Liebe Leser

Von Erich Maria Fink und Thomas Maria Rimmel

Evangelisierung ist die grundlegende Sendung der Kirche. Jesus Christus sandte zunächst die zwölf Apostel, die er selbst erwählt hatte (Lk 6,12-16), aus, damit sie „überall das Evangelium verkünden“ (Lk 9,1-6). Er selbst hatte ihnen den Namen „Apostel“ gegeben, was übersetzt „der Gesandte“ heißt. Später „wählte er zweiundsiebzig andere Jünger aus und sandte sie zu zweit vor sich her in alle Städte und Ortschaften, in die er selbst gehen wollte“ (Lk 10,1-16). Damit hat Jesus von Anfang an die Weichen für den Auftrag der Evangelisierung gestellt. Hirten und Gläubige haben die Aufgabe, den Menschen die Frohe Botschaft von der Erlösung zu bringen. Es geht aber nicht nur um die Weitergabe einer Offenbarung, sondern darum, den Weg für Jesus zu bereiten. Evangelisierung heißt, die Menschen für Jesus Christus zu gewinnen, sie zum Erlöser hinzuführen, ihre Herzen für die Begegnung mit ihm zu öffnen.

Erzbischof Henryk Hoser wurde 2017 von Papst Franziskus zum Sondergesandten für Medjugorje und ein Jahr später zum Apostolischen Visitator der dortigen Pfarrei ernannt. Es ging nicht darum, die noch nicht anerkannten Marienerscheinungen zu prüfen, sondern das dortige Wallfahrtsgeschehen zu beobachten und sich der pastoralen Betreuung der Pilger anzunehmen. Er kam zu dem Ergebnis, dass das kirchliche und pastorale Leben in Medjugorje nicht nur den Vorstellungen und Regeln der katholischen Kirche entspricht, sondern dass der Ort darüber hinaus ein „Modell der Neuevangelisierung der Welt“ darstellt. Abertausende hätten in Medjugorje eine echte und anhaltende Bekehrung erlebt oder seien im Glauben neu entzündet worden.

Erzbischof Hoser bescheinigte Medjugorje eine unglaubliche Fruchtbarkeit in allem, was das Reich Gottes ausmacht. Im Mittelpunkt stehe Jesus Christus, die Öffnung der Herzen für das Wort Gottes in der Heiligen Schrift, die Begegnung mit dem Erlöser in den Sakramenten, vor allem in der Beichte und in der Eucharistie, sowie die Anbetung des Herrn im Allerheiligsten. Auf dieser Grundlage nehme das Evangelium im Leben der Gläubigen Gestalt an. Wie Jesus die Menschen aufgerufen habe: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15), so sei die Umkehr mit Gebet und Fasten ein überzeugendes Merkmal von Medjugorje. Dabei gehe es sowohl um die Abkehr von der Sünde als auch um die bewusste Hinwendung zu Gott, dem wir unser Leben übergeben und von dem wir allein unsere Rettung erwarten. Schließlich münde die Bekehrung in die Umsetzung des Liebesgebotes ein, zu dem die Gläubigen in der Schule Mariens, der „Königin des Friedens“, hingeführt werden.

Es ist gewiss eine Fügung der göttlichen Vorsehung, dass Erzbischof Hoser von 1975 bis 1995 als Missionar des Pallottinerordens in Ruanda tätig war. Dort wurde er Zeuge der Marienerscheinungen in Kibeho ab 1981 und des von der Gottesmutter vorausgesagten Völkermords 1994. Im Jahr 2001 sind diese Erscheinungen von Rom offiziell anerkannt worden. Die zeitgleichen Ereignisse von Medjugorje mit dem Aufruf zum Frieden und den Schrecken des Balkankriegs betrachtet Erzbischof Hoser als eindrucksvolle Parallele.

Angesichts des Jubiläums „40 Jahre Medjugorje“ lassen wir deshalb auch Bischof Franjo Komarica von Banja Luka zu Wort kommen, der im Rahmen eines Jubiläumskongresses ein erschütterndes Zeugnis vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien abgelegt hat. Er blickt dankbar auf die „Königin des Friedens“ von Medjugorje, die in der ganzen Welt unzählige apostolische Initiativen zur Ausbreitung des Reiches Gottes hervorgebracht habe.

Liebe Leser, auf die Fürsprache der „Königin des Friedens“ wünschen wir Ihnen eine fruchtbare Lektüre und eine gesegnete Fastenzeit. Vergelt’s Gott für Ihre Unterstützung!

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Interview mit dem Sondergesandten des Papstes für Medjugorje

Modell der Neuevangelisierung

Bislang hat die Kirche die angeblichen Marienerscheinungen von Medjugorje in Bosnien und Herzegowina nicht anerkannt. Am 24. Juni 1981 soll Maria das erste Mal von sechs Jugendlichen des Ortes gesehen worden sein. So jähren sich heuer die Ereignisse von Medjugorje zum 40. Mal. Der Verein „Medjugorje Deutschland e.V.“ hat aus diesem Anlass am 30./31. Januar 2021 einen Jubiläumskongress organisiert, der aufgrund der Corona-Krise online durchgeführt werden musste. Dazu gab Erzbischof Henryk Hoser, der emeritierte Bischof von Warschau-Praga, ein kurzes Interview. Erzbischof Hoser war am 11. Februar 2017 als damals noch amtierender Bischof von Papst Franziskus zum Sondergesandten für Medjugorje ernannt worden. Seine Mission hatte ausschließlich seelsorglichen Charakter. Ziel war es, eine angemessene pastorale Betreuung der Pilger zu gewährleisten. An Fronleichnach 2018 setzte ihn der Papst als Apostolischen Visitator der Pfarrei Medjugorje ein. Im Mai 2019 kündigte Hoser die Erlaubnis von offiziellen Pilgerfahrten nach Medjugorje an. Er betonte aber, dass damit noch keine Anerkennung der Marienerscheinungen verbunden sei. Das Interview führte der Verein „Medjugorje Deutschland e.V.“, der auch als „Deutschsprachiges Informationszentrum für Medjugorje“ fungiert.

Interview mit Erzbischof em. Henryk Hoser

Herr Erzbischof, bei der Pressekonferenz anlässlich des Jugendfestivals 2019 in Medjugorje haben Sie den Ort als „Modell der Neuevangelisierung der Welt“ bezeichnet. Wie dürfen wir diese Aussage verstehen?

Oft werde ich gefragt, warum ich beim Jugendfestival zum Ausdruck gebracht habe, dass Medjugorje eine Art Modell der Neuevangelisierung ist, und warum es überhaupt um eine neue Evangelisation geht. Es ist eine Antwort der Kirche auf die Situation der Welt, besonders auf die Situation der Welt in den Ländern, die seit so vielen Jahren, seit Jahrhunderten christlich sind. Es gibt eine massive Entchristlichung, einen stillen Abfall vom Glauben, und daher braucht es eine neue Evangelisierung Europas, Nordamerikas und der gesamten atlantischen Zivilisation. Diese neue Evangelisierung sollte den Akzent auf all die Elemente setzen, die wir im Zug des Glaubensschwundes verloren haben, vor allem auf die unmittelbare, lebendige, fruchtbringende Beziehung zu Gott, der unser Schöpfer und unser Retter ist.

So haben wir auch das Gespür oder die Fähigkeit für das Sakrale verloren, für das, was heilig ist, für das, was Gott geweiht ist, einschließlich des menschlichen Lebens, das wir als heilig betrachten. Und so ist diese verlorene Heiligkeit auch eine Herausforderung an die neue Generation, an die Neuevangelisierung.

Wir haben das Gebet verloren, das Gebet, welches ein direkter Kontakt mit unserem Gott ist, den wir als Vater sehen, den wir als Liebe sehen, den wir als Barmherzigkeit sehen. Und so sind all diese Elemente in dem vereint, was in Medjugorje geschieht. Medjugorje ist ein Ort der Beichte, der Umkehr von der Horizontalität unseres Lebens zur Vertikalität unseres Lebens.

Ich möchte die Neuevangelisierung oft mit dem Kreuz Christi vergleichen, das aus zwei Balken besteht, wobei der vertikale Balken länger ist als der horizontale Balken. Außerdem ist dieser horizontale Balken am vertikalen aufgehängt. Das bedeutet, dass unsere menschlichen Beziehungen direkt von dieser Beziehung zu Gott abhängen und von ihr getragen werden. Und wir finden in jedem Mann und in jeder Frau dieses Bild Gottes sowie eine Person, die in den Augen Gottes heilig ist.

Und was bietet uns nun Medjugorje an? Es bietet uns, so würde ich sagen, die klassischen Dinge an, vor allem verschiedene Arten des Gebets, individuelles Gebet, gemeinsames Gebet, Stille. Es ist sehr wichtig, dass wir die Stille in unserem Leben wiederfinden. Medjugorje zeigt auch auf, wie man zusammen beten kann, zum Beispiel den Kreuzweg, die Anbetung des Allerheiligsten Sakramentes, die Kreuzverehrung sowie die marianische Frömmigkeit. Wir entwickeln die Verehrung Mariens als „Königin des Friedens“. Und das ist ein spezifisches Element von Medjugorje.

Herr Erzbischof, welche Rolle spielt die Gottesmutter in Ihrem Leben?

Welche Rolle spielt die heilige Jungfrau in meinem Leben? Dazu kann ich sagen, dass sie mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich bin natürlich in einer katholischen Familie aufgewachsen, auch in der Marienverehrung. Als Kind besuchte ich eine Kirche, die Maria geweiht war, in der Nähe von Warschau in Polen. Dann wurde ich Messdiener in einer Kapelle, wo ich die Maiandachten und das Gebet des Rosenkranzes im Oktober begleitete. Das sind alles Elemente der marianischen Frömmigkeit, die ich in meiner Kindheit erlebt habe. Und bereits im Noviziat der Pallottiner habe ich mein Leben der Jungfrau Maria im Geist des hl. Grig-nion de Montfort geweiht, eines sehr großen Marienverehrers. Und schließlich habe ich überall, wo ich war, Maria gedient; auch in Kibeho, wo ich als Zeuge an den Erscheinungen der hl. Jungfrau Maria teilgenommen habe; auch hier in Medjugorje, wo ich immer noch der hl. Jungfrau Maria diene, die ich in meinem Herzen trage.

Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen Kibeho und Medjugorje?

Die Ähnlichkeit zwischen den Erscheinungen von Kibeho und den angeblichen Erscheinungen von Medjugorje: Was Medjugorje betrifft, muss ich mich hier immer im Konditional ausdrücken, denn der Heilige Stuhl hat diese Erscheinungen noch nicht offiziell anerkannt. Aber insofern als die Aussagen der hl. Jungfrau, wie sie mir mitgeteilt worden sind, mit unserem Glauben sowie mit unserer klassischen, von der Kirche definierten Marienverehrung übereinstimmen, kann ich sagen, dass es offensichtlich eine Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Ereignissen gibt.

Erstens, Kibeho fand im selben Jahr wie Medjugorje statt. Medjugorje begann im Juni und Kibeho im Oktober bzw. November 1981. Des Weiteren befanden sich beide in der gleichen Perspektive. In Kibeho hat die selige Jungfrau allen Gläubigen, allen, die zum Ort der Erscheinung geeilt waren, die Perspektive des Genozids vorausgesagt, die sich mehr als zehn Jahre später erfüllt hat. Somit war es eine rechtzeitige Warnung, ein großer Aufruf zur Umkehr. Sie hat sich auch vorgestellt. Die hl. Jungfrau hat sich als „Mutter des Wortes, des Wortes Gottes“ vorgestellt. Das ist ein Hinweis auf Jesus Christus, der das Wort Gottes ist. So hat sie uns dazu hingeführt, dazu eingeladen, richtig zu beten, indem wir uns des Wortes Gottes bedienen, welches uns im Evangelium gegeben ist.

In Kibeho gibt es somit ein vorausschauendes Element, welches auf die Zukunft verweist. Und in Medjugorje gibt es dasselbe Phänomen. Die Jungfrau Maria hätte hier von der Perspektive des mangelnden Friedens gesprochen, welche sich in diesem schrecklichen Balkankrieg verwirklichte, in dem alle gegen alle kämpften. Und so stellte sie sich als „Königin des Friedens“ vor.

Dies ist ein alter Titel der heiligen Jungfrau Maria, nichts Neues. Dieser Titel wurde von Papst Benedikt XV. in die Lauretanische Litanei eingefügt, während des Ersten Weltkriegs, des sog. Großen Krieges. Das war 1917, das Datum der Erscheinungen von Fatima. Und man sieht die direkte Linie, die von Fatima ausgeht und bis zu den Geschehnissen in Kibeho und in Medjugorje führt. Es sind Erscheinungen apokalyptischer Art.

Wie dürfen wir die Aussage der Gottesmutter vom 25.08.1991 verstehen: „… so dass mit eurer Hilfe alles verwirklicht werde, was ich durch die Geheimnisse in Fatima begonnen habe“?

Die hl. Jungfrau ruft uns zur Umkehr auf, zu einer fundamentalen Entscheidung, in der wir Gott oder den Widerspruch wählen, das, was gegen Gott ist, nämlich die Mächte der Dunkelheit. Ich glaube, dass dieser Aufruf an die gesamte Weltbevölkerung gerichtet ist, an alle Menschen, die diese Erde bewohnen. Er gilt nicht nur den Katholiken. Vielmehr müssen wir uns alle um unser ewiges Heil kümmern. Und wir sind alle aufgerufen, den Frieden auf dieser Erde aufzubauen, damit sie bewohnbar sei.

Papst Franziskus besteht sehr auf dem göttlichen Charakter dieser Welt, nämlich als Schöpfung Gottes, der gut ist, der gerecht ist, der Liebe und Barmherzigkeit ist. „Laudato si“, die erste Enzyklika im Geist des hl. Franziskus, und jetzt „Fratelli tutti – Wir sind alle Brüder“, bedeuten, dass wir alle den gleichen Vater haben, der im Himmel ist.

In der Botschaft vom 25.07.1987 spricht die „Gospa“ davon, alles Bittere, was Gott uns anbietet, anzunehmen.

Hier bittet uns die hl. Jungfrau, all das anzunehmen, was von Gott kommt und uns bitter erscheint. Wir sind natürlich eingeladen, dem Leben Jesu Christi zu folgen, der unsere Leiden auf sich genommen hat. Die Rettung der Welt geht durch das Leiden, Der hl. Paulus sagt, dass wir das Leiden Jesu Christi ergänzen sollen. Und all die Bitterkeiten, die dazugehören, wenn wir die Treue dem Herrn gegenüber leben, und die uns so viel kosten… Wir werden auch mit Dingen konfrontiert, die wir oft nicht verstehen, körperliches Leiden, psychisches Leiden, geistiges Leiden. All dies müssen wir in der gleichen Perspektive annehmen, welche die Perspektive des Leidens Jesu Christi ist. Wir tragen unser Kreuz mit ihm.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
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Medjugorje – Leuchtturm in einer orientierungslosen Welt

Erneuerung in der Schule Mariens

Seit 2013 ist Pater Miljenko Šteko OFM (geb. 1969) Provinzial des Franziskanerordens in der Herzegowina. An der „Päpstlichen Fakultät Teresianum“ in Rom hat er 2005 das Doktorat auf dem Gebiet der Theologie für Spiritualität erworben. In Medjugorje wirkt er als Pfarrkaplan und Direktor des Informationszentrums „MIR“ Medjugorje. In seinem Beitrag stellt er den Pilgerort als große marianische Schule heraus, in der Abertausende von Menschen im Glauben an Jesus Christus entflammt und zu Aposteln der Neuevangelisierung herangebildet werden. Was ihn am meisten überzeugt, ist die Erfahrung von echter Umkehr und Versöhnung mit Gott. Das größte Wunder von Medjugorje bestehe darin, dass es zum Beichtstuhl der Welt geworden sei.

Von P. Miljenko Šteko OFM

Was kann man derzeit, Anfang 2021, über Medjugorje sagen? Wie kann man es einordnen? Wo stehen wir heute? Um diese Fragen beantworten zu können, muss man Medjugorje von einem sicheren Standpunkt aus betrachten. Etwas, was noch nicht sicher geklärt ist, muss man mit etwas Geklärtem vergleichen. Mit anderen Worten: Obwohl Medjugorje von der Kirche noch nicht als Marienerscheinungsort anerkannt ist, halte ich es für angebracht, die dortigen Ereignisse im Licht der anerkannten Erscheinungsorte zu betrachten. Erst in diesem Kontext und unter Berücksichtigung der Früchte kann man, ohne dem Urteil der Kirche vorzugreifen, sagen oder zumindest vermuten, wo Medjugorje hingehört.

Bei Marienerscheinungen, auch Heiligen- und Engel-Erscheinungen, kann es sich nie um eine Ergänzung oder Erweiterung der übernatürlichen Christus-Offenbarung handeln, weil diese mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen ist. Erscheinungen sind immer nur Aufrufe zur Vertiefung der bereits ergangenen göttlichen Offenbarung, Aufrufe zur Umsetzung des geoffenbarten göttlichen Willens, den die Menschen zu oft vergessen oder vernachlässigen.

Mit ihren Erscheinungen erfüllt Maria den Auftrag, den sie unter dem Kreuz von ihrem Sohn empfangen hat: „Frau, siehe dein Sohn“. Dieses Wort ist gleichbedeutend mit „Frau, siehe deine Menschheit“. Denn in Johannes vertraute Jesus seiner Mutter die ganze Menschheit an. Seitdem übernimmt Maria die mütterliche Sorge für alle Menschen. Sie erfüllt den letzten Willen ihres Sohnes, indem sie von Zeit zu Zeit erscheint und ständig wiederholt, was sie zum ersten Mal bei der Hochzeit zu Kana gesagt hat: „Was Er euch sagt, das tut.“ Tut alles, was Gottes Wille ist. Das ist die dringlichste Botschaft aller Marienerscheinungen.

So haben die Marienerscheinungen einige gemeinsame Merkmale. 1. Durch Erscheinungen ruft Maria die Menschen zur Umkehr und zur Erfüllung des göttlichen Willens auf. 2. Sie bezeugt ihre Mittlerschaft gegenüber der bedrängten und Trost suchenden Menschheit. 3. Sie bestätigt ihre Rolle als Wegbegleiterin zu Christus. Und 4. Sie will den Glauben an ihre Unbefleckte Empfängnis und ihre jungfräuliche Mutterschaft in der Kirche bestärken.

In Medjugorje sind alle diese gemeinsamen Merkmale der anerkannten Marienerscheinungen gegeben. Daneben sind bei den einzelnen Erscheinungen auch jeweils besondere Akzente zu erkennen. So weisen beispielsweise die Visionen der hl. Katharina Labouré darauf hin, dass der unerschöpfliche Gnadenreichtum Christi durch Maria vermittelt wird. Die Marienerscheinungen in Lourdes lassen die Gestalt der Unbefleckten Empfängnis vor allem als siegende Kraft im Kampf gegen die Sünde aufleuchten. In Banneux tritt Maria als „Jungfrau der Armen“ hervor. In Fatima zeigt sie den Seherkindern die Hölle, macht dadurch die Menschheit darauf aufmerksam, dass es ein „zu spät“ geben kann, und ruft die Menschen zur rechtzeitigen Umkehr und Buße auf.

Als Besonderheiten von Medjugorje möchte ich erwähnen: 1. erscheint Maria als „Königin des Friedens“ und 2. ruft sie zum ständigen Gebet, zur Buße und zu den Sakramenten auf. Auf mütterliche Weise bemüht sie sich, die Menschen Christus zuzuführen und für den Himmel zu gebären. Maria ist nicht nur Gottes-Gebärerin, seit der Kreuzigung und Opferung ihres Sohnes ist sie auch Christen-Gebärerin. Für die Erlösung der Welt wirkt sie daran mit, die Menschen nach dem Bild Christi zu formen. Maria will sie zu Gaben gestalten, die Gott gefallen, und sie ihm dann schenken.

Medjugorje ist inzwischen zu einer großen marianischen Schule geworden, in der die Pilger zu Christus-förmigen Menschen herangebildet werden. Alles geht vom Wort Gottes aus – wie bei Maria selbst. Sie hat Christus mit den Worten empfangen: „Mir geschehe nach deinem Wort.“ Und sie will, dass auch ihre Schülerinnen und Schüler, ihre Töchter und Söhne am Wort Gottes festhalten, dass auch in ihrem Leben alles „nach Gottes Wort geschieht“. Sie will, dass wir alle Worte des Herrn bewahren und in unserem Herzen erwägen, so wie sie es getan hat.

In Medjugorje lehrt uns Maria, Zeit zu finden, um schweigend auf das Wort zu hören und es in uns wirken zu lassen, bis es dazu drängt, im Opfer des Lobes und der Tat fruchtbar zu werden. Das Wort Gottes ist ja nicht nur eine Mitteilung von Gedanken und Offenbarungsinhalten. Es ist vor allem die Kraft Gottes, die alles neu macht. Durch das Wirken des Wortes Gottes wird der Mensch von oben geboren in einer Welt, die aufgewühlt ist und leidet, die zerstreut, unglücklich und voller Ängste ist, weil sie nur nach dem Irdischen Ausschau hält und die Ehrfurcht vor Gott verloren hat.

Maria will zunächst die ermüdete Christenheit wieder auf die Ewigkeit hin öffnen und auf das Kommende vorbereiten. Durch Christen, die begeistert ihren Glauben leben, will sie dann die Welt für ihren Sohn gewinnen. So zielt ihr Wirken darauf ab, dass sich die Christen des Reichtums ihres Glaubens wieder bewusst werden, dass sie wirklich wissen, was Glaube, Gnade, Taufe, Ehe, Treue, Gelübde, Priesterweihe und vor allem die hl. Messe, in der das „Brot der Ewigkeit“ gebrochen wird, bedeuten, dass sie die Eucharistie mit Eifer und Glut feiern, dass sie daraus die Konsequenzen ziehen und selber zum Brot für andere werden, dass sie nicht vom irdischen Reichtum leben, sondern sich den Geist Christi zu eigen machen.

Und jeder erneuerte Christ ist eine Frischzelle im Leib der Kirche und im Gefüge der Menschheit. Daher ruft Maria die Christen auf, zu den Ursprüngen und Quellen ihres Glaubens zurückzukehren. Besonders den reichen westlichen Ländern legt sie ans Herz: „Kehrt zurück zu euren ersten zarten Offenbarungen!“, ähnlich wie der Herr in der Offenbarung des Johannes die Gemeinde von Ephesus ermahnt: „Aber ich habe gegen dich: Du hast deine erste Liebe verlassen. Bedenke, aus welcher Höhe du gefallen bist! Kehr zurück zu deinen ersten Taten!“ (Offb 2,4f.).

Aus welcher Höhe sind die Christen in der westlichen Welt gefallen? Aus der Höhe des Glaubens. Ohne Glauben aber taugen die Christen zu nichts. Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen. Durch die Kraft des Glaubens ist Maria Christusbringerin geworden. Durch die Kraft des Glaubens werden auch die Christen zu Christusträgern. Die Christen sind berufen, diese Welt als Gottes Geschöpf zu lieben, „in ihr“ zu bleiben (vgl. Joh 17,11-15) und die Verantwortung für ihren Wiederaufbau und ihre Erneuerung auf den Grundlagen der Gebote Gottes auf sich zu nehmen. Ihr Einsatz aber wird nur im Mittun mit dem Wirken Christi fruchtbar, wenn also ihr Herz im gleichen Takt wie das Herz Christi schlägt. Ohne Christus vermögen sie nichts.

Wenn die Christen aber zu ihrer „ersten Liebe“ zurückkehren, können durch sie Wunder geschehen. Wenn die Welt sieht, dass die Christen ihren Christus wirklich bezeugen, dass sie keiner Schwierigkeit und keinem Leiden ausweichen, dass sie nicht einmal den Tod fürchten, sondern ihm wie einer Verheißung heiter entgegengehen, dass sie gerne ein einfaches und armes Leben auf sich nehmen und Freude finden, indem sie alles miteinander teilen, dass sie bereit sind, ihr Leben sogar für ihre Feinde hinzugeben, dann wird in der Welt eine neue Sehnsucht nach Gott erwachen. Die Christen werden Sauerteig und Licht der Welt sein. Denn die gottfernen Menschen werden erstaunt aufblicken und sagen: „Das ist es, was ich brauche, was ich auf meinen Irrwegen lange gesucht, aber nicht gefunden habe.“ Nur an überzeugten und glaubwürdigen Christen kann die Welt erkennen, dass das Christentum der Weg zum vollkommenen Glück ist. Und dann wird sie selbst daran interessiert sein, auf diesem Weg glücklich zu werden.

Genau das will Maria mit Medjugorje erreichen. Und das ist das eigentliche Wunder, das all diejenigen bezeugen können, die in Medjugorje gelebt und gewirkt haben oder derzeit leben und wirken. Es gibt in Medjugorje etwas, woran nicht gezweifelt werden kann. Medjugorje ist der Beichtstuhl der Welt und ein Modell für die Neuevangelisierung.

Wie wir wissen, geht es in der Kirche immer abwärts, wenn man beginnt, das sakramentale Leben zu vernachlässigen. Wo nicht gebeichtet wird, schwindet das Bewusstsein für die Sünde und damit auch die Sehnsucht nach Reinigung und Vergebung. Gibt es für die Kirche etwas Schlimmeres als ein Leben ohne Sakramente? Ist das nicht eine der größten Versuchungen unserer Zeit?

In Medjugorje geht es aufwärts. Da wird viel gebetet, intensive Katechese betrieben, scharenweise gebeichtet und Buße getan. Es sind unzählige, ergreifende Bekehrungen zu verzeichnen. Tausende und Abertausende von Pilgern haben nach vielen Jahren der Vernachlässigung des geistlichen Lebens in Medjugorje erfahren, was es heißt, wieder einmal eine reine Seele zu haben. In Medjugorje findet echte Neuevangelisierung statt. Noch warten wir auf eine offizielle Beurteilung durch die Kirche. Doch wenn etwas von Gott kommt, wird es sich früher oder später durchsetzen. Gute Dinge brauchen Zeit.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)

Erschütterndes Zeugnis des Bischofs von Banja Luka

Die Kriegstragödie auf dem Balkan

1985 wurde Dr. Franjo Komarica zum Weihbischof und 1989 zum Bischof von Banja Luka ernannt. Seit 2010 ist er Vorsitzender der Bischofskonferenz von Bosnien und Herzegowina. Dieses Amt hatte er auch schon von 2002 bis 2005 bekleidet. Die Möglichkeit, aktiv am Jubiläumskongress „40 Jahre Medjugorje“ mitzuwirken, betrachte er als „klares Zeichen der Vorsehung Gottes und der mütterlichen Liebe der seligen Gottesmutter Maria, der Königin des Friedens“. Im Licht der Ereignisse von Medjugorje schilderte er seine Erfahrungen mit dem Balkankrieg. Die Tragödie brachte er mit der Abkehr des Menschen von Gott und der Erfordernis einer neuen Evangelisierung in Verbindung. Die Stellung Medjugorjes verdiene dabei eine klare und entschiedene Unterstützung der verantwortlichen kirchlichen Autorität. Der Vortrag in gekürzter Form.

Von Bischof Franjo Komarica

Keiner von uns hat die Zeit oder die Haut, in welcher er lebt, selbst gewählt. Auch ich nicht. Als gebürtiger Banjalukaner mit sehr alten Wurzeln und als Angehöriger der dortigen katholischen Kirche, die durch mehrere Jahrhunderte türkischer Herrschaft eine wahre Märtyrerkirche geworden ist, bin ich in einer kinderreichen Familie geboren und von tiefgläubigen Eltern aufgezogen worden. Die Schulbildung erhielt ich in dem damaligen kommunistisch-atheistischen Staat, teilweise im deutschsprachigen Raum. Als ich 1985 Weihbischof von Banja Luka wurde, erlebte ich noch die starke Behinderung der Tätigkeit der Kirche vonseiten der kommunistischen Regierung mit, danach den Zerfall dieses unmenschlichen Staates und die Morgenröte einer kurz andauernden Freiheit, verbunden mit den ersten demokratischen Wahlen. Dann kam – wie eine furchtbare, niederschmetternde Lawine – der aufgezwungene „Stellvertreterkrieg“ der Großmächte auf uns zu.

Kriegsverbrechen vor der Weltöffentlichkeit

Die große Kriegstragödie meiner Heimat und besonders der Katholiken in meiner Diözese Banja Luka sowie in der benachbarten Erzdiözese Sarajewo hat sehr deutlich gezeigt, in welcher Gefahr sich die Europäer heute tatsächlich befinden. Der Mensch, der den Sinn seines eigenen Lebens aus den Augen verliert und sich nur noch als Produzent und Konsument egoistischer Bedürfnisse versteht, verspielt seine sozialen Beziehungen und konsumiert am Ende sich selbst.

Die Bedingungen für eine menschliche Kultur können nur dadurch geschaffen werden, dass alle Menschen guten Willens in Freiheit der Wahrheit über die Würde des Menschen und den daraus folgenden Rechten und Freiheiten, aber auch Pflichten zustimmen. Wo das nicht geschieht, entsteht – das ist meine Erfahrung – sehr leicht eine egoistische Kultur, die unvermeidlich in die Leere und in die Entmutigung führt.

Das Ziel von uns Christen aber müsste eine Gesellschaft sein, die gerechter, brüderlicher und solidarischer wird!

Vielen, allzu vielen Menschen in meiner Heimat sind durch das verhängnisvolle Verhalten zeitgenössischer Egoisten fast alle Menschenrechte und Freiheiten weggenommen worden, am Ende des hochzivilisierten 20. Jahrhunderts, und zwar vor den Augen und den Haustüren der größten Humanisten und Demokraten der Gegenwart.

Einsatz der Kirche für die Menschenrechte

Die Kirche Christi ist ihrer Natur nach die Quelle des wahren Heils für jeden Einzelnen und für die ganze Menschheit. Kein Mitglied der Kirche sollte sich gegenüber seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft, zu welcher er gehört, als unbeteiligt betrachten.

Im Geist der offiziellen Lehre des Konzils und der Päpste mussten wir Bischöfe in diesem Land sowohl während der tragischen Kriegsjahre 1991 bis 1995 als auch in der Nachkriegszeit Farbe bekennen. Als einzelner Bischof hatte ich hunderte Male (gemeinsam mit den anderen Mitbrüdern im bischöflichen Dienst über 30 Mal) die Stimme erhoben: für die Bewahrung des Friedens, für Verzeihung und Versöhnung, für die Achtung der Menschenwürde und für die Verteidigung der Menschenrechte so-wie der bürgerlichen Rechte und Freiheiten, der individuellen wie der kollektiven, gegen jede Art von Gesetzlosigkeit, Brutalität und Missbrauch der politischen Macht, ganz gleich, von welcher Seite das Unrecht kam.

So hatte ich bereits am 1. Januar 1992, als es in Bosnien und Herzegowina noch keinen Krieg gab, sondern nur im benachbarten Kroatien, in meiner Kathedrale zu Ban-ja Luka im Beisein von Repräsentanten der Serbisch-orthodoxen Kirche und der Islamischen Gemeinschaft sowie der Europäischen Beobachtermission gesagt: ,,Von dieser Stelle aus, wo wir uns zur ersten von drei interkonfessionellen Gebetsversammlungen für den Frieden in unserer Stadt Banja Luka zusammengefunden haben, bitte ich Sie alle, meine lieben Brüder und Schwestern im Glauben und alle meine verehrten Mitbürger, bei möglichen Uneinigkeiten unermüdlich die ganze Palette notwendiger, dauerhafter und echter Lösungen in Anwendung zu bringen bzw. nach allen entsprechenden Lösungen zu suchen. (…) Ich appelliere an alle Verantwortungsträger in unserer Stadt, unserem Gebiet und unserer Republik Bosnien und Herzegowina, dass sie sich entsprechend ihren edlen menschlichen Qualitäten und ihrer religiösen Überzeugung nicht durch die engeren Interessen ihrer jeweiligen Partei oder Volksgruppe bei der Erfüllung ihrer überaus wichtigen hauptsächlichen Aufgabe behindern lassen: den Frieden zu erhalten und die Ausbreitung der Kriegsgräuel und Kriegsleiden in unserer Mitte zu verhindern.“

In meinem Hirtenbrief zu Ostern im Kriegsjahr 1994 hatte ich geschrieben: „Auch diese jüngsten großen Prüfungen, die in den letzten beiden Jahren des Kriegssturms der großen Familie unseres ganzen Bistums auferlegt wurden, konnten nicht den Glauben an den dreieinigen Gott und die Hoffnung auf seine Hilfe und seinen Schutz ersticken. Vielmehr haben sich viele gerade in diesen schweren Zeiten wieder dem lebendigen und wirksamen Glauben ihrer Eltern und Voreltern zugewandt und ihn durch Gebet und den Empfang der Sakramente gestärkt. Sie haben in der Praxis gezeigt, dass sie sich nicht nur auf die eigene Kraft und die eigenen Fähigkeiten verlassen wollen, sondern vor allem Hilfe und Schutz bei unserem gütigen Gott suchen. Sie sind bereit, lieber Böses zu ertragen, als anderen Böses zuzufügen – wozu ich Sie oft angespornt hatte –, und Sie bemühen sich sogar aufrichtig, das schwerste Gebot Christi zu erfüllen, das lautet: ,Liebet eure Nächsten! Tut Gutes denen, die auch hassen!‘ (Lk 6,27).“

Vergebliche Hilferufe in dramatischer Lage

In meinem Appell vom 23. Februar 1993 an den damaligen Führer der bosnischen Serben Radovan Karadzic, schrieb ich: „Ich kann nicht glauben, dass Sie als orthodoxer Christ mit Gewalt den größten Teil eines katholischen Bistums, im konkreten Falle meines Bistums Banja Luka, vernichten wollen, aber ausgerechnet ein solcher Vorgang spielt sich in diesem Gebiet gerade ab! (…) Die derzeitige Lage in meinem Bistum ist in der Tat dramatisch! Fast die Hälfte der Gläubigen hat wegen der Wahnsinnsidee der Schaffung ethnisch reiner Gebiete bereits ihre Häuser verlassen müssen! Die andere Hälfte hat wegen der ununterbrochenen Bedrohung von Leib und Leben, der völligen Entrechtung und der unmittelbaren Gefahr einer Hungersnot (die örtlichen Behörden haben unsinnigerweise die Zustellung dringend benötigter Hilfslieferungen über die Caritasorganisation unseres Bistums unterbrochen) die Grenzen der Geduld erreicht. (…) Ich versichere Ihnen, dass der größte Teil meiner Gläubigen, soweit ich sie kenne, wirklich imstande und willens ist, mit ihren Mitmenschen, mit anderen Völkern und mit Angehörigen anderer religiöser Gemeinschaften und somit auch mit orthodoxen Serben zusammenzuleben. Lassen Sie nicht zu, dass Sie, der derzeit höchste Verantwortungsträger des serbischen Volkes in Bosnien und Herzegowina, mit schwerem Makel verhaftet werden und dass Sie die Schuld dafür tragen müssen, dass Sie Zehntausende friedensstiftender gläubiger Christen, Katholiken, vertrieben und ausgerottet haben. (…) Bei einem derart abscheulichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit würden Sie kein ruhiges Gewissen, geschweige denn den Segen des Herrn haben!“

Und in einem Schreiben vom 17. Mai 1995 an den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl habe ich geschrieben: „Wegen der unerträglichen Schikanen und des Entzugs fast aller Grundrechte und Freiheiten durch die Serben waren sehr viele Menschen (80-90 %) gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und als Flüchtlinge und Vertriebene ohne sichere Zukunft in verschiedenen europäischen Ländern einschließlich Deutschland zu leben.

Hier bei uns hat es keine kriegerischen Zusammenstöße gegeben, wir haben uns absolut friedlich verhalten und unseren Nachbarn nichts Böses angetan. Trotzdem verhält man sich uns gegenüber so, als ob wir keine Menschen seien. Während dieser ganzen Zeit unserer Agonie hat sich trotz unserer lauten Hilferufe niemand für uns eingesetzt! Alle Politiker und alle Menschenrechtkämpfer haben uns allein gelassen! (…) Warum lässt man zu, dass sich bei uns brutaler Faschismus und Rassismus austoben, ohne wirklich danach zu fragen, was sich hier tatsächlich abspielt? Viele Male habe ich versucht, hohe Politiker in Kroatien und in Europa für unsere hoffnungslose Lage zu interessieren. Die bosnischen Politiker haben mir schon vor längerer Zeit gesagt, dass sie für uns ,nichts tun können‘! – Leider ist bisher alles umsonst gewesen! (…) Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, diesen Hilferuf eines katholischen Bischofs, des Bischofs eines europäischen (!) Bistums, Ihre Beachtung zu schenken, auch deshalb, weil Sie mir vergangenes Jahr (…) versprochen haben, unser Anwalt zu sein!“

Und in einem dramatischen Appell vom 16. Juni 1995 „an alle politische Verantwortung tragenden Persönlichkeiten Europas und der Welt, alle Mitglieder humanitärer Organisationen, alle Vertreter religiöser Gemeinschaften und alle Menschen humaner und edler Gesinnung“ habe ich geschrieben: „Ich wende mich erneut an Sie zum wer weiß wievielten Male, im Namen einiger hunderttausend Landsleute und anderer, die unsere Nachbarn sind, im Namen von Menschen, denen man bereits mehr als tausend Tage lang grundlos das Recht streitig macht, Menschen zu sein! (…) Obwohl es nun schon vier Jahre her ist, dass man uns fast al-le unsere Rechte (besonders das Recht auf unser Leben, auf Eigentum, auf Wohnung, auf Heimat, auf Arbeit, auf sozialen Schutz, auf Gleichberechtigung, auf lebensnotwendige Güter, auf religiöse Zugehörigkeit usw.) entzogen hat bzw. damit droht, und obwohl wir unzählige Male an alle auf politischem und humanitärem Gebiet führenden Persönlichkeiten des In- und Auslands appelliert haben, wendet sich unsere äußerst dramatische Lage nicht zum Besseren!“

Zuflucht zur Gottesmutter Maria

In der äußerst dramatischen Situation für die übriggebliebenen etwa zwanzigtausend Katholiken der Stadt Banja Luka und Umgebung hatte ich vor dem letzten Pogrom meine Gläubigen in meinem Brief vom 5. August 1995 zu einer neuntägigen Andacht zu Ehren der Mutter Gottes aufgerufen. Darin habe ich geschrieben: „Noch immer dauern die schweren Zeiten des Kriegsleidens an. Viele Herzen sind von Angst und Schrecken erfüllt. Wir alle warten sehnsüchtig auf Hilfe und Tröstung, die wir nötig haben. Das wirksamste Mittel gegen Beklommenheit, Angst und Pessimismus sind das Gebet und der Glaube an Gottes Gegenwart in unserem Leben. (…)

Vor uns liegt der uns so am Herzen liegende Feiertag zu Ehren der Mutter Gottes – Mariä Himmelfahrt. Die heilige Jungfrau Maria ist auch für unser Volk die zuverlässigste Anwältin und getreueste Beschützerin. Bei ihr haben schon unsere Vorfahren die ganze lange und stürmische Geschichte hindurch bei Gefahren Zuflucht gesucht. (…) Die gemeinsamen Anliegen unserer Gebete und unseres Fastens sollten sein: ein gerechter Friede in unserem Heimatland, unsere Abkehr vom Geist des Hasses und der Rache, unsere Bereitschaft zur Vergebung und zur Menschlichkeit gegenüber denen, die uns Böses antun, die Fürbitte für alle, die in diesem Krieg umgekommen oder auf irgendeine andere Weise zu Opfern von Unheil geworden sind, und die Bitte um Hilfe für alle, die durch diesen Krieg von Unglück heimgesucht worden, zu Flüchtlingen geworden und in Not geraten sind.“

Und schließlich habe ich in einer Botschaft vom 24. November 1995 zum Friedensvertrag von Dayton ,,an alle sich im Gebiet des Bistums und im Exil aufhaltenden Geistlichen und Ordensleute und die anderen Gläubigen der Diözese Banja Luka“ geschrieben: „Wir alle kennen die Worte göttlicher Wahrheit aus der Heiligen Schrift, die lauten: ,Frieden verkündet der Herr seinem Volk, seinen Frommen, denen, die mit ganzem Herzen zu ihm zurückkehren‘ (vgl. Ps 85,9). Daraus ergibt sich für uns, wenn wir uns eines echten Friedens erfreuen wollen, einen Frieden, den nur Gott uns geben kann, die Notwendigkeit, uns wirklich mit ganzem Herzen Gott zuzuwenden, anstatt den falschen Göttern dieser Welt und selbsterwählten und selbsternannten Götzen hinterherzulaufen!“

Folgen des Krieges für die Diözese Banja Luka

Die Diözese Banja Luka im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina, eine der vier Bistümer im Land, hatte vor dem Krieg, also im Jahr 1991, ca. 125.000 Katholiken. Davon gerieten gleich zu Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina ca. 80.000 Katholiken unter die Kontrolle der bosnischen Serben. Bis Herbst 1995 wurden davon über 90 % vertrieben. Am Ende des Krieges gab es auf dem Gebiet unter der Herrschaft der bosnischen Serben nur noch 7.000 Katholiken, heute sind es weniger als 4.000!

Obwohl – dank dem friedlichen Verhalten der katholischen Bevölkerung – auf dem Gebiet der Diözese keine bewaffneten Kämpfe geführt wurden, sind über 1.000 Katholiken ermordet worden, davon fünf Pfarrer, ein Ordensmann und eine Ordensfrau. In den Konzentrationslagern waren sieben Priester und Tausende von Katholiken.

Völlig zerstört – und zwar plangemäß und absichtlich – wurden 56 Kirchen, Pfarrhäuser und Klöster – davon 16 Pfarrkirchen. Weitere 65 kirchliche Objekte – Kirchen, Pfarrheime und Klöster wurden schwer beschädigt, außerdem 83 leicht. Das sind insgesamt 98 % aller kirchlichen Gebäude. Ein Teil des kirchlichen Eigentums wurde enteignet und erst nach jahrelangem Ansuchen wieder zurückgegeben.

Für die Ermordung der katholischen Gläubigen und Priester sowie für die Zerstörung der kirchlichen Objekte und Strukturen in der Diözese Banja Luka wurde in all den Nachkriegsjahren niemand für verantwortlich erklärt und entsprechend auch kein Schadensersatz geleistet. Noch immer bemühen wir uns vergeblich um die Rückgabe entführter und getöteter Katholiken, beispielsweise von Pfarrer Ratko Grgic, der im Juni 1992 in seiner Pfarrei Nova Topola bei Bosanska Gradiska entführt und anschließend ermordet worden ist.

Der Friedensvertrag von Dayton vor 25 Jahren, mit dem der Krieg beendet wurde, sah auch eine ausreichende politische, rechtliche und materielle Unterstützung für die Rückkehr Hunderttausender von Katholiken in ihre ursprüngliche Heimat vor. Dies wäre für die katholische Kirche in Bosnien und Herzegowina von existenzieller Bedeutung gewesen. Leider wollte man in all den Nachkriegsjahren diese äußerst wichtige Problematik weder politisch noch rechtlich lösen, geschweige denn materiell unterstützen. Von den Gremien wurde die Rückkehr durch administrative Barrieren behindert und viele Katholiken, die unmittelbar nach dem Krieg zurückkehren wollten, gaben ihr Vorhaben aufgrund der Schikanen und unüberbrückbaren Schwierigkeiten auf.

Mit unseren Priestern und Mitarbeitern haben wir Rückkehrwilligen geholfen, Häuser und Wohnungen wiederherzustellen. So haben wir in unserer Diözese etwa 4.000 Einheiten geschaffen. Danach begannen wir die zerstörten Kirchen wiederaufzubauen. Dennoch fehlen in meiner Diözese drei Viertel der einheimischen Katholiken, im ganzen Land mehr als die Hälfte. Dies wird verheerende Folgen für die Zukunft nicht nur von Bosnien und Herzegowina, sondern von ganz Südosteuropa haben.

Die Bedeutung Medjugorjes für die Neuevangelisierung

Wir sind Zeugen, wie sich in unserer Zeit eine areligiöse Mentalität ausbreitet und das Zusammenleben immer mehr beherrscht. Sie gründet in der Meinung, es genüge, alle Menschen wohlhabend zu machen und die ökonomisch-technische Entwicklung fortzusetzen, um den Menschen mehr Mensch werden zu lassen. Aber eine seelenlose Entwicklung kann den Menschen nicht befriedigen. Wenn der Sinn für Gott schwindet, wird auch der Sinn für den Menschen bedroht. Das Zweite Vatikanische Konzil stellte fest: „Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts. (…) Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich“ (GS 36).

Wenn der Mensch lebt, ,,als ob es Gott nicht gäbe“, kommt ihm nicht nur der Sinn für das Geheimnis Gottes, sondern auch für das Geheimnis der Welt und seines eigenen Seins abhanden. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen führt unvermeidlich zum praktischen Materialismus, in dem Individualismus, Utilitarismus und Hedonismus gedeihen. Auch hier offenbart sich die ewige Gültigkeit dessen, was der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt: „Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so dass sie tun, was sich nicht gehört“ (1,28).

Wenn der Mensch die Sehnsucht nach Glück, die in seinem Herzen brennt, stillen möchte, dann muss er seine Schritte zu Christus hin lenken. Christus ist nicht nur der gute Meister, der uns den richtigen Lebensweg auf dieser Erde weist. Er ist zugleich auch der wahre Zeuge für die endgültige Bestimmung, die der Mensch in Gott selbst hat. Er ist der Zeuge für die Unsterblichkeit des Menschen. In seiner Auferstehung ist Christus endgültiger Sieger über den Tod, aber auch ständiges „Zeichen des Widerspruchs“ (Lk 2,34) geworden – gegenüber allen Programmen, die unfähig sind, den Menschen über die Grenzen des Todes hinauszuführen. All diesen Programmen, Weltanschauungen und Ideologien entgegnet Christus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25).

Die Kirche Christi darf den Menschen die Frohe Botschaft nicht vorenthalten, die Botschaft, dass sie von Gott geliebt sind und dass ihnen in Jesus Christus das Heil angeboten ist, die volle und echte Befreiung vom Bösen, von der Sünde und vom Tod, das „neue Leben“, d.h. ein göttliches und ewiges Leben. Die Neuevangelisierung, welche dieses Jahrhundert zu einem Frühling des Evangeliums machen kann und soll, wird weitgehend davon abhängen, in welchem Maß sich die Laien ihrer Taufberufung und ihrer Verantwortung für das Evangelium Jesu Christi bewusst sind. Die spezielle Aufgabe der Laien ist die Neuevangelisierung der Ehe und Familie, der Jugend, der Kultur und des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Dazu brauchen sie notwendig die entsprechende Führung und die Ermutigung von der Seite der Bischöfe und der Priester, sowie auch der Ordensleute, die stets in Einheit mit ihrer Ortskirche, aber auch mit der Universalkirche handeln sollen. Dabei müssen wir uns alle bewusst sein, dass der Heilige Geist die Hauptkraft der Neuevangelisierung ist und Einheit unter den Mitgliedern der Kirche Christi bewirkt.

Die Jungfrau Maria war von Gott dem Vater auserwählt und bestimmt, die Mutter des Erlösers der Menschheit zu sein. Sie erfüllt ihre Berufung in ständigem Zusammenwirken mit dem Heiligen Geist. So fährt sie fort, die ihr von Christus anvertraute Mutterschaft in der Kirche auszuüben. Sie galt und gilt in der Kirche als Frau, die der Stimme des Heiligen Geistes gehorsam ist, als Frau der Stille und des Zuhörens, als Frau der Hoffnung gegen alle Hoffnung. So wurde sie vom hl. Papst Paul VI. als „Stern der Evangelisierung“ bezeichnet.

Wenn wir all das Gesagte auf Medjugorje, eines der jüngsten, weltbekannten Marienheiligtümer anwenden, so können wir zurecht behaupten, dass Medjugorje eine hohe und im Hinblick auf Bekehrungen, Beichten und geistliche Berufe besonders wertvolle Stellung bei der Neuevangelisierung einnimmt. Die 40-jährige Praxis der liturgischen Pastoral und die mit ihr verbundenen unzähligen, weltweit verbreiteten geistlichen Früchte sind ein kostbares, einmaliges, heilswirkendes Angebot Gottes an die Menschen unserer Zeit. Dieser Beitrag Medjugorjes für die Neuevangelisierung der Welt verdient mit Recht eine entsprechende, klare und entschiedene Beherzigung und auch Unterstützung vonseiten der gesamten Kirche, insbesondere vonseiten der verantwortlichen kirchlichen Autoritäten.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
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Die Glaubenskrise und die Weite der göttlichen Perspektive

Das Bild von der „Kirche im Exil“

Erzbischof Dr. Karl Braun vergleicht die Situation der Kirche in der säkularisierten Gesellschaft von heute mit der „babylonischen Gefangenschaft“ des Volkes Israel. Die Erfahrung des Exils, wie sie sich in den Gebeten und prophetischen Texten des Alten Testaments widerspiegelt, habe damals zu einer tiefgehenden Glaubenserneuerung geführt. So könne das biblische Bild von der „Kirche im Exil“ nicht nur helfen, Wunden heilen und in pastoraler Depression trösten, sondern unseren verengten Horizont weiten und angesichts der nicht zu verleugnenden Krise der Kirche eine göttliche, heilsgeschichtliche Perspektive eröffnen.

Von Erzbischof em. Karl Braun

Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit sollten wir ein bisher wenig betrachtetes biblisches Bild in den Blick nehmen: das Bild vom Volk Gottes im Exil.

Israel im fremden Land

Das Exil – die „babylonische Gefangenschaft“ – gehört zu den grundlegendsten Erfahrungen des Volkes Israel. Es musste mitansehen und erfahren, wie alles, was seine Identität ausmachte, angefochten wurde. Wir tun uns heute vielleicht deshalb schwer damit, dies zu verstehen, weil Heimat und eine durch Orte, durch eine Landschaft, durch ein Klima und durch regionale Bräuche und Erzähltraditionen geprägte Identität unter dem Anspruch des Multikulturellen ihre Kraft verloren haben. Aber die Bedeutung von Heimat ist, wie der Philosoph Ottfried Höffe betont, fundamental.[1] Das Bedürfnis nach Heimat ist Teil der Natur des Menschen. Nicht selten wird dies erst dann deutlich, wenn man sein vertrautes Umfeld verlassen muss. Israel verliert das „Land der Verheißung“, den Tempel in Jerusalem, d.h. den Ort der Anwesenheit und Ansprechbarkeit Gottes, das tradierte Bild eines treuen, seinem Volk beistehenden Gottes. 1800 km durch die Wüste weggeschleppt musste es nun im fremden Land unter heidnischer Bevölkerung leben: Exil! Der religiöse Schock war groß, der Schmerz namenlos.

Wir beten und singen den Psalm, der unvergleichlich tief zum Ausdruck bringt, was in Israel während des Exils vorging: „An den Flüssen Babylons saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land. … Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn, fern, auf fremder Erde?“ (Ps 137,1-4). Die alten Lieder, die von Gottes Treue und Beistand im „Land der Verheißung“ erzählten und davon, dass Gott in Israels Mitte wohne: all diese Lieder müssen verstummen, sie trösten nicht mehr. Lange hat Israel für sein Geschick keine Antwort, außer der Sprache der Tränen und Fragen über Fragen. Ist das Exil etwa Strafe für Schuld? Manches Klagelied sieht es so: „Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind. … Denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen und hast uns der Gewalt unserer Schuld überlassen“ (Jes 64,5b.6b). Was haben wir falsch gemacht? Was sollen wir in dieser Situation tun? Klagen? Uns selbst bemitleiden? Resignieren? Den Glauben an Gottes Treue endgültig aufgeben?

Die Kirche im Exil

Die Analogie zu den Herausforderungen des Christentums unter den Bedingungen der (post)modernen Welt springen ins Auge: Das wandernde Volk Gottes ist auf dem Weg in die Minderheit unter den Völkern. Exil heißt ja nicht unbedingt, tausende von Kilometern weit weg von der angestammten Heimat leben zu müssen. Kirche im Exil heißt: unter den uns vom Glauben her immer fremder werdenden gesellschaftlichen Bedingungen als Minderheit zu leben. Die Zeit der Volkskirche ist zu Ende. Das „Haus voll Glorie“ hat Risse bekommen. Je konsequenter wir den Glauben leben, desto weniger versteht uns die säkularisierte Umwelt, desto mehr stehen wir im Kontrast zu ihr. Vieles, was wir aus dem Glauben heraus leben und feiern, löst bei unseren „smarten“ Zeitgenossen nur ein mitleidiges Lächeln aus. Bei der Feier von Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen geht es oft mehr um folkloristische Rituale oder um das Ausdrücken persönlicher Befindlichkeit als um Anspruch und Verpflichtung. Die Situation ist oft genug und vielleicht zu oft beklagt worden. Und weil es in unseren Tagen so viel kirchliches Selbstmitleid, so viel pastorale Larmoyanz, so viel Rat- und Hilflosigkeit gibt, ist es erhellend zu fragen, wie Israel seine Exil-Situation gelebt und verarbeitet hat. Wir fragen danach im Glauben daran, dass wir – die Kirche – als in den Ölbaum Israels eingepfropftes Reis an Israels Erfahrungen und Verheißungen teilhaben dürfen (vgl. Röm 11,17b).

Das Klagegebet des Volkes Gottes

Ja, Klage hat ihren berechtigten Ort da, wo Israel sein Exil, sein bedrückendes Geschick nicht mehr versteht. Die Klage ist oft die einzig mögliche Sprache, um nicht ganz zu verstummen, ein stotternd-stammelnder Versuch der Auseinandersetzung mit der so herausfordernden Situation. Klage, die an dem Israel der Bibel Maß nimmt, ist alles andere als orientierungsloses, hoffnungsloses Lamentieren. Die biblische Klage ist getragen von der tiefen Sehnsucht, mit Gott, der so fremd und so fern geworden ist, in Verbindung zu bleiben, den Glauben nicht zu verlieren, die Hoffnung nicht aufzugeben. Denn die biblische Klage hat Gott zum Adressaten und hilft uns, unsere Situation im Angesicht Gottes wahrzunehmen. Statt also, wie es in kirchlichen Kreisen so selbstverständlich geworden ist, über die Verhältnisse zu lamentieren und entweder in der „ach-so-bösen Welt“ oder in den „ach-so-erstarrten Strukturen“ Sündenböcke zu suchen, sollten wir von Israel lernen, unsere durchaus berechtigte Klage über die Exil-Situation der Kirche als Gebet vor Gott zu tragen und damit uns selbstkritisch ins Spiel zu bringen. Das Exil ist dabei nicht der Ort und die Zeit, alte volkskirchliche Verhältnisse heraufzubeschwören. Wohl aber ist es der Ort und die Zeit, im Stundengebet der Kirche, in unseren Gemeindegottesdiensten mit Israel zu klagen: „Deine heiligen Städte sind zur Wüste geworden, Zion eine Wüste, Jerusalem eine Öde. Unser heiliger, herrlicher Tempel, wo unsere Väter dich priesen, ist ein Raub der Flammen geworden; alles, was uns lieb war, liegt in Trümmern. Kannst Du dich bei all dem zurückhalten, Herr? Kannst Du schweigen und uns so sehr bedrücken?“ (Jes 64,9-11).

Wo kommt solche Klage heute bei uns vor, in unseren Gemeinden, in unserem persönlichen Gebet? Wir kennen sie aus dem adventlichen „Rorate coeli“. Leider haben wir uns durch das Schema „Verheißung und Erfüllung“ verleiten lassen, dieses Klagelied historisierend zu beten, als ob nur Israel Grund zur Klage habe, die Kirche aber allen Grund zum Jubel. Nein! Weniger als in früheren Zeiten volkskirchlicher Fülle lässt sich verbergen, dass die Kirche wie Israel in einer schmerzlichen Erfüllungslücke leben muss. Sich dieser Realität in der Gottklage zu stellen, ohne jede Verbrämung und falsches Selbstmitleid, dazu hilft das Klagegebet der christlichen Gemeinde, wenn es an der Klage Israels Maß nimmt.

Ehrliches Schuldbekenntnis

Solch biblische Klage in der Kirche, in den Pfarrgemeinden, in den Gottesdiensten einzubringen, ist notwendig – im wahrsten Sinn des Wortes Not wendend, weil sie zum Heil führt. Der Apostel Paulus bringt es auf den Punkt: Larmoyanz ist weltliche Traurigkeit, die nicht zum Leben führt. „Gottgewollte Traurigkeit“, die das Exil in uns auslöst, bewirkt Sinnesänderung zum Heil und braucht nicht bereut zu werden (vgl. 2 Kor 7,8-16). Diese Traurigkeit ist von Gott geschickt, ist Gottesgeschick, nicht blindes Schicksal, weil es nach dem ganzen Lebenszeugnis Israels – in der mit uns Christen gemeinsamen Bibel und in seiner leidvollen Geschichte – Gott ist, der sein Volk ins Exil schickt wegen seiner Schuld! Beides, Gott, der uns ins Exil schickt, und unsere Schuld als Grund des Exils: das sind Wahrheiten, die heute niemand gerne hört. Aber in der Schrift lesen wir es: „Ich habe sie von Jerusalem nach Babel weggeführt“ (Jer 29,4).

Und an anderer Stelle wird der gleiche Prophet, der die Katastrophe des Exils selbst mit-erlitten hat, noch deutlicher: „So spricht der Herr: Fürwahr, diesmal schleudere ich die Bewohner des Landes hinweg“ (Jer 10, 17). Wir sollten diese nur schwer aufzunehmenden biblischen Gedanken um der theologischen und spirituellen Ehrlichkeit willen nicht ausblenden. Sonst geschieht das, was wir zur Genüge unter uns feststellen müssen: eine hoffnungslose Selbstbemitleidung, die nicht weiterhilft. Schauen wir nochmals in das bereits erwähnte „adventliche“ Klagelied Israels: „Wie Aussätzige sind wir alle geworden, unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid. Wie Laub sind wir alle verwelkt, unsere Schuld trägt uns fort wie der Wind. … Herr, zürne uns doch nicht allzu sehr, denk nicht für immer an unsere Schuld!“ (Jes 64,5.8.)

Mit der Traurigkeit des Exils will Gott eine Sinnesänderung zum Heil in seiner Kirche und damit in uns bewirken, d.h. Eingestehen unserer Schuld vor Gott. Die „Kirche im Exil der modernen Gesellschaft“ hat die Bitte um Vergebung nötig! Es wäre wichtig, dass die Bitte um Vergebung, die der hl. Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 ausgesprochen hat, nicht ein Lippenbekenntnis bleibt, sondern auf die Ebene unserer Bistümer und Pfarrgemeinden „herunterbuchstabiert“ wird. Wir müssen uns fragen, wo wir als Kirche vor Ort schuldig geworden sind und immer noch werden.

Chance zum Neuanfang

Der Blick auf Israels Exil-Erfahrung hilft der Kirche, die Krise des Gottesvolkes unserer Tage als einen uns von Gott zugemuteten Weg zu begreifen. Eine bußfertige Kirche erfährt – wie Israel – mitten im Exil der (post)modernen Gesellschaft, mitten in der Erfahrung der Gottesferne, ja manchmal der Gottesverdunkelung, dass Gott da ist. Er verfolgt für uns „Pläne des Heils und nicht des Unheils“, er will uns „Zukunft und Hoffnung geben“ (Jer 29,11).

Eine bußfertige Ortskirche, eine selbstkritische Pfarrgemeinde erfährt das Exil in der modernen Gesellschaft dann nicht einfach als Strafgericht Gottes, sondern als Herausforderung, Gott neu zu suchen. Die so schwer zu verstehende Zusage des Propheten Jeremia gilt auch heute: „Denn so spricht der Herr: Fürwahr … Ich bringe sie in Bedrängnis, damit sie mich finden“ (Jer 10,18). Und weiter heißt es: „Wenn ihr mich ruft, wenn ihr kommt und zu mir betet, so erhöre ich euch. Sucht ihr mich, so findet ihr mich. Wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt, lasse ich mich von euch finden – Spruch des Herrn“ (Jer 29,12-14).

In der Spiritualität des Exils liegt die Chance, im 21. „christlichen Jahrhundert“ unsere Situation als Zumutung Gottes zu begreifen und als Volk Gottes in der derzeitigen Bedrängnis neu zu entdecken, was unsere eigentliche Berufung ist. „Bemüht euch um das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl. So spricht der Herr der Heere, der Gott Israels: Lasst euch nicht täuschen von den Propheten unter euch, und von euren Wahrsagern. Hört nicht auf die Träume, die sie träumen. Denn Lüge ist das, was sie euch in meinem Namen weissagen, ich habe sie nicht gesandt – Spruch des Herrn“ (Jer 29,7-9).

Heilssakrament für die Menschen

Also nicht Rückzug, Flucht aus der Gesellschaft, nicht Verdammung der Welt, deren Teil wir ja selbst sind, sondern: Bemühen um das Heil der Menschen, Teilnahme an dem, was die Menschen bewegt, und nicht zuletzt Gebet für die Menschen – darin liegt unsere Berufung. Und wir sollten uns auch nicht täuschen lassen von falschen Propheten, die dazu raten, uns der Welt und dem Zeitgeist einfach anzugleichen.

Israel im Exil hat uns vorgelebt, besser: vorgelitten, dass uns Christen allein der Glaube an den dreieinigen Gott und die daraus erwachsende Unterschiedenheit in der Welt wirk-mächtig macht, dass aber Anpassung wirk-ohnmächtig werden lässt. So ist die Kirche im Exil der (post)modernen Gesellschaft „Heilssakrament für die Welt“ (vgl. GS 48,2; LG 1), wie das Konzil sagt. Pointierter: Erst eine Kirche, die die Bedrängnis des Exils als gottgewirkt und selbstkritisch annimmt, findet neu zu Gott, kann sich den Herausforderungen vertrauend stellen und so neu entdecken, was heute ihre Berufung ist. Wer sonst, als eine Kirche, die im Exil ihre Berufung neu gefunden hat, kann der (post)modernen Gesellschaft von Gott und damit vom Heil künden? Gottes Zusage gilt: Die Kirche ist das Heilssakrament für die Menschen. Darum muss eine Kirche, die das „Exil“ als ihre heute von Gott zugemutete Situation bewusst annimmt, nicht resignieren. Im Gegenteil: Sie darf voll Zuversicht in der modernen Gesellschaft ihre eigentliche Berufung leben, Heilssakrament für die Menschen zu sein. Und wenn uns dann wieder bewusst wird, dass die Pfarrei, also die „paroikía“, die in der Fremde, im Exil lebende christliche Gemeinde bezeichnet, dann gewinnt der mittelalterliche Mariengruß „Salve Regina“ neue, aktuelle Bedeutung, wenn wir da von uns selbst als „verbannte Kinder Evas“ sprechen:

„… Mutter der Barmherzigkeit… Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas, zu dir seufzen wir, trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen… und nach diesem Elend (= Leben in der Fremde) zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes…“

Zu ihm aufblickend werden wir Weg, Wahrheit und Leben finden (vgl. Joh 14,6).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Otfried Höffe: Die fundamentale Bedeutung von Heimat für den Menschen, Renovatio, 19.02.2020, siehe unter renovatio.org/2020/02/otfried-hoeffe-die-fundamentale-bedeutung-von-heimat-fuer-den-menschen/ – abgerufen am 22.03.2020

Ein Virus lässt uns einen neuen Blick auf den Sinn unseres Lebens werfen

Sterben, um das „Leben in Fülle“ zu erwerben

Michel Aupetit stammt aus einer kirchenfernen Familie. Zunächst studierte er Medizin und war zwölf Jahre lang als Arzt tätig. Im Alter von 39 Jahren trat er ins Priesterseminar ein und empfing 1995 die Priesterweihe. 2013 wurde er zum Weihbischof in Paris, 2014 zum Bischof von Nanterre und 2017 zum Erzbischof von Paris ernannt. Die derzeitige Pandemie veranlasste ihn, Meditationen über den Tod zu veröffentlichen. Als Arzt habe er versucht, Leben zu retten, in Wirklichkeit aber habe er die Menschen vor dem Tod gerettet. Als Priester kämpfe er nicht mehr gegen den Tod, „sondern bringe das menschliche Leben mit dem in Verbindung, der das Leben selbst ist“.[1]

Von Erzbischof Michel Aupetit

Diese Pandemie, die die Welt erschüttert hat, lässt uns eine außerordentliche Zeit erleben und einen ganz neuen Blick auf den Sinn unseres Lebens werfen und auf unser Verhältnis zu seiner Endlichkeit, die wir Tod nennen. In unserer „Moderne“ herrschte die Überzeugung vor, dass der einzige absolute Wert in dieser irdischen Episode, die wir gerade erleben, zu finden sei. Für das individualistische Denken ist der Tod lediglich eine Endstation des Lebens ohne irgendwelche Bedeutung. Früher war der Tod eine im Menschsein integrierte Wirklichkeit. Doch der Respekt, den man den Toten erwies, hat sich verflüchtigt bis hin zu dem Punkt, dass man die Verstorbenen aus den üblichen Bekundungen der Gesellschaft ausschließt. Der Tod ist anstößig geworden. Keine Trauer, keine öffentlichen Bekundungen mehr, die an den ungehörigen Knochenmann erinnern könnten.

Wir treffen wieder auf die archaischen Ansichten, von denen bereits Paulus sprach, als er den Korinthern schrieb: „Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann lasst uns essen und trinken; denn morgen sterben wir“ (1 Kor 15,32). Auch viele unserer Zeitgenossen stellen sich ihr Leben als eine begrenzte Zeit vor, dessen fatales Ende sie zur verzweifelten Suche nach äußerstem Lebensgenuss führt.

Deshalb stehen wir im Augenblick des Todes vor einer schrecklichen Alternative. Der Tod muss hingenommen werden. Für eine hedonistische Gesellschaft ist das unerträglich. Daher muss man seinen Tod selbst wählen können, was in unseren Gesellschaften zu einer Förderung des assistierten Selbstmords und der Euthanasie führt. Tatsächlich gibt es einen anderen Weg, der uns erlaubt, so zu sein, wie wir sind, und der lange Zeit ein universaler Weisheitsweg war. Dabei geht es weder um den Tod, der nur hingenommen, noch um den Tod, der selbst gewählt wird, sondern um den akzeptierten Tod. Nur er ermöglicht uns, den Tod ins Leben zu integrieren. Dann erst werden die ganz besonderen Augenblicke des Abschieds zu einem Ort größter Aufmerksamkeit, Feinfühligkeit und Zärtlichkeit der Angehörigen, die aufrichtig ihre Liebe und Zuneigung zum Ausdruck bringen können.

Manche meinen, dass das, was wir soeben durch die Pandemie erleben, unseren Blick verändern und uns wachrütteln kann über den Zustand der Welt. Die Frage, die sie stellen, ist die folgende: Werden wir die Alarmglocke hören? Nichts ist weniger sicher. Das Beispiel von AIDS zeigt, dass unsere Gesellschaften angesichts einer neuen übertragbaren Pandemie eher versuchen werden, sich zu schützen, als ihr Leben zu verändern.

Man sieht dies heute am Corona-Virus, bei dem wiederum der erste Reflex darin bestand, sich gegenüber den anderen zu schützen. Das große Gebot der Liebe, das Christus uns übergeben hat: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34), wurde abgelöst von der Anordnung: „Schützt euch voreinander.“

Was bei uns jetzt geschehen ist, kann dazu beitragen, unser Verhältnis zur Natur zu überprüfen. Es gibt eine sehr reale Geringschätzung der Gegebenheiten der Schöpfung, die sich in der zerstörerischen Ausbeutung des Planeten äußert und in der Illusion, alle Bereiche des Lebens und seiner Entstehung beherrschen zu können. Nehmen wir als Beispiel die Trennung der geschlechtlichen Vereinigung vom Entstehen des Kindes, das nicht mehr das Ergebnis eines Liebesaktes, sondern einer „geplanten Elternschaft“ ist. Die Weitergabe des Lebens ist etwas, was uns übersteigt und uns eintreten lässt in sein großes Geheimnis. Wir haben daraus eine kleinkarierte Projektion unserer narzisstischen Wünsche gemacht.

Die Monate der Pandemie sind nicht nur eine Zeit der Bestürzung gewesen, sie haben uns auch ermöglicht, die Dinge wieder nach ihrem richtigen Wert einzuordnen. In Bezug auf die Bedeutung der Arbeit für den Erhalt des Lebens, ist ein Landwirt wichtiger als ein Fußballprofi, obwohl zwischen ihren Einkünften ein enormer Unterschied besteht. Die Berufe im Bereich der Fürsorge und Pflege haben sich als wichtiger erwiesen als jene der Produktion der Konsumgüter.

Noch eklatanter ist die abstrakte Leere zutage getreten, die der Individualismus, der zur abgöttischen Liebe der Konsumgüter geführt hat, hervorzubringen vermochte.

Wie können wir diesen Mangel ausgleichen und ernsthaft über eine Anthropologie nachdenken, die sowohl auf die Realität als auch auf die transzendente Dimension des Menschen und seine Berufung zur ewigen Seligkeit in der Liebe gegründet ist?

Einem Menschen, der nicht glaubt, bleibt der Sinn des Todes verborgen. In Christus wurde der Tod zum Ort der innigsten Intimität mit dem Göttlichen, zur Selbsthingabe an den Vater. In einer Gesellschaft ohne Gott hat der Tod keinen Platz mehr. Deshalb erscheint es auch schwierig, dem Geschenk des Lebens wirklich zuzustimmen!

Der Tod als solcher stellt uns vor eine Sackgasse. Er bedeutet, dass der Mensch nicht aus eigener Kraft seine Erfüllung finden kann. Das menschliche Wesen gelangt nur vollkommen zu dem, was es eigentlich ist, zur Einheit seiner Person (Leib und Seele), dank der Beziehungen, genauer gesagt dank jener grundlegenden Beziehung, die sein Wesen begründet: die Beziehung zum Schöpfer und Retter, der Quelle des Lebens. Durch die Annahme unserer Menschennatur hat der Sohn Gottes uns mit dem gesamten sichtbaren und unsichtbaren Universum der Lebenden und Toten in Verbindung gebracht. Daher kann man nur wirklich sterben, wenn man sich Gott und den Händen der Menschen überlässt. Man kann nur sterben, wenn man Gott liebt mit seinem ganzen Herzen, seiner ganzen Seele und seiner ganzen Kraft und seinen Nächsten wie sich selbst. Ich kann nur sterben, wenn ich bis zum Ende liebe.

Somit gibt es ein Aushauchen des Lebens, das zur Quelle des ewigen Lebens wird. Das ist das schönste Erbe derjenigen, die uns vorangegangen sind. Die Hingabe ihrer selbst an Gott wird selbst zum Fundament unseres Lebens. Der Akt des Sterbens ist der verborgenste Akt, weil er am tiefsten, weitesten, höchsten und längsten ist. Die Übergabe unseres Lebens übersteigt uns unendlich, und diese Unendlichkeit findet Widerhall im Herzen der Angehörigen des Sterbenden und im Grunde jedes Menschen. Auf diese Weise bleiben wir schon jetzt in Gemeinschaft. Unser täglicher Einsatz ist nur möglich durch das Tun derjenigen, die uns vorangegangen sind. Man erkennt das leicht, wenn zum Beispiel ein Sohn nach dem Tod des Vaters seine Werkstatt übernimmt.

Wenn dies für die Arbeit zutrifft, gilt es dann nicht mindestens genauso für die Ruhe, für die Ruhe des Todes? Die Ruhe hilft uns, ein Gefühl des Beschenktseins zu bewahren und die Früchte der Arbeit und des Lebens zu ernten. Genauer gesagt, sie macht dem anderen Platz, sie erlaubt dem anderen, das Begonnene zu vollenden. Auch von daher öffnet uns die Ruhe für die Gemeinschaft. Sie lädt uns ein, den Stab zu übergeben, und das Werk Gottes und der Menschen zu betrachten. Diese Betrachtung, dieses Sich-Zurücknehmen aus Liebe und im Vertrauen, ermöglicht uns, Gott an die erste Stelle zu setzen. Die Ruhe des Todes gleicht diesem Sich-Zurücknehmen, das in der Liebe einen unendlichen Raum eröffnet, damit andere vollenden können, was wir begonnen haben.

Im Tod gibt es einen Widerspruch. Der Tod bedeutet die vollkommenste Passivität, die radikale Auslöschung, das Verschwinden, und zugleich zeigt seine verborgene, geheime Dimension, auf welche Weise die Passivität wie der größte Akt der Liebe erlebt werden kann. Wenn wir sterben, bleibt uns nur noch ein einziger Akt, den wir ausführen können, den Akt, der die Welt für das ewige Leben öffnet: zu lieben. Deshalb konnte die hl. Therese von Lisieux behaupten, dass sie ihren Himmel damit verbringen werde, auf Erden Gutes zu tun. Sich in Gott zu versenken, indem man ihn liebt und durch ihn die Menschheit, bedeutet, „auf der Erde Gutes zu tun“. Lieben ist die großartigste Aktivität, die man erbringen kann, denn die Liebe führt uns über die größte Passivität, den Tod, hinaus, um dem Leben zuzustimmen.

Was der Tod uns in Bezug auf den Lebensweg lehrt, können wir von nun an in unserem Alltag umsetzen. Dank der Eucharistie kann jede Tat zum Akt der Gnade werden, zu einem Selbstverzicht in Liebe, der dann zu einer Quelle des Lebens für die ganze Menschheit wird. Die Brüderlichkeit ist der Preis dafür!

Das ist der Sinn unserer Weihe bei der Taufe. Vereint mit Christus sterben wir nicht nur der Sünde, sondern unserer selbst, durch die Liebe Gottes und unserer Schwestern und Brüder. Dann ist das Leben, das wir weitergeben, das Leben Gottes selbst, das anderen ermöglicht, fortzuführen, was wir begonnen haben. Ist das nicht die „Tradition“? Deshalb kann sich unser Leben nur in der Gemeinschaft der Heiligen vollenden, durch das Leben der künftigen und der vergangenen Generationen.

An Ihnen ist es also, fortzusetzen, was wir begonnen haben, „damit die Welt das Leben hat und es in Fülle hat“ (Joh 10,10).

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
© Kirche heute Verlags-gGmbH (Altötting)


[1] Erzbischof Michel Aupetit: Der Tod – Meditationen über einen Lebensweg, ISBN 978-3-9479312-7-9, 112 S., geb., Euro 14,95 (D), Euro 15,40 (A); Tel.: 07303-952331-0; Fax: 07303-952331-5; E-Mail: buch@media-maria.de; www.media-maria.de

Erzbischof Gänswein beim „Volto Santo“ in Manoppello

Das „menschliche Antlitz Gottes“

Der Vatikan-Korrespondent Paul Badde veröffentlichte 2006 das Buch „Das Göttliche Gesicht. Die abenteuerliche Suche nach dem wahren Antlitz Jesu“ und lenkte damit eine weltweite Aufmerksamkeit auf den „Schleier von Manoppello“. Er zeigte auf, dass es sich neben dem Grabtuch von Turin um eines der beiden Leichentücher Jesu Christi handeln müsse, die im Johannesevangelium (Joh 20,1-10) erwähnt werden. Angeregt durch diese Publikation pilgerte Papst Benedikt XVI. am 1. September 2006 nach Manoppello, um vor dem „menschlichen Antlitz Gottes“ zu beten. Sein Privatsekretär Erzbischof Dr. Georg Gänswein feierte nun am 17. Januar 2021 im Zeichen der Corona-Pandemie vor dem „Volto Santo“ die Eucharistie und bekannte sich in seiner Predigt zur Deutung, wie sie Badde vertritt.

Von Erzbischof Georg Gänswein

„Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes!“ (Joh 1,36) Dieselben Worte aus dem heutigen Evangelium können wir auch hier jeden Tag im Blick auf das Antlitz Christi im Volto Santo sagen. 

„Omnis terra“ heißt der heutige Sonntag im Liturgischen Kalender nach den lateinischen Worten des 65. Psalms am Beginn dieser Heiligen Messe: „Omnis terra adoret te, Deus, et psallat tibi!“ Das heißt auf Deutsch: „Alle Welt bete dich an, o Gott, und singe dein Lob!“ Zu diesem uralten Gotteslob der ganzen Erde haben wir uns auch heute hier in der Päpstlichen Basilika des Volto Santo versammelt.

Anlass für diesen Festtag ist die Erinnerung an denselben Sonntag des Jahres 1208, als Papst Innozenz III. dieses wahre Bild des Herrn, das wir hier über dem Hauptaltar sehen und verehren, so demütig wie ein Bettelmönch von der alten Petersbasilika in Rom zu den Kranken der Hauptstadt und den kranken Pilgern aus ganz Europa in das nahe Hospital des Heiligen Geistes trug. Der mächtigste und machtbewusste Papst des Mittelalters brachte das Urbild des barmherzigen Gottes barfuß zu den Kranken und Sterbenden!

Davor war diese kostbare Schleier-Ikone lange verborgen gehalten worden. Mit diesem Schritt trat das Bild ins Freie und wurde erstmals in der ganzen katholischen Weltkirche öffentlich bekannt – an diesem Sonntag im Winter, der schon damals, im Januar 1208, mit dem gleichen Psalmwort begann wie heute: „omnis terra“.

Daran aber, dass Papst Innozenz III. das heilige Antlitz mit seinen Kanonikern damals nicht zu den Schriftgelehrten und Adligen der Stadt trug, sondern zu den Kranken und den Armen Roms, daran müssen wir heute, am 17. Januar 2021, besonders erinnern, wo der Ausdruck „Omnis Terra – alle Welt“ eine bestürzende Realität angenommen hat wie vielleicht nie zuvor!  Denn alle Welt ist urplötzlich von einem unsichtbaren Virus bedroht, alle Kontinente, alle Hautfarben, Nationen und Religionen – wahrhaftig alle Menschen dieser Erde, Jung und Alt! Alle Welt fürchtet plötzlich gemeinsam Krankheit und Tod, von Feuerland bis Wladiwostok. Wann war der Ausdruck „omnis terra“ je aktueller und brennender!

Darum war es für mich heute eine ebenso heilige Pflicht wie große Freude, trotz aller Corona-Hindernisse von Rom nach Manoppello zu kommen, wo wegen der Pandemie zur Zeit keine Pilger mehr kommen können. Ich musste kommen, um das Volto Santo zumindest über das Medium der bewegten Bilder des Fernsehens zu so vielen Kranken und Einsamen wie möglich zu bringen!

Deshalb erinnere ich mich jetzt auch dankbar an den heutigen Tag vor fünf Jahren, als Pater Carmine Cucinelli mich und den unvergessenen Erzbischof Edmund Farhat aus dem Libanon eingeladen hatte, am 17. Januar 2016 in der Kirche Santo Spirito in Sassia in Rom mit einer Kopie des Volto Santo die göttlichen Mysterien zu feiern. Denn Pater Carmine war als damaliger Rektor der Basilika in Manoppello auf den Gedanken gekommen, im „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“, das Papst Franziskus für das Jahr 2016 ausgerufen hatte, ein drittes jährliches Fest zur Verehrung des Volto Santo einzuführen. Und dazu eignete sich einfach am besten der Sonntag Omnis terra, in Erinnerung an die bahnbrechende Initiative von Innozenz III. im fernen Jahr 1208.

Ich erinnere mich aber auch, als sei es gestern gewesen, wie ich Papst Benedikt XVI. am 1. September 2006 auf seiner „Pilgerreise“ hierhin begleiten durfte, als er sich trotz einiger Widerstände entschlossen hatte, kurz vor dem Besuch seiner bayerischen Heimat als erster Papst nach über 400 Jahren das Volto Santo in Manoppello aufzusuchen und zu verehren. Und jetzt erscheint es mir fast wie eine göttliche Fügung, dass er sich damals dieselbe Stelle aus dem Johannes-Evangelium ausgesucht hatte, die wir gerade gehört haben, um seine Gedanken zu dieser historischen Begegnung vor den hier versammelten Gläubigen mit dem heiligen Schleier in folgende Worte zu fassen:

„Als ich vorhin im Gebet verweilte, habe ich an die beiden ersten Apostel gedacht, die – ermutigt durch Johannes den Täufer – Jesus am Jordan nachfolgten. (…) Der Evangelist berichtet, dass Jesus sich umwandte und sie fragte: ,Was wollt ihr?‘ Sie antworteten: ,Rabbi, wo wohnst du?‘ Er sagte: ,Kommt und seht!‘  Am selben Tag machten die beiden, die ihm nachfolgten, eine unvergessliche Erfahrung, die sie sagen ließ: ,Wir haben den Messias gefunden‘. Derjenige, den sie wenige Stunden zuvor nur als einfachen ,Rabbi‘ angesehen hatten, hatte eine eindeutige Identität angenommen, die des seit Jahrhunderten erwarteten Christus. Aber welch lange Wegstrecke hatten jene Jünger in Wirklichkeit noch vor sich! Sie konnten nicht einmal erahnen, wie tief das Geheimnis des Jesus von Nazareth war, wie sehr sein ,Antlitz‘ sich als unerforschlich, unergründlich erweisen sollte, so sehr, dass einer von ihnen, Philippus, nachdem er drei Jahre lang sein Leben zusammen mit Jesus verbracht hat, beim Letzten Abendmahl hören muss: ,Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?‘ Und dann folgen jene Worte, die die ganze Neuheit der Offenbarung Jesu ausdrücken: ,Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen‘.“ – Soweit Benedikt XVI. am 1. September 2006.

Nehmen wir sein und dieses Wort des Herrn ganz ernst, sehen wir den Vater auch hier, wo der Sohn uns für immer sein Wesen offenbart und wo wir sehen: Er lebt – als Heiland und Erlöser.

Papst Benedikt war nicht barfuß wie Papst Innozenz, sondern auf Einladung von Erzbischof Bruno Forte mit dem Helikopter von Castel Gandolfo nach Manoppello gekommen und ich erinnere mich noch sehr lebhaft an jeden Augenblick dieser Begegnung wie auch an den 15. Mai 2009, als Benedikt XVI. das Heilige Grab in Jerusalem besuchte, dem der Schleier des Volto Santo ebenso entstammt wie das Turiner Grabtuch, als unvergleichliche Nachricht der Auferstehung Christi von den Toten. Anders kann es nicht sein. Nach dem spektakulären Besuch Papst Pauls VI.  am 4. Januar 1964 haben das leere Grab Christi in Jerusalem auch noch Papst Johannes Paul II. im März 2000 und Papst Franziskus im Mai 2014 aufgesucht.

Die Pilgerreise Benedikts XVI. nach Manoppello am 1. September 2006 hingegen lässt sich bis jetzt darum nur vergleichen mit der Prozession, durch die Papst Innozenz III. die „Wahre Ikone“, die im Volksmund auch „Veronika“ genannt wurde, vor über 800 Jahren in der westlichen Christenheit bekannt gemacht hat. Papst Benedikt aber hat am 1. Sept. 2006 das persönliche und „menschliche Antlitz Gottes“ wieder zurück in die Kirche und in alle Welt getragen. Er kam ganz allein und nicht im Gefolge seiner Berater oder der Kanoniker von Sankt Peter. Und er kam scheu und zurückhaltend, wie es seine Art ist, und nur zur Betrachtung und zum Gebet. An eine Eucharistiefeier oder einen öffentlichen Segen mit dem Volto Santo war damals noch nicht zu denken. Doch ihm sind dann Tausende von Pilgern hierhin gefolgt, die in seiner Nachfolge den Satz aus dem Evangelium des Johannes um die ganze Welt getragen haben: „Kommt und seht!“

Das wird die Kirchengeschichte für immer festhalten. Und dafür haben ihm die zivilen Autoritäten der Stadt Manoppello schon am 3. Nov. 2010 im Beisein von Erzbischof Bruno Forte im Vatikan die Schlüssel der Stadt überreicht, wofür ich Ihnen ebenso wie allen Brüdern aus dem Kapuziner-Orden und allen Bürgerinnen und Bürgern Manoppellos noch einmal von Herzen danke, und heute noch einmal ganz besonders und persönlich für das kostbare Privileg, hier mit Ihnen für alle Kranken und Leidenden der ganzen Erde unter dem erbarmenden Blick Christi die Heilige Eucharistie feiern zu dürfen: „Seht das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt!“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
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Zeugenvernehmung durch einen Richter – eine Buchrezension

Die „Causa Manoppello“

Die deutsche Trappisten-Schwester Blandina Paschalis Schlömer, eine Pharmazeutin und Ikonenmalerin, gilt als Entdeckerin des „Volto Santo“ von Manoppello. Sie hatte als erste Forscherin einen Zusammenhang zwischen diesem geheimnisvollen „Schleier“ und dem Turiner Grabtuch erkannt, nämlich die biometrische Identität der Gesichter auf beiden Bildern. Später kam der deutsche Jesuit Heinrich Wilhelm Pfeiffer SJ, Kunsthistoriker und Grabtuchexperte, zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem heiligen Antlitz von Manoppello um die Reliquie handeln muss, die in Rom jahrhundertelang als das „Schweißtuch der Veronika“ verehrt worden war, jedoch im 16. Jahrhundert verloren ging und durch eine Nachbildung ersetzt wurde. Bis heute hat der Vatikan zu diesem Vorgang nicht offiziell Stellung genommen.[1]

Von Bernhard Meuser

Alles, was mit Jesus von Nazareth zu tun hat, fällt üblicherweise in das Terrain von Theologen – und sie hüten ihr Gärtlein mit Eifer. Als sich vor Jahren der Oxforder Ethiker, Anwalt und Rechtsmediziner Charles Foster („Die Akte Jesus“) des Themas „Die Zeugen der Auferstehung und ihre Glaubwürdigkeit“ annahm, gab es einen Aufschrei in der Gartenkolonie und – begeisterte Reaktionen von Lesern. Warum auch sollte ein Jurist seine spezifische Expertise nicht auf ein historisches Gebiet anwenden dürfen? Immerhin ging es um Zeugenaussagen und um eines der bestbezeugten wie umstrittensten Phänomene der Antike. Auch Markus van den Hövel, seines Zeichens Vorsitzender Richter am Landgericht Bochum, hat sich nun auf fachfremdes Glatteis gewagt. Wiederum geht es darum, Zeugen zu einer biblischen Causa abzuklopfen, die freilich noch weitaus verrückter klingt als bei Foster.

Im Johannesevangelium findet sich eine Stelle, die so klingt, als sei sie einem Polizeireport – genauer gesagt: einer Tatortbeschreibung – entnommen. Heute würde man das Smartphone zücken, um das zu dokumentieren, was sich vor den Augen des Oberapostels Petrus auftat, als er nichtsahnend das leere Grab jenes gescheiterten und hingerichteten Aufrührers Jesus betrat. So aber sind wir dankbar für die überaus präzise Beschreibung in Joh 20,6b.-7: „Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Haupt Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle.“ Zusammengebunden … an einer besonderen Stelle … – so etwas erfindet man nicht, wenn man bei einem Glas Rotwein Legenden um eine aufgewärmte Leiche strickt. Wer Logik von Tradierung zu lesen versteht, kann zwischen Schablonen der Ausschmückung und echter Erinnerungskultur unterscheiden; in ihr nämlich findet sich das unerfindliche Detail gut aufgehoben und sicher tradiert. Es trägt an sich das Aroma der Wahrheit.

Wer sich nur ein wenig mit der Kultur des Volkes Israel befasst hat, weiß, dass es für einen Juden der Zeit Jesu nichts Abscheulicheres – weil Unreineres – gab, als Textilien, die mit einer Leiche in Berührung kamen. Eine Leiche anzufassen, machte sieben Tage lang unrein (Num 19,11 und andere Stellen). Den Bruch, der sich an der Nahtstelle von Tempel und frühem Christentum ereignete, kann man sich nicht krasser symbolisiert vorstellen, als im Bedeutungswandel von Leichentuch zu Reliquie. Was dem traditionellen Judentum ein Gräuel war, musste mit innerer Notwendigkeit für die Sekte der Christen zum kostbarsten Erinnerungsstück – modern gesprochen: zur Reliquie – werden. Als Kaiserin Helena 326 nach Jerusalem kam, gab es in der Community der Christen allerhand dieser Heiligtümer, angefangen von Teilen des Kreuzes Christi bis hin zu den Steinstufen zum Jerusalemer Gerichtssaal. Sie wurden, je kostbarer sie waren, alsbald nach Rom beordert.

Womit wir bei Markus van den Hövel wären, dem Richter aus Bochum. Richter haben mit Behauptungen zu tun, die es zu verifizieren oder zu falsifizieren gilt. Und sie dürfen – „Wenn‘s denn der Wahrheitsfindung dient“ – ungewöhnliche Wege beschreiten, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Behauptung steht im Raum, es gäbe sie noch, die mysteriösen textilen Beweisstücke aus der Jerusalemer Grabhöhle, die den ersten Christen so überaus kostbar gewesen sein mussten. Eines in Turin – das „Turiner Grabtuch“ –, eines in einem Abruzzenkaff namens Manoppello – das „Volto Santo“, das Heilige Gesicht. Und, um die Sensation zu einem Wunder zu machen: Man könne anhand dieser Tücher „ihn“ erkennen, Jesus, gewissermaßen biometrisch und fotorealistisch.

Das klingt krass. Aber es liegen seltsame Beweisstücke vor, die man nicht einfach deshalb ignorieren darf, weil sie in keine Theorie passen. Sowohl in Turin als auch in Manoppello kann man nicht mehr von „gemalten“ Objekten ausgehen. Ist der Abdruck des Gemarterten auf dem Turiner Grabtuch noch halbwegs erklärlich, so stehen wir beim Volto Santo komplett vor dem Unerklärlichen. Auf einem hauchzarten Gewebe ist ein Gesicht zu erkennen, vielfach changierend je nach Lichteinfall, das eigentlich nicht zu sehen sein dürfte. Denn das Gewebe ist Byssus – das kostbarste Textil der Antike, ein Hauch wie Luft, feinst gewobene Muschelseide – auf dem Farbpigmente nicht halten. Was nun? Rätsel der Natur sind unaufgeklärte Wirklichkeit, und schon Augustinus gab den Empiristen aller Zeiten zu bedenken: „Wunder stehen nicht im Widerspruch zur Natur, sondern im Widerspruch zu unserem Wissen von der Natur.“ Es könnte aber auch Gilbert Keith Chesterton rechthaben: „Das Wunderbarste an den Wundern ist, dass sie manchmal wirklich geschehen.“

Während sich im Fall des Grabtuches die Waagschale von Untersuchung zu Untersuchung mehr und mehr zugunsten möglicher „Echtheit“ neigt, ist der Fall Manoppello – im Übrigen eine vatikanische Dan-Brown-Story comme il faut – noch zu frisch. Es ist erst gute zwanzig Jahre her, dass sich aus einer vagen Historikervermutung ein investigativer Krimi entwickelte, an dem ein etwas kauziger Jesuit namens Heinrich Pfeiffer, Sr. Blandina, eine ikonographisch bewanderte Trappistin, und vor allem die Spürnase des Bestsellerautors Paul Badde bedeutenden Anteil hatten. Die scheinbare Plausibilität, das Muschelseidentuch im Kirchlein von Manoppello könne identisch sein mit jenem Tuch aus der Grabhöhle, das da lag „zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle“, führte immerhin dazu, dass Papst Benedikt, kaum dass er den Stuhl Petri bestiegen hatte, eine Wallfahrt in die Abruzzen machte, um vor dem Volto Santo zu knien. Seither ist der Strom der Pilger nicht mehr abgerissen. Kaum ein Bischof oder Kardinal, der seither bei einem Rom-Termin nicht auch einen Abstecher in die Abruzzen macht. 

Auf eine Gruppe freilich übertrug sich der Eifer nicht: auf die sogenannten „Sindologen“ – die Grabtuchforscher, die es seit Turin in großer Anzahl gibt. Wenige schauten sich die „Causa Manoppello“ aus der Nähe an. Die meisten gaben und geben in der Regel Ferndiagnosen ab, wonach nicht sei, was nicht sein könne. Klugheit oder Faktenresistenz? Dummheit oder Dünkel?

Markus van den Hövel faszinierte „die Vorstellung, die Fakten zu Manoppello einmal wie in einem Gerichtssaal nach einer Beweisaufnahme mit der Befragung von Zeugen zu bewerten“. Das Buch, das diesem Ansatz entsprang, ist ein Schmankerl für jeden historisch Interessierten. Die Liste der „Zeugen“, die van den Hövel mit inquisitorischer Neugier befragte, ist eindrucksvoll und enthält sowohl Befürworter einer Echtheit wie notorische Skeptiker, die immer noch von einem „kunstvoll gemalten Tüchleinbild“ ausgehen, was es nun mit Sicherheit nicht ist.

Kühn – der Exeget Klaus Berger († 2020): „Ich halte es für das authentische Gesicht Jesu auf Muschelseide, nicht von Menschenhand, keiner diesbezüglichen Analyse zugänglich.“

Staunend – der FAZ-Korrespondent Jörg Bremer: „Eine vernünftige Erklärung, wie Menschen es geschaffen haben sollten, gibt es nicht. … Ich habe das Gefühl zu wissen, wie Jesus aussah und wie er neu erwachte.“

Sicher – die Kunsthistorikerin Melanie Luck von Claprede: „Das Antlitz wirkt dreidimensional, einem Hologramm gleich. Die Veränderlichkeit von Augen, Mund, den Passionsspuren und der Farbigkeit bis zum Verschwinden des ganzen Bildes. Es gibt kein Vorbild. Kann keines geben. Der Schleier ist das im Johannesevangelium beschriebene Schweißtuch.“

Gelangweilt – ein ebenso namenloser wie hochrangiger katholischer Kleriker: „Das Letzte, was wir brauchen, ist ein neues Christusbild!“

Fromm – der evangelische Pfarrer Rolf Claußnitzer: „Eine kleine Reproduktion des Christus-Antlitzes steht auf meinem Schreibtisch … für den täglichen Dialog von Angesicht zu Angesicht.“

Frostig – der Althistoriker und Sindologe Karlheinz Dietz: „Historische Diskurse werden ganz bestimmt nicht durch Mehrheitsmeinungen entschieden. Die Manoppello-These des Jesuiten Heinrich Pfeiffer ist mir seit 1991 bekannt. … Ich konnte mir damals ein Urteil über die Hypothese Pater Pfeiffers bilden, das ich bis heute leider nicht revidieren musste. … Für einen weiteren Disput fehlt mir leider die Zeit.“

Herantastend – der oberitalienische Naturwissenschaftler und Sindologe Giulio Fanti: „Das sogenannte ,heilige Antlitz‘ könnte eine andere Reliquie Jesu sein, aber ich bin mir nicht sicher.“

Gebannt – der Romkorrespondent des SPIEGEL, Walter Mayr: „Mit Rätseln zurückgeblieben und entschlossen wieder hinzufahren (ich). Begeistert und berührt und näher an die Kirche gebracht (meine nicht-getaufte Frau).“

Dem Autor Markus van den Hövel ist es hoch anzurechnen, dass er die Zeugnisse in alphabetischer Reihenfolge zusammenstellte und sie weder abschließend kommentierte noch einer Bewertung unterzog. Irgendwann nach Corona wird man wieder reisen dürfen – und von der Via Conciliazione in Rom bis zum Abruzzendörfchen Manoppello sind es exakt 192 Kilometer. Man schafft das in gut zwei Stunden.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
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[1] Markus van den Hövel: Die Causa Manoppello – Eine Zeugenbefragung, Christiana Verlag, brosch., 190 S., ISBN 978-3-71711-315-7, Euro 9,95 – info@fe-medien.de; Tel.: +49 (0) 7563 608 998-0; www.fe-medien.de

„Kirche in Not“ unterstützt jeden zehnten Priester weltweit

Hilfe durch „Mess-Stipendien“

Armut, Kriegsfolgen, autoritäre Regime, religiöse Benachteiligung und Gewalt sind einige der Gründe, warum der Kirche in zahlreichen Weltregionen die Mittel fehlen, um ihren Auftrag zu erfüllen: die Frohe Botschaft verkünden, die Sakramente spenden, für Menschen in Not da sein. In vielen Ländern haben Priester kein geregeltes Einkommen, eine Kirchensteuer gibt es nicht und auch die Bischöfe können ihre Seelsorger nicht ausreichend unterstützen. Vielfach trägt die Gemeinde dann zum Unterhalt ihrer Seelsorger bei. Doch was geschieht, wenn das Wenige unmöglich reicht, um es auch noch zu teilen?

Von Tobias Lehner

Hilfe, damit die Mission weitergeht

Unsere Diözese ist in starker Unruhe“, schreibt ein Pater aus der Demokratischen Republik Kongo an das päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“, „aber die Mission geht weiter. Wir spüren eine verbissene Entschlossenheit unserer Feinde, die Kirche zu destabilisieren. Der Teufel ist immer am Werk. Wir aber auch.“ Dann schildert der Ordensmann, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss, wie zwei seiner Mitbrüder ermordet wurden, ein dritter nur knapp entkommen konnte, wie andere Priester und Ordensfrauen geschlagen und misshandelt wurden.

Im Fernsehen werde die Kirche offen angegriffen. Und dennoch geht es weiter: Katechese, Einkehrtage, Exerzitien, Seelsorge in entlegenen Gemeinden. Um die Menschen zu trösten, zu stärken und zum Heil zu geleiten, bittet sein Bischof „Kirche in Not“ um Mess-Stipendien für den Pater und seine Mitbrüder. Wie in der Demokratischen Republik Kongo können katholische Priester in vielen Ländern nur überleben, weil Gläubige aus reicheren Ländern sie mit Mess-Stipendien unterstützen.

Zum Leben der Kirche beitragen – geistlich und materiell

Mess-Stipendien sind freiwillige Gaben für die Feier einer hl. Messe in einem bestimmten Anliegen. Der Brauch geht zurück bis in die Frühzeit des Christentums.

Schon die ersten Christen haben den Gottesdienst als eine Feier verstanden, an der alle mitwirken. Es war üblich, dass die Gläubigen Brot, Wein und andere Gaben mitbrachten, sowohl für die Feier selbst als auch zum Unterhalt der Kirche und ihrer karitativen Verpflichtungen. Oft war diese Gabe auch verbunden mit der Bitte um das Gebet in einem bestimmten Anliegen, für Lebende oder Verstorbene. Daraus hat sich der Brauch der Mess-Stipendien entwickelt. – Im Kirchenrecht steht, dass Gläubige bei einem Priester eine hl. Messe bestellen oder stiften können. Das heißt aber nicht, dass man sich eine hl. Messe „kauft“. Gottes Gnade ist nicht käuflich. Vielmehr bedeutet ein Mess-Stipendium, dass ein Priester für die Anliegen der Stifter betet. Diese müssen sich aber nicht auf die eigene Gemeinde beschränken, schließlich ist die Kirche ja nicht nur dort präsent, sondern überall auf der Welt versammeln sich Menschen zum Gottesdienst.

„Ecclesia de Eucharistia“ – „Die Kirche lebt von der Eucharistie“ überschrieb der hl. Papst Johannes Paul II. seine letzte Enzyklika. Ohne Eucharistie gibt es keine Kirche. Mess-Stipendien sind mehr als nur die weltweite Solidarität zwischen sorgenbeladenen Menschen hier und hilfsbedürftigen Priestern dort. Die Feier der hl. Messe verbindet Lebende und Verstorbene, die Kirche auf Erden mit der „Kirche des Himmels“, Zeit und Ewigkeit. Das Mess-Stipendium bringt diese Verbindung zum Ausdruck.

Über eine Million Mess-Stipendien pro Jahr für mittellose Priester

„Jedes Jahr kann ,Kirche in Not‘ über ei-ne Million Mess-Stipendien an Diözesen in Afrika, Osteuropa, im Nahen Osten, Asien und Lateinamerika weiterleiten“, berichtet Florian Ripka, Geschäftsführer von „Kirche in Not“ Deutschland. Die Bistümer geben die Mess-Stipendien dann an ihre Priester weiter. „Gut jeden zehnten Priester können wir auf diese Weise unterstützen, insgesamt über 40.000“, erklärt Ripka. „Im Schnitt alle 23 Sekunden wird irgendwo auf der Welt eine hl. Messe in den Anliegen der Wohltäter von ,Kirche in Not‘ gefeiert. Mess-Stipendien sind keine Einbahnstraße der Hilfe. Sie schaffen eine Verbindung über das Heiligste, das wir haben: die Feier der Eucharistie.“

Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen ist die Hilfe über Mess-Stipendien noch bedeutender geworden, wie „Kirche in Not“ aus verschiedenen Dankschreiben erfahren kann, die in den vergangenen Monaten beim Hilfswerk eingegangen sind. „Während des Lockdowns versorgen unsere Priester viele Wanderarbeiter, die kein Einkommen mehr haben. Sie gehen in die Dörfer und verteilen Lebensmittel“, berichtet Pater Ignatius, der Generalobere der „Heralds of Good News“ (Herolde der Frohen Botschaft), einer 1984 gegründeten Missionsgesellschaft aus dem Bundesstaat Andhra Pradesh im Südosten Indiens. Das Land gehört zu den Weltregionen, die am schlimmsten von der Pandemie betroffen sind. Eine hohe Bevölkerungsdichte, gepaart mit mangelnder Gesundheitsversorgung, begünstigen die Ausbreitung des Virus. Hinzu kommt, dass die kleine christliche Minderheit des Landes oft zu den ärmsten Schichten der Gesellschaft zählen und durch die Schließungen ohne Lohn und Brot dastehen. Das gilt auch für die Priester, die nicht mehr versorgt werden können. „Ihre Mess-Stipendien sind wie die Hilfe des Barmherzigen Samariters für uns“, schreibt Pater Ignatius an „Kirche in Not“.

Überlebenswichtig in der Corona-Zeit

Das ostafrikanische Malawi gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Fehlende Testkapazitäten haben dem Land zwar vergleichsweise geringe Covid-19-Zahlen beschert, doch auch hier blieben vor allem die Schulen geschlossen – darunter auch viele kirchliche Einrichtungen. „Das ist ein schwerer Schlag für uns, denn so haben wir auch noch das kleine Einkommen verloren, wenn wir Unterrichtsstunden geben“, berichtet der erst im Sommer dieses Jahres zum Priester geweihte Henry Saileri, der als Lehrer und Erzieher am Studienseminar von Dedza tätig ist. „Ihre Hilfe durch Sie kam gerade rechtzeitig, dafür danke ich Ihnen sehr.“

Doch Mess-Stipendien sind vielfach mehr als eine Überlebenshilfe für den Priester. Oft profitieren davon auch die Gemeindemitglieder, wie Pfarrer Gilbert Burihabwa aus Rutana in Burundi schreibt. Das Land wird seit 2015 erneut von schweren politischen Unruhen heimgesucht. „Wir leben in einem Land, das in einer tiefen Misere steckt. Deshalb kommen viele Leute zu mir und bitten mich um Hilfe. So habe ich zum Beispiel Treibstoff gekauft, damit ein krankes Kind ins Krankenhaus gebracht werden kann. Ich kann die Mess-Stipendien also für sehr nützliche Dinge einsetzen.“

In einer schweren politischen und sozialen Misere steckt auch das zentralamerikanische Nicaragua, und die Pandemie macht alles noch schlimmer, schreibt P. Jaime Valdivia Pinell von der kontemplativen Gemeinschaft der Albertinianer in Esteli: „Ich schicke Fotos, die uns bei der Feier der hl. Messe in den Anliegen der Wohltäter von ,Kirche in Not‘ zeigen. Vier unserer Brüder haben sich mit dem Corona-Virus infiziert, einschließlich mir. In Nicaragua sind wir ganz von der Großherzigkeit befreundeter Mediziner abhängig, weil wir nur wenig für die Untersuchungen bezahlen können. Wir hoffen, diese Schwierigkeiten bald zu überwinden.“

Hilfe in der Not – geeint im Gebet, das zeichne die Hilfe durch Mess-Stipendien aus, erklärt Florian Ripka: „Ich bin unseren Wohltätern sehr dankbar, dass sie in diesem ,Corona-Jahr‘ auch die Nöte der Mitchristen in anderen Ländern nicht vergessen haben. Ohne Priester gibt es keine Kirche. Darum sind Mess-Stipendien auch so etwas wie eine ,Lebensversicherung‘ für die Zukunft der Seelsorge.“

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
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Zum Motu proprio „Spiritus Domini“

Frauen im Dienst am Wort und am Altar

Papst Franziskus hat am 10. Januar 2021 ein „Motu proprio“ erlassen, in dem er die Öffnung der Dienste des Lektors und des Akolythen auch für Frauen verfügt. Pfarrer Erich Maria Fink begrüßt diesen Schritt als ein wichtiges Signal, besonders auch auf dem Hintergrund der Diskussion um die Zulassung von Frauen zum sakramentalen Weiheamt. Er sieht den eigentlichen Fortschritt in der offiziellen Beauftragung von Frauen durch den Bischof auf Dauer und in der Anwendung eines liturgischen Ritus.

Von Erich Maria Fink

Mit Datum vom 10. Januar 2021, dem Fest der Taufe des Herrn, hat Papst Franziskus ein „Motu proprio“ veröffentlicht, das nach seinen Anfangsworten den Namen „Spiritus Domini“ trägt – zu Deutsch „Der Geist des Herrn“. Darin verfügt der Papst, dass von nun an offiziell auch Frauen Zugang zu den Dienstämtern des Lektors und des Akolythen haben.

Der hl. Papst Paul VI. hatte 1972 im Zug der Umsetzung des II. Vatikanischen Konzils die sog. „niederen Weihen“ abgeschafft und die Dienstämter des Lektors und des Akolythen eingeführt. Einerseits wollte er damit dem Umstand gerecht werden, dass das Konzil in seiner Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ geklärt hatte, dass sich der „Ordo“, also das sakramentale Weiheamt, in den drei Stufen der Diakon-, Priester- und Bischofsweihe entfaltet. Dementsprechend konstatierte Paul VI., dass es sich bei der vorbereitenden Dienstbeauftragung um keine sakramentalen Weihen, sondern um Laiendienste handelt. Gleichzeitig sah er die neu eingerichteten Dienste des Lektors und des Akolythen ganz im Licht der Vorbereitung auf das Priestertum, sodass sie ausdrücklich Männern vorbehalten blieben.

So hieß es bisher im Kirchenrecht: „Männliche Laien, die das Alter und die Begabung haben, die durch Dekret der Bischofskonferenz dafür bestimmt sind, können durch den vorgeschriebenen liturgischen Ritus für die Dienste des Lektors und des Akolythen auf Dauer bestellt werden, die Übertragung dieser Dienste gewährt ihnen jedoch nicht das Recht auf Unterhalt oder Vergütung vonseiten der Kirche“ (Can. 230, § 1). Papst Franziskus ließ nun das erste Wort „Männliche“ streichen und erklärte: „In diesen vergangenen Jahren hat es eine Weiterentwicklung in der kirchlichen Lehre gegeben. Dabei wurde deutlich, dass bestimmte Dienste, die die Kirche eingerichtet hat, die Taufe und das königliche Priestertum, das jeder Christ im Taufsakrament empfängt, als Grundlage haben.“ Ganz bewusst wählte Franziskus also das Fest der Taufe des Herrn, weil er an die Lehre vom gemeinsamen Priestertum, an dem alle getauften Glieder der Kirche teilhaben, anknüpfen wollte.

Eigentlich handelt es sich bei dem „Motu proprio“ um eine geringfügige Änderung, die für die gängige Praxis im kirchlichen Leben nicht viel Neues bringt. Denn die mit dem Lektorat und Akolythat verbundenen Dienste werden schon jetzt in gleicher Weise von Männern und Frauen ausgeübt. Dennoch handelt es sich bei der neuen Festschreibung um ein wichtiges Signal.

1. Dienst am Altar, aber keine Teilhabe am sakramentalen Weiheamt

Papst Franziskus nimmt mehrfach Bezug auf die Unterscheidung zwischen sakramentalem Weiheamt und Dienstamt für Laien. In seinem theologischen Begleitschreiben an den Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Luis Ladaria, bekräftigt er ausdrücklich die Entscheidung des hl. Papstes Johannes Paul II., „dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden“ (Ordinatio Sacerdotalis, 22. Mai 1994). Für Laiendienste aber sei es heute geboten, diese Einschränkung zu überwinden.

2. Amtseinsetzung durch einen liturgischen Ritus

Für Papst Franziskus ist es wichtig, dass der im Kirchenrecht erwähnte „liturgische Ritus“ bei der Übertragung der Dienstämter auch an Frauen Anwendung findet. Der „liturgische Akt“ nehme das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen ernst und erkenne den wertvollen Beitrag der Laien, insbesondere auch der Frauen, an, den sie zum Leben und zur Sendung der Kirche leisten. Der Ritus mache deutlich, dass die Person in ein Amt „eingesetzt“ werde.

3. Mandat durch den Bischof

Papst Franziskus spricht von einem „Mandat durch den Bischof“. Die Beauftragung durch den Bischof verleihe den Ämtern, die nun auch offiziell Frauen zugänglich sind, Stabilität und öffentliche Anerkennung. Darüber hinaus muss die geistliche Dimension und die unterstützende Gnade der Kirche gesehen werden, die mit einem Mandat des Bischofs und einer liturgischen Beauftragung verbunden ist.

4. Beauftragung auf Dauer

Schließlich betont der Papst, dass die Übertragung der Dienstämter des Lektorats und des Akolythats, mit dem auch die Austeilung der hl. Kommunion verbunden sein kann, auf Dauer erfolgt. Der Charakter der offiziellen Ausübung des gemeinsamen Priestertums wird dadurch unterstrichen.

Mit „Spiritus Domini“ hat Papst Franziskus eine weitreichende und wegweisende Entscheidung getroffen.

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 2+3/Februar+März 2021
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