Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Unser Titelbild zeigt Papst Franziskus, wie er am 12. Mai 2017 in der Erscheinungskapelle von Fatima an der Osterkerze seine Kerze für die Lichterprozession entzündet. Es war der Auftakt zur großen Jubiläumsfeier am 13. Mai 2017, dem hundertsten Jahrestag der ersten Marienerscheinung in Fatima. 

Das Bild kann als Symbol für das ganze Pontifikat verstanden werden, das wir gerade erleben dürfen. Papst Franziskus will vor allem das Eine: die ganze Welt zu Christus führen. Denn nur er kann uns retten, er allein ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Und dafür ist Franziskus zu allem bereit.

Wenn wir auf die Gottesmutter Maria schauen, erkennen wir eine zweifache Richtung: Zunächst hat sie Jesus Christus, den Sohn Gottes, in die Welt gebracht. Aber nun erfüllt sie als unsere Mutter die Aufgabe, alle Menschen zu Jesus Christus hinzuführen.

Fatima ist wie ein großer Paukenschlag, der uns alle an unsere Mitverantwortung für das Heil unserer Mitmenschen, ja für die Rettung der ganzen Welt erinnert. Erzbischof em. Karl Braun, hat in seinem Leitartikel diesen Gedanken auf leidenschaftliche Weise entfaltet. Umfassend erschließt er uns das Sühneverständnis, wie es in der Fatimabotschaft aufleuchtet. Es geht weniger darum, dass wir Gnaden in die Welt bringen, sondern dass wir den Menschen helfen, zu Christus zu finden, dass wir ihnen den Weg zu den Quellen der Erlösung ebnen.

So setzte Papst Franziskus in Fatima beim himmlischen Licht an, in das die Seherkinder bei ihrer ersten Erscheinung mit hineingenommen waren. Und ohne Umschweife greift er die Einladung der Gottesmutter auf: „Wollt ihr euch Gott darbieten, um alle Leiden zu ertragen, die Er euch schicken wird, zur Sühne für die Sünden, durch die Er beleidigt wird, und als Bitte um die Bekehrung der Sünder?“ – „Ja, wir wollen es!“ – „Ihr werdet viel leiden müssen, aber die Gnade Gottes wird eure Stärke sein!“ Und darin besteht letztlich das Geheimnis der beiden Kinder Francisco und Jacinta Marto, die der Papst zum Jubiläum heiliggesprochen hat.

In diesem Licht gilt es auch alle anderen Maßnahmen dieses Pontifikats zu beurteilen. Und wir werden verstehen, warum Papst Franziskus so unbeirrt auf seinem Weg voranschreitet, sei es mit dem Jahr der Barmherzigkeit, sei es mit seinem Bemühen um einen neuen Eifer bei der Evangelisierung vor Ort oder nun auch mit seiner Reise nach Ägypten am 28. und 29. April. Es geht ihm allen Ernstes darum, die Welt zu Christus zu bringen, auch die islamische Welt. Und dafür ist er sogar bereit, den Großimam der Al-Azhar-Moschee zu umarmen. Es macht ihm nichts aus, wenn er dafür als „Witzfigur“ hingestellt wird. Er lässt sich auch nicht dadurch von seinem Weg abbringen, dass man dem Großimam berechtigterweise Vorhaltungen macht. So habe dieser zum Beispiel 2002 ausdrücklich Selbstmordattentate gegen Israel gerechtfertigt. Dem Papst geht es um eine ganz andere Dimension. Er wird sich einmal als großer Apostel des Friedens und der Barmherzigkeit erweisen. Auch dem hl. Franziskus war es vor knapp 800 Jahren ebenfalls in Ägypten nicht gelungen, den Sultan oder Muslime zum Christentum zu bekehren. Aber sein friedlicher Dialog ist bis heute bei den Muslimen auf der ganzen Welt in verehrungsvoller Erinnerung geblieben.

Liebe Leser, während wir Zerrissenheit und Uneinigkeit erleben, möchten wir mit dem Menü dieses Heftes wieder Stärkung und Orientierung schenken. Wir danken Ihnen aufrichtig für Ihre Verbundenheit und hoffen auch in Zukunft auf Ihre großherzige Unterstützung. Auf die Fürsprache Mariens, der Königin des Friedens, wünschen wir Ihnen zum Herz-Jesu-Monat Gottes reichsten Segen.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zur Heiligsprechung von Francisco und Jacinta Marto am 13. Mai 2017 in Fatima

Mitverantwortung für das Heil der Welt

Bei seinem Besuch in Fatima hat Papst Franziskus am 13. Mai 2017 die beiden Seherkinder Francisco (1908-1919) und Jacinta Marto (1910-1920) heiliggesprochen. Dazu sagte er: „Der Herr geht uns immer voran: Wenn wir ein Kreuz tragen, hat er es schon vor uns getragen. In seiner Passion hat er all unsere Leiden auf sich genommen. Jesus weiß, was Schmerz bedeutet, er versteht uns, er tröstet uns und er gibt uns Kraft. Das hat er auch dem heiligen Francisco und der heiligen Jacinta erwiesen. … Heute richtet die Jungfrau Maria erneut an uns die Frage, die sie vor hundert Jahren an die Hirtenkinder richtete: ‚Wollt ihr euch Gott als Opfer anbieten?‘ Die Antwort – ‚Ja, wir wollen es!‘ – gibt uns die Möglichkeit, ihr Leben zu verstehen und nachzuahmen. Sie haben diese Zusage gelebt mit allem, was sie an Freud und Leid mit sich brachte, in einer Haltung der Hingabe an den Herrn.“

Und den anwesenden Kranken rief der Papst zu: „Liebe Kranke, lebt euer Leben als ein Geschenk und sagt der Jungfrau Maria wie die Hirtenkinder, dass ihr es mit ganzem Herzen Gott anbietet. Haltet euch nicht nur für Empfänger einer wohltätigen Solidarität, sondern fühlt euch als vollberechtigte Teilnehmer am Leben und an der Mission der Kirche. Eure stille Gegenwart ist beredter als viele Worte. Euer Gebet, das tägliche Opfer eurer Leiden in Gemeinschaft mit jenen des gekreuzigten Jesus für das Heil der Welt, das geduldige und sogar frohe Annehmen eurer Situation ist eine geistliche Ressource, ein Kapital für jede christliche Gemeinschaft. Schämt euch nicht, ein wertvoller Schatz der Kirche zu sein.“

Diesen Aufruf von Fatima, Mitverantwortung für das Heil des Nächsten und für die Rettung der Welt zu übernehmen, erläutert Dr. Karl Braun, Erzbischof em. von Bamberg, in seinem engagierten Beitrag.

Von Erzbischof em. Karl Braun, Bamberg

Schockierende Drangsale und Nöte in rasant wachsendem Ausmaß erschüttern die Menschheit. Die diabolische Macht des Bösen tobt sich immer grausamer aus und ist bedrohlicher zu spüren denn je. In Welt und Kirche „kriselt“ es. Auf dem Hintergrund eines radikalen Umbruchs, massiver Umwälzungen und terroristischer Unberechenbarkeiten wird das Leben immer chaotischer und verrückter. Dabei machen uns ein zersetzender ethischer Verfall, der Einfluss der internationalen Freimaurerei und zusehends ein gewaltsamer, extremer und fanatisierter Islam zu schaffen.  

Wir sitzen auf einem Pulverfass

Europa steht im Begriff, mit seiner mehrtausendjährigen Tradition zu brechen, die Wurzeln seiner einstigen Größe, nämlich seinen Glauben an Gott, zu verlieren, im materialistischen Atheismus bzw. im atheistischen Materialismus zu versinken und eine „Stadt ohne Gott“ zu werden. Die Frage steigt bedrängend auf: Wird im Lauf des zweiten Jahrtausends abendländischer Geschichte Jesus Christus das Haupt der europäischen Völker bleiben oder wird Gott „den Leuchter“ vom Abendland wegrücken? Soll für uns gelten, was Papst Gregor der Große im Jahre 580 angesichts der Eroberung Roms durch Heidenvölker sagte: „Jetzt ist das Geschlecht heraufgekommen, dessen Bestimmung es ist, ein gewaltiges Erbe versinken zu sehen; ein Geschlecht, das nicht mehr fähig ist, Erbe zu sein“? Ein modernes und revolutionäres Heidentum scheint den Siegeszug anzutreten. Die Welt steht auf der Kippe. Wir sitzen auf einem Pulverfass. Ein zeitgenössischer Künstler prognostiziert, auch angesichts vielfacher Verdrehung und Manipulierung der Wahrheit: „Unsere Scheinwelt bricht eines Tages mit lautem Getöse zusammen“ (Manfred Scharpf).

Auseinandersetzung geistiger Mächte

Wenn wir nach den Ursachen dieser Entwicklung fragen, bleiben wir oft dem Vordergründigen verhaftet und graben nicht tief genug. Der Glaube aber öffnet uns die Augen für das, was sich hinter den Kulissen des „großen Welttheaters“ abspielt. Es geht um den Kampf geistiger Mächte. Wir stehen mitten in der Auseinandersetzung überirdischer Gewalten, im Kampf zwischen Himmel und Hölle (vgl. Eph 6,12).

Es ist eine unglaubliche Blindheit und Naivität, diese Tatsache zu bagatellisieren. Die katastrophale Übermacht der Bosheit in unseren Tagen ist auch das Ergebnis einer jahrhundertelangen Zersetzung der göttlichen Weltordnung. Ratlos stehen wir in unserer Welt, die „aus den Fugen geraten“ ist, dem Wirbel innerer und äußerer Verwüstung gegenüber.

So kann uns das Negative, das wir Tag für Tag erleben, zu pessimistischer Resignation verleiten und wir fragen mit Alfred Delp: „Wird unser Weg noch einmal nach oben gehen?“ Der standhafte Bekenner in der Zeit des Nationalsozialismus erwidert: „Wir wissen die Antwort nicht. Eines wissen wir: Einmal … war Maria die große Liebe unseres Volkes. Als Unsere Liebe Frau ging sie durch das Land. Ihr sang man die schönsten Lieder und weihte man die hohen Dome und Burgen. … Die Zeiten sind vergangen. … Einmal war das. Wird es wieder so sein? Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht, was hinter den Wolken wartet, in die wir gehen. Eines wissen wir: Maria, die hohe Frau, muss wieder segnend und lächelnd durch das Land gehen. Wir wollen sie bitten…“

Auf sie, die „Siegerin in allen Schlachten Gottes“, nicht auf das Böse, muss deshalb unser Fokus gerichtet sein. Wir stehen in der apokalyptischen Entscheidungssituation und haben den Kampf mit dem Drachen, dem Satan, zu bestehen. Obwohl der siegreiche Ausgang für uns bereits verheißen ist (vgl. Offb 12,9 b), dauert die Auseinandersetzung weiter bis zum Ende der Weltzeit. Aber in diesem Kampf geht uns Maria, die „Frau, mit der Sonne bekleidet“ (Offb 12,1), voran. Wir wagen es, ihr mehr zuzutrauen als uns selbst und der ganzen Welt. Felsenfest bauen wir darauf, da sie uns ihre mütterliche Güte und Hilfe spüren lässt. Maria schreitet uns voraus mit der Botschaft von Fatima und bietet uns die Mittel an, die zum Sieg führen.

Die Botschaft von Fatima stärkt uns im Kampf

Maria sagt uns in Fatima: Es geht um die Wurzel aller Dinge, die wir als Voraussetzung einer guten Zukunft sehen, es geht um die Umwandlung des Herzens, es geht um eine Erneuerung der Beziehung zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen. Über jegliche Evolution und Revolution im äußeren und sichtbaren Bereich muss eine andere, grundlegende Änderung stehen, ohne die alle anderen Bemühungen ihr Ziel nicht erreichen. Es ist die Umkehr des Menschen zu Gott. Es ist die Mahnung, die sich wie ein roter Faden durch das Evangelium zieht: Bekehrt euch! Ändert euch! Tut Buße!

Freilich gibt es nicht wenige, die beim Nennen von „Fatima“ geringschätzig sagen: „Das ist ja nur eine Privatoffenbarung!“ Dies stimmt: Fatima ist eine Privatoffenbarung, aber nicht irgendeine Privatoffenbarung unter den vielen, von denen man hören kann. Es ist eine Privatoffenbarung, zu der sich die Kirche nach langer und gewissenhaftester Prüfung voll und ganz bekannt hat. In Fatima hat Gott durch die Erscheinung der Rosenkranzkönigin seiner großen allgemeinen Offenbarung nichts Neues hinzugefügt; aber Er hat mit Nachdruck, ja mit größtem Ernst durch Maria an die Grundforderung des Evangeliums erinnert; an die Grundforderung, mit der Christus, der Herr, sein Wirken, seine Mission, seine Tätigkeit begonnen hat: „Tut Buße! Bekehrt euch!“

Buße und Sühne zur Rettung der Seelen

Zur Buße rief auch der damals noch katholische Martin Luther am Anfang seiner 95 Thesen auf: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ,Tut Buße‘ (Mt 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ In der Botschaft von Fatima geht es aber um noch mehr als um die Umkehrbereitschaft, als um die persönliche Bekehrung: Es geht um Sühne, um Wiedergutmachung durch Opfer und freiwillige Leiden; es geht um die Rettung vieler Menschen, die in Verblendung oder Stolz nicht wahrhaben wollen, dass sie selbst der Buße und der Bekehrung dringend bedürfen.

Die Botschaft von Fatima gipfelt in der Aufforderung, sich dem Unbefleckten Herzen Marias zu weihen, um so ihre geistliche Mutterschaft zu erfahren und an ihrer Gottesliebe teilhaben zu dürfen. Die Weihe an das Herz Marias ist nicht ein Ausdruck religiöser Sentimentalität, sondern drückt die Überzeugung von der Gnadenmittlerschaft der Gottesmutter in besonderer Weise aus. Außerdem bekundet diese Weihe den festen Willen, die Gesinnungen des Herzens Marias nachzuahmen und so auch ihres Schutzes teilhaftig zu werden. Die Gottesmutter hat in Fatima den Sinn und Segen dieser Hingabe an ihr Unbeflecktes Herz bestätigt und ihn als eine wirksame Form der von Gott gewünschten Sühneleistung erkennen lassen. Der Kern, das tiefste Wesen der Fatima-Frömmigkeit liegt also in der Weihe an das Unbefleckte Herz Marias und in der Sühne zum ewigen Heil des Nächsten sowie für die Rettung der Welt.

Sühne und Buße sind nicht dasselbe. Bei der Buße richtet sich unser Blick zunächst auf uns selbst. Wir wenden uns von der Sünde ab und wollen durch Gebet, Opfer und gute Werke die für unsere Abwendung von Gott verdiente Strafe „begleichen“. Wenn wir an Sühne denken, schauen wir mehr auf Gott, der durch die Sünde beleidigt wird. Indem Gott Sühne verlangt, lässt er uns mit seiner Liebe an der „Aufarbeitung“ der Sünde mitwirken. Der Christ kann so in gewisser Weise an der Entsühnung der Welt durch Jesus Christus teilnehmen und ergänzen, was an den Leiden des Erlösers für die Sünder noch fehlt (vgl. Kol 1,24). „Ein Christ nimmt Sühne auf sich, indem er für die Gottferne und Verlorenheit der anderen durch Gebet und Opfer vor Gott eintritt. Er nimmt die eigenen Leiden und Gebrechen, Entbehrungen bewusst auf sich als Fürbitte für jene, die der Barmherzigkeit Gottes mehr und am meisten bedürfen."[1]

Die Seherkinder werden zur Sühne aufgefordert

Die kleinen Seher von Fatima sind schon vor der ersten Erscheinung der Gottesmutter auf diesen Gedanken der Sühne, des Sühneleidens, hingewiesen und darüber belehrt worden von einem Engel, vom Engel des Friedens. Dieser himmlische Bote erschien den Kindern und lehrte sie folgendes Gebet: „Mein Gott, ich glaube an dich, ich bete dich an, ich hoffe auf dich, ich liebe dich. Ich bitte dich um Verzeihung für jene, die nicht an dich glauben, dich nicht anbeten, auf dich nicht hoffen und dich nicht lieben.“

Bei der zweiten Erscheinung bestärkt der Engel die Kinder in ihrem heroischen Gebets- und Sühneeifer; er sagte zu ihnen: „Bringt dem Herrn unaufhörlich Gebete und Opfer dar als Sühne für die vielen Sünden, durch die Er beleidigt wird, und bittet um die Bekehrung der Sünder.“

Bei der dritten Erscheinung kam der Engel mit einem Kelch, über dem die heilige Hostie schwebte. Diesmal lehrte er die Seherkinder: „Heiligste Dreifaltigkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist, ich bete dich aus tiefster Seele an und opfere dir den kostbaren Leib, das Blut, die Seele und die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus auf … zur Genugtuung für die Schmähungen, Gotteslästerungen und Gleichgültigkeiten, durch die Er selbst beleidigt wird…“

Diese Engelsbelehrung hat Maria bei ihrer vierten Erscheinung in Fatima am 19. August 1917 vertieft. Sie sagte zu den Kindern: „Betet, betet viel und bringt Opfer für die Sünder; denn viele Seelen kommen in die Hölle, weil niemand sich für sie opfert und für sie betet.“

Die Sühnemacht des Leidens

Kann Maria so etwas sagen? Ist so etwas überhaupt möglich? Können wir durch Gebet, durch freiwillige Opfer und Sühneleiden andere Menschen retten? Muss nicht jeder selbst in letzter Verantwortung sozusagen seine Haut zu Markte tragen? Hierzu hat Papst Pius XII. unmissverständlich in seiner Enzyklika vom „Mystischen Leib Christi“ vom 29. Juni 1943 geschrieben: „Es ist ein wahrhaft schaudererregendes Geheimnis, das man niemals genug betrachten kann, dass nämlich das Heil vieler abhängig ist von den Gebeten und freiwilligen Bußübungen der Glieder des Geheimnisvollen Leibes Jesu Christi.“ Und der Engel des Friedens gibt in seiner dritten Unterweisung an die begnadeten Seherkinder geradezu theologisch Aufschluss, worauf die rettende Wirkung unseres freiwilligen Sühneleidens beruht: Sie gründet auf der innersten Verbindung und Verbundenheit unserer Gebete, unserer Opfer und Leiden mit dem unendlich kostbaren Leiden des Erlösers und Gottmenschen Jesus Christus; in der Verbindung mit seinem Leib, der für uns dahingegeben wird, und mit seinem kostbaren Blut, das für uns vergossen wird – zur Vergebung der Sünden. So gibt es tatsächlich eine „Macht des Leidens“ (Romano Guardini), der eine weite Ausstrahlung eignet. Sie erweist sich besonders wirkkräftig durch jene Menschen, die selbst vom Leid gezeichnet sind. Sie wollen aus der Erfahrung ihrer eigenen Hilfebedürftigkeit heraus anderen Leidtragenden zur Seite stehen. Doch bei ihrem äußeren Helfen stoßen sie oft an Grenzen. Demzufolge erinnern sie sich der unbegrenzten Macht des Leidens im Kreuzestod Jesu Christi, der Gottes Erbarmen gleichsam “herabgezwungen“ hat. Wenn wir deshalb unsere Mühsale mit dem Leiden des Erlösers vereinigen und sie in Christi Namen für uns und andere aufopfern, werden uns kraft der „Macht des Leidens“ Hilfe und Trost zuteil: Gnade, die uns heiligt und die Seelen dem ewigen Heil entgegenführt. Auf der Ebene dieser Überlegungen liegt auch die Sühneforderung der Gottesmutter in Fatima und die „Macht“ unserer Sühne für die Sünden der Welt.

Mitverantwortlich für das Heil der Mitmenschen

Wir sind mitverantwortlich für das Heil aller Menschen. Der Herr wird uns beim Gericht nicht nur nach den leiblichen Werken der Barmherzigkeit fragen, sondern auch nach denen der geistlichen Barmherzigkeit: Hast du Sühne geleistet nicht nur für deine eigenen Sünden, sondern auch für die Sünden der anderen, für die Sünden der Welt?

Durch die Taufe nimmt uns Christus hinein in seine Sendung und in sein Leben, sodass für uns immer mehr Wirklichkeit wird: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Wir leben das Leiden Christi mit, wir haben deshalb teil nicht nur an seiner Auferstehung, sondern auch an seinem sühnenden Leiden und Sterben für uns. Wir können zu Jesus also nicht sagen: „Ich will einmal mit dir auferstehen, aber ich möchte nicht mir dir leiden und sühnen!“ Das Leiden, das Sühnen und das Sterben des Erlösers setzen sich fort in den Getauften. Unser ganzes Christenleben ist aufs Innigste verbunden mit dem Grundgesetz der Erlösung, nämlich dem Gesetz der stellvertretenden Genugtuung, der Sühne. Wenn Christus uns als Gefährten seiner Sühne wünscht, dann werden wir in all unserem Beten für andere mitbeten, in unserem Entsagen für andere mitentsagen, in unserem Leid das Leid anderer mittragen und in Christus dem Vater aufopfern. Das Sühnen in Einheit mit Christus ist keine Begleiterscheinung unseres Christ-seins. Es bedeutet, Christus gleichförmig werden. Es heißt, den nie vollendeten Auftrag der Liebe zu erfüllen, nämlich wie Jesus „Menschen der Hingabe“ zu sein.

Sühne in unserem Alltag

Doch wie sieht solche sühnende Hingabe bei uns aus? „Sühnen“ heißt zunächst einmal so leben, wie Jesus Christus, der Sohn Gottes, gelebt hat: offen für den Vater wie er; voll Vertrauen und Gehorsam; einverstanden mit allem, was der Vater schickt; bemüht, alles zu seiner Ehre zu tun und in Liebe mit ihm verbunden zu bleiben. Das ist der Kern unserer Sühne. Wer sich konsequent darum müht, der braucht nicht nach Opfern und nach Leiden zu suchen – auf den kommen sie von selbst zu. Des Weiteren sind „Sühne“ auch in Liebe angenommene Leiden, Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten. Denken wir an die Mühsal des Alltags und der Arbeit, an Krankheiten und Schmerzen, an die sich ständig wiederholenden Geduldsproben von innen und von außen, an Traurigkeit, Einsamkeit und schließlich an das Sterbenmüssen. All das hat in der Gemeinschaft mit Jesus sühnende Kraft und gibt unserem Leiden Sinn. Wir erfahren immer wieder Schweres und Kreuzesnahes auf diese oder jene Weise. In der Gesinnung der Sühne können wir es positiv umwandeln und sinnvoll machen.

Die Seherin von Fatima, Schwester Lucia, schreibt in ihren Aufzeichnungen vom Auftrag der Gottesmutter: „Betet, betet viel und bringt Opfer für die Sünder!“ „Opfert euch für die Sünder und sagt immer wieder, besonders wenn ihr euer Opfer bringt: Es ist aus Liebe zu Dir, für die Bekehrung der Sünder und als Wiedergutmachung für die Sünden…“ Unsere Liebe Frau von Fatima verlangt als Werk der Sühne und des Opfers zuerst und vor allem anderen, dass wir unsere „Standespflichten“ in Treue und Liebe erfüllen – die Pflichten des täglichen Lebens, wie sie sich ergeben auf Grund unserer Berufung und unseres Berufes als Laienchristen, Ordensleute und zum sakramentalen Dienst Geweihte. Auf die Frage der Seherkinder von Fatima, wie sie Opfer bringen sollten, antwortete der Engel: „In allen Dingen könnt ihr Gott ein Opfer darbringen. Opfert alles zur Bekehrung der Sünder durch Sühneakte für die Sünden auf, durch die Er beleidigt wird… Vor allem nehmt die Leiden an, die der Herr euch senden wird, und ertragt sie mit Ergebung!“ Der Papst des Lächelns, Johannes Paul I., sagte einmal über unser Bemühen um Heiligkeit: „Wir sollen uns mit Trippelschritten, mit kleinen Flügelschlägen zum Himmel bewegen nach Art der Tauben, wenn uns die Art der Adler nicht gegeben ist.“ Ähnliches gilt auch für unsere Antwort auf den Ruf zur Sühne. Der Herr freut sich, selbst wenn wir bloß bescheidene „Trippelschritte“ und leise „Flügelschläge“ der Sühne tun. Er freut sich, wenn wir uns entgegen der Schwerkraft der Bequemlichkeit und des Egoismus Tag für Tag neu bemühen, in der sühnenden Gemeinschaft mit ihm zu bleiben – hinter der Gewöhnlichkeit des Alltags verborgen, in ungezwungener Fröhlichkeit und selbstloser Treue: so wie Maria. Sie, die von der erbarmenden Liebe ihres göttlichen Sohnes so tief ergriffen war, dass sie bis unter das Kreuz bei Jesus bleibt, sie, Unsere Liebe Frau von Fatima.

Nur wenigen ist bekannt, das Kardinal Karol Wojtyla, der spätere Heilige Vater Johannes Paul II., als Erzbischof von Krakau an Papst Paul VI. schrieb, er möge mit der ganzen Kirche eine verpasste Chance nachholen. Die Jünger hätten diese damals am Ölberg „verschlafen“. Wir aber sollten durch unser Beten, Opfern und Sühnen dem Heiland in der Stunde seiner Todesangst am Ölberg, seiner Agonie, die im Leib Christi, in der Kirche, fortdauert, zur Seite stehen. Wir sollten die versäumte Gelegenheit, den Herrn zu trösten, nachholen.[2] Jesus wird „bis zum Ende der Welt im Todeskampf, in Agonie sein; in dieser Zeit darf man nicht schlafen, weil er Gesellschaft und Trost sucht."[3] Weil er Menschen sucht, die in der Gemeinschaft seiner Leiden (vgl. Phil 3,10) leben, Menschen, die mit ihm opfern, Menschen, die dies tun, damit alle Menschen „das Heil in Christus und die ewige Herrlichkeit erlangen“ (2 Tim 2,10).

Der Opferstrom der sühnenden Kirche

Ihr Opfern und Sühnen fließt zu einem gewaltigen Strom zusammen. Es ist der Opferstrom der sühnenden Kirche. Sie ist zwar für immer die Braut des österlichen Siegers, aber in dieser Weltzeit bleibt sie stets auch die Gefährtin des blutschwitzenden, gegeißelten, dornengekrönten, kreuztragenden und gekreuzigten Herrn. Dieser Opferstrom muss weiterfließen, wenn die Welt nicht zugrunde gehen soll in Sündennot und Gottesferne. Die Sünde schreit zum Himmel…, unser Beten, Opfern und Sühnen ebenso? Die Kirche der christlichen Frühzeit war davon überzeugt, dass die Welt ihr Fortbestehen gegenüber der Unheilsmacht „Sünde“ den Christen verdankt, vor allem denen, die sich sühnend einbringen in das Leiden des Herrn. Mit ihrer Sühne setzen sie dem Gewicht des Bösen, das die Welt nach „unten“ zieht, ein größeres Gewicht entgegen, das Gewicht der Liebe des Herrn. Er lädt uns ein, bei ihm zu sein und an seinem erlösenden Wirken teilzunehmen.

Freilich, wir wissen: Sühnen, Verzichten, Büßen, Opferbringen ist auch für uns Christen weithin zum Fremdwort geworden – obwohl es dabei um eine wesentliche Seite unserer christlichen Berufung geht. Sicher: Wir Christen müssen die Welt so weit wie nur möglich von Hunger, Armut, Not, Leid befreien, vor allem durch mitmenschliches Helfen und soziales Engagement. Und wir wissen auch, wie wichtig es ist, uns im politischen Geschehen einzubringen. Allem voran muss unsere Sorge jedoch dem ewigen Heil unserer Mitmenschen gelten. Hier geht es auch um eine „Kultur des Lebens“, um eine Kultur des Lebens im übernatürlichen Sinn. Wir sind gerufen, in unserem Beten für andere mitzubeten, in unserem Verzichten und Büßen für andere mitzuverzichten und mitzubüßen, in unserem Leid das Schwere anderer mitzutragen und Gott, dem Vater, in Christus aufzuopfern für ihre ewige Glückseligkeit. Damit realisieren wir auf höchste Weise „Mitmenschlichkeit“ und „Dasein für andere“. Dabei denken wir auch an die Verstorbenen im Zustand der Läuterung, im „Fegfeuer“. Wir wissen uns ebenso in die Pflicht genommen, zu sühnen für die pilgernde Kirche, für das Volk Gottes in all seinen Gliedern heute. Wir sind eingeladen, die Finsternis der Ölbergsnacht mit Jesus zu teilen. Wir dürfen nicht undankbar für sein Leiden sein und keine schlafenden Jünger und Jüngerinnen. Solche sind wir nicht, wenn wir dem Bußruf von Fatima folgen.

Höchster Sühnewert in der Mitfeier der Eucharistie

Wir sollen unsere Opfer mit dem gekreuzigten Jesus darbringen, der auf dem Altar und im Tabernakel gegenwärtig ist. Die Sühnetat Christi am Kreuz wird in jeder heiligen Messe erneuert und fortgesetzt. Indem wir uns bei der Eucharistiefeier mit dem Kreuzesopfer des Herrn vereinigen, bekommen auch unser Arbeiten, Beten, Opfern, Leiden und Lieben höchsten Sühnewert.

Maria von Fatima – Zeichen der sicheren Hoffnung

Maria weiß um unsere Situation und will uns helfen. Angesichts unheimlicher Zukunftsvisionen vertrauen wir auf ihre Hilfe. Maria tut uns in Fatima kund: Trotz und in allem Schweren bin ich auch noch da „als Zeichen der sicheren Hoffnung und des Trostes für das wandernde Gottesvolk“.[4]

Lassen wir uns deshalb von nichts und niemandem entmutigen oder uns im Vertrauen auf die Gottesmutter und in der Treue zu ihr beirren. Dem Satan würde es gefallen, wenn wir verzweifelten. Unsere Mitmenschen brauchen keine „Verdoppelung ihrer Hoffnungslosigkeit…, sondern die Sprengkraft gelebter Hoffnung“ (Würzburger Synode). Das scheinbare Scheitern Christi am Kreuz war zugleich sein überwältigender Sieg. Und mit ihrem göttlichen Sohn hat auch Maria unter dem Kreuz gesiegt. Unter der gleichen Gesetzmäßigkeit stehen ebenso unsere Bewährungsproben und geistig-geistlichen Kämpfe, so dass wir bekennen dürfen: „Wir sind nicht wie die, die keine Hoffnung haben“ (1 Thess 4,13). Gott und Maria sind nicht am Ende ihrer Möglichkeiten und wir ergeben uns keiner „Torschlusspanik“.

Auch viele Gläubige haben sich daran gewöhnt, die Ehre Gottes dem Himmel allein zu überlassen. Deshalb unternehmen sie auch nichts mehr, die ihm zugefügten Beleidigungen zu sühnen. Davon unterscheiden sich jene, die den Ruf Fatimas zur Sühne aufgreifen und in ihrem Leben verwirklichen. Dafür danke ich ihnen von Herzen. Sie dürfen das Wort Marias an die Seherin Lucia (13. Juni 1917) auch auf sich beziehen: „Lass dich nicht entmutigen! Niemals werde ich dich verlassen. Mein Unbeflecktes Herz wird deine Zuflucht sein und der Weg, der dich zu Gott führen wird“.

Aus Liebe zu Maria auch zum Leiden bereit

„Maria, Königin des Himmels und der Erde“, so betete der hl. Pater Maximilian Kolbe, „es gibt viele Menschen, die dich lieben, aber es gibt wenige, die aus Liebe zu dir zu allem bereit sind: zu Mühen, zum Leiden oder sogar zum Opfer ihres Lebens. Wann wirst du in allen Herzen Königin sein?“  Papst Benedikt XVI. betonte bei seinem letzten Fatima-Besuch im Mai 2010: „Wer glaubt, dass die prophetische Mission Fatimas beendet sei, der irrt sich… In der Heiligen Schrift ist häufig davon die Rede, dass Gott nach Gerechten sucht, um die … Menschen zu retten und eben dies tut er hier, in Fatima, wenn die Muttergottes die Frage stellt: ‚Wollt ihr euch Gott hingeben, um alle Leiden ertragen zu können, die er euch aufzubürden gedenkt, als Sühne für die Sünden, durch die er geschmäht wird, und als flehentliche Bitte um die Bekehrung der Sünder?‘“ Was antworten wir auf diese Fragen? … Unsere Liebe Frau von Fatima, gib unserem Herzen einen kräftigen Ruck, damit es eine gute Antwort sei, eine Antwort dem dreifaltigen Gott zur Ehre, dir zur Freude, uns allen zum Heil!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Karl Wallner: Sühne, Suche nach dem Sinn des Kreuzes, Illertissen 2015, 156.
[2] Vgl. T. Styczen/St. Dziwisz: Das Gebet in Getsemani dauert weiter an, Lublin-Vaduz 2003, 49 ff.
[3] Blaise Pascal: Pensées, Nr. 553, Ed. Brunschvicg.
[4] II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Lumen gentium, 68. 

Erneuerung der Weihe Bayerns an die Gottesmutter

100 Jahre Patrona Bavariae

Unter dem Motto „Mit Maria auf dem Weg – Mitten im Leben“ feierten am 13. Mai 2017 rund 10.000 Gläubige mit allen bayerischen Bischöfen an der Mariensäule in München mit einer Messfeier das 100-jährige Jubiläum des Festes der „Patrona Bavariae“ (Schutzfrau Bayerns). Anschließend sprach Reinhard Kardinal Marx folgendes Weihegebet an die Gottesmutter:

Heilige Maria, Mutter Gottes, vom Heiligen Geist bewegt, hat dich einst Elisabeth seliggepriesen als die Gesegnete unter den Frauen, weil dein Glaube dem Herrn die Tür in diese Welt aufgetan hat. Wie du es, erfüllt vom Heiligen Geist, vorhergesagt hast, preisen dich seither selig alle Geschlechter.

Voll Freude treten wir ein in den Lobpreis, den der Geist deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus in allen Generationen erweckt hat. Unsere Vorfahren haben dich als ihre Schutzherrin erwählt, als die Herzogin ihres Landes, deren mütterliche Güte über aller menschlichen Herrschaft steht als Zeichen der neuen befreienden Herrschaft Jesu Christi. Die Wege unseres Landes kommen von dir und gehen durch dich zu ihm, der der Weg selber ist.

So bitten wir dich in dieser Stunde: Schütze unser Erzbistum vor aller Gefahr und hilf uns, wenn wir mit unseren Sorgen und Nöten, mit unseren Freuden und Hoffnungen zu dir kommen. Sei unsere Fürsprecherin und erbitte uns den Segen deines Sohnes Jesus Christus, den du uns geschenkt hast.

Sei du die Patronin des Landes Bayern auch in dieser Zeit. In dem Streit der Parteien sei du Versöhnung und Friede; in den Weglosigkeiten unserer offenen Fragen zeige uns den Weg; die Streitenden versöhne, die Müden erwecke; gib den Misstrauischen ein offenes Herz, den Verbitterten Trost, den Selbstsicheren Demut, den Ängstlichen Zuversicht, den Vorwärtsdrängenden Besonnenheit, den Zaudernden Mut, uns allen aber die tröstende Zuversicht unseres Glaubens.

Stärke die Leidenden und die Kranken; erleuchte die Regierenden und führe uns zueinander im Frieden des Herrn. Ermutige uns zu glauben, wie du geglaubt hast.

Mutter Gottes, Patronin Bayerns, bitte für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Resümee der Artikelserie (Luther verstehen – Teil 11)

Das Erbe des Reformators

Mit seinem elften Beitrag schließt Andreas Theurer die Artikelserie zum Reformationsgedenken ab. Er versucht, kurz aufzuzeigen, was aus dem Erbe Martin Luthers geworden ist. Insbesondere fragt er kritisch nach, was die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) heute noch mit ihrem Stifter zu tun hat. Die These, dass Luther eigentlich keine Kirchenspaltung gewollt habe, lässt Theurer nur eingeschränkt gelten. Der spätere Luther habe zielstrebig am Aufbau einer „neuen Kirche“ gearbeitet. Denn die Umsetzung seiner reformatorischen Ideen sei ihm letztendlich wichtiger gewesen als der Erhalt der Einheit der Kirche. Und so hält Theurer Ausschau nach der Aufgabe, vor die uns die Reformation heute stelle. Diese fasst er in fünf Grundgedanken zum ökumenischen Dialog zusammen. Er habe in seiner Artikelserie versucht, den Glauben seiner Vorfahren und seiner Jugend „gerecht und doch mit Sympathie für die Lehre der reformatorischen Gemeinschaften“ darzustellen, aber auch gleichzeitig erkennen zu lassen, warum er nach 17 Jahren im Dienst als evangelischer Pfarrer 2012 zur katholischen Kirche übergetreten ist.

Von Andreas Theurer

Reformation und Luther nicht identisch

Das Jahr 2017 ist nun schon weit fortgeschritten. Überall im Land finden Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum statt. Neben forschen Luther-Verherrlichungen gibt es durchaus auch viele kritische Stimmen – sowohl von protestantischer wie von katholischer Seite und auch manche aus der religionsfeindlichen Ecke. Die problematischen Seiten seiner Persönlichkeit, besonders seine hasserfüllten Äußerungen gegen Juden, aufständische Bauern und gegen alle, die sich seiner Meinung widersetzten, werden dabei vielfach in den Blick genommen. Es wird auch gerechterweise immer wieder darauf hingewiesen, dass die Reformation nicht mit Luther identisch ist. Es gab außer ihm noch einige andere, die in jener Zeit neue Kirchen- und Gemeindesysteme ins Leben gerufen haben, von denen viele die wesentlichsten Teile der lutherischen Theologie (insbesondere in der Sakramentenlehre) gar nicht übernommen, sondern sogar entschieden abgelehnt haben und heute weltweit die große Mehrheit der reformatorischen Gemeinschaften bilden.

Wie steht die EKD zum Erbe Luthers?

Weil man also in weiten Kreisen der heutigen EKD die lutherische Theologie noch nie vertrat bzw. kein großes Interesse mehr an ihr hat, werden als Früchte der Reformation oft sekundäre Errungenschaften auf den Schild gehoben. Eine Kultur der religiösen Freiheit, der (Schul-)Bildung und der demokratischen Laienbeteiligung bis hin zur Gleichberechtigung der Geschlechter und sexuellen Varianten scheint im allgemeinen Bewusstsein oft mehr mit dem Protestantismus verknüpft als die Bindung an das göttliche Wort und die Sakramente, ja sogar als die Frage nach der Rechtfertigung des Sünders vor Gott, die Luther und seinen Nachfolgern einst so existenziell wichtig waren.

Geistige Zersplitterung des Protestantismus

Die Spaltung ist heute freilich nicht nur eine zwischen Katholizismus und Protestantismus und innerhalb dessen zwischen Lutheranern und Reformierten bzw. Konservativen und Liberalen. Der Protestantismus ist nicht nur durch eine organisatorische, sondern vor allem durch eine geistige Zersplitterung geprägt, die dem einzelnen die Verantwortung aufbürdet, selbst zu entscheiden, was er glauben will. „Ich und mein Gott“ – der religiöse Individualismus, also dass jeder mit sich und seinem Gewissen ausmacht, welchem Gottesbild er huldigt, welche Gebote er für verbindlich hält, welche Entscheidungen unserer Vorfahren ihn im Glauben noch festlegen sollen – dieser religiöse Individualismus ist nun zwar wirklich nicht mehr auf den Protestantismus beschränkt, aber man geht wohl nicht fehl, wenn man in ihm seine Wurzel erkennt.

Das Sendungsbewusstsein des „späten Luthers“

Man sagt oft, Luther wollte keine neue Kirche gründen, die Spaltung habe sich vielmehr unglücklicherweise gegen seine Absicht entwickelt. Das mag für die Anfangszeit der reformatorischen Bewegung gelten. Der „späte Luther“ war sich – wie aus vielen Zitaten aus seinen Werken belegt werden kann – seiner vermeintlich göttlichen Sendung zur Vernichtung des Papstamts und der päpstlichen Kirche jedoch sehr bewusst. Natürlich wäre es ihm am liebsten gewesen, die ganze Kirche hätte sich seinen Neuerungen angeschlossen, dann hätte sich auch die Spaltung erübrigt. Nachdem er aber begriffen hatte, dass eine Reformation in seinem Sinne nur gegen die damalige Kirche, nicht mit ihr möglich war, tat er nichts mehr, um die Spaltung zu verhüten. Die Umsetzung „seiner“ Reformation war ihm wichtiger. Kann man da sagen, er wollte keine neue Kirche?

Luther wäre gegen den heutigen Pluralismus

Freilich ist schwer vorstellbar, dass Luther – würde er sehen, was aus seiner Stiftung geworden ist – damit immer noch einverstanden wäre. Weder hätte er, der so erbarmungslos über alle von seiner Auffassung abweichenden Meinungen urteilte, Verständnis gehabt für den theologischen Pluralismus, auf den die heutige EKD so stolz ist, noch hätte er wohl die Individualisierung der Religion, die aus dem „sola scriptura“ und dem Verzicht auf eine maßgebliche kirchliche Autorität geradezu zwangsläufig folgt, gutgeheißen.

Wie kann es weitergehen?

Können wir nun aus der Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Protestantismus und Katholizismus ein Resümee ziehen?

In der hiermit zum Abschluss gekommenen Artikelserie habe ich versucht, gerecht und doch mit Sympathie für den Glauben meiner Vorfahren und meiner Jugend die Lehre der reformatorischen Gemeinschaften wenigstens überblicksweise darzustellen. Freilich durfte dabei auch deutlich werden, warum ich – gerade wegen der evangelischen Lehre – katholisch geworden bin. Ich wollte zeigen, dass die vor 500 Jahren entscheidenden Probleme (Ablasshandel und Rechtfertigung aus dem Glauben bzw. aus den Werken) inzwischen gelöst sind und dass in all den Fragen, die uns heute trennen (vor allem das geweihte Amt und das Eucharistieverständnis, das Papstamt, die Sakramentenlehre, die Marien- und Heiligenverehrung) die altkirchliche und katholische Auffassung zugleich auch die apostolische und damit die wahre ist.

Es geht um die Frage nach der Wahrheit

Aber gerade wegen der Wahrheit ist uns die Ökumene bleibender Auftrag! Millionen Menschen haben seit dem 16. Jahrhundert in evangelischen Kirchen Christus kennengelernt, mindestens das Sakrament der Taufe empfangen, mit aller ihrer Kraft und in ganzer Aufrichtigkeit sich bemüht, Gott zu lieben und ihm zu dienen, und hoffentlich auch das ewige Heil gefunden. Das ist nicht nichts und wir können und dürfen als Katholiken nicht so tun, als wären uns die getrennten Geschwister gleichgültig. Dass wir uns (fast) nicht mehr gegenseitig verteufeln, dass wir in vielfacher Weise die Bereitschaft gezeigt haben, vom jeweils anderen sogar zu lernen und geistliche Erfahrungen miteinander zu teilen, ist eine wertvolle Frucht der ökumenischen Bemühungen.

Dass die Frage nach der Wahrheit dabei oft in den Hintergrund gedrängt wird, ist nicht nur ein Phänomen im interkonfessionellen Dialog, sondern eine allgemeine Zeiterscheinung, die in allen Lebensbereichen zu beobachten ist und die Papst Benedikt XVI. als „Diktatur des Relativismus“ bezeichnet hat. Freilich soll das nicht den Zustand entschuldigen, wie ihn Kardinal Kasper einmal traurig zusammenfasste: „Ökumene bedeutet heute vor allem, dass wir uns darin einig sind, was wir gemeinsam nicht mehr glauben!“ (mündliche Äußerung, aus dem Gedächtnis zitiert). Die Zukunft der Ökumene liegt deshalb m. E. nicht allein im zusammen Beten, Feiern und caritativ Handeln. Das Ringen um die Wahrheit darf nicht frustriert aufgegeben werden, bloß weil man sich dabei nicht leicht einigen kann.

Besonders an die katholische Seite möchte ich appellieren, in Liebe und Demut, aber dennoch mutig für die Wahrheit des ganzen katholischen Glaubens einzustehen, und das nicht nur innerkirchlich, sondern auch im ökumenischen Gespräch. Er stimmt mit der Lehre der Bibel und der Apostel überein. Die katholische (= allgemeingültige) Kirche ist zugleich die wahrhaft evangelische (= evangeliumsgemäße) und orthodoxe (= rechtgläubige).

Fünf zusammenfassende Grundgedanken zum ökumenischen Dialog

1) Die Einheit der Kirche als des Leibes Christi ist nicht nur erfreulicher Nebeneffekt einer Einheit in theologischen Sachfragen, sondern ein zentrales Glaubensgut, das zu bewahren uns die Heilige Schrift und die kirchliche Tradition von Anfang an zur strengen Pflicht gemacht haben. Daher hat Klaus Berger recht mit seinem Buchtitel: „Glaubensspaltung ist Gottesverrat“. Wenn es keinen zwingenden Grund gibt, die Spaltung der Kirche um der Wahrheit willen aufrechtzuerhalten, muss sie beendet werden!

2) Alle wesentlichen Lehrunterschiede zwischen den traditionellen (also katholischen, ostkirchlichen und altorientalischen) Kirchen und den protestantischen Gemeinschaften haben ihre Wurzel in der Frage, ob das Wort der Heiligen Schrift allein der Maßstab für die Beurteilung einer theologischen Frage ist, oder ob die Praxis der Apostel und die Auslegungstradition der Kirche ebenfalls normative Bedeutung haben.

3) Das Neue Testament ist aus der Kirche entstanden und nicht die Kirche aus dem Neuen Testament. Schon lange vor der Verschriftlichung der neutestamentlichen Texte waren sich die Christen weltweit im Wesentlichen einig in den Hauptpunkten der Amts- und Sakramentenlehre. Was darüber nicht in der Bibel steht, ist nicht das Unwichtige, sondern das damals Unstrittige!

4) Das Haupthindernis für die Wiedervereinigung der Konfessionen ist daher das „Allein die Schrift“. Es widerspricht fundamental der Lehre der Apostel und muss von seinen Anhängern aufgegeben werden. Anders ist eine Einigung auf der Basis des Evangeliums nicht möglich. Die Christenheit bekennt sich zur „einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche“, nicht zur „biblischen“!

5) Da eine Einigung auf kirchenleitender Ebene nicht zu erwarten ist, bleibt es Sache jedes einzelnen Gläubigen zu prüfen, welche Konsequenz aus dieser Mahnung des 2. Vatikanischen Konzils zu ziehen ist: „Darum können jene Menschen nicht gerettet werden, die um die katholische Kirche und ihre von Gott durch Christus gestiftete Heilsnotwendigkeit wissen, in sie aber nicht eintreten oder in ihr ausharren wollen“ (Lumen Gentium 14 und Ad Gentes 7)!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Zum Papstbesuch in Ägypten am 28. und 29. April 2017

Papst Franziskus und der Dialog mit dem Islam

Angesichts der jüngsten Terroranschläge auf Gottesdienstbesucher in koptischen Kirchen am Palmsonntag dieses Jahres war die Reise des Papstes nach Ägypten an Brisanz kaum zu überbieten. Franziskus hatte die einzigartige Möglichkeit, den bedrängten Christen im Nahen Osten seine Solidarität zu bekunden. Dennoch stand der Dialog mit dem Islam im Vordergrund. Für den Papst hatte der Besuch in der islamischen Al-Azhar-Universität Vorrang. Die brüderliche Umarmung mit dem Großimam nahmen ihm zahlreiche Beobachter übel. Pfr. Erich Maria Fink hingegen sieht in der Begegnung ein höchst bedeutsames Ereignis, das an die Gespräche des hl. Franziskus mit dem damaligen Sultan im Nildelta erinnere.

Von Erich Maria Fink

Die Papstreise am 28. und 29. April 2017 nach Ägypten war sicherlich eine Gradwanderung. Wie kann das Oberhaupt der katholischen Kirche dem Großimam der Al-Azhar-Moschee mit ihrer islamischen Universität einen Besuch abstatten, ohne bei den verfolgten Christen in aller Welt den Eindruck der Anbiederung zu erwecken? Welchen Beitrag kann er zum Dialog mit dem Islam leisten, ohne die Interessen der christlichen Kirchen zu verraten? Darf er Präsident Abd al Fattah al Sisi durch eine Ehrenbezeugung unterstützen, der durch einen Militärputsch an die Macht gekommen ist? Und wie kann er das Gespräch zwischen Ost- und Westkirche führen, wenn Tawadros II., das Oberhaupt der koptisch-orthodoxen Kirche, wegen seiner ökumenischen Offenheit mit erbitterten innerkirchlichen Widerständen zu kämpfen hat?

Bewunderung für Papst Franziskus

Doch dem Papst ist es ohne Zweifel gelungen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Seine Ansprachen waren exzellent vorbereitet, besonders auch die Gemeinsame Erklärung mit der koptisch-orthodoxen Kirche. Ich bin überzeugt, dass die Texte in die Geschichte eingehen und historisches Gewicht behalten werden. Sie atmen durch und durch den offenen Geist des derzeitigen Pontifikats, gleichzeitig spiegeln sie die ausgewogene, aber auch zielbewusste Linie von Kurt Kardinal Koch wider. Durch sein unbefangenes Auftreten und die brüderlichen Gesten konnte Papst Franziskus seinen Worten zusätzliches Gewicht verleihen. Sowohl von religiöser als auch von staatlicher Seite wurde er positiv aufgenommen und im beabsichtigten Sinn verstanden. Die Vertreter des Islams wirkten gegenüber Franziskus eher defensiv und hilflos. Das krisengeschüttelte Ägypten zeigte sich letztlich dankbar und unter der muslimischen Bevölkerung machte sich eine große Bewunderung für Papst Franziskus breit. Viele machten den Eindruck, als würden sie die katholische Kirche dafür beneiden, einen solchen Apostel des Friedens als Oberhaupt haben zu dürfen.

Hintergrund der Reise nach Ägypten

Schon bei seiner Pressekonferenz auf dem Hinflug betonte der Papst, er sei mit dieser Reise der ausdrücklichen Einladung von ägyptischer Seite gefolgt. Auch seinen Rückblick bei der Generalaudienz am 3. Mai 2017 begann er mit den Worten: „In dieses Land begab ich mich einer vierfachen Einladung folgend: des Präsidenten der Republik, Seiner Heiligkeit des koptisch-orthodoxen Patriarchen, des Großimam von Al-Azhar und des koptisch-katholischen Patriarchen.“

Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es in Ägypten unter den 90 Millionen Einwohnern nur etwa 272.000 Katholiken gibt. Allerdings sind knapp 10 Prozent der Bevölkerung orthodoxe Kopten mit Papst Tawadros II. als Oberhaupt. Von ihm sagte Papst Franziskus auf der Rückreise: „Mit Tawadros pflege ich eine besondere Freundschaft: für mich ist er ein großer Mann Gottes, der die Kirche voranbringen wird… Er ist einer der – erlauben Sie die Wortwahl, aber in Anführungszeichen – ‚fanatischen‘ Anhänger der Bestrebung, einen festen Ostertermin zu finden. Ich auch, aber … wir suchen nach einem Weg. Er sagt: ‚Kämpfen wir, kämpfen wir!‘“ Außerdem befürworte er die gegenseitige Anerkennung der Taufe, wie sie mit der Russisch-Orthodoxen Kirche bereits erfolgt sei. Dieses Anliegen habe auch in der Gemeinsamen Erklärung ihren Niederschlag gefunden (vgl. Nr. 11).

Bislang gab es in der Neuzeit erst eine einzige Papstreise nach Ägypten. Es war die Wallfahrt Papst Johannes Pauls II. im Jahr 2000 zum Berg Sinai. Der Besuch von Papst Franziskus in diesem bevölkerungsreichsten und wichtigsten arabischen Land aber hatte einen ganz anderen Charakter und eröffnete eine neue Ära.

Bedeutung für das Christentum

Gewiss sagte der Papst bei der heiligen Messe im Air Defense Stadium von Kairo am Ende seiner Predigt: „Die Jungfrau Maria und die Heilige Familie haben in diesem gesegneten Land gelebt. … In den Anfängen des Christentums hat es die Verkündigung des Evangeliums durch den heiligen Markus angenommen und im Laufe der Geschichte viele Märtyrer und eine große Schar von Heiligen hervorgebracht!“

Und schon bei der Begegnung mit dem Präsidenten sowie weiteren Vertretern der Regierung und des öffentlichen Lebens im Al Masah Hotel in Kairo hob Franziskus hervor: „Dieses Land bedeutet viel für die Geschichte der Menschheit und für die Tradition der Kirche, nicht nur aufgrund seiner glanzvollen geschichtlichen Vergangenheit – der Pharaonen, der Kopten und Muslime –, sondern auch weil viele Patriarchen in Ägypten lebten oder hier durchgezogen sind. In der Tat wird es an zahlreichen Stellen in der Heiligen Schrift erwähnt. In diesem Land tat Gott sich kund, wo er dem Mose seinen Namen offenbarte, und auf dem Berg Sinai vertraute er seinem Volk und der Menschheit die göttlichen Gebote an. Auf ägyptischem Boden fand die Heilige Familie – Jesus, Maria und Josef – Zuflucht und Gastfreundschaft.“

Doch für Papst Franziskus war seine Reise nach Ägypten mehr als eine christliche Wallfahrt oder als eine Pastoralreise zu den dort lebenden Katholiken.

Bote des Friedens

Der Papst hat die weltweite Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus klar vor Augen. Und er sieht, wie die Völkergemeinschaft immer tiefer in die Spirale der Gewalt hineingezogen wird. Auf keinen Fall möchte er in diesem Augenblick der Weltgeschichte durch undifferenzierte Verurteilungen zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Er weiß genau, dass ein Funke genügen würde, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Und so setzt er alles daran, die Welt durch einen versöhnlichen und demütigen Friedensdienst vor einer Katastrophe zu bewahren.

Ägypten bot ihm die ideale Gelegenheit, höchste Vertreter des Islams ganz konkret und aktuell an ihre Verantwortung zu erinnern, gegen jegliche Rechtfertigung von Gewalt im Namen ihrer Religion vorzugehen. Diese Aufgabe kann ihnen nach Ansicht des Papstes niemand abnehmen. Nach den Anschlägen vom Palmsonntag in Alexandria und Tanta, bei denen in zwei koptischen Kirchen 49 Gottesdienstbesucher und Sicherheitskräfte ums Leben gekommen waren, brauchte der Papst sein Anliegen nicht mehr groß erklären. Und das Land hatte mit dem Motto „Der Papst des Friedens in einem Ägypten des Friedens“, das die öffentlichen Plakatwände zierte, dem Gast aus Rom den Weg für seine Mission bereitet.

Dialog mit der islamischen Al-Azhar-Universität

Über die entscheidende Begegnung mit dem Islam in Ägypten sagte der Papst bei seinem Rückblick am 3. Mai: „Mein Besuch der Universität Al-Azhar, der ältesten islamischen Universität und höchsten akademischen Institution des sunnitischen Islams hatte ein doppeltes Motiv: einerseits den Dialog zwischen Christen und Muslimen und zugleich die Förderung des Friedens in der Welt. In Al-Azhar ereignete sich die Begegnung mit dem Großimam – eine Begegnung, die sich dann auf die internationale Friedenskonferenz ausgeweitet hat.“

Schon im Jahr 1998 hatte ein offizieller Dialog zwischen dem Vatikan und der Al-Azhar-Universität begonnen. Doch die berühmte Rede, die Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 an der Universität Regensburg gehalten hatte, erschütterte diesen Kontakt. Benedikt hatte über das Verhältnis von Vernunft und Glaube insbesondere im Hinblick auf die Frage nach der Gewaltanwendung im Namen der Religion gesprochen und heftige Reaktionen hervorgerufen. Unter anderem richteten 38 Gelehrte aus der ganzen islamischen Welt bereits einen Monat später an Papst Benedikt einen offenen Brief, der auch von einem Vertreter der Al-Azhar-Universität unterzeichnet war. Doch der Dialog wurde noch nicht aufgekündigt. Dies geschah erst im Januar 2011. An Weihnachten hatte ein Selbstmordattentäter in Alexandria einen Anschlag auf eine koptische Kirche verübt und dutzende Menschen mit in den Tod gerissen. Daraufhin bat Benedikt die ägyptischen Behörden, „den Schutz für die Christen zu verbessern“. Der Großscheich der Al-Azhar-Universität, Groß-imam Ahmed Mohammed al-Tayyeb, gab damals zur Antwort, diese Einmischung des Vatikans in die ägyptische Politik sei völlig inakzeptabel. Und empört brach Al-Azhar den Kontakt ab. Erst letztes Jahr konnten die Beziehungen wieder aufgenommen werden.

Internationale Friedenskonferenz

Der angekündigte Besuch von Papst Franziskus führte dazu, dass die Al-Azhar-Universität eine internationale Friedenskonferenz organisierte, wie sie noch nie stattgefunden hatte. An diesem christlich-muslimisches Gipfeltreffen nahm auch Patriarch Bartholomäus I., das Ehrenoberhaupt der orthodoxen Christenheit, teil.

Großimam Ahmed al-Tayyeb ließ mitteilen, die Veranstaltung diene als Aufruf zum Frieden „zwischen religiösen Führern, Gesellschaften und zwischen allen Ländern dieser Welt“. Die derzeitige Krise gefährde die Existenz der Menschheit und zerstöre die Grundlagen des Lebens. Krieg und Gewalt widersprächen den religiösen Werten. Die blutigen Konflikte müssten durch Zusammenarbeit überwunden werden.

Und der Papst hielt eine großartige Ansprache, in der es unter anderem heißt: „Gemeinsam wiederholen wir von hier aus, diesem Land der Begegnung zwischen Himmel und Erde, diesem Land von Bündnissen zwischen Völkern und zwischen Gläubigen, ein deutliches und eindeutiges ‚Nein‘ zu jeglicher Form von Gewalt, Rache und Hass, die im Namen der Religion oder im Namen Gottes begangen werden. Gemeinsam bekräftigen wir die Unvereinbarkeit von Gewalt und Glaube, von Glauben und Hassen. Gemeinsam erklären wir die Unantastbarkeit jedes menschlichen Lebens gegen jegliche Form von physischer, sozialer, erzieherischer oder psychologischer Gewalt. … Ohne versöhnlichen Synkretismen nachzugeben, ist es unsere Aufgabe, füreinander zu beten und dabei Gott um das Geschenk des Friedens zu bitten, einander zu begegnen, Dialog zu führen und die Eintracht im Geiste der Zusammenarbeit und der Freundschaft zu fördern. Wir als Christen – und ich bin Christ – ‚können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern‘.“ Und dem Präsidenten rief er zu: „Wir haben die Pflicht, die mörderischen Ideen und die extremistischen Ideologien zu demontieren, indem wir die Unvereinbarkeit zwischen wahrem Glauben und Gewalt, zwischen Gott und den Todestaten bekräftigen.“

Papst Franziskus hat getan, was er konnte. Sein Dialog erinnert an den hl. Franziskus, dessen Namen er sich zum Programm gemacht hat. Im Jahr 1219, also fast genau vor 800 Jahren, gelangte Franz von Assisi auf seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land nach Ägypten. Erschüttert über das Blutvergießen verließ er das Lager der christlichen Kämpfer und begab sich allein in seinem Bußgewand zum Quartier des Sultans al Malik al Kamil in Damiette im Nildelta. Dieser hörte ihm geduldig zu und erlaubte ihm, ungehindert Religionsgespräche zu führen und zu predigen. In diesem Licht lässt sich die Bedeutung des Einsatzes von Papst Franziskus für den Frieden in der Welt erahnen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„Dein Angesicht, Gott, suche ich!“

Charles de Foucauld und der Islam

Die Welt erlebt in der heutigen Zeit bislang nicht gekannte Umbrüche. Sie stellen die Kirche vor die große Herausforderung einer neuen Evangelisierung. Einen Beitrag dazu bietet Paul Josef Kardinal Cordes (geb. 1934) an. Er hat ein fesselndes Buch über die Gottvergessenheit unserer Tage herausgebracht. Darin schildert er neben anspruchsvollen geistesgeschichtlichen Analysen bewegende Lebenszeugnisse, die richtungweisend für die Erneuerung im christlichen Glauben sein können. Das Buch, das auch von Papst em. Benedikt XVI. wärmstens empfohlen wird, trägt den Titel: „Dein Angesicht, Gott, suche ich!"[1] Aus aktuellem Anlass haben wir einige Abschnitte zum ungewöhnlichen Bekehrungsweg des sel. Charles de Foucauld (1858-1916) zusammengestellt. Das Lebensbild wird im genannten Buch mit dem Zitat des Seligen eingeleitet: „Ich liebe unseren Herrn Jesus Christus – wenn auch mit einem Herzen, das mehr und besser lieben möchte.“  

Von Paul Josef Kardinal Cordes

Unsere religiöse Aufgeschlossenheit kann durch Lebensumstände geweckt werden und uns auf das Feld der Religion drängen. Gegenwärtig gibt etwa der Strom islamischer Flüchtlinge Beobachtern Anstoß, religiöse Themen aufzugreifen. Auch Fragen der Ethik oder kultureller Gewohnheiten führen zu solchem Interesse. So wird stärker über das nachgedacht, was das Greif- und Messbare übersteigt.

Nach einer Zeit der Diskreditierung oder Tabuisierung von Metaphysik und Religion gewinnt die Transzendenz auch im öffentlichen Raum wieder Aufmerksamkeit. Die Weltreligionen sowie Anfänge und Ausbreitung des Christentums finden Beachtung in den Medien. Die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mühen sich, der Wissbegier entgegenzukommen und ihren Gliedern bessere theologische Kenntnis zu vermitteln – etwa durch Akademien, Vorträge, Seminare, Studienhäuser und den schulischen Religionsunterricht. Solch religiöse Bildung ist für Christen fraglos eine Chance, ja unabdingbar für einen soliden Glauben und seine Verbreitung. Gründliche Kenntnis theologischer Wahrheiten über Gott und Jesus Christus stützt wirksam das Leben nach Gottes Willen und gelingendes Menschsein.

Doch der Jakobusbrief des Neuen Testaments warnt diejenigen, die sich mit bloßen Gedankenspielen über Gottes Existenz begnügen: „Das glauben auch die Dämonen und sie zittern“ (Jak 2,19). Die Weitergabe von Glaubenswissen wird demnach zum Irrweg, wenn Glaubensinhalte sich – etwa mit Kurt Flasch – auf Sachaussagen beschränken oder zur Diskussionsmaterie werden. So nötigt die Heilige Schrift – positiv gewendet – zu der Frage: Wie öffnet sich Glaubenswissen für eine persönliche Beziehung zu Gott, zu seiner existenziellen Nähe?

Lebenszeugnis des seligen Charles de Foucauld

Charles de Foucauld, ein französischer Forscher und Missionar, kann Zeugnis geben und uns einen Weg aufzeigen. Er ist eine Ausnahmegestalt, wie sie uns selten begegnet. Doch kann er vielleicht gerade deshalb jemanden unruhig machen, der sich mit der Frage nach Gott befasst.

Vorweg sein Steckbrief: In einer ersten Phase seines abenteuerlichen Lebens rang er damit, seine innere Leere mit den Angeboten der Welt zu füllen. Die frühkindliche Eingliederung in die Kirche durch die Taufe sagte dem Heranwachsenden bald nichts mehr. Verprassen des Vermögens im Umgang mit Dirnen sättigte nicht sein tiefstes Verlangen. Doch der himmlische Vater gab ihn nicht auf und bewahrte ihn vor dem endgültigen Glaubensabfall. Foucauld kehrte um und machte sich auf den Weg nach Hause zurück.

Im Oktober 1886 fand er heim und wandte sich dann Gott rückhaltlos zu. Seine Bekehrung wühlte ihn bis ins Innerste auf. Den Beobachter erinnern die späteren Niederschriften zu diesem Eingriff Gottes an den Satz des seligen John Henry Newman: „Wir glauben, weil wir lieben.“ Von solcher Liebe bewegt, setzte der stolze und angesehene Aristokrat alles daran, auf demütigenden und verborgenen Straßen mit äußerster Gewissenhaftigkeit und in wachsender Selbstvergessenheit Gottes Willen für sich zu erkunden. Er wusste: Das Wohlwollen des so innig Geliebten wächst im Maß meiner Aufmerksamkeit und meines Gehorsams ihm gegenüber.

Fast alle, die seine Biografie verbreiteten, verschweigen für den ersten Teil seiner Biografie gewiss nicht seine skandalösen Extravaganzen. Doch schrumpfen die abenteuerlichen Verrücktheiten meistens zu einer eher kurzen, unangenehmen Episode. Allein es macht Sinn, auch diese Lebensphase genau anzuschauen, weil seine „Kehre“ ihn nicht einfach für ein anständiges bürgerliches Leben zurückgewann. Sie war eine Umkehr im biblischen Sinne. Foucauld findet demnach zuerst den Weg zurück in gesellschaftliche Normen. Ihm wird aber dann geschenkt, den steilen Aufstieg zum Selbstverzicht zu bewältigen. Anfangs waren ihm Geldverschwendung und Luderleben von seinem grenzenlosen Geltungsdrang eingegeben worden. Dann kehrte er ihnen den Rücken, und es hungerte ihn erst recht danach, sich spektakulär hervorzutun, um Ansehen zu gewinnen; seine Familie und auch die Öffentlichkeit sollten endlich etwas von ihm halten. Es war dieser gebieterische Trieb, der ihn dazu brachte, Marokko zu erforschen – ein herausragendes und gefährliches Unternehmen. Er folgte seinem Ehrgeiz in unersättlichem Drang nach Selbstbestätigung.

Und dann geschieht das Irritierende: Sein unbändiges Ich verliert in der Begegnung mit Gott die Dominanz; es zählt immer weniger. Er unterwirft sich in umfassendem Gehorsam einem geistlichen Führer, der ihm zur genaueren Erkenntnis von Gottes Willen verhilft. Seine Biografie fesselt ohne Frage wegen der ihm geschenkten mystischen Nähe zu Jesus, die seinen Aufzeichnungen zu entnehmen ist. Aber genau so beeindruckt sie, weil durch Gottes Macht aus einem sturen, in sich verkrümmten Egomanen ein Du-bezogener Liebender wur-de. Er lernte es, sich ganz an Jesus Christus abzugeben. Einzelheiten zu seinem Leben können das aufdecken.

Wendepunkt durch die Begegnung mit arabischen Muslimen

Im Norden des afrikanischen Kontinents rebellierten arabische Stammesführer und Marabouts gegen die französischen Kolonialherren. Frankreich wurde der „Heilige Krieg“ erklärt. Das nahm Paris nicht hin. Eine Strafexpedition sollte Vergeltung üben und wurde zusammengestellt, damit sie von Oran aus eingriffe. Ohne Zögern erklärte sich Charles de Foucauld 1881 zur Teilnahme bereit.

Zur Heeresführung bleibt er auf Distanz. Stattdessen öffnet sich sein Blick für die Landschaft und die Bewohner. Er beobachtet, wie sich die islamischen Kameltreiber zum Beten bereit machen. Sie haben ihre Pantoffeln abgelegt, ihre Burnusse vor sich ausgebreitet und wenden sich nach Mekka. „La illaha illa Allah – Es gibt keinen Gott außer Allah“, stimmen sie an. Foucaulds Augen verfolgen sie – wie sie niederknien und mit der Stirn den Boden berühren. Sie bieten das Bild umfassender Hingabe, wie er sie selten gesehen und selbst nie erlebt hatte. Sie sind ihm ein Rätsel. „Islam“, das wusste er, bedeutet „Ergebung in Gottes Willen“. Verloren in der grenzenlosen Wüste, fern von jeder Oase, von jeder Moschee und von jedem Dorf, praktizieren sie diesen Glauben. Ob einer von den lärmenden Chasseurs überhaupt fähig war, sich darüber zu wundern? Zurück in der Garnison Mascara, kauft er sich ein Exemplar des Korans. In seinem langen Bericht im Juli 1901, einen Monat nach seiner Priesterweihe, beschreibt er seinem Vetter Henri de Castries in einem langen Brief seinen Weg zur Bekehrung: „Der Islam hat in mir eine außerordentliche Umwälzung bewirkt … Die Sicht dieses Glaubens, dieser Seelen, die in der fortwährenden Gegenwart Gottes leben, hat mich etwas verstehen lassen, das größer und wahrer ist als das weltliche Treiben: Wir sind zu Größerem geboren.“

1884 als Forscher wieder in der nordafrikanischen Wüste

Charles de Foucauld treibt es wieder nach Afrika. Mit einem Begleiter erkundet er Marokko. Elf gefährliche Monate waren gezeichnet von der Einsamkeit, von dem Verzicht auf jeden befreundeten Menschen oder irgendeinen Europäer, mit dem sie hätten sprechen oder dem sie sich hätten anvertrauen können. So griffen Gefühle der Melancholie nach Foucauld, die sich mit Betrachtungen und Gedanken mischten, die ihm während seiner Märsche und während der Nächte unter freiem Himmel kamen. Eine Ahnung der Transzendenz erwachte in ihm. In der Sammlung solcher Stunden versteht man den Glauben der Araber an eine geheimnisvolle Nacht, in der der Himmel sich öffnet, die Engel zur Erde niedersteigen, das Salzwasser süß wird und alles Leben in der Natur sich neigt, um seinen Schöpfer anzubeten. Nach und nach übte die Wüste auf seine ungläubige Seele eine aufwühlende und reinigende Wirkung aus, denn sie zerschneidet ja alle Bindung des Menschen mit der Welt, lässt die Abhängigkeit fühlen und gibt gleichzeitig den Menschen sich selbst zurück. In ihr wird er dessen inne, was Blaise Pascal die kreatürliche Erhabenheit und die eigene Armseligkeit nennt: das gähnende Grauen dieser großen Räume und der von allen Seiten saugenden Unendlichkeiten, aber auch den unendlichen Wert dessen, ein kleiner Lebenskeim in den Gebilden des Todes und der Unfruchtbarkeit zu sein, ein Gedankenblitz in der grenzenlosen Leere dieses weiten Kosmos.

Was ihn nach seiner Rückkehr aus Afrika vorerst voll in Anspruch nimmt, ist der schriftliche Bericht über seine Erkundung Marokkos. 1888 erscheint er: ein fünfhundert Seiten starkes Buch mit einem zweiten Band als Anhang für Dokumente und Karten. Es ist ein voller Erfolg und wird von Forschern und Geografen genauso wie von ihren Verbänden mit lebhaftem und sachkundigem Interesse aufgenommen. Der französische Generalstab bestimmt es als Pflichtlektüre für Offiziere und Kolonialbeamte. Auch britische Geografen sind beeindruckt. In einer Stellungnahme heißt es: „Noch kein Forschungsreisender hat das Leistungsniveau Monsieur de Foucaulds sowohl vom Gesichtspunkt seiner Berichte aus als auch der Gefahren der Expedition erreicht. Im Vergleich zu seiner reichen Ausbeute muten die Werke anderer Forscher wie ein Kinderspiel an“ (Bodley: Der Mönch der Sahara, S. 112).

Foucauld schenkt der rühmenden Resonanz kaum Gehör. Ihn lassen afrikanische Erinnerungen und Gedanken nicht zur Ru-he kommen. Der Kontinent hat ihn verwundet. Die edlen Wüstenbewohner mit ihrer Verehrung Allahs gehen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er wünscht bei sich selbst, er könnte es ihnen gleichtun. Marokko hat eine Sehnsucht in ihm ausgelöst, für die es anscheinend nur ein Heilmittel gibt: die eigene Öffnung für die Weite des Himmels. Dabei empfindet er gleichzeitig die Grenzen des Islam. Allahs Größe ist beeindruckend, aber er bleibt eine ferne, fremde Größe.

Leidenschaftliche Sehnsucht nach Gott als einem Du

Foucauld spürt bei aller Hochschätzung, dass seine Zugehörigkeit zu Gott vor allem seine eigene Person einfordern müsste. Später erkennt er klarer, warum ihm der Islam nicht genügte. Er suchte eine Wahrheit, die die Seligkeit verspricht. So wurde sein Glaube gleichzeitig ein Akt der Liebe: einer Liebe, die zu einem Du hinstrebt, das ihn umfassend bejaht und dem er sich vorbehaltlos hingeben kann. Im Jahr 1901 schreibt er an seinen Vetter Henri, der Islam lehre nicht die ganze Wahrheit. Er könne nicht eine Hingabe an Gott lehren, die Gottes würdig sei. Dann begründet er seine Auffassung mit dem Hinweis auf die christlichen Tugenden: „Ohne die Keuschheit und die Armut bleiben Liebe und Anbetung sehr unvollkommen.“ Der Islam aber fordere keine Keuschheit, gebe nicht einmal der Reinheit besonderen Wert. Foucauld hingegen ist davon überzeugt: Wenn man leidenschaftlich liebt, trennt man sich von allem, das – und sei es nur eine Minute – einen vom geliebten Wesen ablenken könnte, und man wirft sich und verliert sich ganz in Ihm. Ein wichtiges Umdenken hat ihn ergriffen: Er sieht Gott nicht länger als überragende, aber gleichsam abstrakte Wirklichkeit, sondern er erahnt und ersehnt ihn als Du (vgl. J.-F. Six (Hrsg.): Itinéraire spirituel de Charles de Foucauld, S. 46f.).

Unvergleichlich war der Weg, auf dem Charles de Foucauld den Glauben an Gott als ein Du finden durfte. Tief war das Dunkel des Tunnels, in den er sich verirrt hatte. Nur allmählich bemerkt er, wie dicht die Finsternis ist, die ihn umgibt und bedrängt. Er beginnt in der Rue de Miromesnil in Paris nach Licht zu suchen. Eine bewegende Meditation über seine Rückkehr zur Kirche, die er Anfang November 1897 in Nazareth niederschreibt – mit achttausend Worten in einem Zug und an einem Tag schüttet er sein Herz aus –, benennt für das Jahr dort „Einsamkeit, Sammlung, fromme Lektüre“; es drängt ihn, Gotteshäuser aufzusuchen, denn seine Seele ist voller Verwirrung und Angst im Ringen um die Wahrheit. Ein geistig-geistlicher Kampf – schwerer als die Erforschung der Wüste Marokkos. Und wirklich unfassbar erscheint es, dass er sich Gott irgendwann überhaupt aussetzte, dass wirklich eine Bekehrung möglich wurde bei einem Mann, der jahrelang den Verlockungen der Selbstvergötzung bedenkenlos nachgegeben und danach in immensem Ehrgeiz das lebensgefährliche Abenteuer suchte.

Eintauchen in das verborgene Leben Jesu in Nazareth und im Altarssakrament

Foucaulds Bekehrung, der markante Abschluss seines mühevollen Suchens, ist gleichzeitig der Anfang eines schwierigen Prozesses langsamer seelischer Heilung. Zwei Details seines weiteren Lebensweges können hervorgehoben werden. In ihnen zeigen sich die gleichen Fingerzeige, die auch bei anderen Heiligen wie bei der hl. Teresa von Ávila (1515-1582) und beim sel. John Henry Newman (1801-1890) für die Hinwendung des Menschen zu Gott erkennbar sind – vielleicht bei Foucauld sogar mit noch größerer Prägnanz. Sie liegen für diesen Abenteurer in der sensiblen Annäherung an die Person Jesu Christi: Er taucht ein in dessen verborgenes Leben in Nazareth und in Jesu eucharistische Gegenwart. Auch wenn der Glaubensweg des Seligen viele Aspekte hat und nicht ohne Sackgassen ist, so sind diese beiden Heilswahrheiten besonders herauszustellen: seine unbegrenzte Liebe zu Jesus von Nazareth, die ihn umtreibt und ihn zum Herrn im Altarssakrament führt. In beiden kulminiert sein lebenslanges Sehnen, das freilich weit davon entfernt war, zu einer gefühligen Jesus-Intimität zu verkümmern und ihm den Blick auf die Menschen, auf ihren Alltag und ihre Nöte zu verstellen.

Literaturhinweis: Aus der großen Anzahl der Publikationen von und über Charles de Foucauld habe ich mich besonders bezogen auf: P. Lesourd: Pater de Foucauld. Soldat, Forscher, Mystiker, Freudenstadt 1948; R. V. C. Bodley: Der Mönch der Sahara, Wien-Berlin-Stuttgart 1954; Père de Foucauld/Abbé Huvelin: Correspondance inédite, Tournai 1957; J.-F. Six (Hrsg.): Itinéraire spirituel de Charles de Foucauld, Paris 1958; J.-F. Six: Vie de Charles de Foucauld, Paris 1962; Ch. de Foucauld: Immer der letzte Platz, München-Zürich-Wien 1975; Charles de Foucauld: Lettres à un ami de Lycée, Paris 1982; Charles de Foucauld, hrsg. von J.-F. Six, Freiburg 1981; A. Mandonico: Nazaret nella spiritualita di Charles de Foucauld, Padova 2002.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Paul Josef Kardinal Cordes: Dein Angesicht, Gott, suche ich. Ein Impuls gegen die Gottvergessenheit unserer Zeit. Geb., 288 S., 13,5 x 20,5 cm, 19,95 Euro (D), 20,50 Euro (A), ISBN 978-3-9454013-6-1, Media Maria, Tel. 07303-9523310, Fax: 07303-9523315, E-Mail: buch@ media-maria.de

Einladung zum Kongress „Freude am Glauben“ 2017

„Fürchte dich nicht, du kleine Herde!“

„Fürchte dich nicht, du kleine Herde“, gab Jesus seinen Jüngern mit auf den Weg (Lk 12,32). Und unter diesem Motto ermutigte Joachim Kardinal Meisner am Ende des letztjährigen Kongresses „Freude am Glauben“ die Teilnehmer, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren. Diesen Entlassungsruf hat Prof. Dr. Hubert Gindert (geb. 1933, Bild), der Sprecher des „Forums Deutscher Katholiken“, als Sendungsauftrag verstanden und den Kongress heuer unter dieses Thema gestellt.

Von Hubert Gindert

Liebe Freunde, den Kongress „Freude am Glauben“ vom 7. bis 9. Juli 2017 in Fulda haben wir unter das Leitwort „Hab‘ keine Angst, du kleine Herde“ gestellt. Damit greifen wir ein Wort auf, das uns Kardinal Meisner in seiner Predigt beim Abschlussgottesdienst unseres Kongresses in Aschaffenburg mitgegeben hat. Wir verstehen uns als „kleine Herde“, jedoch nicht als eine eingeschüchterte Gruppe von Menschen, die sich in eine Wagenburg zurückzieht und einigelt. Im Gegenteil! Wir sehen uns vielmehr als eine missionarische, kreative Minderheit, die „Licht auf dem Berg“ und „Salz der Erde“ sein will und die den Mut hat, ein attraktives Kontrastprogramm in der Gesellschaft zu verwirklichen.

Johannes Paul II. und der Auftrag zur Neuevangelisierung

Den Kongress eröffnet der Fuldaer Ortsbischof Heinz-Josef Algermissen am Freitag, den 7. Juli. Wir freuen uns, dass wir mit Dr. Rudolf Voderholzer von Regensburg einen besonders profilierten Bischof der Kirche in Deutschland gewinnen konnten. Er spricht den missionarischen Auftrag der Kirche an und erinnert dabei an den großen Papst Johannes Paul II., der eine „Paulusgestalt“ des ausgehenden 20. Jahrhunderts war.

Der Schirmherr unseres Kongresses, Ministerpräsident a. D. Professor Münch, zeigt auf, wie in Gesellschaft, Politik, aber auch in der Kirche die Erneuerung immer von Minderheiten ausgegangen ist. Das gilt auch für die kleinen Einheiten, wie das eine Pfarrgemeinde ist, wenn sich z.B. eine vitale geistliche Bewegung wie das Neokatechumenat entfalten kann. Pfarrer Wolfgang Marx konnte das in einer Großstadtpfarrei erleben. In ihr wurde das wiederbelebte Taufbewusstsein zum Schlüssel eines lebendigen Glaubens. Wolfgang Marx konnte in 40 Jahren seiner Zeit als Pfarrer dieser Gemeinde sieben (!) Primizen erleben.

Der diesjährige Weltjugendtag in Polen hat wieder Hunderttausende angezogen. Diesen Jugendlichen hat Papst Franziskus für das 21. Jahrhundert den Auftrag gegeben, „eine bessere Welt aufzubauen, eine Welt von Brüdern und Schwestern“. Eine Resonanz auf den Weltjugendtag in Krakau erleben wir im Podiumsgespräch, das von Alexandra Maria Linder, der Bundesvorsitzenden der ALfA, moderiert wird.

Ein Neuanfang im Glauben ist für unser Land auch deswegen existentiell, weil wir inzwischen fast ein Volk ohne Gott geworden sind. Der bekannte Buchautor und Papstbiograph Peter Seewald hat es in seinem letzten Interviewbuch mit dem Passauer Bischof Stefan Oster umgedreht und ihm den Titel „Gott ohne Volk“ gegeben. Im Gespräch mit Bernhard Müller, dem Leiter des Fe-Verlags, werden wir von Seewald erfahren, was die Kirche trotz ihrer Defizite hat und ihn in der Kirche hält.

Lösungswege für die „Megaprobleme“ unserer Gesellschaft

Der Kongress geht den Problemen dieser Gesellschaft nicht aus dem Weg und verfällt auch nicht in ein Lamento. Es geht uns vielmehr darum, Irrwege und Auswege aufzuzeigen. Wir stellen uns drei Megathemen. Es handelt sich um die Sexualisierung, um das Problem der Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern aufwachsen können, und um die Masseneinwanderung, die den Zusammenhalt des Volkes gefährden kann, wenn die Integration nicht gelingt. Zum ersten Thema, den durch Pornografie und Frühsexualisierung hervorgerufenen Problemen, spricht die Diplom-Psychologin und erfahrene Therapeutin Tabea Freitag. Zum Problem der heimatlos gemachten Kinder spricht die bekannte Publizistin und Buchautorin Gabriele Kuby. Dem komplexen Thema der Integration haben wir ein Podium mit dem Titel „Wie kann Integration gelingen?“ gewidmet. Von verschiedenen Seiten werden Fachleute dieses hochaktuelle Thema beleuchten.

Außerdem thematisieren wir die Ursachen, die heute auf vielfache Weise die Freiheit gefährden, Der Sozialwissenschaftler Professor Ockenfels wird den Spagat „Freiheit zwischen Recht und Pflicht“ deutlich machen.

100 Jahre Fatima – Quelle der Hoffnung auf einen neuen Frühling

Wie können wir eine „begründete Hoffnung“, Zukunft zurückgewinnen? Die Gottesmutter hat uns vor 100 Jahren in Fatima den Weg gewiesen. Fatima brachte einen Neuaufbruch im Glauben, ja einen Frühling für Portugal. Die Aussagen der Gottesmutter galten aber nicht nur für dieses Land. Professor Ziegenaus wird uns dies näher erläutern.

Der Kongress „Freude am Glauben“ hat zusätzlich ein Programm für Jugendliche u. junge Erwachsene, nämlich ein Medien- und Kommunikationstraining mit der Bezeichnung MAKA. Medienexperten wollen die Teilnehmer für Gespräche und Interviews fit machen. Außerdem wird es ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Kleinkinderbetreuung und spirituellen Angeboten geben.

Herzliche Einladung zum Kongress Freude am Glauben 2017 in Fulda!  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

„kathTreff“ – die Community für Partnersuchende, die Glauben und Werte miteinander teilen möchten

„Das Beste, das uns passieren konnte“

„Freuen Sie sich mit mir, lieber Leser, da ist wieder einmal die Frucht einer Idee, die mir wohl doch die Vorsehung Gottes vor vielen Jahren eingegeben hat und von Frau Dr. Gudrun Kugler umgesetzt wurde! Seither haben wir schon mehr als 300 Familien ,mitgegründet‘ durch ,kathtreff.org‘ im Internet. Und geben Sie den Gedanken weiter, vor allem an Burschen – Mädchen und Frauen haben wir mehr als Männer!  Und denken Sie daran: Die Kirche und die Welt braucht Familien! Der hl. Papst Johannes Paul II., der große Papst der ehelichen Liebe, hat uns dieses Anliegen geradezu als Auftrag hinterlassen!“ Ihr + Andreas Laun, Weihbischof von Salzburg

Von Tina und Uli

Manchmal dachte ich, einen Mann, wie ich ihn mir wünsche, gibt es wahrscheinlich gar nicht oder er wird mir nicht begegnen. Jedenfalls bestimmt nicht übers Internet. Wieder einmal mehr zeigte sich hier: Gebet, Geduld und Gottvertrauen belohnt Gott tausendfach.

Unser Start begann nicht besonders erfolgversprechend: Ich erteilte Uli beim ersten Kontakt im Sommer 2013 eine Absage, da ich bereits einen engeren Kontakt hatte, und einige Wochen später erteilte ich ihm eine weitere Absage, da ich nicht glaubte, dass aus uns was wird. Trotzdem blieben wir in freundschaftlichem Kontakt.

Bereits im Januar 2014 verspürte ich jedoch die Sehnsucht, Uli einmal zu treffen. Aber nach zwei erteilten Absagen schien das unmöglich.

Als ich zwischen März und Juni einen anderen Mann kennenlernte, dachte ich an Uli und daran, was wäre, wenn er auch jemanden kennenlernte? Unvorstellbar!! Ich beendete die gestartete Freundschaft mit dem anderen Mann und schrieb sofort Uli. Der Kontakt war wiederhergestellt und meine Freude war groß, noch mehr, da er anscheinend noch niemanden gefunden hatte! Ich wagte es, ihn nach einem Treffen zu fragen und eventuell eine Absage zu erhalten. Doch: Ich erhielt seine Zusage!

Und so kam es nach einem Jahr zum ersten Treffen. In seiner Nähe fühlte ich mich sofort wohl. Dennoch hatten wir beide etwas Angst, eine ernste Beziehung einzugehen, nachdem es bisher stets gescheitert war.

Dann überraschte Uli mich mit einer Reise nach Rom im November 2014, die uns schließlich zusammenbrachte. Während unserer Beziehung redeten und beteten wir viel um Erkenntnis. Denn uns war es beiden sehr wichtig, den Willen Gottes zu erfüllen.

Ein Jahr später, im November 2015, verlobten wir uns in Paris. Und im Juni 2016 fand die Hochzeit statt. Immer wieder durften wir Gottes Führung erfahren und sind uns sicher, dass er uns auf diese Weise zusammengeführt hat.

Wir möchten uns bei kathTreff ganz herzlich bedanken, da wir uns ohne diese Möglichkeit wahrscheinlich nicht kennen und lieben gelernt hätten. Unsere Empfehlung für kathTreff war außerdem auch bei einer Freundin erfolgreich und eine weitere Freundin wagte nun auch diesen Weg. Wir wünschen allen Gottes Segen für die Suche nach dem richtigen Ehepartner.   

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Wie entsteht wirklich sakrale Kunst?

Die Ambivalenz des Goldes

Weihbischof Manfred Grothe hat bei der Feier des 65. Geburtstags von Bernd Cassau und des 125-jährigen Jubiläums dessen Gold- und Silberschmiede am 5. Mai 2017 in Paderborn eine aufschlussreiche Laudatio gehalten. Darin ging er nicht nur auf die erstaunliche Geschichte des Hauses Cassau ein, sondern auch auf das Wesen der sakralen Kunst. Anhand der Ambivalenz des Goldes zeigte er die Voraussetzungen für die Gestaltung wirklich sakraler Kunstwerke auf. Ein kurzer Auszug.

Von Weihbischof em. Manfred Grothe, Paderborn

Seit jeher wird die Goldschmiede zu den angesehensten Gewerben gezählt. Denn der Werkstoff „Gold“ hat eine unvergleichliche Aura von Kostbarkeit, Strahlkraft und Werthaltigkeit. In Goethes „Faust“ heißt es nicht zufällig: „Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles.“ So wird es für das edelste Erdenkbare verwendet: für die Kronen und Zepter der Herrschenden in dieser Welt und zugleich für die heiligen Gefäße und anderen liturgischen Gegenstände in den Gotteshäusern: Kelche, Patenen, Monstranzen, Kreuze, Reliquiare, Schreine und manches andere mehr.

Hier zeigt sich dann auch eine gewisse Ambivalenz des Goldes: Profan kann es z.B. als Schmuck oder in Form von Münzen äußeren Wohlstand oder auch Prunksucht ausdrücken, sakral kann es durch die in den goldenen Geräten sich manifestierende Verehrung des Heiligen und des Allerheiligsten zur inneren Bereicherung der Menschen beitragen.

Auch die Bibel weiß um das Doppelgesicht des Goldes: Gold steht an der Spitze der Geschenke, die die drei Weisen aus dem Morgenlande dem neugeborenen Heiland bringen; und in der Offenbarung des Johannes wird das himmlische Jerusalem als Stadt aus reinem Gold beschrieben. Dagegen erzählt das Alte Testament von dem Tanz um das Goldene Kalb, der bis heute sprichwörtlich die bloße Fixierung auf das Materielle, die Gier nach dem Gold bezeichnet und abwertet. Nicht zufällig hat es darum auch immer wieder Aussteiger aus dieser Fixierung gegeben, die sich von der Gier nach dem Gold befreit und zu einer neuen Freiheit gefunden haben, wie es z.B. das Märchen vom „Hans im Glück“ darstellt.

Es kommt also darauf an, das Gold auf die rechte Weise zu gestalten und zu den rechten Zwecken zu verwenden; also wie gehe ich mit ihm um? Was heißt das in Bezug auf die sakrale Kunst?

Wenn sakrale Kunst der Ehre Gottes und zugleich der Erbauung der Menschen und der Lenkung ihrer Sinne auf Gott hin dienen soll, dann werden auch die Kostbarkeit des Materials und die Kunstfertigkeit der formal-ästhetischen Gestaltung in diesen Dienst gestellt. Anders ausgedrückt: Reiner materieller Wert und reine formale Schönheit reichen dann nicht aus. Sie können auch fehlgedeutet werden. Wie eben bei dem Tanz um das Goldene Kalb. Da wird Gottesdienst zum Götzendienst pervertiert, weil das Kunstwerk selbst zum Idol gemacht, also angebetet und verehrt wird. Nicht zufällig errichtet deshalb das zweite Gebot eine deutliche Schranke gegen derartige pseudoreligiöse Praktiken. Christliche Kunst hat immer Verweis-Charakter. Das Zweite Vatikanische Konzil formuliert es so: Religiöse Kunst – besonders in der Liturgie – ist „Zeichen und Symbol überirdischer Wirklichkeiten“, ist also nicht Abbild, sondern Sinnbild und hat auf diese Weise Größe und Grenze zugleich.

Die gestalterische Verarbeitung des Rohstoffes Gold oder anderer Edelmetalle zum religiösen Kunstwerk ist eine zentrale Aufgabe des motivierten Goldschmieds. Und dazu gehört dann zunächst die handwerkliche Geschicklichkeit des Schmiedes. Schon die Goldschmiede des Altertums verstanden sich auf das Gießen, Formen, Gravieren, Löten, Granulieren, Hämmern, Ziselieren und Vergolden und waren deshalb geschätzt.

Aber das rein Handwerkliche reicht für einen leidenschaftlichen Gold- und Silberschmied nicht aus. Es bedarf zugleich der Intuition und der Virtuosität des Künstlers. Bezeichnenderweise spricht man nicht, wie bei anderen Handwerkern, von den Produkten des Goldschmiedes, sondern von den Werken der Goldschmiedekunst.

Wenn nun ein Goldschmied wie Sie aber vor allem im Dienst der Kirche, also eigentlich zum Lobe Gottes, arbeitet, hat er dazu oft eine schwierige Gratwanderung zu vollziehen. Zwei ganz wichtige Voraussetzungen für diese besondere Arbeit hat Bernd Cassau einmal so formuliert: „Ich bin praktizierender Christ, anders könnte ich meine Arbeit in dieser Art und Weise nicht ausüben. Meine Arbeit ist gleichzeitig aber auch mein schönstes Hobby geworden.“ Ohne das Ja zum Glauben und die Leidenschaft zur künstlerischen Gestaltung können keine wirklichen sakralen Kunstwerke entstehen.    

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Geschäftsführerin von „Kirche in Not“ berichtet aus Nigeria

Glaubensfreude trotz Terror und Not

Nigeria leidet unter dem Terror der islamistischen Terrorsekte Boko Haram. Obwohl deren Einfluss schwindet, sind noch immer Millionen Menschen heimatlos. Arbeitslosigkeit, Hunger und politische Missstände erhöhen das Leid der Bevölkerung. Die Geschäftsführerin von „Kirche in Not“ Deutschland, Karin Maria Fenbert, hat Nigeria Mitte März besucht. In ihrem Reisetagebuch dokumentiert sie Erfahrungen von Not und Angst – aber auch von tiefem Glauben, ansteckender Lebensfreude und tätiger Nächstenliebe der Christen in Nigeria.

Von Karin Maria Fenbert

Wir landen in Maiduguri im Nordosten Nigerias – der Ursprungsregion von Boko Haram. Sie gilt als gefährlichste islamistische Terrorgruppe der Welt. Im Bischofshaus werden wir von Bischof Oliver Dashe Doeme, dem Generalvikar und einer großen Gruppe von Gläubigen überschwänglich empfangen. Ich kenne den charismatischen Bischof schon von einem Besuch im Münchner Büro von „Kirche in Not“. Er ist ein tief spiritueller Mann – in einer Christusvision empfing er die Gewissheit, dass Boko Haram mit der Kraft des Rosenkranzgebetes besiegt werden kann.

Am nächsten Morgen gehen wir zur heiligen Messe. Sie findet in einem Raum statt, der als Ersatz für die Kathedrale St. Patrick dient. Sie wird momentan mit Hilfe von „Kirche in Not“ wiederaufgebaut. Boko Haram hatte sie zerstört. Der Gottesdienst ist unglaublich! Ein großer Chor und eine Musikgruppe versetzen die Gemeinde in Bewegung und Stimmung. Es sind sicher mindestens 500 Leute im Gottesdienst, die Atmosphäre ist gigantisch. Hier wird die heilige Messe im wahrsten Sinne des Wortes gefeiert! Sie dauert zweieinhalb Stunden; es kam mir gar nicht so lange vor.

Später geht es im Auto des Generalvikars zu einem Zentrum für Flüchtlinge, das die Diözese leitet. Wir treffen dort Vorsteher verschiedenster christlicher Konfessionen. In ihren Ansprachen äußern sich alle sehr positiv über die katholische Kirche: „Sie hat die Menschen in der Zeit des Terrors wie eine Mutter aufgenommen.“ Bischof Dashe Doeme erzählt, dass der Staat bei der Flüchtlingsarbeit kaum hilft. Die meiste Unterstützung käme von „Kirche in Not“. Man merkt es ihm und den anderen Religionsvertretern an, dass sie gut zusammenarbeiten und sich sehr schätzen. Das ist auch sicher notwendig, wenn man bedenkt, dass nach Angaben einiger Geistlicher auf dem Gebiet der Diözese Maiduguri 1,8 Millionen Flüchtlinge leben. 1,8 Millionen – auf einer Fläche, die fast doppelt so groß ist wie Bayern!

Generalvikar Donatus nimmt mich am Nachmittag mit in seine Pfarrei. Sein Pfarrhaus wurde zerstört und wird gerade wiederaufgebaut. „Kirche in Not“ hilft auch hier. Wir fahren in den Ort, wo Boko Haram im Jahr 2002 gegründet wurde. In einer Moschee und angrenzenden Räumen versammelten sich extremistische Muslime zum Gebet. Die Gruppe mit salafistischen Wurzeln wuchs stark an. Nach wenigen Jahren wurde die Sekte gewalttätig. Zunächst richtete sich der Terror gegen Regierung und Polizei, später auch gegen die Christen. Auslöser seien die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung im Jahr 2005 gewesen, so der Generalvikar. Erst seitdem nennt sich die Sekte Boko Haram – übersetzt etwa: „Westliche Bildung ist Sünde“. Ob der Zeichner sich wohl bewusst war, wie viel Leid er damit über die Christen Nigerias und in anderen Regionen der Welt gebracht hat? 

„Boko Haram ist immer brutaler geworden“, erzählt der Generalvikar. „Erst haben sie nur Männer getötet, dann auch Frauen, Schwangere – und jetzt bilden sie sogar Kinder zu Selbstmordattentätern aus.“ Zu den Millionen Opfern gehörte auch Michael Gajere, Pfarrer der Gemeinde St. Rita, die wir besuchen. Obwohl er sich stark für den Dialog zwischen Christen und Muslimen engagiert hatte, wurde er im Februar 2006 getötet – von einem jungen Mann aus der Nachbarschaft. Der Pfarrer wurde nur 41 Jahre alt, der erste Märtyrerpriester der Verfolgung durch Boko Haram. Viele weitere sollten folgen.

Am nächsten Tag treffen wir im Konferenzraum des Bischofshauses neun Witwen im Alter zwischen 40 und 52 Jahren. Alle sind Mütter, eine hat elf Kinder! Ihre Männer wurden von Boko Haram getötet. Ihre Kinder müssen sie jetzt allein durchbringen. Der Bischof unterstützt sie. Die Mittel dazu stammen von „Kirche in Not“. Voraussichtlich werden wir auch helfen, damit die Frauen die Schulgebühren für ihre Kinder aufbringen können.

Danach kommen zwei Familien. Sie erzählen uns von ihrem Kreuzweg. Den Anfang machen Rebecca, ihr Mann Zacharias und die beiden Söhne Zacharias und Christopher. Als Boko Haram ihr Dorf eroberte, entschieden sie, dass Zacharias allein fliehen sollte. Die Terroristen töteten zu dieser Zeit vorwiegend Männer. Rebecca und ihr Sohn gerieten in Gefangenschaft. Drei Jahre sollte ihr Martyrium dauern. Sie musste Koranverse lernen und für die Terroristen Hausarbeiten erledigen. Das Schlimmste aber war die Vergewaltigung. Sie wurde schwanger. „Ich habe mich entschieden, das Kind zu bekommen“, erzählt Rebecca. „Es kann ja nichts für die Vergewaltigung. Und schließlich fließt auch mein Blut in seinen Adern.“

Nach der Geburt rieb sich die junge Frau jeden Abend mit dem Kot ihres Neugeborenen ein – so konnte sie die Vergewaltiger von sich fernhalten. Eines Tages gelang Rebecca mit ihren beiden Kindern die Flucht. Als sie ihren Mann nach einiger Zeit wiederfand, war der Schock groß: Sie hatte ein Kind von einem Terroristen. Zacharias fiel es schwer, das zu akzeptieren. Er wollte nicht, dass das Kind seinen Familiennamen trägt. Nach einer Weile dachte er anders: Christopher trägt heute seinen Namen, wurde mittlerweile getauft.

Auch Katharina, ihre beiden Kinder Daniel (6) und Philomena (9) und Katharinas Schwiegermutter sind wieder vereint. Katharinas Mann wurde von Boko Haram getötet. Die Überlebenden wurden getrennt. Alle fielen sie den Terroristen in die Hände: Katharina wurde 21 Tage mit den Händen auf dem Rücken an einen Baum gefesselt. Seither sind ihre Arme verkrüppelt. Die Kinder kamen mit ihrer Großmutter in ein Lager von Boko Haram. Auch sie wurden gezwungen, den Koran auf Arabisch zu rezitieren – acht Stunden am Tag. Sie erhielten muslimische Namen. Daniel wurde zum Beispiel „Mussa“ genannt. Das ist in der lokalen Sprache der Name des Propheten Mohammed.

„Am schlimmsten war, dass die Kinder mit den Worten gedrillt wurden: Das und das will Allah nicht“, erzählt uns ein Priester, der die Familie betreut. So würden Kinder zu Selbstmordattentätern gezüchtet: Sie wollen alles zerstören, was Allah nicht will. Der Großmutter aber gelang es, die Kinder immer wieder dran zu erinnern, dass sie Christen sind. Nach drei Jahren im Lager wurden sie von Regierungstruppen befreit und zu Katharina gebracht. Sie sind alle traumatisiert, aber froh, wieder vereint zu sein.

Schließlich kommt noch Emmanuel, ein älterer Mann. Er berichtet von einem Wunder mitten in Leid und Terror: Als Boko Haram seine Heimatstadt überfiel, beschlossen er und seine Familie, im Haus zu bleiben und sich still zu verhalten. Mehrmals täglich beteten sie den Rosenkranz.

Sie mussten mit den Lebensmitteln überleben, die sie im Haus hatten. Auf dem Dach befand sich ein Wassertank. Sie beschlossen, das Wasser nur noch zum Trinken zu verwenden. Die Autos von Boko Haram standen direkt vor ihrem Haus; sogar ein Kontrollpunkt wurde dort eingerichtet. Helikopter flogen über ihr Dach. Aber irgendetwas hielt die Kämpfer davon ab, in das Haus von Emmanuel einzudringen und es zu durchsuchen. Er schreibt dies der Kraft des Rosenkranzgebetes zu. Nach 43 Tagen befreiten Regierungstruppen die Stadt. „Es gab große Zerstörungen“, sagt Emmanuel, „aber unser Haus blieb unversehrt. Als wir im Wassertank nachschauten, sahen wir: Das Wasser wäre genau an diesem Tag zu Ende gegangen. Es hatte bis zu unserer Befreiung gereicht.“

 Eine Geschichte wie die biblische Erzählung der Witwe von Sarepta, der der Prophet Elija verheißt, das Mehl im Topf und das Öl im Krug werde nicht versiegen, „bis zu dem Tag, an dem der Herr wieder Regen … sendet“ (1 Kön 17,14). Ich habe erlebt, dass sich dieses Wunder Tag für Tag in Nigeria wiederholt! Es ist gut, dass „Kirche in Not“ hier hilft.    

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Das Beispiel des Herrn führt uns zum Wesentlichen hin

Wie hat Jesus gebetet?

Wissen wir eigentlich, wie Jesus gebetet hat? Dass das Gebet im Leben Jesu eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist uns aus der Heiligen Schrift bekannt. Aber der Inhalt seines Sprechens mit dem Vater bleibt uns weithin verborgen. Wie aufschlussreich die wenigen Andeutungen im Evangelium dennoch für das Verständnis des christlichen Betens sind, arbeitet Dr. Peter Dyckhoff in einem neuen Buch heraus.[1] Er geht das Leben Jesu chronologisch durch und bringt das Beispiel des Herrn für uns Christen auf einzigartige Weise zum Leuchten. Er lotet zunächst die einzelnen Bibelstellen in ihrer Bedeutung für das Wirken Jesu aus und wendet sie anschließend auf die Lebenssituation der Gläubigen an. Dyckhoff ist wieder eine richtungweisende und äußerst anregende Meditation gelungen. Nachfolgendend einige Auszüge aus dem Schlusskapitel.

Von Peter Dyckhoff

Ein wesentlicher Bestandteil der Welt, in die Jesus hineingeboren wurde, war das Gebet. Von der Herabkunft des Heiligen Geistes auf seine Mutter Maria bis zu seinem ersten öffentlichen Auftreten nach den 30 verborgenen Jahren in Nazareth wurde Jesus ständig vom Gebet begleitet.

Als Jesus fast dreizehn Jahre alt ist – es geschieht während der Passahwallfahrt in Jerusalem –, beginnt er sich aus dem Leben seiner Eltern innerlich ein Stück weit zu entfernen. Das Wissen um den Willen seines himmlischen Vaters leuchtet in ihm auf, ja, er verweist sogar im Beisein seines irdischen Vaters auf den himmlischen. Indem Jesus jetzt betend von „seinem“ Vater redet, tritt er bewusst mit seinem eigenen Leben vor Gott.

Betend der Versuchung widerstehen und das Böse überwinden

Am Ende der 40-tägigen Fastenzeit erlebt Jesus hautnah die Macht des Bösen. Ihr begegnet er mit Gebet, einem Wort aus der Heiligen Schrift. Es geht weder um einen Kampf mit den widergöttlichen Elementen noch um ein Streitgespräch mit dem Satan. In überlegener Ruhe wendet sich Jesus im Gebet an seinen Vater. Dies geschieht bei den nächsten Anfeindungen in gleicher Weise. Jesus lässt sich nicht auf das Niveau des Widersachers ein, sondern betet zu seinem himmlischen Vater.

Auf spontane und einfache Weise jeglicher Versuchung zu widerstehen, ist durch ein kurzes Gebet möglich, das an den Vater gerichtet ist und oftmals wiederholt wird. Die Überwindung des Bösen geschieht nur durch Gebet und durch das Festhalten an Gottes Leben spendendem Wort. Auf diese Weise entsteht ein Schutzwall, sodass keine dunklen und zerstörerischen Kräfte mehr in das Innere des Menschen gelangen können.

Jesus entzieht sich immer wieder den Menschen, um in der Einsamkeit zu seinem Vater zu beten. Er weiß, dass er nicht alle heilen kann. Als Gott und Mensch zugleich kann er in dieser Welt nur Fragmente der göttlichen Liebe offenbar machen. Jesus hat Mut zum Fragment, um Zeit für das Gebet zu haben, in dem er um die Einheit mit dem Vater bittet.

Besonders, wenn wir uns verausgabt ha-ben, benötigen wir Stille, um Erlebtes zu verarbeiten und um vornehmlich im Gebet von uns selbst abzusehen und neue Lebensimpulse zu empfangen.

Jesus betet – neben seinem regelmäßigen Gebet – zusätzlich in allen entscheidenden Situationen seines Lebens, damit er seiner göttlichen Sendung entspricht und ihr treu bleibt. Immer wieder zieht er sich zurück, um neue Kraft für Bevorstehendes zu sammeln. Jesus wird es im Gebet möglich gewesen sein, sich ohne viele Worte in den Ozean der Liebe Gottes zu versenken, um neue Durchhalte- und Lebenskraft zu bekommen.

Als Jesus von der Enthauptung seines Freundes Johannes des Täufers erfährt, ist er so tief betroffen und erschüttert, dass er sich in die Einsamkeit zum Gebet zurückziehen möchte. Die vielen Menschen bedrängen ihn jedoch so sehr, dass er erst eine andere Aufgabe erfüllen muss.

Bei harten Schicksalsschlägen ist es verständlich, dass der Betroffene zunächst einmal allein sein möchte, um annähernd begreifen zu können, was geschehen ist. Ein Gebet wird ihm helfen, zur Ruhe zu kommen. Manchmal jedoch ist es nicht möglich, sich sofort in das Gebet zu versenken, da eine dringende Aufgabe, Menschen zu helfen, auf uns wartet. Wir sollten es akzeptieren, wenn wir vorerst auf die Zeit des Alleinseins verzichten müssen. Wie Jesus es bei der wunderbaren Brotvermehrung getan hat, so sollten auch wir erst unsere Aufgabe erfüllen, für den anderen da zu sein, um uns dann zum Gebet zurückzuziehen.

Für Jesus war es wichtig, bedeutsame Ereignisse, die sich ankündigten, in den heiligen Gebetsraum hineinzunehmen. Nur so konnte er im Einklang mit der Vorsehung und dem Willen Gottes sein, wenn vorher Geschautes eintrat.

Das Petrusbekenntnis ist für ihn wichtig, um auf dieser Grundlage den Jüngern den weiteren Weg zu erklären, der unweigerlich durch das Leiden und den Tod zur Auferstehung führt. Durch sein Gebet spürt Jesus, wie er vorgehen und welche Worte er gebrauchen muss.

Im Einklang mit dem Vater: „Dein Wille geschehe!“

Wenn Jesus zum Vater betet: „Ich preise dich“, so stimmt er damit innerlich den Fügungen Gottes zu und spricht lobpreisend die Einheit mit dem göttlichen Willen aus. Er sieht die End- und Heilszeit voraus, einen Zustand ewigen Lebens, in dem es keine Dunkelheit und keinen Satan mehr gibt. „Jesu Dank an den Vater“ entsteht aus dem gegenseitigen Erkennen des Vaters und des Sohnes. Jesu Seele jubelt über diese erkennende Gemeinschaft, da seine Seele im Einklang mit der Liebe Gottes steht. Dies macht den Mittelpunkt und die Quelle allen Betens Jesu aus.

Im Gebetsraum Jesu geschehen Offenbarungen. Nachdem er sein persönliches Gebet beendet hat, übergibt er seinen Jüngern das „Vaterunser“. Voraus ging, dass einer der Jünger den Herrn bat, er möge doch allen Jüngern das rechte Beten lehren. Jesu eigenes Gebet rief also die Bitte der Jünger hervor, auf die dann die Übergabe des Herrengebetes folgte.

Indem wir Gott als „unseren Vater“ anreden dürfen, lässt uns Jesus an seinem Gottesverhältnis teilnehmen. Das, was uns noch geschenkt wird, besitzt Jesus bereits: Durch unser Beten beginnt unsere Seele mehr und mehr durchgeistigt zu werden und das Bild Gottes wird in ihr belichtet.

Jesus legt in seinem Gebet zum Vater Fürbitte für Petrus ein, dass sein Glaube nicht erlischt. Er wird es ebenso für die anderen Jünger getan haben, damit sie dem Treiben der widergöttlichen Mächte nicht unterliegen. An der Macht des Gebetes muss der Wille Satans scheitern. Jesus setzt sich betend für seine Jünger ein, dass ihnen in der Versuchung Gnade zuteilwird – nicht aber, um sie vor der Versuchung zu bewahren, sondern damit sie sich in der Versuchung bewähren.

In den meisten Fällen können wir die Lebensumstände eines anderen Menschen nicht ändern. Doch was können wir letztlich für ihn tun? In unserem fürbittenden Beten können wir ihn mit all seiner Last, mit allem, was man ihm angetan hat, oder mit dem, was er sich selbst angetan hat, vor Gott bringen. Wir beten stellvertretend für ihn und bitten für ihn um Vergebung und Heilung. Wir geben ihm Halt, indem wir an ihn glauben.

Das Gebet Jesu im Garten Getsemani offenbart am stärksten, wie Jesus gebetet hat. Er betet um das Bestehen des Endes seines irdischen Lebens und, wie bei jedem seiner Gebete, dass der Wille seines himmlischen Vaters an ihm geschehe. Entsetzliche Angst ergreift ihn, als er im Gebet seinen Kreuzestod vor Augen sieht. Vom Gebet Jesu am Ölberg geht – geschichtlich begründet – eindeutig aus, wie er gebetet hat.

Ein Weg für alle Christen – Grundzüge des Betens Jesu

• Jesus zieht sich regelmäßig zum Gebet in die Einsamkeit zurück und lässt niemanden an seinem persönlichen Beten teilnehmen.

• Er bevorzugt den gleichen Ort und – wenn es ihm eben möglich ist – auch die gleiche Zeit zum Beten.

• Jesus nimmt als Erstes engen und intensiven Kontakt zur Erde auf, indem er sich zum Beispiel niederkniet.

• All seine Gebete beginnen immer wieder mit der Anrede Gottes als seinem geliebten Vater. Das aramäische Wort „Abba“ drückt diese liebende Nähe zum Vater aus.

• Jesus verlässt sich ganz auf den Vater und bittet in völliger Hingabe darum, dass der Wille Gottes an ihm geschehe.

• In das Gebet Jesu hinein schenkt sich das Spürbarwerden der Gegenwart Gottes: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden (Lk 3,22). Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören (Lk 9,35).

• Dem zutiefst betenden Jesus wird Zukünftiges im Gebet der Zurückgezogenheit und der Ruhe offenbart, damit, wenn es geschieht, er innerlich darauf vorbereitet ist.

• An der Macht des verinnerlichten Gebetes Jesu scheitert alles Widergöttliche und prallt ab.

• Durch wiederholten Rückzug aus dem täglichen Leben schenkt sich Jesus als Menschensohn ein größerer Horizont, mehr Überblick, eine neue Perspektive und vor allem ein größeres Durchhaltevermögen.

• Auch das angstbesetzte Gebet Jesu am Ölberg geht in ein Gebet reiner Hingabe an den Vater über. Er betet inständig und wiederholt die dritte Vaterunser-Bitte, dass der Wille Gottes an ihm geschehe.

• Unter Hingabe aller persönlichen Erwartungen spricht Jesus immer wieder mit den gleichen Worten betend aus, dass nicht sein, sondern Gottes Wille geschehe.

• Die von Gott, von ihm selbst und von anderen Menschen trennende Angst schwindet mit der wunderbaren Erfahrung, dass Gott, der Vater, immer und auch in tiefster menschlicher Not mächtig ist, zu helfen. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm neue Kraft (Lk 22,43).

• Indem Jesus innerlich in den Ja-Geist Gottes einstimmt, erfährt er, dass er von seinem Vater unendlich geliebt und in allem und durch alles von ihm getragen wird.

Die Finsternis der Menschen, die Jesus am Ende seines Lebens fesselten, abführten und schlugen, war nicht in der Lage, die lichtvolle Ausstrahlung Jesu zu überschatten. Wenn Je-sus jetzt auch äußerlich ohnmächtig war, so war doch seine geistige Kraft ungebrochen.

Am abgrundtiefen Leiden und Sterben Jesu nahm der gesamte Kosmos teil. Aus dem Dunkel des Todes wandte er sich im letzten Gebet der Hingabe an Gott: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist (Lk 23,46). Jesu Leben, Leiden und Sterben war die Erfüllung eines sich langsam vollendenden Gebetes. Er war von der Gewissheit durchdrungen, dass bei Gott, seinem Vater, das Leben auf ihn wartete. Wie Jesus es als Zwölfjähriger bereits getan hat, so stellt er auch in seinem Sterben seinen Vater in den Mittelpunkt.

So wie Jesus gelebt hat, so stirbt er auch: betend in Hingabe an den Vater. Wie aller Wahrscheinlichkeit nach täglich durch Hingabe an den Vater eingeübt, so birgt sich auch jetzt die Seele des sterbenden Jesus in das vertraute Gebetswort: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.

Wie der Engel bei Maria am Beginn des Christusereignisses eintrat, während sie betete, so beschließt Jesus sein irdisches Leben mit einem Gebet der Hingabe. Die individuelle Existenz Jesu erfährt eine völlige Enteignung. Er geht, indem er eins wird mit dem Vater, in dessen himmlische Herrlichkeit über.     

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Peter Dyckhoff: Wie hat Jesus gebetet? Geb., 144 Seiten, 30 s/w-Abb., 13,95 Euro (D), 14,40 Euro (A), ISBN 978-3-9454012-8-6, Media Maria, Tel. 07303-9523310, Fax: 07303-9523315, E-Mail: buch@ media-maria.de

CitizenGO demaskiert die LGTBI-Agenda und ihre diktatorische Ideologie

Bus der Redefreiheit

CitizenGO hat sich in den vergangenen Wochen für zwei grundlegende Rechte eingesetzt: die Redefreiheit und das Recht der Eltern, ihre Kinder ohne die Gender-Ideologie erziehen zu dürfen. Dazu wählte die Initiative eine ungewöhnliche Methode: sie mietete einen Bus, versah ihn mit einer weithin sichtbaren Aufschrift und schickte ihn durch die Straßen. In Spanien zeigte sich, wie entschieden die LGBTI-Lobby, die Mehrheit der Medien und die Politiker, welche den LGBTI-Interessen dienen, ihren Kurs der gesamten Gesellschaft aufoktroyieren wollen. Die mächtige LGBTI-Lobby hat bereits in unzähligen Ländern Parlamente und Regierungen gefügig gemacht und eingeschüchtert. Mit riesigen finanziellen Mitteln wird gezielt die öffentliche Meinung gesteuert und „geschaffen“. Was CitizenGO berichtet, hört sich unglaublich an, ist aber leider wahr.

Von Eduard Pröls

In Spanien gibt es einige Gesetze, welche die sexuelle Indoktrinierung an den Schulen (bereits für Kleinkinder und an der Grundschule) aus der Sicht der Gender-Ideologie verpflichtend vorschreiben. Diese Gesetze haben zum Beispiel zur Folge, dass externe LGBTI-Gruppen an die Schulen kommen, um Arbeitsgruppen so-wie „praktische“ Lehrstunden über Sexualität und Gender-Identität abzuhalten. Die Eltern haben keine Möglichkeit, diese verpflichtende sexuelle Indoktrinierung ihrer Kinder zu verweigern.

In einem solchen Klima und unter diesen Gesetzen hat eine Familienorganisation transsexueller Minderjähriger, wie sie sich selbst bezeichnen, in einer Stadt in Nordspanien eine sehr teure Werbekampagne (die Kosten lagen bei mehr als 27.000 Euro) gestartet und auf öffentlichen Plakatwänden eine Werbung gezeigt, auf der vier nackte, sich an den Händen haltende Kinder abgebildet sind, einschließlich eines „Jungen“ mit weiblichen Genitalien und eines „Mädchens“ mit männlichen Geschlechtsmerkmalen, sowie dem Slogan: „Es gibt Mädchen mit einem Penis und Jungen mit einer Vagina. Es ist einfach so.“ Diese Kampagne fand in Spanien einen enormen Widerhall in den Medien und den sozialen Netzwerken.

Einige Wochen später hat die Organisation HazteOir.org, der spanische Ableger der CitizenGO-Gruppe, den Antrag gestellt, in derselben Stadt und an denselben öffentlichen Orten eine Kampagne mit der Aussage „Jungs haben einen Penis. Mädchen haben eine Vagina. Lass Dich nicht verwirren. Ein Junge, der als Junge geboren wurde, ist ein Junge. Ein Mädchen, das als Mädchen geboren wurde, ist ein Mädchen“ durchzuführen.

Das Unternehmen, das die Werbung auf den öffentlichen Plakatwänden anbringt, weigerte sich jedoch, unsere Kampagne auszuführen. Als Antwort auf diese Verweigerung hat HazteOir.org/CitzenGO einen Bus angemietet, mit unserer Botschaft versehen und durch Madrid fahren lassen. Aber er konnte nur wenige Stunden lang fahren; denn er rief unverzüglich den Ärger der extremen Linken und eine Hetzjagd der LGTBI-Lobby hervor. LGTBI und linke Gruppen wurden mobilisiert und von den Medien und der Presse protestierend, beleidigend und drohend gezeigt. Politiker und Medien antworteten erstaunlich rasch und gleichförmig, verurteilten uns und beschuldigten uns der Transphobie und Homophobie, der Anstiftung zu Hass und Gewalt, der Hassverbrechen und vieler anderer schrecklicher Dinge. Wir erhielten – vor allem über das Internet und die sozialen Medien, aber auch in unserem Hauptquartier in Madrid – Beleidigungen und Drohungen aller Art, die teils sehr konkret waren. Wiederholt wurde angedroht, sie würden den Bus samt Insassen anzünden. Gleichzeitig wurden Fotomontagen mit dem brennenden Bus im Internet in Umlauf gebracht.

Verschiedene Stadtverwaltungen haben angekündigt, dass sie beabsichtigen, Strafen zu erlassen und den Bus daran zu hindern, die Straßen ihrer Städte zu befahren. Pro-LGBT-Hacker nahmen sich der Sache an und beschlossen, die Kampagne auf ungesetzliche Weise zu beenden: Sie griffen die Server von CitizenGO massiv an und brachten sie zeitweilig zum Absturz. Unsere Webseite war für mehr als 24 Stunden nicht erreichbar. Die schlimmste Folge war, dass die städtische Polizei von Madrid einer Anordnung der kommunistischen Bürgermeisterin Manuela Carmena Folge leistete und den Bus in der Garage, in der wir ihn in der ersten Nacht geparkt hatten, festsetzte, ihn für über 24 Stunden ohne jegliche Anordnung der Verwaltung oder eines Gerichtes wegsperrte (kidnappte) und uns den Zugang zu ihm verweigerte. Am Tag darauf legalisierte ein Richter mit einem formellen Beschluss das Kidnapping des Busses und ein Bezirksanwalt beschuldigte Ignacio Irsuaga, den Präsident von CitizenGO, der „Anstiftung zum Hass“ und anderer Straftaten und forderte eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren. Sie versuchten mit all diesen Maßnahmen uns aufzuhalten, doch sie konnten uns nicht stoppen.

Wir haben daraufhin den Namen des Busses, den wir anfangs „Der Bus, der nicht lügt“ nannten, geändert. Seitdem heißt er der #FreeSpeechBus (der #BusDerRedefreiheit). Wir brachten als nächstes ein Wohnmobil auf die Straße und änderten das Motto ab. Wir fragten „Haben Jungs Penisse?“ usw., anstatt dies festzustellen, um der Gerichtsentscheidung, die uns die Verwendung der vorherigen Botschaft untersagt hatte, nachzukommen. Und einen Tag später organisierten wir einen zweiten Bus, bei dem wir einen Teil der ursprünglichen Beschriftung mit „ZENSIERT!“ überklebten. Beide Fahrzeuge wurden gejagt, verfolgt und von der Polizei belästigt, die uns beschuldigte und ohne jede gesetzliche Grundlage bestrafte. Letztlich konnten die Busse weiterhin in Madrid herumfahren und dank der Medien erreichten wir mehr öffentliches Interesse, als wir je für möglich gehalten hätten.

Am 12. März 2017 schließlich organisierten wir eine große und sehr erfolgreiche Demonstration (sie wurde anfangs verboten und wir mussten heftig um die Genehmigung kämpfen), mit der wir das Recht auf Redefreiheit und das Recht der Eltern, ihre Kinder entgegen der Gender-Ideologie zu erziehen, einforderten.

Die Geschichte wurde in den vergangenen Wochen unzählige Male in den spanischen Medien (nationalen und regionalen Rundfunk- und Fernsehsendern) zur besten Sendezeit erwähnt und auf den Titelseiten aller nationalen spanischen Zeitungen und Onlineportale wiedergegeben. Auch viele internationale Medien berichteten darüber, bis hin zu großen Zeitungen in Deutschland und Österreich, und auch im ZDF. Sogar Chelsea Clinton verfasste einen Tweet über unseren Bus: „Bitte bringt diese Busse nicht in die USA (oder anderwohin)!“

Unser „Bus der Redefreiheit“ wurde zum Gegenstand parlamentarischer Anfragen und Pressekonferenzen im nationalen spanischen Parlament und dem Regionalparlament von Madrid. Wieder und wieder haben sich die politischen Gruppen einstimmig und aggressiv gegen uns gestellt. Im Regionalparlament von Madrid haben sie einstimmig für Maßnahmen verschiedener Art gegen HazteOir.org und CitizenGO gestimmt! Warum? Weil wir nicht so wie sie denken. Weil wir uns nicht der diktatorischen Gender-Ideologie unterwerfen. Und weil wir uns trauen, das auszusprechen.

Aber wir haben auch unzählbare Zustimmung und Ermutigung erhalten. Immer wieder haben uns Menschen gratuliert und fühlten sich von uns verteidigt – in den sozialen Netzwerken, per E-Mail, durch Telefonanrufe in unserem Hauptquartier oder einfach auf der Straße. Einige tapfere Intellektuelle, die in Spanien sehr bekannt sind, haben sich uns bei der Verteidigung der Freiheit, für die wir mit dem Bus eintreten, angeschlossen. Es ist uns gelungen, die LGTBI-Agenda und ihre diktatorische Ideologie zu demaskieren, einen beispiellosen Aufschrei und eine Bewegung für die Meinungsfreiheit hervorzurufen, die es in Spanien in dieser Hinsicht noch nicht gegeben hat. In Spanien haben wir gezeigt, dass es möglich ist, der LGBTI-Lobby entgegenzutreten.

Vom 13. bis 24. März fand in New York die 61. Sitzung der Kommission für die Rechte der Frauen bei den Vereinten Nationen statt. Das Haupanliegen lag darin, für die wichtigsten Bedürfnisse von Mädchen und Frauen in weniger entwickelten Ländern Lösungen zu finden, um Armut und Hunger auszurotten, die Gesundheit und Erziehung zu verbessern und sauberes Wasser bereitzustellen. Doch ein Bündnis verschiedener Staaten nutzte diese wichtige Konferenz dazu, eine andere Agenda voranzubringen: die LGBTI-Agenda: Steuergelder für Abtreibung, freien Zugang zu Geburtenkontrolle und für umfassende Sexualerziehung bereits für 4-jährige auszugeben, die freie Geschlechterwahl und Gender-Identitäten nach der Gender-Ideologie als Menschenrecht zu etablieren.

Auch dort waren wir mit unserem „FreeSpeechBus“ präsent. Doch der Bus wurde direkt vor dem Sitz der Vereinten Nationen in New York City angegriffen und massiv beschädigt, so dass er völlig unbrauchbar geworden war. Unser Busfahrer erlitt während dieses Vorfalls leichte Verletzungen. Leider scheint es die Art und Weise zu sein, wie jene, die „Toleranz“ predigen, mit von ihrer Meinung abweichenden Ansichten umgehen. Aber wir werden uns davon nicht aufhalten lassen. Wir werden für unsere Werte weiterkämpfen – auf der ganzen Welt!      

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Unverdächtige Stimme warnt vor Einschränkung der Redefreiheit

Andersdenkende werden stummgeschaltet

Die Basler Zeitung veröffentlichte am 30. März 2017 eine Kolumne von Tamara Wernli mit der Überschrift: „Hate Speech: Die neue Nazikeule“. Im Untertitel heißt es: „Leute mit anderen Ansichten werden stumm geschaltet, indem sie der Hassrede bezichtigt werden.“ Als Beispiele nennt Wernli kritische Einstellungen zum Islamismus und Genderismus, die von staatlichen Institutionen zensiert werden, weil sie angeblich Hass schüren.

Von Tamara Wernli

Studenten, die sich mit den falschen Zeitungen auseinandersetzen, geraten offenbar auf die schiefe Bahn. Deshalb nehmen sich britische Universitäten ein Beispiel an China und zensurieren in ihren Journalistenklassen bestimmte Blätter – solche, die von der „richtigen“ Linie abweichen. Nein, das ist kein Witz. Laut einer aktuellen Studie des Politmagazins Spiked schränkten im vergangenen Jahr 94 Prozent der Hochschulen in Großbritannien die Redefreiheit ein. Die Londoner City University, Heimat einer der weltweit angesehensten Journalistenschulen, verbannte The Sun, Daily Mail und Daily Express – weil diese Zeitungen Hass in der Gesellschaft schüren würden. Studentenorganisationen verbannten Redner vom Campus – wie etwa die Bürgerrechtlerin Maryam Namazie, die sich gegen Islamismus engagiert, oder die Feministin Germaine Greer, weil sie ihre eigenen Ansichten zum Transgenderismus hat.

Die BBC-Sendung „Daily Politics“ griff das Thema unlängst auf. An der Debatte nahm die Journalistin Kaite Welsh teil, prominentes Aushängeschild der Verbannungs-Befürworter: „Das ist nicht Zensur. Wenn gewisse Institutionen dir keine Plattform geben wollen, musst du das akzeptieren. Redefreiheit heißt nicht, die Freiheit zu haben, eingeladen zu werden, wo immer du möchtest.“ Und: „Die Studenten wollen keinen Fanatismus und keinen Hate Speech.“

Was ist Hate Speech?

Wir sind beim Kampfbegriff Hate Speech, zu Deutsch: die Hassrede. Der Hate-Speech-Hammer funktioniert wie die Nazikeule – damit sollen Menschen mit anderen Ansichten stumm geschaltet werden. Laut Wikipedia bezeichnet Hate Speech die sprachliche Ausdrucksweise von Hass mit dem Ziel der Verunglimpfung bestimmter Personen oder Gruppen. Im Vordergrund steht deren Ausgrenzung und die Anwendung von Gewalt gegen sie.

Beispiele von Hate Speech: „Wenn ich einmal an der Macht bin, wird die Vernichtung der Juden meine erste und wichtigste Aufgabe sein“ (Zitat Adolf Hitler, Quelle: Institut für Zeitgeschichte). Oder: „Tötet Erdogan – mit seinen eigenen Waffen“ (Plakat der Revolutionären Jugendgruppe Bern an einer Demo vergangene Woche). Kein Beispiel von Hate Speech: die Äußerungen der von Unis verbannten Germaine Greer. Chirurgische Eingriffe zu erlauben in Bezug auf eine Geschlechtsumwandlung, sei unethisch, sagt sie, weil sie gesundes Gewebe entfernen und eine lebenslange Abhängigkeit von Medizin kreieren. Eine provokative Ansicht? Ja. Schwer zu akzeptieren und verletzend für Transgender? Ja. Nur sät das nicht zwangsläufig Hass. Mit Gewalt hat es gar nichts zu tun. Die NZZ erwähnte neulich Ronald Dworkin, einen der bedeutendsten US-Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts: Ein Inhalt könne auch dann ein Beitrag zur politischen Diskussion sein, wenn er einen Angriff auf bestimmte Gruppen darstelle. Ein politisches System, das die Redefreiheit wegen möglicher unliebsamer Äußerungen beschneide, könne gemäß Dworkin keine volle Legitimität genießen.

Die Social Justice Warriors, zu deren Mission es zählt, jedes verletzte Gefühl auf der Welt zu schützen, vergaloppieren sich zusehends. Als Mitglied einer Minderheitengruppe ist man bisweilen vielleicht Vorurteilen und Intoleranz ausgesetzt. Indem man aber Meinungen und Zeitungen von Hochschulen verbannt, behebt man keine Missstände, sondern unterdrückt die Stimmenvielfalt in einer Bevölkerung. Rede-Zensur taugt für Studenten als Vorbereitung auf das reale Leben etwa so gut wie Trigger Warnings vor einem Atomkrieg.  

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2017
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Neuen Kommentar schreiben

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder! Die Redaktion behält sich das Recht vor, Kommentare gegebenenfalls nicht für die Veröffentlichung freizugeben oder in Abstimmung mit den jeweiligen Autoren zu kürzen.