Benedikt XVI.: Auf die „Sprache der Natur“ hören

„Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen?“, so fragte der Papst bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag. Und um zu zeigen, dass es tatsächlich so etwas wie eine „Natur“ gibt, die einen ethischen Anspruch an uns Menschen stellt, aus der sich eine „Weisung“ für unser Handeln ableiten lässt, verwies er auf die ökologische Bewegung seit den 70er Jahren. Sie sei und bleibe „ein Schrei nach frischer Luft“, „den man nicht überhören“ dürfe „und nicht beiseite schieben“ könne: „Jungen Menschen war bewusst geworden, dass irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt.“ Die Erde trage selbst „ihre Würde in sich“ und wir müssten „ihrer Weisung folgen“. Dasselbe gelte auch für den Menschen und seine Natur. Damit eröffnete Benedikt XVI. einen Zugang zum Naturrecht, den Weihbischof Dr. Andreas Laun in seinem Beitrag aufgreift.

Von Weihbischof Andreas Laun, Salzburg

Im Bundestag in Berlin hat Papst Benedikt über die „Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats“ gesprochen und seine Rede wurde allgemein mit Begeisterung aufgenommen. Dass sie nicht immer auch verstanden wurde, ist wohl anzunehmen, umso mehr empfiehlt es sich, die Gedanken des Papstes nochmals nachzudenken. Wer sie versteht, weiß: diese Rede ist für ganz Europa von größter Wichtigkeit, sie müsste das Antlitz des heutigen Europas radikal verändern, ihr Grundgedanke ist Revolution gegenüber dem, was die breite Mehrheit der politischen Führungsschichten denkt. Und das ist so, obwohl der Papst nichts anderes tut, als uralte Wahrheiten, die man in der Neuzeit mit Hohn verbannt hat, wieder zu formulieren, zu erklären, zu verteidigen.

Es geht, stellt sich der Papst selbst das Thema, um die „Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates. Damit greift er einen viel gebrauchten Begriff auf und nennt zwei Begriffe von höchster Bedeutung, ersehnt von den Menschen aller Zeiten: Freiheit und Recht! Fehlen sie, verkommt, wie Augustinus gesagt hat, der Staat zu einer „großen Räuberbande“.

In seiner Rede gibt der Papst die Antwort: Damit der Staat ein Rechtsstaat einschließlich der so kostbaren Freiheit bleibt oder wird, bedarf es des „Naturrechts“! Das ist das Recht, das sich aus der Schöpfung ergibt, mit der Vernunft erkannt werden kann, allem nur menschlichen Recht überlegen ist und von Gott stammt.

Jeder, der weiß, wie die heutigen Führungsschichten in Europa denken, weiß: Den Begriff Naturrecht scheinen sie nicht mehr zu kennen und es zu fordern ist darum eine Provokation. Denn die Meisten denken genau das Gegenteil. Aber was ist dieses „Gegenteil“ und was ist „Naturrecht“?

Das heute herrschende „Gegenteil“ des „Naturrechts“ ist der „positivistische Naturbegriff“, der behauptet: Aus der „Natur“, also aus dem, was existiert, lässt sich kein Gut und kein Böse ableiten und unterscheiden. Die „Dinge“, tote und lebende, existieren und sind einfach das, was sie sind, irgendeine höhere Ordnung und Moral lässt sich aus ihnen nicht herauslesen, mit keiner Anstrengung der Vernunft! Daher ist jede Unterscheidung von gut und böse, Recht und Unrecht, jedes Gesetz im Staat nur Menschenwerk, Menschensatzung. Der Mensch ist es, der das alles selbst „macht“.

An dieser Stelle sollte man die Stimme des Papstes Johannes Paul II. hinzunehmen, der in Evangelium vitae (22) das Gemeinte so beschreibt: In dieser Sichtweise wird der Mensch selbst „zu einer Sache, die er als sein ausschließliches, total beherrschbares und manipulierbares Eigentum betrachtet.“ Erst recht wird dann die ganze Natur „zu einem Material entwürdigt, das allen Manipulationen offen steht“! Wer denkt bei dieser Beschreibung nicht an die Programme der Genmanipulation bei allem, was lebt, oder auch an die absurde Gender-Ideologie, die behauptet, der Mensch müsse sein Geschlecht selbst wählen können! Dieser Naturbegriff reduziert alles Seiende auf Moleküle, Atome, Gene, alles höchstens nützlich, aber buchstäblich „wertlos“, ohne jede Kostbarkeit in dem, was ist. Die Folge ist: Der Mensch meint, er selbst könne Werte und sittliche Gebote schaffen – durch seinen Willen und durch den Willen der Mehrheit! „Sollen“ und „Moral“ sind nur Machwerk der Menschen! Aber wohin diese Auffassung in letzter Konsequenz führt, haben nicht erst, aber besonders grausam die großen Diktatoren Hitler und Stalin der Menschheit vorgeführt! Kaum zu glauben, dass die öffentliche Meinung es zustande bringt, sogar diese, mit so viel Blut bezahlten „Lehren“ in nur einigen Jahren schon zu vergessen! Die heutigen Entwicklungen beweisen es: Man denke an die Wiederzulassung der Folter, die weltweit eingeführten Abtreibungs-Gesetze in Staaten, die von sich selbst behaupten, „Rechtsstaaten“ zu sein!

Unbezweifelbar, es gibt „Natur“, die nur „ist, wie sie ist“, „bloße Materie“, ohne innere Werte und ohne magische Kräfte, Seiendes, das kein „Du sollst“ und kein Tabu begründen kann, bloßes „Sein“, das der Mensch nach Belieben nutzen kann.

Dennoch neigen die Menschen dazu, sich in bestimmten Zusammenhängen auf eine „Natur“ zu berufen, die Rechte und Normen zu begründen scheint, ohne dass man deswegen den oben genannten Leer-Begriff der Natur aufgeben würde:

In der Debatte über die Homosexualität sagt man häufig: Wenn „jemand diese Neigung hat, ist das eben seine Natur, daher darf er dieser natürlichen Neigung entsprechend leben!“ Warum eine Neigung, nur weil es sie gibt, auch gut sein muss und Rechte begründet, fragt man dann nicht weiter. Und in der Gender-Ideologie behauptet man umgekehrt das „Recht“ des Einzelnen, nach eigenem Willensentscheid Identität und Neigung zu ändern im Rahmen des Möglichen. Unbeantwortet bleibt auch, warum diese Argumentation „Neigung ist Recht“ nicht genauso für Pädophilie gelten sollte. Ebenso mit der „Natur“, wenn auch der Wahrheit schon näher, argumentieren die Tierschützer, wenn sie von der „artgerechten Haltung“ der Tiere sprechen und damit sagen: Man muss der „Natur“ dieser Tiere Rechnung tragen, um ihnen Leiden zu ersparen und auch um den erwünschten Nutzen der Tierhaltung wirklich zu erhalten! Aber auch da kann man natürlich fragen: Wenn Tiere nur „Material“ sind, warum soll man ihnen Leid ersparen?

Wirkliches Naturrecht erreicht man so immer noch nicht: Wieso „soll“ die Neigung eines Menschen wertvoll sein und darum ein „Sollen“ und Recht begründen, wenn der Mensch wertlos und nur „Material“ ist, zufällig von der „Evolution“ angehäufte Sammlung von Molekülen? Erst gilt das für Pflanzen und Tiere!

Aus dem Sein kein Sollen – sagen die Positivisten, aber das gilt nur, wenn im Sein kein Wert enthalten ist, der dann doch Sollen enthält! In der Sprache der mittelalterlichen Theologie könnte man sagen: „Agere sequitur esse inquantum est bonum“! Das Handeln folgt dem Sein, insofern das Sein Träger von Werten ist!

Voraussetzung für den Papst ist einer „der Sprache des Seins geöffnete Vernunft!“ Und er fragt: „Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen?“ Dann erinnert auch er an die ökologische Bewegung und das Wahre in dieser: „Wir müssen auf die Natur hören!“ Und: „Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“ Und noch deutlicher: „Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden.“

Erwähnenswert ist auch noch dies:

Wichtig bei all dem ist – und der Papst wird nicht müde, es zu betonen: Nicht erst die Religion sagt, was gut und böse ist, der Mensch kann mit Hilfe seiner Vernunft und im Blick auf die Wirklichkeit sehr wohl erkennen, was gut und böse ist! Und diese Erkenntnis – Naturrecht genannt – ist eben die Grundlage des freiheitlichen Rechtsstaates. Und ohne dieses Naturrecht ist der Staat kein Rechtsstaat mehr!

Sind das die Gedanken Papst Benedikts? Ja, das sind sie, aber wer Papst Benedikt XVI. kennt, weiß: Er steht immer „im Dialog“ mit anderen Denkern! In seiner Rede im Deutschen Bundestag nennt der Papst fast nur einen einzigen Denker, nämlich den großen katholischen Juristen Wolfgang Waldstein, dessen erst vor kurzem erschienenes Buch „Ins Herz geschrieben“[1] der Papst offenbar bereits gelesen hat! Dreimal beruft sich der Papst ausdrücklich auf die Forschungen Waldsteins, um zu zeigen, wie das Naturrecht tatsächlich schon vor der Ankunft des Christentums von den römischen Juristen erkannt wurde und wie unverzichtbar es für den viel beschworenen „freiheitlichen Rechtsstaat ist! Einer der letzten Abschnitte in der Rede des Papstes liest sich wie eine Zusammenfassung des Grundgedankens: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom, aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas.“ Man könnte die Antwort auf die Frage nach dem freiheitlichen Rechtstaat, die der Papst am Anfang seiner Rede stellte, auch so zusammenfassen: Ohne Naturrecht keine Freiheit und kein Recht, darum kein Rechtsstaat ohne Naturrecht.


[1] Wolfgang Waldstein, Ins Herz geschrieben. Das Naturrecht als Fundament einer menschlichen Gesellschaft, Augsburg 2010, ISBN: 978-3-86744-137-7, gebunden, 176 S., EUR 19,90 (D), EUR 20,50 (A), Fr 28,50 (CH).

Barmherzigkeit als Quelle der Hoffnung

Diplom-Theologin Katharina Sauer aus dem Bistum Limburg hat am II. Weltkongress der Barmherzigkeit Gottes vom 1. bis 5. Oktober 2011 in Krakau-Łagiewniki teilgenommen. Sie ist tief berührt von der weltkirchlichen Atmosphäre, die sie dort erleben durfte. Mit ihrem Bericht führt sie zunächst in die geschichtlichen Wurzeln des Kongresses ein und gibt anschließend einen lebendigen Einblick in die hochkarätige Veranstaltung. Es ist der gastgebende Erzbischof von Krakau, Kardinal Stanislaw Dziwisz, der als langjähriger Privatsekretär das Erbe des sel. Johannes Pauls II. vorgestellt und die Vortragsreihe eröffnet hat. Neben ihm legte an erster Stelle Christoph Kardinal Schönborn, der sich seit Jahren dem Auftrag Johannes Pauls II. verpflichtet weiß, Zeugnis über die Bedeutung der Botschaft der Göttlichen Barmherzigkeit für die Kirche in der heutigen Zeit ab.

Von Katharina Sauer

Etwas verloren stand ich am frühen Morgen des 30. Septembers am Frankfurter Flughafen und wartete auf meine Maschine, die mich nach Polen zum II. Weltkongress der Barmherzigkeit Gottes in Krakau-Łagiewniki bringen sollte. Jedoch fiel mir bald eine an ihren Rosenkränzen und Kreuzen unschwer als Pilger zu erkennende lateinamerikanische Gruppe von etwa 20 Personen auf. Ja, sie seien auf dem Weg zum Barmherzigen Jesus – antwortete mir eine Frau aus Puerto Rico, die ich ansprach –, jetzt sei ich nicht mehr alleine unterwegs, ich könne mich ihnen gerne anschließen. So kam es, dass wir den Barmherzigkeitsrosenkranz schon auf dem Flughafen in Frankfurt im spanisch-deutschen Wechsel beteten.

Diese selbstverständliche Internationalität, eine die Völker verbindende Einheit im Glauben, im Denken und im Beten kennzeichnete die folgenden Kongresstage. Aus über 40 Ländern der Welt kamen die etwa 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Kardinäle, Bischöfe und Gläubige vom 1. bis 5. Oktober 2011 zum Sanktuarium, dem Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit, zusammen. Ob in Neuseeland, Samoa, den Philippinen, Kolumbien, Argentinien, den USA, Nigeria, dem Kongo, in Litauen, Polen, Italien, Frankreich und auch in Deutschland – weltweit wird die Barmherzigkeit Gottes im Bild des Barmherzigen Jesus und im Gebet des Barmherzigkeitsrosenkranzes verehrt.

Hl. Faustina Kowalska: Mystik und Mission

Ausgangspunkt dieser weltweiten Bewegung sind die Visionen der Schwester Maria Faustina Kowalska, einer einfachen Ordensfrau, die Gott als Apostelin seiner Barmherzigkeit berief.

Am 25. August 1905 wird sie in Głogowiec, einem kleinen Dorf in Polen, geboren und auf den Namen Helena getauft. Sie ist das dritte Kind der Eheleute Stanislaw und Marianna Kowalski, ärmlicher Bauern. Ihre beiden älteren Geschwister sterben früh, sieben Geschwister kommen nach ihr zur Welt. Nur drei Jahre hatte sie die Gelegenheit, die Schule zu besuchen, wird von ihren Eltern jedoch in einem tiefen Glauben erzogen und weist schon als kleines Kind eine besondere Frömmigkeit auf. Unter großen Schwierigkeiten – wegen ihrer Armut fehlen ihr die finanziellen Voraussetzungen zum Klostereintritt – und gegen den Willen ihrer Eltern wird sie 1925 in das Kloster der „Schwestern der Muttergottes der Barmherzigkeit“ in Warschau aufgenommen. Am 1. Mai 1933 legt sie die Ewige Profess ab. In ihrer Kongregation lebt sie 13 Jahre lang als einfache Hilfsschwester an wechselnden Orten, bis sie am 5. Oktober 1938 im Alter von 33 Jahren nach schwerem Leiden an Tuberkulose stirbt. Gerade durch die Einfachheit ihres arbeitsreichen Lebens kann sich Schwester Faustina als Werkzeug Gottes erweisen. Grundlage ihres Glaubens ist ein tiefes, kindliches und unerschütterliches Vertrauen zu Gott. So wird sie zu einer modernen Mystikerin, die in unspektakulärer und fast schon erschreckend selbstverständlicher Weise einen direkten Umgang mit Jesus pflegt, der ihr in vielfältigen Visionen erscheint. Einblicke in das geistliche Leben der Schwester Faustina und in ihre Visionen gewähren die Tagebuchaufzeichnungen, die sie über vier Jahre auf Anweisung ihres Beichtvaters Prof. Michael Sopocko hin verfasst.

Die Besonderheit ihrer mystisch. Schauungen liegt darin, dass das innerste Ziel der Visionen nicht eine rein geistige Vereinigung mit Gott darstellt, vielmehr ergeht in ihnen ein Auftrag, eine Mission an Schwester Faustina. Diese Mission ist die Verbreitung des Vertrauens auf die Barmherzigkeit Gottes in der ganzen Welt. Schwester Faustina wird in einer Vision von Jesus angewiesen, ein Bild zu malen, welches ihn, den auferstandenen Christus, zeigt, aus dessen Seitenwunde strahlenförmig Blut und Wasser fließen. Auch wird sie mit der Verbreitung des Barmherzigkeitsrosenkranzes und der Einführung des Barmherzigkeitssonntags beauftragt. „Einmal hörte ich die Worte: ,Meine Tochter, künde der ganzen Welt von Meiner unbegreiflichen Barmherzigkeit. Ich wünsche, dass das Fest der Barmherzigkeit Zuflucht und Unterschlupf für alle Seelen wird, besonders für die armen Sünder.‘…“ (Tagebuch, 699).

Erste Früchte trägt das Wirken der Sr. Faustina schon zu ihrer Lebzeit, nach ihrem Tod weitet sich die Verehrung der Barmherzigkeit Gottes weltweit aus. Das von dem Künstler Adolf Hyla gemalte Bild des Barmherzigen Jesus hat heute in der ganzen Welt Verbreitung gefunden. Es trägt die Aufschrift „Jezu ufam Tobie“ – „Jesus, ich vertraue auf Dich“. Sr. Faustina wird, nachdem ihre Visionen und ihr Anliegen vom Hl. Stuhl intensiv geprüft wurden – der Kult war in den Jahren 1959 bis 1978 verboten – 1993 selig und am 30. April 2000 heilig gesprochen. Mit der Heiligsprechung führte Papst Johannes Paul II. den Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit als zweiten Sonntag in der Osterzeit für die Universalkirche ein. Im April 2008 fand in Rom der I. Weltkongress zur Barmherzigkeit Gottes statt; dort, wo sich der Episkopat des Anliegens annahm, folgten zahlreiche Kontinental- und Nationalkongresse, so in Ozeanien, Asien, Nordamerika, Lateinamerika und Afrika. Diese weltweiten Bemühungen fanden nun einen Höhepunkt im II. Weltkongress im Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit in Krakau-Łagiewniki.

Kardinal Dziwisz: Im Dienst des Geheimnisses

Treffend und eindringlich formulierte Kardinal Stanislaw Dziwisz in seiner Eröffnungsrede zum II. Weltkongress den Kern der Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit: „Wir schauen heute zusammen mit der hl. Schwester Faustina auf den Barmherzigen Jesus und betrachten das Geheimnis des Gekreuzigten und Auferstandenen Christus, der uns unaufhörlich das Geheimnis der Göttlichen Barmherzigkeit offenbart. Christus sagt heute uns, so wie er einmal der hl. Schwester Faustina gesagt hat: ‚Sage, Meine Tochter, dass Ich ganz Liebe und Barmherzigkeit bin‘ (Tagebuch, 1074). Die Göttliche Barmherzigkeit vergießt sich auf die ganze Menschheit über die Sakramente der Kirche. Die Barmherzigkeit ist, wie es auch der selige Johannes Paul II. in der Enzyklika Dives in misericordia, Nr. 7, geschrieben hat, ‚der andere Name‘ der Liebe, die deren tiefsten Aspekt, also der unbegrenzten Fähigkeit der Vergebung, zeigt.“

Kardinal Schönborn: Ekklesiologie der Barmherzigen Liebe

Die geistige und denkerische Vertiefung des Geheimnisses der Barmherzigkeit Gottes wurde in den einzelnen Kongresstagen durch hochkarätige Beiträge gewährleistet. Kardinal Christoph Schönborn führte in die Idee und die Geschichte des Weltkongresses der Barmherzigkeit ein, die letztlich auf den allgemeinen Aufruf Johannes Pauls II. zur Barmherzigkeit Gottes im August 2002 zurückgeht. In einem weiteren Beitrag am Fest der kleinen hl. Therese von Lisieux verband Kardinal Schönborn die Sendung der Barmherzigkeit mit dem „kleinen Weg“ Thereses zur Gestaltung des Lebens und dem Aufruf zur einer „Ekklesiologie der Barmherzigen Liebe“. Kardinal Philippe Barbarin aus Lyon, Frankreich, zeigte die Barmherzigkeit Gottes am Weg Marias in ihrer heilsgeschichtlichen Dimension auf. Erzbischof Władysław Ziółek aus Łódź führte in das Leben der hl. Sr. Faustina ein, Kardinal Kazimierz Nycz aus Warschau reflektierte das Erbarmen Gottes in der Lehre des Papstes Johannes Paul II. Von den gegebenen Zeugnissen war das von Sr. M. Simonne-Pierre, die auf Führsprache Johannes Pauls II. von Parkinson geheilt wurde, besonders beeindruckend. Spirituell in das Geheimnis der Barmherzigkeit Gottes vertiefen konnten sich die Kongressteilnehmer während ausgewiesener Gebetszeiten und sorgsam gestalteter Gottesdienste.

Licht in das Dunkel von Auschwitz

In seiner historischen wie auch geistlichen Dimension war der Pilgergang der 2000 Kongressteilnehmer nach Auschwitz-Birkenau und der Gottesdienst in dem Konzentrationslager tief ergreifend und lässt aus den unvorstellbaren Schrecken der Vergangenheit die Notwendigkeit der Annahme der göttlich-barmherzigen Zuwendung durch den Menschen erahnen. Die Verkündigung der Barmherzigkeit Gottes, seiner Sünden vergebenden Liebe, ist heute wohl eine der dringlichsten Aufgaben der Kirche, die eng verbunden ist mit der Wiederbelebung des Sakramentenverständnisses. Gott schenkt den Menschen in besonderer Weise seine barmherzige Liebe in den Sakramenten der Taufe, der Eucharistie und der Beichte. Dieses Heil den Menschen nahe zu bringen, ist das Vermächtnis der hl. Schwester Maria Faustina an uns. In einer Welt, die von Konflikten und Kriegen zerrissen scheint, tritt uns die Botschaft der immerwährenden Barmherzigkeit Gottes, seiner verzeihenden Liebe entgegen, die nur eins verlangt: die Umkehrbereitschaft des Menschen. In diesem Sinne wurde zum Abschluss des Kongresses die Welt mit der Wiederholung der Weiheworte Johannes Pauls II. der Barmherzigkeit Gottes überantwortet:

„Gott, barmherziger Vater, der Du Deine Liebe in Deinem Sohn Jesus Christus offenbart und über uns ausgegossen hast, im Heiligen Geist, dem Tröster, Dir vertrauen wir heute die Geschicke der Welt und jedes Menschen an. Neige dich zu uns Sündern herab, heile unsere Schwächen, besiege alles Böse, hilf, dass alle Menschen der Erde Dein Erbarmen erfahren und in Dir, dem dreieinigen Gott, die Quelle der Hoffnung finden. Ewiger Vater, durch das schmerzhafte Leiden und die Auferstehung Deines Sohnes, habe Erbarmen mit uns und mit der ganzen Welt.“

Neuentdeckung des Reichtums der Krankensalbung

Pfarrer Erich Maria Fink entfaltet in seinem Beitrag die „Wirkungen der besonderen Gnade des Sakraments der Krankensalbung“, wie es im Katechismus der Katholischen Kirche heißt. Er arbeitet ein zwölffaches Gnadenwirken heraus, das er nach den verschiedenen Überlieferungen der Kirche in drei Gruppen aufteilt: Heilung, Vergebung und Vorbereitung auf die Ewigkeit. Dieses Verständnis der Krankensalbung, so zeigt Pfr. Fink auf, hat sich auf der Grundlage des biblischen Zeugnisses entwickelt. Mit seinen Ausführungen verbindet er ein nachdrückliches Plädoyer für ein großzügiges Angebot der Krankensalbung in der Seelsorge.

Von Erich Maria Fink

Durch das Zweite Vatikanische Konzil hat das Sakrament der Krankensalbung eine tiefgreifende Erneuerung erfahren. Es wurde sozusagen von den „Fesseln des Todes“ befreit. Bekannt war es nur noch unter der Bezeichnung „Letzte Ölung“. Und in der Pastoral wurde es fast ausschließlich als Sterbebeistand praktiziert. Folgerichtig stand als Wirkung des Sakraments die Sündenvergebung im Vordergrund. Die Versöhnung mit Gott war sogar die einzige Gnade, die im theologischen und pastoralen Verständnis übrig blieb. Deutlichster Ausdruck dafür ist die Formel, die bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil für die Spendung des Sakraments vorgeschrieben war.

Nach dem tridentinischen Ritus werden die Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Mund, Hand, Füße) mit dem Krankenöl gesalbt oder – falls dies nicht möglich ist – die Stirn. Der Priester spricht die Worte: „Durch diese heilige Salbung und seine mildreichste Barmherzigkeit lasse dir der Herr nach, was du durch das Sehen (Hören, Riechen, Schmecken und Reden, Berühren, Gehen) gesündigt hast. Amen.“ Wird nur die Stirn gesalbt, heißen die Worte: „… was immer du gesündigt hast.“

Ein erstes Signal setzte das Konzil mit der Umbenennung des Sakraments in „Krankensalbung“. So wird es bereits in der Konstitution über die heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“ bezeichnet (Nr. 73). Im Zug der nachkonziliaren Erneuerung der liturgischen Texte (im Fall der Krankensalbung mit der Apostolischen Konstitution „Sacram Unctionem Infirmorum“ von Papst Paul VI., 30.11.1972) wurde in den Ritus schließlich die biblische Bitte um die „Aufrichtung“ des Kranken aufgenommen (vgl. Jak 5,14f.).

Der Priester spricht nun die Formel: „Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“ Dabei salbt er nur noch Stirn und Hände des Kranken. Im Notfall genügt die Salbung der Stirn oder, falls dies durch besondere Umstände nicht möglich sein sollte, eine andere, besser geeignete Stelle des Körpers.

Sowohl der neue Kodex des kirchlichen Rechts (CIC 1983) als auch der Katechismus der Katholischen Kirche (1992) spiegeln deutlich die Neuausrichtung im Verständnis und im Umgang mit dem Sakrament der „Salbung der Kranken“ wider. Beide Dokumente sind für das kirchliche Leben von grundlegender Bedeutung. Die Einseitigkeit, die sich im Lauf der Geschichte herausgebildet hatte, überwinden sie vor allem durch die Hervorhebung der unterschiedlichen Gnadenwirkungen des Sakraments. Als wesentlich wird nun auch die Heilung des Kranken genannt. Damit weitet sich der Kreis der Gläubigen, die für einen Empfang des Sakraments in Frage kommen. Doch sind die Zugangsbestimmungen immer noch relativ eng gefasst. Und so herrscht unter den Seelsorgern bis heute eine große Verunsicherung. Die Frage, wem, wann und wie die Krankensalbung angemessen gespendet wird, führt oft zu endlosen theologischen Diskussionen.   

Ein aufmerksamer Blick auf die reichhaltige Wirkung des Sakraments kann Klarheit verschaffen. Darin besteht tatsächlich ein entscheidender Schlüssel, um die bestehenden Streitpunkte zu klären. Meist liegt die Antwort auf der Hand, sobald man sich den Reichtum der Krankensalbung unbefangen vor Augen führt.

Die „Wirkungen der besonderen Gnade des Sakraments der Krankensalbung“ lassen sich in drei Gruppen aufteilen: Heilung, Versöhnung und Vorbereitung auf die Ewigkeit. Jeder Gruppe können wir vier besondere Gnaden zuordnen, so dass sich nach dieser Systematisierung ein zwölffaches Gnadenwirken ergibt. Diese Gliederung folgt nicht einer Zwangsläufigkeit, sondern bietet lediglich eine Hilfe an, um sich einen Überblick über die Wirkungen der Krankensalbung verschaffen und sich die Bedeutung des Sakraments besser vorstellen zu können.

Zeugnis der Heiligen Schrift

„Ist einer von euch krank? Dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben. Das gläubige Gebet wird den Kranken retten und der Herr wird ihn aufrichten; wenn er Sünden begangen hat, werden sie ihm vergeben.“ (Jak 5,14f.) Auf diese Bibelstelle führt die Kirche das Sakrament der Krankensalbung zurück. Das griechische Wort, das mit „retten“ übersetzt wird, bedeutet im engeren Sinn die Rettung für das ewige Leben, es beinhaltet aber auch alles andere, was dem Kranken zum Heil gereicht, wie z.B. Heilung und Trost. „Aufrichten“ ist ebenfalls ein weiter biblischer Begriff. Er umfasst sowohl das äußere Aufgerichtet-Werden im Sinn der Genesung als auch das innere Aufgerichtet-Werden im Sinn der Stärkung für das Annehmen einer Krankheit. Die Bedeutung der „Vergebung“ von Sünden ist eindeutig.

Von diesen drei biblischen Begriffen gehen wir aus. Dem „Aufrichten“ können wir die „Heilung“ zuordnen, dem „Retten“ die „Vorbereitung auf die Ewigkeit“.   

I. Heilung

Wir beginnen mit der Heilung, da sich der Kranke von Jesus Christus zu Recht an erster Stelle eine Heilung erwarten darf. Der Katechismus grenzt dabei weder das Krankheitsbild noch die mögliche Heilung ein.

1. Körperliche Heilung

Um die Krankensalbung zu empfangen, muss nicht unbedingt ein lebensbedrohlicher Zustand vorliegen. Jede Krankheit, die den Menschen in seiner Existenz ernsthaft einschränkt, rechtfertigt die Spendung des Sakraments – auch wiederholt. Es kann sich beispielsweise um einen schweren Rheumatismus, um Gebrechen des Alters oder um die Vorbereitung auf eine Vollnarkose handeln. Der Seelsorger wirkt bei der Entscheidung beratend mit. Letztlich aber hängt sie vom Gewissen des Kranken bzw. dessen Betreuer ab. Die Kirche lädt sowohl den spendenden Priester als auch den Kranken zu einem vollkommenen Vertrauen auf die heilende Macht Gottes ein. Allerdings betont sie, dass Gott in seiner Vorsehung ganz frei ist und eine „Genesung“ auch nur dann schenkt, wenn „dies dem Heil der Seele zuträglich ist“ (KKK 1532).

2. Seelische Heilung

Bei der Krankensalbung müssen wir auch die seelischen Leiden im Blick behalten, z.B. psychische Erkrankungen, innere Verwundungen, Ängste oder Komplexe. Wenn jemand von einer echten Depression heimgesucht wird, kann er die Krankensalbung empfangen, selbst wenn keine anderen körperlichen Gebrechen vorliegen. Gerade von seelischen Belastungen möchte Gott die Menschen befreien, damit sie ihm mit neuer Kraft nachfolgen und dienen können (vgl. KKK 1520).

3. Geistige bzw. geistliche Heilung

Hier ist nicht die Rede von Geisteskrankheiten, sondern vom Leiden derjenigen, die keinen Sinn in ihrem Kreuz entdecken können. Eine geistige bzw. geistliche Heilung schenkt Gott durch das Licht des Heiligen Geistes. Die Kranken erkennen, wie sie durch die Annahme ihres Leidens zur Quelle der Gnade für sich und andere werden. Es kann sich eine innere Freiheit einstellen, manchmal sogar eine übernatürliche Freude inmitten äußersten Leids. Dabei bewirkt die Krankensalbung in jedem Fall „die Vereinigung des Kranken mit dem Leiden Christi für sein eigenes Heil und das der ganzen Kirche“ (KKK 1532).

4. Stärkung im Leiden

Der Kranke erhält nicht nur Einsicht in seine Berufung, sondern auch „die Kraft und die Gabe, sich mit dem Leiden des Herrn noch inniger zu vereinen. Er wird gewissermaßen dazu geweiht, durch die Gleichgestaltung mit dem erlösenden Leiden des Heilands Frucht zu tragen. Das Leiden, Folge der Erbsünde, erhält einen neuen Sinn: es wird zur Teilnahme am Heilswerk Jesu“ (KKK 1521). Ja, es heißt: „Die erste Gnade des Sakramentes ist eine Stärkung, Beruhigung und Ermutigung, um die mit einer schweren Krankheit oder mit Altersschwäche gegebenen Schwierigkeiten zu überwinden. Diese Gnade ist eine Gabe des Heiligen Geistes, der das Vertrauen auf Gott und den Glauben an ihn erneuert und gegen die Versuchungen des bösen Feindes stärkt, gegen die Versuchung von Entmutigung und Todesangst [vgl. Hebr 2,15]“ (KKK 1520).

II. Versöhnung

Die wichtigste Gnade in dieser Welt ist die Vergebung der Sünden, denn sie ist die Voraussetzung für die Teilnahme am ewigen Leben. Versöhnung steht hier dennoch an zweiter Stelle, da für die Sündenvergebung an erster Stelle das Bußsakrament angeboten wird.

5. Erkenntnis der Sünden und Reue

Die Krankensalbung öffnet das Herz des Kranken und hilft ihm, die Gnade der Vergebung anzunehmen. Gerade im Leiden kommt es darauf an, dass der Mensch nicht verbittert, sondern Gott entgegenreift, das Wesentliche erkennt und eine aufrichtige Reue über seine Sünden erlangt.

6. Vergebung der Sünden

Die Krankensalbung schenkt „die Vergebung der Sünden, falls der Kranke sie nicht durch das Bußsakrament erlangen konnte“ (KKK 1532). Das gilt vor allem für Schwerkranke oder Sterbende, die nicht beichten können oder ohne Bewusstsein sind. Durch die Krankensalbung wird der Empfänger mit seinem eigenen Leben, seinen Mitmenschen und Gott versöhnt.

7. Befreiung von Bindungen an das Böse

Versöhnung bedeutet auch, dass die Krankensalbung von Bindungen an das Böse befreit, die durch okkulte Praktiken, Verwünschungen oder Belastungen jeder Art verursacht worden sind.

8. Befreiung von ungeordneten Bindungen an das Irdische

Die Krankensalbung löst den Empfänger von ungeordneten Bindungen an das Irdische, die aufgrund schuldhafter Neigungen wie Hoffart entstanden sind.

III. Vorbereitung auf die Ewigkeit

Der Katechismus spricht von der „Vorbereitung auf den Hinübergang in das ewige Leben“ (KKK 1532).

9. Frieden und Kraft im Todeskampf

Die Krankensalbung bedeutet vor allem eine Stärkung im Todeskampf. Sie bewahrt den Sterbenden vor Verzweiflung, beschützt ihn vor den Angriffen des Widersachers Gottes und erfüllt sein Herz mit Frieden.

10. Hilfe zur vollkommenen Ergebung in den Willen Gottes

Der Sterbende kann in dem Maß heilig werden, als er sich bewusst in den Willen Gottes ergibt. Die Krankensalbung hilft ihm, alles loszulassen und sein Leben vertrauensvoll in die Hände Gottes zurückzugeben.

11. Salbung des Leibes für die Auferstehung

Die Krankensalbung „salbt“ den Leib gleichsam schon jetzt für seine Auferstehung am Jüngsten Tag. Sie „macht uns endgültig dem Tod und der Auferstehung Christi gleichförmig, was die Taufe schon begonnen hatte. Sie vollendet die heiligen Salbungen, die das ganze christliche Leben prägen: Die Salbung der Taufe hat uns das neue Leben eingegossen; die der Firmung hat uns zum Kampf dieses Lebens gestärkt. Diese letzte Salbung versieht das Ende unseres irdischen Lebens gleichsam mit einem festen Wall im Blick auf die letzten Kämpfe vor dem Eintritt in das Haus des Vaters [vgl. Konzil von Trient: DS 1694]“ (KKK 1523).

12. Hilfe zum versöhnten Loslassen des Leibes

Wer an die Auferstehung des Leibes am Ende der Welt glaubt, kann seinen Leib leichter loslassen. Die Krankensalbung stärkt die Hoffnung des Sterbenden auf die kommende Auferstehung seines Leibes und versöhnt ihn mit dem Gedanken, aus seinem irdischen Zelt auszuziehen.

Es scheint ein Gebot der Stunde zu sein, den Reichtum der Krankensalbung neu zu entdecken und das Sakrament den Gläubigen großzügig anzubieten.

Wohin geht der Weg?

Pater Karl Josef Wallner OCist, seit 1982 Zisterzienser im Stift Heiligenkreuz in Österreich und seit 1988 Priester, legt Zeugnis von seinem Klosterleben ab. In einem neuen Buch mit dem Titel „Faszination Kloster“[1] gelingt es ihm auf einzigartige Weise, nicht nur seine persönlichen Empfindungen zu vermitteln, sondern den Leser auch auf seinen Berufungsweg mitzunehmen. Zum Monat November geben wir eines der letzten Kapitel wieder (S. 180-189), das uns in eine geistliche Schule nimmt: Nur wer das Ziel seines Lebens klar vor Augen hat, nämlich die ewige Vereinigung mit Gott im Himmel, kann auch das Leben auf dieser Erde mit frohem Mut meistern.

Von P. Karl Wallner OCist

Es gibt keinen Himmel auf Erden

Die Frage „Wie kann man es ein Leben lang im Kloster aushalten?“ ist im Prinzip dieselbe Frage, die sich grundsätzlich jedem Menschen stellt: „Wie kann ich dieses Leben überhaupt aushalten?“ Klar, es gibt Augenblicke, die toll sind, wo man erfüllt und glücklich ist. Irgendwie sind wir alle dem Doktor Faustus ähnlich, der vom grenzenlosen Drang getrieben ist, das zu finden und zu entdecken, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Und dann fällt uns das Leben doch dauernd auseinander. Wir können viel im Leben erreichen, aber am Schluss überwiegen in unserer Lebensbilanz doch die unerfüllten Hoffnungen. Ich muss hier ein wenig „predigen“, denn die Sucht nach bloßer Lebensintensität ist eine Form von Selbstbetrug, dem ich die Schuld daran zuschreibe, dass heute so viele Menschen frustriert sind, ohne dass sie sagen können, warum. Ja, es gibt die tollen Erlebnisse, es gibt die glücklichen Stunden, es gibt das Mega-Wohlfühlen. Das Leben hat seine schönen Seiten. Aber es gibt keinen Himmel auf Erden. Wenn wir wie Doktor Faustus auf den Augenblick warten, zu dem wir sagen könnten: „Verweile doch! Du bist so schön!“ – dann warten wir lange. Und ich fürchte, dass die Frustration und Depression, die ich als Priester bei vielen Wohlstandsmenschen erlebe, aus dieser falschen Erwartungshaltung stammt.

Das „Mission Statement“ der Mönche

Wir Mönche könnten es im Kloster nicht aushalten, wenn wir nicht ein Ziel hätten. Ein inneres, geistiges Ziel. Der hl. Benedikt öffnet gleich im Prolog seiner Regel einen endlichen zeitlichen Horizont: Wir haben ein Ziel, dieses Ziel ist Gott. Und auf diesen Gott zu sollen wir laufen, diesen Gott sollen wir suchen, diesem Gott sollen wir durch einen heiligen Lebenswandel entgegeneilen. Das Klosterleben hat in sich nur den Sinn, den Weg auf ein letztes Ziel zu beschreiben: „Gürten wir uns also mit Glauben und Treue im Guten, und gehen wir unter der Führung des Evangeliums seine Wege, damit wir ihn schauen dürfen, der uns in sein Reich gerufen hat. Wollen wir in seinem Reich und in seinem Zelt wohnen, dann müssen wir durch gute Taten dorthin eilen; anders kommen wir nicht ans Ziel“ (Regula Benedicti, Prolog 21f.).

Jede Firma hat heute ein „Mission Statement“, wo kurz und prägnant das Firmenideal und der Firmenzweck formuliert werden. Das „Mission Statement“ unserer Lebensform als Mönche ist es, einen Weg zu beschreiten, der in die Gemeinschaft mit Gott mündet. Benedikt gibt den Startschuss für einen Lauf auf den unendlichen Horizont zu, der den Namen Gott trägt. Ist das nicht das Ziel jedes Christen?

Ich leide sehr unter dem Verlust des „eschatologischen“ Bewusstseins unter den Christen. Denn Jesus hat seine Kirche nicht als einen reinen Weltbewältigungsverein gegründet, sondern er hat sie durch seine Auferstehung auf eine große Hoffnung, auf ein unendliches Ziel verwiesen.

In meiner Kindheit hatte ich das große Glück, dass unser Kindergarten von geistlichen Schwestern betreut wurde. Abgesehen davon, dass wir Buben unbedingt wissen wollten, welche Haarfarbe sich hinter dem Schleier der Ordensschwestern verbarg, bin ich sehr dankbar für die Kindergebete, die wir dort gelernt haben. Eines hat mir besonders geholfen, vielleicht weil es so extrem kindlich ist und sich deshalb besonders gut in Hirn und Herz einprägt. Es lautet: „In den Himmel will ich kommen, fest hab ich mirs vorgenommen. Mag es kosten, was es will: Für den Himmel ist mir nichts zu viel.“ Viele Menschen wissen gar nicht, dass wir Christen in unserer Glaubenssprache unter dem Begriff „Himmel“ nicht das Blaue über uns verstehen, sondern die transzendente Sphäre Gottes. Himmel steht für die geistige Gemeinschaft, für die Nähe, die Gott dem Menschen eröffnet.

Betrachtung vom guten Tod

Wie kann man es im Kloster aushalten? Indem man sich immer wieder dieses große Ziel vor Augen hält. Das bedeutet auch, dass man den Tod nicht ausklammern darf. Viele empfinden den Gedanken an die Begrenztheit des Lebens als Bedrohung für ihr Glücklichsein in der Gegenwart. „Wenn‘s mir doch so gut geht, warum sollte ich mir das vermiesen und an den Störfaktor Tod denken?!“ Dann ist die große Verdrängung angesagt. Und wenn man dann auch noch an nichts mehr glaubt, dann hat man ohnehin einzig und allein die Option, den Tod möglichst weit aus dem Bewusstsein verdrängen zu müssen. Benedikt schreibt hingegen, dass sich der Mönch „den drohenden Tod täglich vor Augen halten soll“ (Regula Benedicti 4,47). Das heißt zwar nicht, dass wir dauernd ans Sterben denken, nein. Sehr wohl aber ist das Gebet für die Verstorbenen ein fixer Bestandteil aller unserer Gebetszeiten. Für mich selbst praktiziere ich eine geistliche Übung, die vielleicht etwas „steil“ aussieht, die mir aber sehr hilft, mein Leben zurechtzurücken und die richtigen Prioritäten zu setzen. Gerade wenn ich überlastet bin oder spüre, dass ich in Gefahr bin, mich mental zu sehr auf etwas zu fixieren, dann halte ich eine kurze „Betrachtung vom guten Tod“. Ich setze mich einfach in die Kirche und stelle mir in meiner Fantasie vor, wie das wäre, wenn ich jetzt sterben müsste. Nochmals: Das ist steil, aber heilsam. Es löst Fixierungen auf und entspannt innere Verkrampfungen. Wie unwichtig werden plötzlich Dinge, an die man sich gerade noch geklammert hat, weil man ja realisiert, dass man das alles einmal loslassen muss. In Österreich sagt man über den Tod: „Man kann nichts mitnehmen.“ Das ist nicht ganz richtig, denn etwas kann man mitnehmen: Die Liebe, die man verschenkt hat, die bleibt einem als Unterpfand für die Ewigkeit. Alles andere: Erfolg, gelungene Projekte, Ansehen, Geld (das haben wir sowieso nicht) usw. hält nicht. Als Priester habe ich schon oft Sterbenden beigestanden und war auch unmittelbar dabei, wenn der letzte Atemzug alles entkrampft. Was man gerade noch festgehalten hat, muss man loslassen. Darum ist das ganze Leben des Christen eigentlich eine Einübung in das Loslassen.

Atempausen auf Zeit

Im Kloster erlebt man sehr viel Schönes, aber natürlich auch viele Enttäuschungen. Dazu kommt, dass man in dieser extremen Lebensform ja irgendwie schutzlos seinen eigenen Stimmungen ausgesetzt ist. Zumindest bei mir ist das so, dass meine Gefühle oft stark schwanken. Wo ich gerade noch fröhlich und heiter war, kann plötzlich alles in Frustration und Grimm umschlagen. Und dann gibt es natürlich noch das Gefühl, dass ich meinen Aufgaben nachlaufe. Es ist eine kluge Regelung bei uns in Heiligenkreuz, dass auch wir Mönche Ferien machen dürfen. Jeder hat vier Wochen zur Verfügung, wo er sich außerhalb des Klosters erholen kann. Als junger Mönch habe ich das nicht genutzt, weil ich es in meinem damaligen Übereifer für „unmonastisch“, also für zu wenig klösterlich hielt. Die Folge war, dass meiner Seele nach einem Sommer, in dem ich ohne Erholung durchstudiert hatte, buchstäblich die Luft ausging. Ferien sich wichtig, aber sie schenken der Seele nur Atempausen auf Zeit. Wichtig ist es, in sich die Sehnsucht nach den „großen Ferien“ beim lieben Gott wach zu halten. Ein Wort des hl. Don Bosco, dem großen heiligen Jugendapostel des 19. Jahrhunderts, lautet: „Nur Mut, ein Stück Himmel macht alles wieder gut!“ Dieses „Forza!“ hilft mir in Stimmungstälern. Und es macht psychisch stark, um die „opprobria“, die „Widrigkeiten“ zu ertragen, die der hl. Benedikt jedem Mönch voraussagt.

Energetikum für den Einsatz in der Welt

Der Sinn des Lebens besteht für Christen nicht bloß darin, dieses Leben zu leben. Ich ärgere mich, dass die östliche Formel „Der Weg ist das Ziel“ so populär gemacht wird, denn sie ist eine Verkürzung. Natürlich ist der „Weg“ – also die Suche nach Glück und Sinn – schon in sich positiv. Mir sind auch Menschen, die sich den Kopf zerbrechen über Gott und die Welt, lieber als solche, die einfach so dahinleben. Aber das „Der Weg ist das Ziel“ wird oft verkürzt auf: „Genieße das Leben“, wobei der Nachsatz mitgemeint ist, ohne mitgesagt zu werden: „Denn danach kommt vielleicht ohnehin nichts mehr!“ Der Slogan „Der Weg ist das Ziel“ stimmt nur teilweise. Die christliche Variante muss lauten: „Unser Weg hat ein Ziel.“ Freilich hat es Zeiten gegeben, in denen die Kirche den Eindruck erweckt hat, dass es ihr nur um den Himmel geht. So als wäre das Vertrösten auf ein besseres Jenseits die einzige Antwort auf menschliches Elend und soziale Not. Das war die Zeit, in der der Marxismus-Leninismus die Religion mit dem Wort „Opium des Volkes“ aburteilen konnte. Die Zeiten haben sich geändert, und Christen zeigen heute durch ihr soziales Engagement sehr deutlich, dass es ihnen nicht nur um das Leben nach dem Tod geht, sondern auch um irdische Gerechtigkeit. Hingegen sind Marx, Lenin und Konsorten spätestens seit 1989 als die eigentlichen Opium-Dealer entlarvt, weil sie die Verheißung eines irdischen Paradieses als Narkotikum eingesetzt haben, um Völker jahrzehntelang diktatorisch zu unterdrücken. Das leninistische Paradies ist eine Utopie. Die ewige Gemeinschaft mit Gott aber ist seit der Auferstehung Christi eine Realität. Daher ist der religiöse Glaube an eine gottgesetzte Ewigkeit sogar ein Energetikum, um mit dem Leben fertig zu werden. Die Zielorientierung macht zwar weltlocker, aber sie macht keineswegs weltfremd. Christen, die an den Himmel glauben, krempeln gerade deshalb die Ärmel auf und packen an, wo Not herrscht oder wo etwas verbessert werden muss.

Hoffnungsvolles Abschiednehmen

Meine Lebensform kann ich nur aushalten im Blick auf den Himmel. Um als Mönch zu leben, habe ich auf viele andere Optionen verzichtet, die das Leben eines Menschen, auch eines Christen, erlaubterweise schön machen. Was Paulus im 1. Korintherbrief schreibt, müssen wir Ordensleute auf uns beziehen. Wenn es keine Auferstehung gibt, dann „sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen“ (1 Kor 15,19). Nun aber ist Christus von den Toten auferstanden, daher trägt mich eine Art Halleluja-Stimmung durch die Höhen und Täler dieses Lebens, bis ich – hoffentlich – einmal mit meinem Gott für immer vereint sein werde. Die Wichtigkeit des Lebenszieles ist mir so richtig erst bewusst geworden, als ich als junger Mönch einen alten Mitbruder im Sterben begleiten durfte. Der damalige Stiftsarchivar Pater Hermann Watzl, der sonst ein eher scheuer Mensch war, schätzte mich. Er war 86 Jahre und zog mich zu Hilfsarbeiten im Archiv zu. Schon bald merkte ich, wie seine Kräfte nachließen, langsam aber kontinuierlich: zuerst konnte er keine weiten Strecken mehr gehen, nur mehr in die Kirche zur Feier der Messe; bald konnte er das Zimmer nicht mehr verlassen; dann folgte die Bettlägerigkeit und schließlich die Gewissheit des Abschieds. Wir Jungen wurden zur Nachtwache bei ihm eingeteilt. Für mich war das Eindrucksvollste, wie die Gemeinschaft im Kloster dieses Sterben begleitet hat. Menschliche Pflege: natürlich. Vor allem aber dieses hoffnungsvolle Abschiednehmen im Letzten: Wir versammelten uns alle, als er die Sterbesakramente – noch bei Bewusstsein – empfing. Wir brachten ihm täglich die heilige Kommunion. Und dann kam der Todeskampf. Die Konventglocke läutete und wir eilten alle an das Sterbebett, dicht gedrängt in dem kleinen Zimmer beteten wir die uralten Sterbegebete, mit denen der christliche Glaube gebieterisch die Seele in die Ewigkeit Gottes hinüberschickt: „Proficiscere anima christiana de hoc mundo!“ – „Brich auf, christliche Seele, aus dieser Welt im Namen Gottes des allmächtigen Vaters, der dich erschaffen hat, und im Namen Jesu Christi, des Sohnes des lebendigen Gottes, der für Dich gelitten hat, und im Namen des Heiligen Geistes, der über dir ausgegossen ist … Heute ist dir in Frieden sein Platz bereitet und seine Wohnung im himmlischen Jerusalem steht für dich bereit.“ Und dann kniete ich als 20-Jähriger neben dem Sterbebett, als Pater Hermann einen letzten Atemzug machte. Es war für mich die erste und auch eindrucksvollste Erfahrung des christlichen Sterbens. Seither habe ich viele Menschen verabschiedet, jüngst auch meinen lieben Vater, der auch in die Hoffnung hinein gestorben ist. „Selig die Toten, die im Herrn sterben“ (Offb 14,13). Ich möchte jedem raten, keine Scheu davor zu haben, liebe Menschen ins Sterben zu begleiten. Es gibt dem, der vielleicht nichts anderes mehr tun kann, als dem Sterbenden die Hände zu halten, viel mehr Kraft, als es einen kostet.

Das Zeugnis des sel. Johannes Pauls II.

Es gibt kein eindrucksvolleres Zeugnis für den christlichen Glauben als das christliche Sterben. Am lautesten hat Papst Johannes Paul II. über die Hingabe an Gott und die Hoffnung auf Auferstehung gepredigt, als er vom nahen Tod schon so gezeichnet war, dass er verstummt war. Es läuft mir jetzt noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich an die Szene denke, wo der Papst, der so viel gereist war und so viel verkündet hatte, den Mund zum Segen öffnete, aber keinen Laut mehr hervorbringen konnte. Dieses Verstummen ins Sterben hinein war die Predigt, die die ganze Welt verstanden hat. Und Millionen waren damals im April 2005 bei seinem Begräbnis und haben Abschied genommen, weil unsere Toten ja nicht einfach weg sind. Die Sorge der Kirche ist mit dem Sterben noch nicht zu Ende; sie nimmt aber eine neue Dimension an, denn es ist ein Werk der Barmherzigkeit, „die Toten zu begraben“ (Tobit 1,18). Was ist trostreicher und auferstehungsfreudiger als die katholische Begräbniskultur.

Ernst und Freude der Totenwache

Wir haben unseren Pater Hermann dann gewaschen und angezogen: Welche Würde nimmt ein siecher Leib plötzlich wieder an, wenn er mit dem Ordensgewand bekleidet ist! Und dann folgt bei uns die Aufbahrung in der Totenkapelle, die Totenwache, zu der wir Mönche stundenweise eingeteilt sind, die Totenmessen, die gefeiert werden. Über allem liegt Ernst und Freude. Das Begräbnis eines Mönches ist besonders feierlich: Wir tragen den Leichnam zuerst von der Totenkapelle in die Klosterkirche, wo die feierliche Totenmesse stattfindet. Danach geht es auf den Friedhof zur Grablegung. In unserem Zisterzienserritus knien wir alle am offenen Grab nieder und beten dreimal: „Domine, miserere super peccatore!“ – „Herr, erbarme dich des Sünders!“ Das ist christlicher Realismus, der erst einmal davon ausgeht, dass jeder, aber auch wirklich jeder, das Gebet braucht, weil er Sünder ist. Wenn man auf Beerdigungen oft Ansprachen hört, wo in Lobeshymnen eine Art Heiligsprechung vorgenommen wird, überkommt mich immer ein Schauer des Befremdens. Eine gewisse rosa Brille mag erlaubt sein, aber man sollte den Trost doch so geben, dass man dabei nicht lügen muss. Jeder Verstorbene braucht das Gebet um Reinigung von den Sünden und um Aufnahme in den Himmel. Bei uns ist das Begräbnis eine überaus feierliche Zeremonie. So feierlich, dass sich ein Jesuit nach einem – zweistündigen – Begräbnis die Bemerkung nicht verkneifen konnte: „Also ihr feiert das schon recht ordentlich, wenn ihr einen losgeworden seid!“

Mönchtum steht also für transzendente Zielorientierung. Die perfekte christliche Lebensphilosophie angesichts des unausweichlichen Todes hat der hl. Martin von Tours, der sich am 11. November großer Popularität erfreut, formuliert. Martin starb im Jahre 397 und war der Erste, der als Heiliger verehrt wurde, ohne ein blutiges Martyrium erlitten zu haben. Ich durfte schon an der Stelle in Candes, einem kleinen Dorf am Zusammenfluss von Loire und Vienne, stehen, wo Martin gestorben ist. Eines natürlichen Todes, vermutlich an Altersschwäche. Seine letzten Worte lauteten: „Mortem non timeo, vivere non recuso!“ Das heißt: „Ich fürchte mich nicht, zu sterben. Und ich habe auch nichts dagegen, noch ein wenig weiterzuleben.“


[1] Karl Josef Wallner: Faszination Kloster, Gütersloh 2011, geb. mit Schutzumschlag, 192 S., Euro 17,99 (D), Euro 18,50 (A), Fr 27,90 (CH), ISBN 978-3-579-06568-7.

Hirntod-Organtransplantation – eine Zeitgeistfalle?

In unserer Zeitschrift hatten wir bereits einmal einen kurzen Beitrag von Anton Graf von Wengersky zum Thema Organspende veröffentlicht (KIRCHE heute 11/2009). Der Artikel hat ein lebhaftes Leserbriefecho hervorgerufen und auch dem Autor Kontakte mit Mitstreitern an dieser schwierigen Front eröffnet. Aus seinen Diskussionen mit Priestern, Theologen, Juristen, Ärzten und vielen Gläubigen ist ein Text mit dem Titel „Der Tod des Menschen – was wir wissen“ hervorgegangen. Diese Gedanken möchten wir in KIRCHE heute vorstellen. Als Einführung geben wir hier ein Schreiben aus der Korrespondenz des Autors wieder.

Von Anton Graf von Wengersky

Am 1. Mai 2011 wurde Papst Johannes Paul II. von seinem Nachfolger selig gesprochen. Aus seinem langjährigen Pontifikat ist neben dem „lichtreichen Rosenkranz“ für mich das größte unserer Kirche hinterlassene Geschenk der „Katechismus der Katholischen Kirche (KKK)“. Johannes Paul II. selbst nennt ihn in der Apostolischen Konstitution Fidei Depositum „eine Darlegung des Glaubens der Kirche und der katholischen Lehre“. Der KKK ist also ein stepping stone, ein Stein, auf dem wir bei der Suche nach Gottes Willen sicher stehen können.

Bedenken Johannes Pauls II.

In KKK 365 ist zu lesen: Die Seele bewirkt, „dass der aus Materie gebildete Leib ein lebendiger menschlicher Leib ist“. Trennt sich im Tod die Seele vom Leib (KKK 1005), so ist der Leib des Menschen also nur noch leblose Materie, unbelebt, eine Leiche. In seiner Ansprache in Rom am 29.08.2000 stützt sich Johannes Paul II. auf eben diese Aussage des KKK, wenn er im Zusammenhang mit dem Tod die Seele als das „Lebensprinzip“ bezeichnet. Weckt dieser Ausdruck nicht den Gedanken, dass, wo Lebenszeichen sind, noch nicht der Tod sein kann?

Johannes Paul II. haben solche Gedanken jedenfalls umgetrieben: Auf der Suche nach „biologischen Kennzeichen“ für den Tod (vgl. seine Rede vom 29.08.2000) hat er für Februar 2005 den Kongress „Signs of death“ – „Kennzeichen des Todes“ vor der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften einberufen. Die von der Mehrzahl der Teilnehmer – darunter Bischöfe, Ärzte und Philosophen – unterschriebenen Ergebnisse dieses Kongresses sind im Catholic World Report vom April 2005 unter dem Titel „Brain death is NOT death“ – „Der Hirntod ist NICHT der Tod“ veröffentlicht worden.

Die von Johannes Paul II. angestoßene Suche nach verlässlichen Kennzeichen des Todes hatte auch noch eine Fortsetzung: Nach der Rede von Papst Benedikt XVI. am 07.11.2008 (Zulässigkeit der Organentnahme „nur ex cadavere“, also nur aus der leblosen Leiche) fand im Februar 2009 in Rom unter Teilnahme zahlreicher Mitglieder der Päpstlichen Akademie für das Leben (und wiederum von Kardinälen, Bischöfen und Ärzten) ein weiterer Kongress statt. Diesmal nicht mehr unter dem Titel „Signs of death“, sondern unter dem Motto „Signs of life“ – „Kennzeichen des Lebens“. Denn man hatte erkannt, dass es für die sichere Bestimmung des Todes weniger auf die Suche nach sicheren Todeszeichen ankommt, als vielmehr auf das Vorhandensein von Zeichen des Lebens: Wo noch Zeichen des Lebens sind (Atmung, Herzschlag, Kreislauf etc.), dort ist kein Tod, dort lebt der Mensch, seine Seele ist noch nicht vom Leib getrennt.

Die von Johannes Paul II. aufgrund seiner Bedenken zu den eigenen früheren Aussagen einberufene Konferenz vom Februar 2005 hat also seine Zweifel am Hirntod bestätigt, die ergänzende Konferenz vom Februar 2009 diese Erkenntnis vertieft: Will man den Tod feststellen, muss man nicht nach Zeichen des Todes suchen, sondern die Zeichen des Lebens beobachten. Solange der Leib des Menschen Lebenszeichen zeigt, ist der Mensch nicht tot. Der Augenblick des Fortfalls der Lebenszeichen ist der Moment des Eintritts des natürlichen Todes, stirbt doch im Tod allein unser Leib. Eben dies ist die Lehraussage des Katechismus der Katholischen Kirche (KKK 365, 1005, 1022), den wir Johannes Paul II. verdanken.

Umstrittene Erklärung der Bischofskonferenz

Neben Johannes Paul II. werden zum Beleg der Richtigkeit der Hirntoddefinition oft zahlreiche bedeutende Kirchenmänner, insbesondere hochrangige Mitglieder der Kurie genannt.

Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, hat auf Bitten von Transplantationsärzten federführend für die Deutsche Bischofskonferenz und den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1990 eine Schrift „Organtransplantationen“ herausgegeben. Darin wird die Organspende „nach dem Tod“ (wie im KKK 2296 und nach der weltweit geltenden „dead donor rule“ – „Tote-Spender-Regel“) zutreffend als sittliche Tat gewürdigt. Daneben sagt die genannte Schrift aber auch (S. 23): „Dass das irdische Leben eines Menschen unumkehrbar zu Ende ist, wird mit der Feststellung des Hirntods zweifelsfrei erwiesen.“ Diese Behauptung hat die genannte Schrift von der Transplantationsmedizin übernommen, mittlerweile ist sie aber wissenschaftlich überholt. Im Unterschied zum Anliegen von Johannes Paul II. widmet die Schrift „Organtransplantationen“ der beiden deutschen Kirchen der Frage des Todeszeitpunktes nicht eine Zeile. Sie ist heute innerkirchlich und auch wissenschaftlich umstritten. Ärzte sagen dazu, hier seien die deutschen Kirchen von den Transplantationsmedizinern „über den Tisch gezogen“ worden.

Diskussionssperre beim Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben

Der Dissens in Wissenschaft und Kirche über die Hirntodproblematik stellt uns alle, besonders natürlich uns Christen, vor die Pilatusfrage: „Quid est veritas? – Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38). Eine unvoreingenommene Antwort wird dadurch erschwert, dass es bei der Organtransplantation, wie bei der Abtreibung auch, für die Ärzte um sehr viel Geld geht: Jeder Organspender bringt einen Umsatz von bis zu einer Million Dollar und ein Organempfänger für Immunsuppressiva (Medikamente zur Verminderung des Immunsystems, um die Abstoßung des empfangenen Organs zu verhindern) einen Jahresumsatz von bis zu 100.000 Dollar. Das Geld verfestigt den Dissens und macht ihn dauerhaft.

Bischof Ignacio Carrasco de Paula, der von 1984 bis 1994 Rektor der Päpstlichen Universität vom Heiligen Kreuz PUSC des Opus Dei in Rom war, wurde am 30. Juni 2010 von Papst Benedikt XVI. zum Präsidenten der Päpstlichen Akademie für das Leben ernannt. Während er früher Artikel verfasste, die der Hirntod-Organtransplantation zustimmen, räumt er nun den genannten Dissens ein: Im Interview mit der Zenit News Agency vom 14.07.2010 sagt er zum „Hirntod“: „a subject that I do not now like to treat because it generates controversies“ –  (es ist) „ein Thema, über das ich nicht sprechen möchte, da es Kontroversen hervorruft“. Auch ein priesterlicher Mitbruder von Msgr. Carrasco im Opus Dei, Prof. Dr. Dr. Schlag, Rom, äußert sich brieflich ebenso: „Das Thema des Hirntods löst nach wie vor heftige Debatten aus, allerdings handelt es sich um eine kleine Minderheit von Denkern, die sich der Mehrheit der Theologen und auch den vorsichtigen Äußerungen des Lehramts entgegenstellt.“ Was ist die Bedeutung dieser langjährigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung für unser Handeln als Christen?

Der geringste Zweifel schließt eine Organentnahme aus

US-Bioethikprofessor Dr. John Haas in Philadelphia setzte sich mit diesem Problem in dem Artikel „Catholic teaching Regarding Brain Death“ – „Die katholische Lehre über den Hirntod“ auseinander. Dabei spricht er vom Unterschied zwischen „absolute or prudential certitude“ – „absolute oder vernünftige (Zweifel ausschließende) Gewissheit“. Wenn aber der Dissens über die Hirntoddefinition in Theologie und Naturwissenschaft schon seit der ersten Herztransplantation 1968 mehr als vierzig Jahre andauert, woher nehmen wir dann die unser moralisches Handeln tragende „vernünftige Gewissheit“? Ist denn die Wahrheit, wie Prof. Schlag andeutet, eine Frage der Stimmenmehrheit geworden? Stellt hier nicht der andauernde Gelehrtenstreit jede Sicherheit in Frage, auch die „vernünftige Gewissheit“, wenn wir Gottes Willen achten und nicht gegen ihn verstoßen wollen?

In einem Brief an Prof. Schlag habe ich geschrieben, was mir meine Tochter auf sein Argument von der „Theologenmehrheit“ gesagt hat: „Wenn auch nur der geringste Zweifel besteht, dass ein Hirntoter tot ist, so verbietet sich jede Organentnahme von selbst aus Respekt vor Gottes Gebot ,Du sollst nicht töten‘ und aus Scheu vor der Sünde.“ Die Aussage meiner Tochter beruht auf gesundem Christenverstand und sorgfältiger Gewissenbildung durch das Opus Dei. Ihre Antwort überzeugt mich im Hinblick auf den Hirntod-Dissens unter Wissenschaftlern total.

Opus Dei und Barmherzige Brüder in der Zeitgeistfalle?

Meine Korrespondenzpartner bezeichnen die Hirntod-Organtransplantation als mein „Lieblingsthema“. In Wirklichkeit ist es natürlich nicht mein Lieblingsthema, sondern mein Schreckensthema: In meiner Kirche unterhalten die von meiner Familie seit Generationen unterstützten Barmherzigen Brüder jetzt in ihren Spitälern Stationen für die Organtransplantation. Das Opus Dei kennt zwar in seinen Reihen Gegner wie Befürworter der Hirntod-Organtransplantation. Seine Mitglieder führen aber an seiner Universität von Navarra in Pamplona seit langen Jahren Organtransplantationen durch und in keiner anderen Organisation der Kirche wird durch die einzelnen Mitglieder (Bischöfe, Priester, Theologen, Ärzte, Laien) die Hirntod-Organtransplantation so nachdrücklich verteidigt. Beide, die in ihrer Hospizarbeit für uns alle vorbildlichen Barmherzigen Brüder und das so viele Christen erfolgreich bei der Heiligung des Alltags nach Gottes Willen begleitende Opus Dei, sind bei der Hirntod-Organtransplantation möglicherweise in eine Zeitgeistfalle getappt, die – wenn bei der Organentnahme tatsächlich, wie es uns viele Wissenschaftler sagen, ein lebender Mensch getötet wird – einen schwerwiegenden Verstoß gegen Gottes Willen darstellt, eine Sünde also, die zum Verlust des Heils führen kann.

Wissenschaftlich überholte Positionen

Die Kritik von Wissenschaft und Theologie an der Hirntod-Organtransplantation hat sich in den letzten Jahren intensiviert. Die wissenschaftliche Diskussion in den USA, aber auch bei uns in Deutschland, schlägt hohe Wellen. Wir müssen uns mit den neueren Erkenntnissen der Medizin auseinandersetzen. Auch die Moraltheologie muss die Fakten beurteilen, die uns von der Wissenschaft geliefert werden. Einige Positionen, die lange Zeit hindurch vertreten worden sind, gelten inzwischen als wissenschaftlich überholt oder unzutreffend:

1. Man ging von der Integration des menschlichen Organismus durch das Gehirn aus und meinte, nach dem Hirntod könnten bestimmte Körperfunktionen und Organe trotz des Todes des Patienten extern aufrechterhalten werden.

Hierzu schreibt The President‘s Council on Bioethics (Der Bioethikrat des US-Präsidenten) – im Dezember 2008 in seinem White Paper (Weißen Papier) „Controversies in the Determination of Death“ – „Kontroversen um die Feststellung des Todes“ (S. 39f.):

„The Claim that the body of a patient diagnosed with ,whole brain death‘ is a mere ,group of artificially maintained subsytems‘ was repeated often enough to become established in the United States as the Standard rationale for equating total brain failure with human death … But this Standard rationale was soundly criticized … by … neurologist Alan Shewmon … Shewmon rightly notes … that the brain is not the Integrator of the body‘s many and varied functions. … Integration, rather, is an emergent property of the whole organism.“ –

„Die Behauptung, dass der Körper eines Patienten, bei dem ‚Ganz-Hirntod‘ diagnostiziert worden ist, lediglich eine ‚Ansammlung von künstlich aufrechterhaltenen Subsystemen‘ darstelle, wurde oft genug wiederholt, um sie in den Vereinigten Staaten als die Standard-Begründung für die Gleichsetzung von vollkommenem Gehirn-Versagen mit dem Tod des Menschen zu etablieren. … Aber diese Standard-Überlegung wurde … durch … den Neurologen Alan Shewmon in Frage gestellt. … Shewmon merkt zu Recht an …, dass das Gehirn nicht der Integrator der zahlreichen und vielfältigen Funktionen des Körpers ist. … Integration ist vielmehr eine Eigenschaft, die der Organismus als ganzer hervorbringt.“

Auch die externe Beatmung setzt einen lebenden Körper voraus. Eine Leiche kann man allenfalls aufblasen, aber nicht beatmen. Auch auf der Intensivstation beatmete Patienten sterben dort trotz ihrer Beatmung und sind erst dann eine Leiche.

2. Man äußerte Zweifel, dass Hirntote den Hirntod längere Zeit überleben können. Auch dafür gibt es zahlreiche Belege. Auf Seite 42 des unter Ziffer 1 genannten White Paper findet sich der Bericht über elf Schwangerschaften hirntoter Frauen, die vom Hirntod bis zur Geburt des Kindes bis zu dreieinhalb Monate angedauert haben, mit der Schlussfolgerung:

„These cases justify caution and skepticism toward sweeping Claims about the total instability of the ,brain dead‘ body and the imminent collapse of the body‘s Systems.“ –

„Diese Fälle rechtfertigen Vorsicht und Skepsis gegenüber pauschale Behauptungen über die totale Instabilität des ‚hirntoten‘ Körpers und den auf ihn unmittelbar folgenden Zusammenbruch der Körper-Systeme.“

Der in Ziffer 1 bereits zitierte Forscher Alan Shewmon hat einen hirntoten Jungen, dessen Gehirn bald völlig verflüssigt war, über mehr als zehn Jahre beim Heranwachsen und Erwachsenwerden begleitet. Zu beachten ist auch Shewmon‘s Veröffentlichung „Chronic brain death“ in der Zeitschrift Neurology 51: 1538-1545 (1998). Der Titel „chronischer Hirntod“, also langandauernder Hirntod, sagt sicher schon genug.

3. Robert Truog ist ein Befürworter der Organtransplantationen. Es wird von Moraltheologen betont, Lebensschützer dürften sich nicht auf ihn berufen, da er erlauben wolle, Organe von Lebenden zu entnehmen, und für die Abschaffung der „dead donor rule“ – „Tote-Spender-Regel“ plädiere. Das gibt die Position von Dr. Truog nicht zutreffend wieder: Seine Erkenntnis ist vielmehr, dass Hirntote lebende Menschen sind und deshalb schon heute (trotz und entgegen der dead donor rule) die zu transplantierenden Organe lebenden Menschen entnommen werden. Man dürfe sich nicht länger in die Tasche lügen und müsse, wenn man weiter transplantieren wolle, eben deshalb die dead donor rule abschaffen. Ich greife nur einige aus einem Artikel von Franklin Miller und Robert Truog im Hastings Center Report vom Dezember 2008 heraus:

• „patients who fulfill all of the diagnostic criteria for brain death remain alive“ – „Patienten, die alle diagnostischen Kriterien für einen Hirntod erfüllen, bleiben am Leben“;

• „we deny that brain death constitutes death of human being“ – „wir bestreiten, dass der Hirntod den Tod des Menschen darstellt“;

• „organ retrieval involve physicians in acts that cause death of patients“ – „Organentnahme verwickelt Ärzte in Handlungen, welche den Tod der Patienten verursachen“;

• „vital organ donation is inconsistent with the dead donor rule“ – „die Spende von Organen ist mit der Tote-Spender-Regel nicht vereinbar“;

• „either it is necessary to insist on the dead donor rule and give up organ donation or some credible rationale must be found for retrieving vital organs from living patients“ – „es ist entweder notwendig, auf der Tote-Spender-Regel zu bestehen und Organspende aufzugeben, oder es muss eine glaubwürdige Begründung für die Entnahme von Organen aus lebenden Patienten gefunden werden“.

4. Alexander S. Kekulé schreibt im Tagesspiegel vom 29.09.2010, dass die neurologische Fachgesellschaft der USA angemahnt habe, dass die Kriterien für die Feststellung des Hirntodes wissenschaftlich nicht untermauert seien.[1] Fehlt es also nicht nur dem Hirntod, sondern bereits der Hirntoddiagnose an wissenschaftlicher Legitimation?

Die aktuelle Position der Wissenschaft zum Hirntod und seiner Bestimmung ist viel komplexer als weithin angenommen. Die Bundesregierung hat einen Ethikbeirat berufen, der sie in bioethischen Fragen beraten soll. Von einem Mitglied dieses Bioethikbeirats habe ich gehört, dass man dort Fachartikel aus der Wissenschaft vielfach (vielleicht sind es auch einfach zu viele) nicht mehr zur Kenntnis nehmen will.

Für diese Leute gilt das dictum des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: „People who enjoy the comfort of oppinion without the discomfort of thought!“ – „Leute, die sich der Annehmlichkeit einer eigenen Meinung erfreuen, ohne sich der Unbequehmlichkeit eigenen Nachdenkens auszusetzen!“

Als Christen müssen wir auf der Suche nach Gottes Willen und in Respekt vor seinem Gebot sicherlich anders vorgehen.


[1] www.aerzteblatt.de/blogs/42935/Hirntodkriterium_Moeglicherweise_nicht_haltbar

Elisabeth von Thüringen – die dienende Fürstin

Am 17. November 1231, also vor 780 Jahren, starb die hl. Elisabeth von Thüringen. Genau vor 800 Jahren dagegen, im Jahr 1211, wurde sie vierjährig an den thüringischen Hof gebracht, nachdem sie bereits als Neugeborene dem ältesten Sohn des einflussreichen Landgrafen Hermann von Thüringen verlobt worden war. Dort wurde sie in die Gepflogenheiten des fürstlichen Lebens eingeführt, dort gelangte sie auch in den Einflussbereich der Franziskaner, die ihre künftigen religiösen Ideale formten. Die Weichen waren gestellt. Dass sie die meiste Zeit ihres Lebens ausgerechnet auf der Wartburg verbrachte, verbindet sie mit Luther und darf als Signal für die Ökumene betrachtet werden. Vielleicht könnte gerade ihre Haltung die getrennten Konfessionen zusammenführen? In diese Richtung deuteten auch die Worte Papst Benedikts XVI. im Augustinerkloster von Erfurt am 23. September 2011.

Von P. Notker Hiegl OSB

Seit der deutschen Wiedervereinigung sind Fahrten nach Thüringen wieder möglich, Fahrten zu den Wirkungsstätten der hl. Elisabeth, dieser großen demütigen Caritas-Heiligen unseres Volkes. Leider sind diese Stätten später auch zur Tragik für den christlichen Glauben in Deutschland geworden. Bis zum heutigen Tag herrschen Spaltung und Entfremdung, was bei einer Besichtigung der Wartburg besonders augenfällig wird und sich durch die Worte der Fremdenführerin tief einprägt. Wiedervereinigung auch im Glauben, nicht nur in den Staatsgrenzen, das wäre das Gebot der Stunde. Wahres „Christen-Leben“ besteht nicht in gelehrten Worten, sondern in dienenden Taten. Elisabeth ist uns hier, den Menschen des 21. Jahrhunderts, Mahnung und leuchtendes Vorbild. „Strophe für Strophe“ möchte ich jetzt ihr „Lebenslied singen“.

Eine vierjährige Braut

Der Herkunft nach stammte Elisabeth von ungarischen Königen ab. 1207 ist ihr Geburtsjahr. Die Magyarin war zunächst in Deutschland eine fremde Erscheinung. Elisabeth war ein hübsches Kind. Aus dem bräunlichen, von pechschwarzen Haaren umrahmten Gesicht schauten zwei große, dunkle Augen. Aus dynastischen Gründen wurde Elisabeth schon als Kleinkind verlobt. Die Eltern bestimmten es zur Ehe mit Hermann, dem Sohn des Landgrafen von Thüringen. Das vierjährige Mädchen wurde 1211 von einem majestätischen Zug magyarischer Adeliger auf feurigen Puszta-Pferden in einer mit seidenen Tüchern ausgeschlagenen, silbernen Wiege an den thüringischen Hof geleitet. Eine gewaltige Aussteuer mit reichhaltigem Brautschatz, bis hin zu einer goldenen Badewanne für das Kind, wurde im fürstlich geschmückten Pferdetreck mitgeführt. Rot-weiß-grüne Bänder flatterten an den Helmen der Magyaren-Fürsten, in den langen Zöpfen der das königliche Kind begleitenden Hofdamen und in den Schweifen der stolzen Rosse. Wochen dauerte der Vermählungszug vom Südosten Europas, dem heißen Ungarn, in den kalten germanischen Norden nach Thüringen. Gleich nach der Ankunft am Landgräflichen Hof auf der Wartburg legte man den „Knaben Bräutigam und das vierjährige Kindchen Elisabeth“ in dasselbe Bett. Die Verlobung und die spätere Heirat waren damit rechtlich gesichert. Mit wehmütigem Herzen kehrten die Magyaren in ihre Heimat zurück, nicht wissend, dass sie mehr als Gold und Silber, mehr als eine Königstochter zurückgelassen hatten, nämlich eine Heilige von außergewöhnlicher Leuchtkraft.

Der thüringische Fürstenhof

Die Erziehung der Kleinen aus dem Ungarnland besorgte Landgräfin Sophie. Sie war zunächst Elisabeths Pflegemutter, hernach ihre Schwiegermutter. Elisabeth lernte die höfische Kultur kennen. Dank dieser Gemessenheit lernte sie sich edel zu benehmen und zu kleiden, sie stand den gesellschaftlichen Veranstaltungen bei Hof nicht hilflos und linkisch gegenüber. Reine Harmonie zwischen Pflegemutter und Pflegetochter herrschte gewiss nicht, da es der Landgräfin nicht gelang, Elisabeth nach traditionellem Adels-Schema mit dem eitlen Gehabe über Gesinde, Leibeigene und niederem Volk in Stolz und Überlegenheit zu formen. Schlechtes Beispiel erfuhr Elisabeth ebenfalls von ihrem Pflegevater, dem Landgrafen Hermann dem Älteren, der alles andere als ein Ritter ohne Furcht und Tadel war. Der oberflächlichen Kunst zugetan, politisch schlau, stets auf der Seite der Sieger, liebte dieser skrupellose Fürst ein üppiges Leben, das sich zur Verschwendung steigerte. Die heranwachsende Elisabeth sah von frühester Jugend an das leichtlebige Treiben bei Hof mit Minnesängern, Gauklern, Trinkern und Raufbolden, Turnieren und johlender Jagd; es wirkte sehr abstoßend auf sie. Nachdem Hermann der Jüngere im jugendlichen Alter verstorben war, wurde Elisabeth in ihrem 14. Lebensjahr dem nachfolgenden Bruder Ludwig vermählt. Mit Ludwig IV., ihrem Spielgefährten der Kinderjahre, dem sie gelöster und näher anhing als ihrem ursprünglich Verlobten Hermann, begann nun die schönste Zeit ihres so kurzen Lebens. Das junge Paar unternahm als erstes eine Hochzeitsreise ins heimatliche Geburtsland der Braut, ins ferne Ungarn.

Das junge Paar im Glück

Nach den Flitterwochen bezogen die beiden Neuvermählten die Wartburg. Elisabeth durfte die Ehe mit allen Fasern ihrer Gefühlskraft erleben und entfaltete ihrem Gatten gegenüber einen fraulichen Charme voller Zartheit und Anmut. Sie war ein überaus gefühlvoller Mensch, der nach Liebe und Geborgenheit, nach Umarmung und Nähe hungerte. Mit den kleidsamen Gewändern wollte sie ihrem Gemahl allezeit gefallen. Kehrte Ludwig heim, dann flog sie ihm entgegen, umarmte ihn voller Freude und küsste ihn mit der Leidenschaft ihres ungarischen Blutes unzählige Male herzlich auf den Mund. Es schwang und klang zwischen Ludwig und Elisabeth in absoluter Harmonie, „süß und duftig, kosend und holdselig“. Ludwig war ein ganz anderer Mann wie sein Vater, er war ernster gesinnt. Ohrenbläserei neigte er sich nicht zu, jede Verleumdung über Elisabeth ging bei ihm ins Leere. „Man sage, was man will, auf Erden habe ich nichts Lieberes als Elisabeth.“ Mit 15 Jahren schon gebar Elisabeth ihr erstes Kind. Ein zweites und drittes Kind folgten. So war sie von ihren Kindern umgeben, redete und spielte mit ihnen. Nie stellte sich Ludwig gegen die religiösen Neigungen seiner jungen Frau, er ließ sie frei gewähren und freute sich an ihren religiösen Bestrebungen. Wenn sie nachts aufstand und betete, stellte er sich schlafend. Manchmal hielt er ihr dabei die Hände und sagte nach einer Weile: „Liebe Schwester, schone dich jetzt und leg dich wieder zur Ruhe!“

Geeint in Freud und Leid

Wieder war Ludwig im thüringischen Land unterwegs, um zu richten und zu schlichten. Während seiner Abwesenheit legte Elisabeth einen Aussätzigen in das Bett ihres Gatten. Die Schwiegermutter, nur mit den Augen des Leibes sehend, meldete diesen erneuten Skandal durch Boten ihrem Sohn. Als Ludwig zurückkehrte und Elisabeth liebkost hatte, gingen sie ins gemeinsame Schlafgemach. Elisabeth hob die Decke auf und nun geschah etwas, was zum Ruhm Ludwigs gereicht: Er erkannte im Aussätzigen mit seinen offenen Wunden und seiner Ansteckungsgefahr den gemarterten Jesus Christus, den Herrn am Kreuze selbst, und sagte liebevoll zu Elisabeth: „Liebe Schwester, solche Gäste sollst du mir gar oft in mein Bett legen. Das geschieht zu unserem Dank.“ Die beiden Eheleute waren im Tiefsten, was Menschen miteinander verbinden kann, im Göttlichen vereint und der „heilige Engel war zwischen ihnen als Bote“. Ein zwischen Mann und Frau hin- und hergehender Engel ist wahrhaftig ein schönes Bild für die in Gott verankerte Beziehung zweier Ehegatten.

In der Kleiderpracht und im Tragen von Schmuck beobachtete Elisabeth eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Einmal sah sie beim Eintritt in die Kirche den Dornengekrönten am Kreuz hängen, nahm ihre Landgräfinnenkrone ab und verneigte sich bis zum Boden, sehr zum Missfallen der Schwiegermutter. Sie übte persönlich praktische Nächstenliebe und delegierte diese nicht an die Mägde, ganz im Sinn ihres tief religiösen Mannes.

Im Jahr 1225 reiste Ludwig zum Reichstag nach Cremona, den Kaiser Friedrich II. einberufen hatte. Ganz Deutschland wurde damals von einer schweren Hungersnot heimgesucht, die viele Menschen hinwegraffte. Voller Mitleid verteilte Elisabeth den Darbenden alles Korn, das auf ihren Höfen geerntet worden war, als Almosen an die Armen. Im Herrschaftsbereich ihres Gemahls nahm sie alles, was aus seinen vier Landesteilen hereinkam, und verwendete es freigebig für die Ernährung der Hungernden. Zu dieser Zeit soll sich das bekannte „Rosenwunder“ zugetragen haben. Doch diese Episode wurde erst später von der hl. Elisabeth von Portugal (1270-1336, Fest am 4. Juli) auf „unsere“ Elisabeth übertragen. Die hl. Elisabeth von Portugal war im Übrigen eine Großnichte der hl. Elisabeth von Thüringen.

Zu armen und kranken Menschen fühlte sich die junge Fürstin hingezogen, sie beugte sich zu allen Elenden und Mühseligen hinab, sprach mit ihnen schwesterlich und half ihnen tatkräftig. Selbst in der Kleidung wurde sie ihnen gleich, solidarisch und niedrig. Elisabeth setzte sich mit einer Kühnheit ohnegleichen über die feudalen Standesunterschiede hinweg und zerriss mit christlicher Gebärde alles Trennende, als wäre es ein Spinngewebe. Ihre Mägde mussten sie sogar mit „Du“ anreden. Für die fürstliche Umgebung ging dies alles viel zu weit. Einmal sagte sie zu einer Dienerin: „Setze dich auf meinen Schoß!“ Eine stärkere Umkehrung der höfischen Gesellschaftsordnung ist nicht denkbar, die Herrin wird zum Schemel der Magd. Die Familie fand Elisabeths Tun schändlich und skandalös. Der zeitgenössische Adel schaute nicht gerührt zu Elisabeth empor, er bewunderte sie nicht als „Germaniens Ruhm“. Nur Ludwig hielt zu ihr.

Ludwigs Teilnahme am Kreuzzug

Düsterer Schatten fiel auf Elisabeths Eheglück, als ihr Gemahl Ludwig von Bischof Konrad v. Hildesheim das Kreuz entgegennahm, um mit dem Stauferkaiser Friedrich II. ins Heilige Land zu ziehen. Obwohl Elisabeth den Kreuzzugsgedanken zur Befreiung der heiligen Stätten, in denen Jesus gelebt hatte und gestorben war, vom bedrückenden Islam-Joch teilte, verbarg Ludwig zunächst dieses rote Stoff-Gelöbnis-Kreuz vor ihr, um sie nicht vorzeitig zu betrüben. Eines Abends ergriff sie bei der Liebkosung, ohne dass er es bemerkte, seinen Gürtel. Da fand sie das Kreuz und erschrak so sehr, dass sie ohnmächtig zu Boden sank. Beim Abschied ahnte Elisabeth die endgültige Trennung von ihrem geliebten Gemahl voraus. Sie kehrte in ihre Gemächer zurück, legte die fürstlichen Gewänder ab und trug fortan dunkle Witwenkleidung. Tatsächlich erlag Ludwig schon im September einer Seuche. Er starb in Otranto, noch bevor er Italien Richtung Heiliges Land verlassen hatte. Etliche Zeit wurde Elisabeth diese Hiobsbotschaft vorenthalten, bis schließlich die Schwiegermutter Sophie zu ihr sagte: „Er ist tot!“ Elisabeth erwartete damals ihr drittes Kind. Hemmungslos schluchzte sie auf und die namenlose Qual wiederholte sich, als die sterblichen Überreste Ludwigs nach Bamberg kamen. Bereits mit 19 Jahren war Elisabeth eine trauernde Witwe. Vom liebenden Mädchen über die mit Kindern gesegnete Ehefrau bis zur allzu frühen Witwenschaft waren Elisabeth alle Stadien des Weiblichen vertraut.

Vertreibung von der Wartburg

Einige Zeit nach dem Tod Ludwigs nahm die gegen Elisabeth gerichtete ungünstige Stimmung auf der Wartburg derart überhand, dass sie sich entschloss, wegzugehen. Nach außen hin räumte sie die Burg freiwillig. Tatsächlich jedoch wurde sie durch den Widerstand ihres Schwagers, Heinrich Raspe, dazu genötigt. So war es eigentlich eine Verstoßung und eine Flucht. An einem kalten Winterabend verließ sie mit ihren Dienerinnen die Wartburg und stieg bewusst von der gesellschaftlichen Höhe herab. Franziskus hatte ihr, der ersten deutschen Terziarin, schon zuvor seinen Mantel zugesandt. Elisabeth verbrachte die Fluchtnacht in einem unwirtlichen Raum, Schweine waren darin untergebracht. Um Mitternacht begab sie sich zum Franziskanerkonvent in Eisenach und bat, bei der Matutin ein Te Deum anzustimmen, als Dank für die errungene Freiheit. Nun war sie so arm wie Christus; sie hatte den Rubikon ihres Lebens überschritten. Die Bevölkerung verhielt sich der einstigen Wohltäterin gegenüber zurückhaltend; ja, die Leute verachteten sie, nachdem sie nun von der „Ehemaligen“ keine Almosen mehr zu erwarten hatten.

Einmal wurde Elisabeth von einer kranken Frau, welche stets etwas von der Landgräfin erhalten hatte, in den knietiefen Kot der Straße gestoßen. Lächelnd erhob sich Elisabeth und reinigte ihre Kleidung. Das Leiden gehört zur Heiligkeit, es lässt sich von ihr nicht trennen. Ihr Oheim Egbert, Bischof von Bamberg, riet ihr, sich wieder zu vermählen. Doch selbst den Antrag Kaiser Friedrichs II., sie zur Gemahlin zu nehmen, wies sie weit von sich. Von Tür zu Tür bettelnd wollte sie nun leben. Radikale Weggemeinschaft an der Seite Jesu, der auch nicht wusste, wo er sein Haupt hinlegen sollte.

Christus im Kranken dienen

In dieser Zeit wurde Elisabeth klar, dass sie auf diesem Weg der Armut ihre geliebten Kinder, das Einzige, was sie noch persönlich hatte, unmöglich mitnehmen konnte. Sie durfte sie nicht ins Elend hineinziehen. Es war eine schmerzliche Erkenntnis. Auch ihr sehr strenger Beichtvater, Konrad von Marburg, drängte sie zu diesem Schritt. Ihren Kindern stand im Blick auf die Erbfolge eine fürstliche Erziehung zu. So willigte Elisabeth unter Schmerz und Betrübnis ein und übergab die Kinder in klösterliche und höfische Erziehung. Es war für sie ähnlich bitter wie beim Abschied von ihrem geliebten Mann, sogar vergleichbar mit dem Glaubensopfer Abrahams bei seinem Gang mit seinem Sohn Isaak zum Berg Moria. Elisabeth aber gründete mit ihrem Heiratsgut, das ihr Schwager nur widerwillig herausgab, auf einem Gutshof außerhalb Marburgs ein Hospital. Diese Spitalgründung war ein Novum. Denn bisher hatte nur die höhere Geistlichkeit Siechenhäuser gegründet, eine Frau jedoch hatte noch nie einen solchen Schritt vollzogen. Elisabeth übernahm hier zum Staunen ihrer Zeitgenossen eine Aufgabe, welche wiederum alle bisherigen Gepflogenheiten sprengte. Die Aufnahme der Kranken fand nach Ablegung einer hl. Beichte statt. Elisabeth, die ehemalige Landgräfin, pflegte nun selbst in ihrem einfachen grauen Kleid die Kranken, besorgte auch die übrigen, niedrigsten Arbeiten, einschließlich des Küchendienstes und der Essensausgabe. Menschen mit Krätze und Aussatz, vor denen sich jedermann abwandte, umhegte sie mit zärtlichster Zuwendung. In ihnen verbarg sich für Elisabeth der Herr selbst: „Wie wohl ist uns, dass wir unsern Herrn so baden und zudecken dürfen.“ Für sie war Caritas eindeutig Christus-Dienst. „Was ihr einem dieser Geringsten getan, das habt ihr mir getan.“

Elisabeths Vollendung

Im Alter von 24 Jahren erkrankte Elisabeth schwer. Magyarenfürsten, welche vom Elend der aus der Burg verstoßenen ungarischen Königstochter gehört hatten, eilten herbei, um sie in ihr Heimatland zurückzuholen. Elisabeth jedoch wollte im Kreis der Armen, Kranken und Sterbenden bleiben. Innerhalb von zwei Wochen neigte sich ihr Leben dem Ende, der Vollendung zu. Konrad von Marburg nahm ihr die Beichte ab. Er fragte sie auch nach ihrem Testament. Doch die Landgräfin hatte bereits alles verschenkt. In der folgenden Zeit erfreute die Sterbende ihre Umstehenden noch mit süßem Gesang. Zwei Tage vor ihrem Ende aber wünschte sie allein gelassen zu werden und beschäftigte sich betend mit der Passion des Herrn. Am Morgen des 17. November 1231, kurz nach dem Hahnenschrei vom Gutshof herüber, war ihre Zeit gekommen. Auf einer Strohmatte liegend gab sie ihre reine, heißliebende Seele Gott zurück. Der Leichnam wurde in der Spitalkirche beigesetzt, es geschahen zahlreiche Wunder. Weit über die Landesgrenzen hinaus wussten auf einmal alle, dass Elisabeth eine ganz große Heilige war. Für den Heiligsprechungsprozess sammelte Konrad von Marburg alle Zeugnisse über die ungewöhnliche Fürstin. An Pfingsten 1235, noch keine vier Jahre nach ihrem Tod, wurde Elisabeth von Papst Gregor IX. zur Ehre der Altäre erhoben. Im selben Jahr wurde der Grundstein für die Elisabethenkirche in Marburg gelegt. Bei dieser Festlichkeit schritt der Kaiser selbst, Friedrich II., barfüßig und im Büßergewand, dem Festzug voran.

Elisabeth gilt neben dem Erzengel Michael und Bischof Bonifatius als Nationalheilige Deutschlands. Gott war in ihrem Leben immer anwesend. So sind diese Liedstrophen über die hl. Elisabeth von Thüringen zu Ende, doch in mir klingt die Frage nach: Was wirst Du tun angesichts so großer Liebe?

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.