physische, soziale und geistige Nichts zu fallen, in die totale Einsamkeit und Verlorenheit, von allem getrennt. So eben – von allem getrennt – musste er sterben, leiden, hingerichtet werden, um genau dieses unser (nicht sein!) Existenzial, d. h. unsere Nichtsverfallenheit, ja unsere wahre Nichtswürdigkeit offenzulegen. Erkennen wir dies, verstehen wir auch, warum Jesus am Ende sogar von Gott verlassen wird und verlassen werden musste, also der inneren Verbundenheit mit seinem Vater verlustig ging:[8] Er musste dies erleiden, um sowohl unsere (zumeist verdrängte und beschönigte) Gottverlassenheit ans Tageslicht zu bringen, als auch, um unsere einzigmögliche Rettungsperspektive aufzuzeigen. Mit den fiktiven Worten Jesu: „Wenn ich selbst durch die totale Gottverlassenheit zum unzerstörbaren Leben hindurchgehe und mit Gottes Hilfe auch hindurchgetragen werde, dann kann jeder von euch, selbst der schlimmste Sünder, der denkbar ist, wenn er nur umkehrt, zum Urquell des Lebens, zum Leben schlechthin, zu Gott wieder zurückfinden. Denn niemandem wird die Vergebung vorenthalten, jeder kann – 7 x 70 Mal! – gerettet werden, niemand wird verdammt und verloren gegeben, außer dem, der es selbst in totaler Selbstverstockung will.“
Gottes „Zorn“ als Ausdruck der Folge unserer Abkehr vom Leben
Verstehen wir dies, verstehen wir schließlich auch die „Gottes-Zorn-Formel“. Dieser „Zorn“ ist nämlich nichts anderes als unsere Abkehr von Gott bzw. – als ihre notwendige Folge – unser schmerzhaft-leidvolles Getrenntsein von Ihm, das eben immer auch die Hinkehr zu allen Formen der Negativität – der Leere und Sinnlosigkeit, des Lebensüberdrusses und der Einsamkeit, der Schuld und Verzweiflung etc. – einschließt. Dieses von uns selbst verursachte Leid projizieren wir als angebliche Kränkung und Straferwartung auf Gott, die uns dann als sein „Zorn“ erscheinen. In Wahrheit ist dieses Leid aber nichts anderes als die gerechte und unausweichliche (!) Folge unserer Abkehr von Gott bzw. von seiner sittlichen Weltordnung.
Indem Jesus in diesen göttlichen „Zorn“ der durch die Sünde verursachten Nichtswürdigkeit, Verlorenheit und Gottfremde hineingeht, aber auch hindurchgeht, besänftigt er nicht Gott, der vielmehr wie der Vater in der Parabel vom verlorenen Sohn nichts so sehr „ersehnt“ wie unsere Um- und Heimkehr, sondern er führt uns aus der selbstverschuldeten Nichtsverfallenheit hinaus zurück in die beglückende Gottverbundenheit. Jesu „Für-uns-Sein“ (= Emmanuel!) bedeutet also nicht, dass unsere Sünden und ihre so leidvollen Folgen der Lebens- und Gottesentfremdung durch ihn einfach weggezaubert werden, vielmehr sagt er: „Kehrt um, durchleidet im Reueschmerz eure Gottferne, macht soviel wieder gut, wie ihr nur gut machen könnt, und vertraut im Übrigen darauf, dass der Vater und ich euch an der Hand nehmen, euch die Folgen der Sünde nicht anrechnen und euch freudig wieder bei uns aufnehmen.“ Grenzenlose Barmherzigkeit, Vergebung, Liebe, Freude also – und kein göttlicher Zorn, keine Gegenleistung unsererseits (die sowieso unmöglich ist), sondern Überwindung der so schmerzlichen, scheinbar „zornigen“ Todesverfallenheit und Lebensabgetrenntheit. Nicht in der Zumutung (und bloß scheinbaren Strafe), die unvermeidlichen inneren und äußeren Folgen der Abwendung von Gott zu durchleiden, sondern in dieser heilsamen Barmherzigkeit vollendet sich Gottes Gerechtigkeit!
Wenn man also schon von der „verletzten Ehre Gottes“ (Anselm)[9] sprechen will, dann nur in dem Sinne, dass seine Ehre, d. h. sein heiliger Wille, gerade darin besteht, die Negativität der Sünde mit ihren desaströsen Folgen nicht zu verewigen, sondern alles zum Guten zu wenden und zum Guten zu führen. Wäre dem nicht so, müsste man sich fragen, was das für ein Gott wäre, der etwas, das sich heilen und vervollkommnen lässt, übergeht bzw. für immer bestehen lässt. Gott schuldet es sich gewissermaßen selbst, dass alles, was sich nach Vollkommenheit sehnt, durch ihn auch zur Vollkommenheit gebracht wird.
Wer demnach sündigt, sich also bewusst gegen Gott und seine sittliche Weltordnung stellt, der schadet nicht Gott, der schadet sich selbs,[10] und zwar, wie Anselm richtig sah, „unendlich“, denn er wendet sich ja von der absoluten Lebensfülle selbst ab und dem radikalen Nichts zu. Weil dieser Verlust mit der Zurückweisung des unendlichen Gottes selbst gleichsam „unendlich“ ist, musste sich Gott selbst, natürlich nicht unmittelbar als solcher (was unmöglich ist), sondern im vollkommenen Menschen Jesu, zur Verfügung stellen, um in einem unendlichen Opfer und seiner dann auch unendlichen Überwindung jede mögliche Sünde, jede mögliche Gottesabwendung, jeden möglichen Tod und alles mögliche Nichtsein aufzuheben und endgültig zu „besiegen“. Darum konnte es nicht weniger sein als die Kreuzigung, nicht weniger als solche Grausamkeit und Ungerechtigkeit, als solche, von Jesus auf sich genommene Verlorenheit und Gottesferne – eben als die Nacht eines scheinbar ewigen Karfreitags.
Heimführung der Schöpfung in das ewige Reich der Liebe: der kosmische Christus
Doch ist hier Entscheidendes zu ergänzen. Obschon es kein Zufall ist, dass Jesus am Kreuz um des tödlichen Ernstes unserer Nichtsverfallenheit und Nichtswürdigkeit willen nur den Anfang von Psalm 22 zitiert, uns also nicht zu früh mit den letzten Psalmversen tröstet (was unserer Neigung zu Beschönigung und Selbstbetrug Vorschub leisten würde), sondern uns (und sich!) in seiner Solidarität mit uns der zerreißenden Wahrheit der menschlichen Verlorenheit voll aussetzt, so weiß er doch auch, wie der Psalm endet. Ja, er weiß trotz seines Eloi, lama sabachthani, dass auf seinen Tod, wie er es selbst oft genug vorausgesagt hatte, seine Auferstehung folgen würde,[11] und d. h., dass für den, der mit ihm durch das Nichts der Gottferne geht, die Gottvereinigung versprochen ist (vgl. Ps 22,20-32).
Damit aber wird nicht nur die unendlich klaffende Wunde der Schöpfung, an der sie zu verbluten droht, geschlossen, also der höchste Heilssinn, der überhaupt denkbar ist, real eingelöst und vollzogen, sondern es wird die Schöpfung so, wie sie Gott am Anfang dachte („Denn alles ist sehr gut“), in und mit Jesus, dem reinsten und vollkommensten, weil göttlichen Menschen, der in seinem „Leib“ alle gottwilligen Geschöpfe mit sich trägt, zum Vater des Alls zurückgebracht, in jenes Reich, wohin wir in Wahrheit gehören, in die Heimat des ewigen Friedens und der ewigen Freude, der endlosen Schöpfertätigkeit und der ewig unverbrüchlichen gegenseitigen Liebeserweise.
So schließt sich der Kreis unserer zweizeitigen Betrachtung und wir kehren – auf höherer Ebene – zu unserem ersten Essay zurück. Warum und wie? Die Antwort lautet: In Jesus, dem Christus, dem Gottmenschen, der sich nie von Gott entfernte, nie aus dem Willen des Vaters heraustrat, nie einen Makel an seinem Menschentum erlitt, werden nicht nur alle Defizite des Menschen („Verwirrungen und Sünden“) gesühnt, d. h. endgültig, ja immer schon, behoben, sondern in seiner leibhaften Existenz, in der sich das gesamte physische Universum bündelt – sind doch darin alle physikalisch-chemischen, biologischen und human-kulturellen Schichten exemplarisch vereint –, wird das gesamte riesige All, die Schöpfung von Anfang bis Ende, in ihm als dem Alpha und Omega, zum Ursprung der göttlichen Heimat, in das reine liebende Personsein Gottes, und das heißt: in das liebende Angenommen- und Gesehenwerden zurückgeführt, unendlich vervollkommnet und durchgöttlicht: Theosis pur. Alles, was gut ist, zum Guten berufen und der noch unverwirklichten Kreativität trächtig ist, wird gesammelt, aufbewahrt, gefördert, auf seinen rechten Weg gebracht und von Gott unendlich ergänzt und vollendet.[12]
Selbst jene Kreaturen, die meinen, radikal mit ihrem Leben gescheitert zu sein, die aus welchen Gründen auch immer, die falsche Wahl trafen, zu ihrem wahren Selbst die Tür nie fanden (Kafkas Mann vom Lande „Vor dem Gesetz“!) und nie wirklich bei sich, in ihrer Schöpferkraft, ihrem Auftrag und im Glück echter Liebe ankamen, werden von Christus Jesus, vom göttlichen Menschen, zu sich (im doppelten Sinne) geführt. Alles, was fehl ging, wird wieder gut gemacht; alles, was gut ist, bewahrt, und al-les, was noch Gutes bringen kann, ermutigt, sich hervorzuwagen. Eben weil Jesus ganzer Mensch und ganzer Gott ist, darum kann nur er der Weg zu Heil und Vollkommenheit sein, denn selbst, wenn diese Schöpfung vollständig unterginge (was nicht der Fall sein wird), so wäre sie doch in seiner Person immer schon gerettet und im dreifach Hegelschen Sinne „aufgehoben“: bewahrt, ergänzt und überhöht. Und in der Tat: Über ihn hinaus kann es keine Steigerung geben, über ihn, der schon mit seiner Erschaffung mit dem „Wort“, mit der zweiten Person Gottes, dem Logos eins war und dies ist und immer bleiben wird.[13] Darum: Wer sich ihm anheimgibt, hat an seinem Königtum teil;[14] der sich ihm übergibt, ist selbst ein Christus, wie Paulus sagt,[15] ein Mit-Christus gleichsam und ist, wie das Alte Testament schon wusste, „nur wenig geringer als Gott selbst."[16] Sollte das nicht alles Kreuzesleiden aufwiegen und rechtfertigen, sollte diese Erhöhung eines dem Nichts zustürzenden Seienden zum göttlichen Sein und Sinn schlechthin nicht alles zwischenzeitliche Leid entkräften, überwiegen und für diese Weltzeit erträglicher machen? Uns ein für alle Mal trösten und zuversichtlich stimmen, selbst wenn hiesig „alles schief zu laufen scheint“?
Mitwirkung jedes Einzelnen an der umfassenden Wiederherstellung: restitutio ad integrum und darüber hinaus
Vier Sinndimensionen werden uns so durch Leben und Leiden des Gottmenschen Jesu schlussendlich offenbar, deren letztes Ziel und letzter Sinn die Aufhebung der Urkontingenzen[17] des geschöpflichen Lebens sind und an denen wir uns orientieren können und orientieren sollen:
• Zum ersten wird uns zugesagt, dass durch die Solidarität Jesu mit den Verlorenen und Gemarterten alle Wunden gesehen, gewürdigt und geheilt, alles Unheil überwunden, die Tränen allen Leids und allen Schmerzes getrocknet werden (Off 21,4): Erlösung und Wieder-Gut-Machung.
• Zum zweiten zeigt uns Jesu Leben und Leiden, dass jedes Geschöpf in diesem Universum eine Aufgabe und einen Sinn erfüllen kann und erfüllen soll, einen „Auftrag“, durch den seine Existenz unendlich „gerechtfertigt“ ist. Oder anders: Da wir gebraucht werden (und Gott jeden von uns für die Vollendung seiner Schöpfung braucht), verliert unsere vordergründig oft so sinnlos anmutende Existenz alle ihre Zufälligkeit („Kontingenz“) und erhält gleichsam einen Ewigkeitswert, eine existenzielle Notwendigkeit, eben den „Gottesstempel des Berufenseins“, und kann daher niemals mehr überflüssig, sinnlos, zwecklos, belang- und bedeutungslos sein.[18]
• Zum dritten gibt er uns mit dem höchsten Gebot, dem der Gottes-, Nächsten- und Feindesliebe, die Botschaft mit: „Du bist geliebt (und sollst selbst wieder lieben), ich will, dass du bist, und also geht es nicht ohne dich. Du bist für mich und für das Universum unendlich wichtig. Ich brauche dich, um lieben zu können; und wir brauchen dich, damit du andere liebst, die dann und dadurch erfahren, dass es ohne sie nicht geht, dass sie wie du unverzichtbar für das Ganze sind, dass jeder ein leuchtender Stern ist, ohne dessen Lieben und Geliebtwerden sich das All verfinstern und auf ewig verdunkeln würde.“
• Und zum vierten ist uns zugesagt, dass wir einst mit Gott selbst, also mit der absoluten Nichtkontingenz, der absoluten Unzufälligkeit, vereint werden: Unio mystica für immer.
Diese vier Sinndimensionen erweisen sich so als jene (Ur-)Mächte, die die grundlegenden Kontingenzen des Menschseins aufheben und überwinden:
• die Kontingenz unserer Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit, also unsere letztliche Seinsnegativität;
• die Kontingenz unseres Ungebrauchtseins, also unsere letzte Unbezogenheit und Sinnlosigkeit;
• die Kontingenz unserer letzten Wertlosigkeit oder Ungeliebtheit (Ungeborgenheit);
• und die Kontingenz der absoluten Getrenntheit und Unverbundenheit (Verlorenheit).
Indem Jesus in grenzenloser Solidarität mit der nichtsverfallenen Kreatur durch den totalen physischen, seelischen und geistig-geistlichen Tod hindurchgeht[19] und zum Urleben Gottes und damit zum göttlichen Ursein, Ursinn und Urwert zurückkehrt, und zwar in einzigartig-exemplarischer und unüberbietbarer Weise, bahnt er uns den nicht mehr zurücknehmbaren Weg vom Nichtsein zum Sein, von der Sinnlosigkeit zum Sinn, von der Wertlosigkeit der Lieblosigkeit zum Wert des endgültigen und einzigen Geliebtseins und damit zur ewigen Einigung mit dem absoluten unversieglichen Leben, dem „Must-be“ göttlichen Seins.[20]
Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 5/Mai 2024
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[1] Zur Vertiefung: Boris Wandruszka (2023): Philosophie des Leidens. Zur Seinsstruktur des pathischen Lebens, 1. Band: Phänomenologie des Leidens; 2. Band: Metaphysik des Leidens, Alberverlag, Freiburg i. B.
[2] Vgl. Wolfgang Beinert (2002): Kreuzes Zeichen. Das Christentum, Herder, Freiburg i. B.; Jan-Heiner Tück (2023): Crux: Über die Anstößigkeit des Kreuzes, Herder, Freiburg i. B.
[3] Vgl. z. B. Ulrich Kühn (2003): Christologie, UTB, Göttingen; Jürgen Moltmann (1972): Der gekreuzigte Gott, Chr. Kaiser, München; Pinchas Lapide (1988): Ist das nicht Josephs Sohn? Jesus im heutigen Judentum, GTB, Gütersloh; Joseph Ratzinger (2006): Der Gott Jesu Christi, Kösel, München; Manfred Clauss (2010): Der Kaiser und sein wahrer Gott. Der spätantike Streit und die Natur Christi, Primus, Darmstadt.
[4] Vgl. zum historischen Umfeld Jesu Alexander Demandt (2001): Hände in Unschuld, Herder, Freiburg i. B.; Manfred Clauss (2015): Ein neuer Gott für die alte Welt. Die Geschichte des frühen Christentums, Rowohlt, Berlin; Ernst Dassmann (2000): Kirchengeschichte I. Ausbreitung, Leben und Lehre der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten, Kohlhammer, Stuttgart.
[5] Wie die Tötung des Stephanus und die versuchte Steinigung der Ehebrecherin beweisen, durften die Juden zwar niemanden kreuzigen, aber durchaus steinigen. Es ist darum eine berechtigte und spannende Frage, warum Jesus vom Sanhedrin nicht zur Steinigung verurteilt wurde.
[6] Das ist, wörtlich genommen, eigentlich heidnisch oder zumindest alt-alttestamentlich. Dass die Sache mit dem „Zorn“ prekär ist, beweist schon die Tatsache, dass er zu den sieben Todsünden zählt, die Gott wohl kaum begehen kann, und in den Evangelien im Falle von Menschenzorn gebannt wird (Eph 4,26). Philosophisch-geistontologisch kann Gott als zeitlos-vollkommenes Wesen zudem unmöglich zornig sein, da der Zorn im Vollsinne sowohl Verletzbarkeit als auch Zeitlichkeit impliziert. Da niemand auf Gott direkt einwirken und ihn verletzen, auch ihm seine Ehre nicht (wie Anselm von Canterbury meint) rauben kann, kann er nicht zornig werden. Weiter unten werde ich zeigen, dass der „Zorn“ trotzdem sinnvoll gedeutet werden kann.
[7] Vgl. Béla von Brandenstein (1984): Der Mensch vor Gott, J. Berchmans, München.
[8] Was Jesus bekanntlich in seinem Schrei „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ (Psalm 22 und Mt 27,46) ausdrückt.
[9] Vgl. Anselms von Canterbury Buch: Cur deus homo? (Warum Gott Mensch wurde?).
[10] und noch einmal: Eben dieser selbst zugefügte Schadensschmerz ist es, den wir als „Zorn“ oder „Strafe“ in Gott hineinprojizieren, der aber in Wahrheit nur die innere und äußere Konsequenz unserer Seinsverneinung, wenn man so will, unserer Selbstverletzung und Selbstbestrafung darstellt.
[11] Joh 2,19: „Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten“ und Lk 9,22: „Er aber sprach: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und am dritten Tage auferstehen."
[12] Das war wohl auch die Grundansicht von Teilhard de Chardin. Vgl. Teilhard de Chardin (1959): Der Mensch im Kosmos, C. H. Beck, München.
[13] Vgl. Gerhard Hotze (2009): Zugänge zur Christologie, Herder, Freiburg i. B.
[14] Offb 1,6: „Er hat uns zu Königen gemacht und zu Priestern vor Gott, seinem Vater. Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht in alle Ewigkeit."
[15] Paulus, Galaterbrief 2,20: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir."
[16] Psalm 8,6: „Nur ein wenig geringer hast du ihn gemacht als Gott selbst, ja, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn ausgestattet."
[17] Kontingent ist alles, was auch nicht sein könnte, etwa alles scheinbar bloß Zufällige und Sinnlose.
[18] Übrigens selbst der endgültig Böse nicht, der allerdings nur unfreiwillig bzw. gegen seinen Willen seine (positive) Funktion im Ganzen erfüllt.
[19] Vgl. Chiara Lubich (2001): Der Schrei der Gottverlassenheit, Neue Stadt, München; vgl. auch Irvin Yalom (1989): Existentielle Psychotherapie, Ed. Humanistische Psychologie, Köln.
[20] Vgl. Gerhard Ludwig Müller (2003): Katholische Dogmatik, bes. Eschatologie, Herder, Freiburg i. B., 516-568.
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