Die unglaubliche Geschichte der Irena Sendler

Niemals vergessen …

Immer noch wenig bekannt ist die Katholikin Irena Sendler (mit Mädchennamen Krzystanowska), die 2007 im Alter von 97 Jahren – ein Jahr vor ihrem Tod – eine verdiente Ehrung erhalten hat. Sie wurde vom polnischen Parlament zur nationalen Heldin erklärt. Als Sozialarbeiterin hatte sie sich während des II. Weltkriegs Zugang zum Warschauer Ghetto verschafft und 2500 jüdischen Kindern auf abenteuerliche Weise das Leben gerettet – durch Abwasserkanäle, betäubt in Kisten und Säcken, im Müll oder sogar im Sarg.

Von Weihbischof Andreas Laun

Man denkt oft und erinnert immer wieder an das unvorstellbare Böse, das mit Hitler, Stalin und anderen Sklaven des Teufels in die Welt kam. Aber man denkt zu wenig an die Heiligen, die christlichen, jüdischen und anders gläubigen Heiligen, die „in der Wahrheit lebten“ (V. Havel) und so Zeugnis für Gott ablegten. „Niemals vergessen“, sagt man und denkt an das Böse. Zuerst sollte man das Gute „niemals vergessen“, das Heroische, das Heilige! Eine solche Geschichte ist diejenige der Frau Irena Sendler:

Als Krankenschwester für Epidemienkontrolle verschaffte sich Irena Sendler Zugang zum Warschauer Ghetto und schmuggelte zusammen mit Helfern 2500 jüdische Kinder aus dem Ghetto, um sie in polnischen Familien, Klöstern und Waisenhäusern unterzubringen. Über Kontakte innerhalb des Wohlfahrtsministeriums erhielten die Kinder falsche Papiere.

Die Kinder schmuggelte sie versteckt in einer Werkzeugkiste, die sie mit sich trug. Hinten in ihrem Lastwagen hatte sie einen Leinensack für größere Kinder. Ganz wichtig dabei war auch der Hund, den sie mitführte und den sie darauf abgerichtet hatte, zu bellen, wenn die Nazi-Soldaten sie ins Ghetto hinein und vor allem heraus fahren ließen. Das Bellen sollte die Geräusche der Kinder, ihr Weinen vor allem, übertönen, und mit dem Hund wollten die Wachen ohnehin nichts zu tun haben! Auf diese Weise konnte sie 2500 Kinder herausschmuggeln! 

Aber 1943 wurde Irena Sendler von der Gestapo verhaftet und zum Tode verurteilt. Unter Folter – man brach ihr beide Beine und Füße – sollte sie die Namen der geretteten Kinder preisgeben, doch sie verriet nichts. Um eine spätere Zusammenführung der Kinder mit ihren Eltern zu ermöglichen, hatte Irena Sendler verschlüsselte Namenslisten geführt und in Einmachgläsern unter einem Apfelbaum in einem Garten versteckt. Eine Freundin konnte Irena Sendler durch Zahlung von Bestechungsgeldern retten: Ein SS-Mann schlug sie auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung nieder und ließ sie am Straßenrand liegen. Von der offiziell „vollzogenen Hinrichtung“ erfuhr sie später über Anzeigetafeln der Besatzer. Daraufhin änderte Irena Sendler ihre Identität und lebte unter falschem Namen bis zum Ende des Krieges im Untergrund.

Im Jahr 1965 wurde Irena Sendler von Yad Vashem mit dem Titel Gerechte unter den Völkern geehrt. Am 10. November 2003 erhielt sie mit dem Weißen Adler für Tapferkeit und großen Mut die höchste Auszeichnung Polens. 2007 wurde sie vom Warschauer Senat geehrt und war eine von 181 Nominierten für den Friedensnobelpreis 2007. Zudem erhielt sie 2007 die internationale Auszeichnung „Kavalier des Ordens des Lächelns“. 2009 entstand der US-amerikanische Fernsehfilm The Courageous Heart of Irena Sendler (vgl. dazu Wikipedia).

Zur mahnenden Erinnerung

„Das war ein Vorspiel nur – dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Dieses Zitat von Heinrich Heine aus dem Jahr 1823 gilt als prophetisch. Es wird auf vielen Mahnmalen wiedergegeben, die an die Bücherverbrennungen der Nazis 1933 erinnern. Nun wurde es auch für eine Tafel in Salzburg verwendet, wo eine solche Verbrennung von Büchern „wider den undeutschen Geist“ nach dem Anschluss Österreichs am 30. April 1938 inszeniert worden war. Die Worte Heines beziehen sich übrigens auf die Verbrennung des Korans in Granada 1499 bei der Rückeroberung durch christliche Ritter.

Von Weihbischof Andreas Laun

Am 30. April 1938, also nicht einmal zwei Monate nach dem Anschluss Österreichs an das Hitlerreich, verbrannten die Nazis in Salzburg jüdische Bücher, aber auch solche katholischer Autoren, und Bücher von politischen Feinden wie Otto von Habsburg! Offenbar verstanden sie, in solchen Fragen hellsichtig wie der Teufel, dass Juden und Christen „eine Brut“ sind, wie sie diese unlösbare Verwandtschaft in Wien nannten, als sie über den Kardinal spottend skandierten: „Innitzer und Jud, eine Brut!“ Sie meinten, damit einen Schritt zu tun in Richtung Freiheit „durch Adolf Hitler“, wie damals ein SS-Mann schrie. Jetzt hat man in Salzburg am Residenzplatz, dem Ort des Geschehens, eine Gedenktafel angebracht, auf der das Wort Heinrich Heines (1823) zu lesen ist: „Das war ein Vorspiel nur – dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen. Zur mahnenden Erinnerung an die am 30. April 1938 von den Nationalsozialisten inszenierte Bücherverbrennung auf dem Residenzplatz. Stadt Salzburg.“ Wie prophetisch Heine sah, bestätigte die Geschichte in Auschwitz und an vielen anderen Orten. Ich, Weihbischof Laun, war zur Enthüllung der Tafel eingeladen, als Vertreter der katholischen Kirche, die man damals in ihren Büchern symbolisch mit verbrannte.

Auch wenn es manche nicht verstanden und die Medien es verschwiegen: Ich habe eine Bücherverbrennung erlebt, und das war so: Vor einigen Jahren fand in Berlin, wie jedes Jahr im September, eine Pro-Life-Demonstration statt, an der sich über 1000 Menschen beteiligten. Begleitet wurde sie von einer großen Zahl von Polizisten, die eine noch größere Zahl von hasserfüllten Gegnern auf Distanz hielten. Und dann geschah es: Ausgerechnet in der Nähe des Bebel-Platzes, auf dem die Nazis in Berlin jüdische und andere Bücher verbrannt hatten, warf man uns eine brennende Bibel vor die Füße, das heilige Buch der Juden und der Christen! Und wieder waren Juden und Christen vereint im Hass seitens der Gottes-Feinde.

So gut Gedenkstätten an das, was „damals“ geschah, sind, verbunden mit dem Ruf „niemals wieder“, und so gut man sich moralisch fühlen mag angesichts der eigenen Entrüstung über die Verbrechen der Vorfahren: Es ist mit solchen Monumenten auch die Gefahr der Ablenkung verbunden: Man schaut in die Vergangenheit und übersieht Gegenwart und Zukunft! In den Menschen, die Bibeln verbrennen und Menschen angreifen, weil sie das heilige Leben von Kindern verteidigen, hat der Nazi-Geist überlebt! Von ihnen gilt der Satz Bertold Brechts: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ oder auch, was Shakespeare dem mörderischen König Macbeth in den Mund legt: „Die Schlange war zerhackt nur, nicht getötet!“ Es gilt: „Die Wahrheit kann untergehen, aber sie ertrinkt nicht“. Darum sollte jede Tafel der Erinnerung an die grauenhafte Vergangenheit zugleich als Tafel der Erinnerung an Gegenwart und Zukunft verstanden werden: Damit wir hellsichtig werden oder hellsichtig bleiben für das himmelschreiende Unrecht, das heute, gedeckt von Gesetzen, an Kindern vor der Geburt begangen wird, in Österreich, in Europa, in der ganzen Welt. Damals sagte man, Hitler führe uns in das „Land der Freiheit“. In welche „Freiheit“ führt uns der Geist, den wir zulassen und für unseren „Führer“ halten? Der Teufel bleibt Teufel, auch wenn er den Pelz neu gefärbt hat! Erkennt ihn die heutige Welt auch in seinem neuen Outfit, auch, wenn er sich als „Krampus“ lustig gibt? So stellt die Gedenktafel auch Fragen, während sie vorgeblich nur von der Bücherverbrennung zu reden scheint! Es ist schon so: Wo man Kinder vor der Geburt zur Tötung freigibt, wird man früher oder später auch geborene Menschen töten! Natürlich zuerst einmal die Alten, und damit hat man ja in manchen Ländern auch schon begonnen. Es gibt gute Gründe zu denken: Man wird die „Zielgruppe“ erweitern, auf andere Menschen hin, die „stören“ oder zuviel kosten. Heinrich Heine hätte die Anwendung seiner Logik auf die heutige Lage wohl für schlüssig gehalten!

Benedikt XVI.: Krankensalbung verdient größere Beachtung

Sakramente der Heilung

In seiner Botschaft zum 20. Welttag der Kranken am 11. Februar 2012 setzt sich Papst Benedikt XVI. mit den „Sakramenten der Heilung“ auseinander. Er ruft die Hirten dazu auf, „den Kranken für die Feier dieser Sakramente mit immer größerer Bereitschaft zur Verfügung zu stehen“ und ihnen darin „die unendliche Barmherzigkeit Gottes“ zu zeigen. Insbesondere die Krankensalbung sei als „Medizin Gottes“ nicht geringer als die anderen Sakramente einzuschätzen. Wörtlich lautet der Appell des Papstes: „Dieses Sakrament verdient heute sowohl in der theologischen Reflexion als auch im pastoralen Handeln gegenüber den Kranken größere Beachtung.“

Von Papst Benedikt XVI. 

In diesem Jahr der unmittelbaren Vorbereitung auf den feierlichen Welttag der Kranken am 11. Februar 2013 in Deutschland, der sich mit der emblematischen Gestalt des Barmherzigen Samariters aus dem Evangelium (vgl. Lk 10,29-37) auseinandersetzen wird, möchte ich den Akzent auf die „Sakramente der Heilung“ legen, das heißt auf das Sakrament der Buße und Versöhnung und auf das Sakrament der Krankensalbung, die ihre natürliche Vollendung in der eucharistischen Kommunion finden.

Heilung der Wunden des Leibes und der Seele

Die im Lukasevangelium berichtete Begegnung Jesu mit den zehn Aussätzigen (vgl. Lk 17,11-19) und insbesondere die Worte, die der Herr an einen von ihnen richtet: „Steh auf und geh! Dein Glaube hat dir geholfen“ (V. 19), sind eine Hilfe, sich bewusst zu werden, wie wichtig der Glaube für jene ist, die von Leid und Krankheit bedrückt die Nähe des Herrn suchen. In der Begegnung mit ihm können sie real erleben: Wer glaubt, ist nie allein! Denn in seinem Sohn überlässt uns Gott nicht unseren Ängsten und Leiden, sondern er ist uns nahe, er hilft uns, sie zu tragen, und er möchte unser Herz in der Tiefe heilen (vgl. Mk 2,1-12).

Der Glaube des Aussätzigen, der, als er sich geheilt sieht, im Gegensatz zu den anderen voll Staunen und Freude als einziger sofort zu Jesus zurückkehrt, um ihm zu danken, lässt erahnen, dass die wiedererlangte Gesundheit Zeichen für etwas Kostbareres ist als die bloß körperliche Heilung: Sie ist Zeichen des Heils, das Gott uns durch Christus schenkt; sie findet Ausdruck in den Worten Jesu: Dein Glaube hat dir geholfen. Wer in Leid und Krankheit den Herrn anruft, kann sich sicher sein, dass seine Liebe ihn niemals im Stich lässt und dass auch die Liebe der Kirche, die sein Heilswirken in der Zeit fortsetzt, niemals schwindet. Die körperliche Heilung, Ausdruck des tieferen Heils, offenbart so die Bedeutung, die der Mensch in seiner Ganzheit von Seele und Leib für den Herrn hat. Jedes Sakrament ist Ausdruck und Verwirklichung der Nähe Gottes, der uns vollkommen ungeschuldet anrührt „durch materielle Wirklichkeiten …, die er in seinen Dienst nimmt, zu Instrumenten der Begegnung zwischen uns und sich selber macht“.[1] „Die Einheit von Schöpfung und Erlösung wird sichtbar. Die Sakramente sind Ausdruck für die Leibhaftigkeit unseres Glaubens, der Leib und Seele, den ganzen Menschen umfasst.“[2]

Der Grundauftrag der Kirche ist sicherlich die Verkündigung von Gottes Reich, ,aber gerade diese Verkündigung selbst soll ein Prozess der Heilung sein: „… die zerbrochenen Herzen heilen‘ (Jes 61,1)“,[3] dem Auftrag entsprechend, den Jesus seinen Jüngern gegeben hat (vgl. Lk 9,1-2; Mt 10,1.5-14; Mk 6,7-13). Der zweifache Aspekt der körperlichen Gesundheit und der Gesundung von den Wunden der Seele hilft uns, die „Sakramente der Heilung“ besser zu verstehen.

Medizin der Beichte – Licht im Dunkel der Verzweiflung

Das Bußsakrament stand häufig im Zentrum der Reflexion der Hirten der Kirche, gerade wegen seiner großen Bedeutung für den Weg des christlichen Lebens, denn „die ganze Wirkung der Buße besteht darin, dass sie uns Gottes Gnade wieder verleiht und uns mit ihm in inniger Freundschaft vereint“.[4] Die Kirche setzt die von Jesus begonnene Verkündigung von Vergebung und Versöhnung fort und lädt so die ganze Menschheit unaufhörlich ein, sich zu bekehren und an das Evangelium zu glauben. Sie macht sich die Mahnung des Apostels Paulus zu eigen: „Wir sind also Gesandte an Christi Statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20). Jesus verkündet und vergegenwärtigt mit seinem Leben die Barmherzigkeit des Vaters. Er ist gekommen, nicht um zu verurteilen, sondern um zu vergeben und zu retten, um Hoffnung zu geben auch im tiefsten Dunkel des Leidens und der Sünde, um das ewige Leben zu schenken; so führt im Bußsakrament, in der „Medizin der Beichte“, die Erfahrung der Sünde nicht zur Verzweiflung, sondern sie begegnet der Liebe, die vergibt und verwandelt.[5] 

Rückkehr in die Umarmung des Vaters

Gott, der „voll Erbarmen ist“ (Eph 2,4) wie der Vater im Gleichnis aus dem Evangelium (vgl. Lk 15,11-32), verschließt keinem seiner Kinder sein Herz, sondern er wartet auf sie, er sucht sie und kommt zu ihnen, dort wo die Ablehnung der Gemeinschaft sie in Isolierung und Spaltung gefangen hält; er ruft sie, sich um seinen Tisch zu versammeln in der Freude des Festes der Vergebung und der Versöhnung. Die Zeit des Leidens, wo die Versuchung aufkommen könnte, der Entmutigung und der Verzweiflung nachzugeben, kann sich so in eine Zeit der Gnade verwandeln, um in sich zu gehen und wie der verlorene Sohn aus dem Gleichnis das eigene Leben zu überdenken, Irrtümer und Versagen zu erkennen, die Sehnsucht nach der Umarmung des Vaters zu spüren und den Weg zum Haus des Vaters zu gehen. In seiner großen Liebe wacht er immer und überall über unser Leben und wartet auf uns, um jedem Sohn und jeder Tochter, die zu ihm zurückkehren, das Geschenk der vollkommenen Versöhnung und der Freude zu machen.

Krankensalbung – das zweifache Geheimnis des Ölbergs

Aus den Evangelien geht klar hervor, dass Jesus den Kranken immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Er hat nicht nur seine Jünger gesandt, ihre Wunden zu heilen (vgl. Mt 10,8; Lk 9,2; 10,9), sondern hat auch ein besonderes Sakrament für sie eingesetzt: die Krankensalbung. Der Jakobusbrief bezeugt diese sakramentale Handlung schon in der ersten Christengemeinde (vgl. 5,14-16): Mit der vom Gebet der Ältesten begleiteten Krankensalbung empfiehlt die ganze Kirche die Kranken dem leidenden und verherrlichten Herrn, damit er ihre Qualen lindere und sie rette, ja die Kirche ermahnt sie, sich geistig mit dem Leiden und Tod Christi zu vereinen, um so zum Wohl des Volkes Gottes beizutragen.

Dieses Sakrament führt uns zur Betrachtung des zweifachen Geheimnisses des Ölbergs, wo Jesus in dramatischer Weise vor dem Weg stand, den der Vater ihm wies, den Weg des Leidens und des äußersten Aktes der Liebe, und dazu ja gesagt hat. In jener Stunde der Prüfung ist er der Mittler, „indem er das Leid und die Passion der Welt in sich trägt, sie in sich aufnimmt und sie in einen an Gott gerichteten Schrei verwandelt, sie vor die Augen und in die Hände Gottes bringt und sie so wirklich zum Augenblick der Erlösung führt.“[6] Aber „der Ölgarten ist auch der Ort, von wo aus er zum Vater aufgestiegen ist und so der Ort der Erlösung. … Dieses doppelte Geheimnis des Ölbergs ist immer mit anwesend im sakramentalen Öl der Kirche … Zeichen der Güte Gottes, die uns anrührt.“[7] In der Krankensalbung wird uns das Öl „gleichsam als Medizin Gottes angeboten – als die Medizin, die uns jetzt seiner Güte versichert, uns stärken und trösten soll, die aber zugleich über den Augenblick der Krankheit hinaus auf die endgültige Heilung verweist, auf die Auferstehung (vgl. Jak 5,14).“[8] 

Geistlicher Nutzen für die ganze christliche Gemeinschaft

Dieses Sakrament verdient heute sowohl in der theologischen Reflexion als auch im pastoralen Handeln gegenüber den Kranken größere Beachtung. Dabei sollen die Inhalte des liturgischen Gebets zur Geltung gebracht werden, die den mit der Krankheit verbundenen verschiedenen Situationen des Menschen angepasst sind und sich nicht nur auf das Lebensende beziehen,[9] weshalb die Krankensalbung im Vergleich zu den anderen Sakramenten nicht als gleichsam „geringeres Sakrament“ angesehen werden darf. Die Aufmerksamkeit und pastorale Sorge für die Kranken ist einerseits Zeichen der Zärtlichkeit Gottes für den Leidenden, andererseits bringt sie aber auch den Priestern und der ganzen christlichen Gemeinschaft geistlichen Nutzen im Bewusstsein, dass sie alles, was sie für den Geringsten getan haben, Jesus selbst getan haben (vgl. Mt 25,40).

Krankenkommunion – Teilhabe an der Hingabe Christi zum Heil aller

In Bezug auf die „Sakramente der Heilung“ sagt der hl. Augustinus: „Gott heilt all deine Gebrechen. Fürchte dich also nicht: All deine Gebrechen werden geheilt werden … Du musst nur zulassen, dass er dich heilt, und darfst seine Hand nicht zurückweisen.“[10] Es handelt sich um kostbare Mittel der Gnade Gottes, die dem Kranken helfen, immer mehr dem Geheimnis des Todes und der Auferstehung Christi gleichförmig zu werden. Zusammen mit diesen beiden Sakramenten möchte ich auch die Bedeutung der Eucharistie unterstreichen. Wird sie in der Zeit der Krankheit empfangen, trägt sie auf einzigartige Weise dazu bei, diese Umformung zu bewirken: Sie lässt nämlich den, der sich vom Leib und Blut Jesu nährt, teilhaben an der Hingabe, die Christus an den Vater zum Heil aller vollzogen hat. Die gesamte kirchliche Gemeinschaft und insbesondere die Pfarrgemeinden sollen dafür sorgen, dass denen, die aus Alters- oder Krankheitsgründen das Gotteshaus nicht aufsuchen können, die Möglichkeit gegeben wird, häufig das Sakrament der hl. Kommunion zu empfangen. So wird diesen Brüdern und Schwestern die Möglichkeit angeboten, ihre Beziehung zum gekreuzigten und auferstandenen Christus zu vertiefen, da sie durch ihr aus Liebe zu Christus hingegebenes Leben an der Sendung der Kirche teilhaben. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass die Priester, die ihre schwierige Arbeit in den Krankenhäusern, Pflegeanstalten und bei den Kranken zu Hause leisten, spüren, dass sie „Diener der Kranken“ sind, „Zeichen und Werkzeug des Mitleidens Christi, das jeden Menschen, der vom Leiden gezeichnet ist, erreichen soll.“[11]

Wegzehrung – Sakrament des Übergangs vom Tod zum Leben

Die Gleichgestaltung mit dem Ostergeheimnis Christi, die auch durch die Praxis der geistlichen Kommunion verwirklicht wird, erhält eine ganz besondere Bedeutung, wenn die Eucharistie als Wegzehrung gespendet und empfangen wird. In jenem Moment des Lebens klingt das Wort des Herrn noch eindringlicher: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Letzten Tag“ (Joh 6,54). Denn vor allem als Wegzehrung ist die Eucharistie nach der Definition des hl. Ignatius von Antiochien „Arznei der Unsterblichkeit, Gegengift gegen den Tod“,[12] Sakrament des Übergangs vom Tod zum Leben, von dieser Welt zum Vater, der alle erwartet im himmlischen Jerusalem.


[1] Predigt in der Chrisam-Messe, 1. April 2010.
[2] Predigt in der Chrisam-Messe, 21. April  2011.
[3] ebd.
[4] Katechismus der Katholischen Kirche, 1468.
[5] vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia, 31.
[6] Lectio divina, Begegnung mit dem Klerus von Rom, 18. Februar 2010.
[7] Predigt in der Chrisam-Messe, 1. April 2010.
[8] ebd.
[9] vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 1514.
[10] Enarrationes in Psalmos, 102,5: PL 1319-1320.
[11] Botschaft zum XVIII. Welttag der Kranken, 22. November 2009.
[12] Epistula ad Ephesios, 20: PG 5, 661.

Wichtiges Thema für Theologie und Volksfrömmigkeit:

Maria als mütterliche Mittlerin in Christus

„Ein wichtiges Thema für Theologie und Volksfrömmigkeit“ nennt Prof. Dr. Manfred Hauke die Frage nach der Funktion Mariens als Mittlerin im Heilswerk Christi. In Anlehnung an die Ausführungen des sel. Johannes Paul II. bezeichnet er Maria als „mütterliche Mittlerin in Christus“ und lässt keinen Zweifel an der universalen Dimension ihrer Gnadenvermittlung. Deshalb hat Hauke auch kein Problem mit dem Titel „Mittlerin aller Gnaden“, sondern setzt sich dezidiert für dessen Anerkennung ein. Prof. Hauke ist ein deutscher katholischer Dogmatiker, der an der Theologischen Fakultät von Lugano doziert. Inzwischen hat er sich als herausragender Mariologe einen Namen gemacht und genießt internationale Anerkennung.

Nicht zuletzt als Einstimmung und Vorbereitung auf unser „Kirche heute Frühjahrsforum“ am 28./29. April 2012 zum Thema „Die Mittlerschaft Mariens“  hat Hauke die Materie in nachfolgendem Beitrag kurz skizziert.[1] Er wird auch als Hauptreferent an der Tagung teilnehmen, die in Marienfried bei Pfaffenhofen a. d. Roth stattfinden wird.

Von Manfred Hauke

Der dritte Teil der Marienenzyklika Johannes Pauls II., „Redemptoris Mater“ aus dem Jahre 1987, trägt den Titel „Mütterliche Vermittlung“. Der Heilige Vater erinnert daran, dass es nach dem hl. Paulus nur einen Mittler geben kann, den Menschen „Christus Jesus, der sich als Lösegeld hingeben für alle“ (1 Tim 2,5-6) (RM 38). Die einzige und universale Mittlerschaft Christi in seiner Menschheit schließt freilich eine menschliche Teilhabe nicht aus, sondern ein. Das wird schon sehr deutlich in der eben genannten Stelle aus dem Ersten Timotheus-Brief: Bevor Paulus von Christus als einzigem Mittler spricht, fordert er auf „zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitten und Danksagung … für alle Menschen … Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter; er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,1-4).

Vielfältige Teilhabe an der einzigen Mittlerschaft Christi

Im Unterschied zu einer protestantischen Deutung der Mittlerschaft Christi, wonach Christus bei der Rechtfertigung des Menschen vor Gott alleine handelt („solus Christus“), gibt es nach paulinischem und katholischem Verständnis eine Mitwirkung des Menschen zum eigenen Heil und für die Rettung anderer. Das wird schon deutlich in den von Paulus erwähnten Fürbitten, durch die wir dazu beitragen, dass Menschen die Erkenntnis der Wahrheit und die himmlische Herrlichkeit erlangen. Maria nimmt auf spezifische Weise an der einzigen Mittlerschaft Christi teil. Der heilshafte Einfluss der Gottesmutter „stützt sich“ nach den Worten des Zweiten Vatikanums „auf die Mittlerschaft Christi, hängt von ihr vollständig ab und schöpft aus ihr seine ganze Wirkkraft“ (Lumen gentium 60).

Von der „Mittlerschaft“ Mariens zu sprechen oder sie als „Mittlerin“ zu bezeichnen, ist ein Zeichen für die analoge Teilhabe an der Mittlerschaft Christi, die wir auch in vielen anderen Bereichen finden: der Name „Christ“ beispielsweise meint die Teilhabe an der messianischen Salbung Christi als Träger des Heiligen Geistes, und der Hinweis auf das „gemeinsame Priestertum“ aller Christgläubigen verstellt nicht die Aufgabe des einzigen Hohenpriesters, sondern bedeutet die Teilhabe am Priestertum Jesu Christi. „Wie … am Priestertum Christi in verschiedener Weise einerseits die Amtspriester, andererseits das gläubige Volk teilnehmen und wie die eine Gutheit Gottes auf die Geschöpfe in verschiedener Weise wirklich ausgegossen wird, so schließt auch die Einzigkeit der Mittlerschaft des Erlösers im geschöpflichen Bereich eine unterschiedliche Teilnahme an der einzigen Quelle in der Mitwirkung nicht aus, sondern erweckt sie“ (Lumen gentium 62).

Universale Dimension der mütterlichen Vermittlung Mariens

Johannes Paul II., der diese Aussagen des Konzils zitiert, spricht dann auch von einer „Mittlerschaft in Christus“ (RM 38). Um die Aufgabe Mariens von der teilhabenden Mittlerschaft der Hierarchie und der gesamten Kirche zu unterscheiden, spricht der Heilige Vater von einer „mütterlichen Vermittlung“, die „mit dem Erlösertod ihres Sohnes eine universale Dimension erlangt, weil das Werk der Erlösung alle Menschen umfasst“ (RM 40).

Die mütterliche Mittlerschaft Mariens umgreift ihre Mitwirkung beim Erlösungswerk Christi auf Erden, von der Verkündigung des Engels bis zum Tod des Sohnes Gottes am Kreuz, aber auch ihre mütterliche Fürbitte vom Himmel her. Um beide Wirklichkeiten zu kennzeichnen, spricht die Theologie auch von der „Miterlöserschaft“ Mariens, womit vor allem ihre Mitwirkung am Erlösungswerk (auf Erden) gemeint ist, und von ihrer Anrufung als „Mittlerin“ oder „Mutter“ der Gnaden. Beides (und nicht nur die „Gnadenmittlerschaft“ kraft der himmlischen Fürbitte) ist gemeint, wenn die Mariologie und kirchliche Lehramt (wie etwa die Enzyklika „Redemptoris Mater“) von der „Mittlerschaft“ Mariens spricht.

Visionen der hl. Katharina Labouré

Wenn wir uns beide Elemente der mütterlichen Vermittlung bildhaft vorstellen wollen, dann können wir an die Visionen der hl. Katharina Labouré erinnern (1830), die zur Prägung der „Wunderbaren Medaille“ geführt haben. Auf der Vorderseite der Medaille sehen wir Maria, wie sie ihre Hände über eine Weltkugel ausbreitet: sie bedeutet die gesamte Menschheit, aber auch jede einzelne menschliche Seele. Von den mit Edelsteinen geschmückten Händen Mariens gehen Strahlen aus von unterschiedlicher Dichte, entsprechend der Unterschiede zwischen den Gnaden. Diese Darstellung ist eine gute Illustration für die universale Gnadenvermittlung durch die Fürbitte Mariens, auch wenn die religiöse Wirklichkeit sich nicht von einem einzigen Bilde einfangen lässt. Weniger bekannt ist freilich der Augenblick der Vision, als die hl. Katharina Labouré sieht, wie Maria die Weltkugel emporhält und sie Gott aufopfert. Diese auf Gott hin gerichtete Bewegung steht für die opfernde Ausrichtung auf Gott, wie sie unter dem Kreuz ihren Höhepunkt erreicht.

Das Lehramt zum Titel „Mittlerin aller Gnaden“

Die Grundaussagen über die mütterliche Mittlerschaft Mariens finden sich in der Heiligen Schrift, sind entfaltet von der kirchlichen Überlieferung und werden weitervermittelt im Lehramt der Kirche. Gerungen wurde und wird dabei besonders um die dogmatische Klarheit über die universale Gnadenmittlerschaft Mariens, wobei die Gottesmutter als „Mittlerin aller Gnaden“ angerufen wird. Als Papst Pius IX. 1854 das Dogma der Unbefleckten Empfängnis verkündete, prägte er gleichsam das Siegel der Unfehlbarkeit auf die von der Kirche bereits geglaubte Wahrheit über die Freiheit Mariens von der Erbsünde. Dadurch wurde die marianische Bewegung machtvoll beflügelt, und die Theologen überlegten, wozu die Kirche denn sonst noch ein marianisches Dogma verkünden sollte. Als Papst Pius XI. in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Fortsetzung des Vatikanischen Konzils vorbereitete, also sozusagen das Zweite Vatikanum, wurden dabei zwei marianische Lehren für eine feierliche Definition erwogen: die Aufnahme Mariens und die häufig als „leichter“ empfundene Teilhabe Mariens an der universalen Gnadenmittlerschaft Christi, ausgedrückt in dem Titel der von Papst Benedikt XV. 1921 bewilligten Messfeier von Maria als „Mittlerin aller Gnaden“. Die leibliche Aufnahme Mariens wurde dann im Jahre 1950 von Papst Pius XII. feierlich definiert, nach einer Umfrage beim Weltepiskopat, aber für die Mittlerschaft steht eine ähnliche Klärung noch aus.

Weltweite Verbreitung in der Marienverehrung

Die theologischen Diskussionen um die universale Gnadenmittlerschaft Mariens wurden vor allem durch den belgischen Kardinal Mercier gefördert, der 1906-1926 Erzbischof von Mecheln war. 1915 richteten die belgischen Bischöfe eine entsprechende Petition an den Heiligen Vater, Benedikt XV., der 1921 einen ersten Schritt in die angezielte Richtung unternahm durch die fakultative Einführung des Festes Mariens als „Mittlerin aller Gnaden“. Allen Bistümern und Ordensgemeinschaften war es freigestellt, dieses Fest einzuführen, das damit eine weltweite Verbreitung fand. Ausgenommen davon waren einige Ortskirchen, z.B. des deutschen Sprachraums.  Das fakultative Formular findet sich noch jetzt im Messbuch von 1962, in der außerordentlichen Form des römischen Ritus, und kann darin auch als Votivmesse verwandt werden. Das Tagesgebet ist aufgenommen unter anderem in den täglichen Gebeten der „Legion Mariens“.

Ökumenische Rücksichten

Gebremst wurden die Bemühungen Kardinal Merciers vor allem durch einige römische Theologen, wie dem Dominikaner Alberto Lepidi, der eine Mitwirkung Mariens am Erlösungswerk (die innere Voraussetzung für die universale Gnadenmittlerschaft) für einen Irrtum der marianischen Neuzeit hielt (in seinem Gutachten 1916 für das Heilige Offizium). Diese Infragestellungen sind heute überwunden, wenn man einmal von Protestanten und katholischen Hyperökumenikern absieht, denn das Zweite Vatikanum spricht mit aller Deutlichkeit davon, dass Maria aktiv am Erlösungswerk Christi mitgewirkt hat.

Es gibt aber nach wie vor theologische Fragen und vor allem ökumenische Rücksichten, die bislang eine dogmatische Definition verhindert haben. Auf dem Zweiten Vatikanum hätte man wahrscheinlich eine solche Klärung erlangen können, denn die mariologische Diskussion (zuletzt im Gefolge des Internationalen Kongresses von Lourdes 1958) war weit fortgeschritten und zahlreiche Bischöfe wünschten eine dogmatische Definition dieser Glaubenswahrheit. Allerdings war es die erklärte Absicht des Konzils, auf dogmatische Definitionen zugunsten pastoral bestimmter Aussagen zu verzichten. Um den evangelischen Christen entgegenzukommen, wählte das Konzil nicht zuletzt unter dem Einfluss deutschsprachiger Würdenträger (insbesondere Kardinal Bea) „pastorale“ Formulierungen, die nicht immer den vollen Gehalt dessen erreichen, was beispielsweise regelmäßig schon seit langer Zeit das päpstliche und bischöfliche Lehramt verkündete.

Auf den Begriff „Miterlöserin“ verzichtete man schon im Vorfeld der konziliaren Diskussion, um die Protestanten nicht zu verstimmen, obwohl man gleichzeitig anmerkte, der Begriff als solcher sei vollkommen richtig.

„Marianische Eiszeit“ nach dem Konzil

Diese ökumenische „Leisetreterei“ (wie Luther sie nennen würde) hat zu einer Stimmung beigetragen, die der Marienfrömmigkeit abträglich war und nach dem Konzil vielerorts zu einer Art „marianischer Eiszeit“ geführt hat. Schon Papst Paul VI. versuchte, dagegen zu arbeiten (vor allem 1974 mit „Marialis cultus“), und Johannes Paul II. hat einen geistigen „Klimawandel“ gefördert, der auch die Erwähnung der Mittlerschaft Mariens wieder theologisch „salonfähig“ machte. Um das Konzil gerecht zu beurteilen, sei auch angedeutet, dass die im Haupttext nicht klar genannten Gehalte zur Mittlerschaft Mariens zumindest in den Fußnoten vorkommen (in den dort genannten Dokumenten der Überlieferung und des päpstlichen Lehramtes). Sollte vielleicht in 200 Jahren ein Drittes Vatikanum die universale mütterliche Mittlerschaft Mariens in Christus definieren wollen, bräuchte es sozusagen nur die Fußnoten des Zweiten Vatikanums zur Geltung zu bringen (mit Aussagen etwa der griechischen Kirchenväter aus dem 8. Jahrhundert sowie der Päpste Leo XIII. und Pius X.).

Zeugnis Papst Benedikts XVI.

Dass die Situation sich inzwischen geändert hat, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sogar ein berühmter deutscher Konzilstheologe in der Lage war, die überlieferte Lehre für sich neu zu entdecken und öffentlich zur Geltung zu bringen: gemeint ist Joseph Ratzinger, der als Papst Benedikt XVI. beispielsweise in Brasilien, bei der Heiligsprechung des Franziskaners Fra Galvao, mit aller Klarheit von der universalen Gnadenmittlerschaft der Gottesmutter sprach: „Es gibt in der Heilsgeschichte keine Frucht der Gnade, die nicht als notwendiges Werkzeug die Vermittlung Unserer Lieben Frau hätte. … Danken wir Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist, von denen uns auf die Fürsprache der Jungfrau Maria aller Segen des Himmels kommt …“ (11. Mai 2007).

Für die richtige Erschließung der mütterlichen Mittlerschaft Mariens sind freilich Irrwege zu vermeiden und bestimmte praktische Vorschläge zur dogmatischen Definition, die einer systematischen Prüfung nicht standhalten. Eine Neuentdeckung der geistigen Mutterschaft Mariens wird sicherlich dazu beitragen, das Geheimnis Christi voller zu erfassen: „durch Maria zu Jesus“ betont der hl. Grignion de Montfort. Und von da aus erweist sich Maria als „Stern der Neuevangelisierung“ (Benedikt XVI., Ansprache vom 15.11.2011).


[1] Weitere Belege zum Thema finden sich in der vom Verfasser erstellten Fachliteratur (vgl. www.manfred-hauke.de, „Mariologie“), z.B. im Aufsatz „Maria als mütterliche Mittlerin in Christus. Ein systematischer Durchblick“, in Sedes Sapientiae. Mariologisches Jahrbuch 12 (2-2008), 13-53 (gratis bei www.teol.de), und in „Maria – ‚Mittlerin aller Gnaden’“ (Mariologische Studien 18), Pustet, Regensburg 2004.

Einheit nur in der Fülle der Wahrheit

„Herbstlese – das ist ein Dokument der Liebe zur Kirche und deren Tradition…“ So stellen sich zwei Bände mit ausgewählten Vorträgen und Predigten des emeritierten Bamberger Erzbischofs Dr. Karl Braun sehr treffend vor.[1] Das soeben erschienene Zeugnis eines herausragenden Hirtendienstes enthält auch zahlreiche Gedanken über das Verhältnis zur evangelischen Kirche. Nachfolgend ein Auszug aus dem „Hirtenwort zur Ökumene“ vom 7. Februar 1986, das im Vorfeld des Lutherjahres 2017 eine ganz neue Aktualität besitzt.

Von Erzbischof em. Karl Braun

Die Einheit, die uns die Hl. Schrift bezeugt, ist von Grund auf Einheit in der Wahrheit: „Ein Herr, ein Glaube“ (Eph 4,5). Dieses Wort des Apostels macht deutlich, dass es christliche Einheit nicht außerhalb der Wahrheit geben kann. Darum müssen wir „uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten“ (Eph 4,15). Im Gegensatz dazu steht die alltägliche Erfahrung, dass heute bei vielen Christen die Frage nach der Wahrheit einen geringen „Kurswert“ hat.

Dem Handeln wird der Vorrang zuerkannt.[2] Angesichts dieser Tendenz gilt es zu bedenken, was bereits zu seiner Zeit ein so engagierter Ökumeniker wie der evangelische Pastor Dietrich Bonhoeffer (gest. 1945) gesagt hat: „Wo … jenseits von dem Wahrheitsanspruch einer Kirche die Einheit mit einer anderen Kirche gesucht wird, dort wird die Wahrheit verleugnet, dort hat sich die Kirche selbst aufgegeben.“ Wir können die Einheit also nicht dadurch herstellen, dass wir die Wahrheitsfrage nicht mehr ernst nehmen oder sie ausklammern. Einheit entsteht nicht dadurch, dass „jeder halt ein bisschen nachgibt“, die Katholiken etwas weniger katholisch und die evangelischen Christen etwas weniger evangelisch sind. Ein „Weniger“ im Glauben, ein Einigungsversuch auf Kosten der Wahrheit würde die Probleme nicht lösen, sondern nur aufschieben.

Die ersehnte Einheit aller Christen kann auch nicht bloß durch das Aufeinanderzugehen in wohlwollender Gesinnung, aufrichtiger Herzlichkeit und tatkräftiger Zusammenarbeit erreicht werden, sie setzt vor allem die Klärung von Glaubensfragen voraus. Das Ringen um die Wahrheit ist nicht nur ergänzendes Gegenstück zum ökumenischen Handeln, sondern zutiefst dessen Grundlegung. Eine Schein-Einheit von Kirchengemeinschaften, die in wesentlichen Glaubensfragen uneinig sind, stünde auf tönernen Füßen.

Es genügt nicht, Christus so ganz allgemein als die Wahrheit anzuerkennen und ihm im Glauben verbunden zu sein. Die Wahrheit des Herrn ist in Glaubenssätzen entfaltet, zu denen wir uns bekennen müssen. Dabei ist uns die Sorge um die Wahrheit in ihrer Fülle aufgegeben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat es nicht unterlassen, dieses Anliegen aufzugreifen, indem es feststellt, dass zwar die „katholische Kirche mit dem ganzen Reichtum der von Gott geoffenbarten Wahrheit und der Gnadenmittel beschenkt ist“, aber „ihre Glieder nicht mit der entsprechenden Glut daraus leben, sodass das Antlitz der Kirche den von uns getrennten Brüdern und der ganzen Welt nicht recht aufleuchtet und das Wachstum des Reiches Gottes verzögert wird“.[3]

Diese Feststellung unterstreicht die große Verantwortung, die wir hinsichtlich des Zeugnisses unseres Lebens, aber auch gegenüber dem Wahrheitsanspruch der vollen Botschaft Christi haben. Wir nehmen diese unsere Verantwortung deshalb mit der uns allen aufgetragenen Demut (vgl. Eph 4,2) wahr. Sie hindert uns, gegenüber den anderen Christen überheblich zu sein, und mahnt, dass wir – wie der um die Einheit aller Christen verdiente Kardinal Julius Döpfner einmal sagte – „lieber bei aller Dankbarkeit erzittern … von der Tatsache, Glieder der Kirche in vollem Sinn zu sein. Solch demütige Gesinnung wird freilich immer verbunden sein mit der inneren Treue zur Wahrheit Jesu Christi, dann ist sie eine ökumenische Grundhaltung, die uns so sehr nottut.“[4]

In diesem Sinn und in Weiterführung der Konzilsaussagen betont Papst Johannes Paul II., „dass die katholische Kirche weder ihre Lehre modifizieren oder relativieren noch die Fülle dessen leugnen kann, dessen Trägerin sie ist als die Gemeinschaft, in der die Kirche Christi Bestand hat. Aber sie muss offen und empfänglich sein für die wahrhaft christlichen Güter aus dem gemeinsamen Erbe, die sich bei den von uns getrennten Brüdern finden, denn was wahrhaft christlich ist, steht niemals im Gegensatz zu den echten Gütern des Glaubens, sondern kann immer dazu helfen, dass das Geheimnis Christi und der Kirche vollkommener erfasst werde.“[5] 

Der Weg zur Einheit kann nur der Weg zur Fülle der Wahrheit sein. Es ist der Weg, auf dem alle Christen in „brüderlichem Wettbewerb zur tieferen Erkenntnis und deutlicheren Darstellung der unerforschlichen Reichtümer Christi angeregt werden.“[6]


[1] Erzbischof Karl Braun, Herbstlese. Überlegungen zum Glauben, Kisslegg 2011, geb. mit Schutzumschlag, Bd. 1: 400 S., ISBN 978-3-86357-024-8, Bd. 2: 420 S., ISBN 978-3-86357-025-5, je Band € 9,95.
[2] An die Stelle des rechten Glaubens (Orthodoxie) wird das rechte Tun (Orthopraxie) gesetzt. Ohne Rücksicht auf die Glaubenslehre der Kirche sucht man die Einheit der Christen um jeden Preis durchzusetzen, indem vollendete Tatsachen geschaffen werden.
[3] Zweites Vatikanisches Konzil, Unitatis redintegratio, Dekret über den Ökumenismus, 4.
[4] Kardinal Julius Döpfner, Predigt beim Gottesdienst auf dem 81. Deutschen Katholikentag in Bamberg am 15. Juli 1966.
[5] Papst Johannes Paul II., Rede vor der Versammlung der Ökumene-Beauftragten der Bischofskonferenzen in Rom vom 27. April 1985.
[6] Unitatis redintegratio,11. In diesem Wettbewerb kommt den Theologen eine wichtige Aufgabe zu. In der von Jahr zu Jahr sich verschärfenden Diasporasituation der Christen, in einer Zeit, in der es um Sein oder Nichtsein des Christentums überhaupt geht, sind kleinliche Streitereien unverantwortbar. Andererseits müssen die noch bestehenden Unterschiede in wesentlichen Glaubensfragen – so z.B. hinsichtlich des Amts- und Eucharistieverständnisses – ernst genommen werden.

Erzbischof Zollitsch: „Sich mit Luther beschäftigen“

Ökumene im Licht des Lutherjubiläums

Eine Woche vor Weihnachten veröffentlichte das Nachrichtenmagazin FOCUS als Titelgeschichte einen Beitrag über Martin Luther im Blick auf das 500jährige Jubiläum der Reformation 2017. Darin wird unter anderem auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Dr. Robert Zollitsch, zitiert. Der Erzbischof erklärte, das „Reformationsgedenken“ biete auch für katholische Christen eine Gelegenheit, sich mit Luther zu beschäftigen. Pfarrer Erich Maria Fink stellt die Frage, wie diese Anregung zu verstehen sei. Besorgt blickt er auf die heftigen Reaktionen, welche die Äußerungen des Erzbischofs hervorgerufen haben. Denn Fink ist überzeugt, dass eine zunehmende Polarisierung in Bezug auf die Person Luthers dem berechtigten ökumenischen Anliegen schadet. Eine Förderung der Einheit zwischen den Konfessionen erwartet er dagegen von einer besonnenen und umfassenden Auseinandersetzung mit dem theologischen Gedankengut Luthers.

Von Erich Maria Fink

Der ewige Rebell“ – so charakterisierte das Nachrichtenmagazin FOCUS vom 19. Dezember 2011 (Nr. 51) schon in der Überschrift ihres Titelbeitrags den Wittenberger Reformator Dr. Martin Luther. Die Autoren Markus Krischer und Alexander Wendt zeichnen ein durchaus kritisches Bild, das mit manchen Klischees bricht und um eine objektive Interpretation des damaligen Geschehens bemüht ist. Zumindest klingen viele interessante Aspekte an, welche die moderne Lutherforschung zu Tage gefördert hat.

Hintergrund der Äußerungen von Erzbischof Zollitsch

Der Artikel geht ausführlich auf den „Moment der Erleuchtung“ des Reformators ein, der als sog. „Turmerlebnis“ bekannt ist. „Luther selbst beschrieb diese Erkenntnis als blitzartige Eingebung“, so stellen die Autoren zunächst fest, fügen dann aber hinzu: „Der begnadete Selbststilisierer und Vereinfacher wird gewusst haben, dass ihm seine zündende Idee nicht urplötzlich aufgegangen war.“ Anschließend wird der tatsächliche Verlauf der Entwicklung des theologischen Denkens Luthers skizziert.

Überraschenderweise werden die Missstände in der katholischen Kirche nicht als entscheidende Ursache herausgestellt: „Andere Forscher diagnostizierten als ‚objektiven‘ Grund für die Reformation eine angebliche Schwäche der katholischen Kirche. Morbide Strukturen und eine unfähige, moralisch verkommene Führungselite sollen eine radikale Erneuerung des Glaubens erst ermöglicht haben. Inzwischen jedoch hat sich in der Forschung die Überzeugung durchgesetzt, dass weder psychiatrische noch soziologische Analysen das Phänomen Luther begreifen.“

Als Resümee wird demgegenüber die Ansicht des Oxforder Historikers Diarmaid MacCulloch (geb. am 31.10.1951) ins Feld geführt: „Nur wer sich darüber im Klaren ist, welche enorme Bedeutung Glaubensfragen im späten Herbst des Mittelalters besaßen, vermag die Kraft des ketzerischen Mönchs aus Wittenberg einzuschätzen … Für die Menschen des 16. Jahrhunderts eröffneten neue Ideen fantastische Welten – oder furchtbare Abgründe.“ Und die Linie führe von Paulus über Augustinus zu dem französischen Gelehrten Jakob Faber Stapulensis. Die „bahnbrechenden“ Kommentare Fabers zu den Paulus-Briefen, die im Jahr 1512 erschienen seien, hätten Luther entscheidend beeinflusst.

Auf diesem Hintergrund wird gegen Ende des Artikels der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz zitiert: „Gegenüber FOCUS erklärte Erzbischof Robert Zollitsch, der Papst habe in Erfurt ‚keinen Zweifel daran gelassen, dass es Martin Luther mit seiner immensen geistigen Kraft um den Glauben an Jesus Christus, um einen Gott der Gnade, Barmherzigkeit und Liebe zu tun war‘. Die von Luther nie gewollte Spaltung der Kirche, so Zollitsch, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und damit der oberste Katholik des Landes, habe ‚zu viel Unglück in Deutschland geführt‘. Das ‚Reformationsgedenken‘ biete auch für katholische Christen eine Gelegenheit, sich mit Luther zu beschäftigen – und in ihm einen ‚zutiefst gläubigen Menschen zu entdecken‘.“

Etwas sarkastisch wird der irenische Vorstoß mit dem Kommentar versehen: „Wie Luther auf die versöhnlichen Töne seiner Gegner reagiert hätte? Er hätte sich amüsiert. Und sofort darauf aufmerksam gemacht, dass er zu keinerlei Kompromissen bereit wäre. So wie er es einst dem Gelehrten Cuspinian geschrieben hatte: ‚Nicht einen Buchstaben‘ werde er widerrufen, wenn Christus ihm gnädig sei.“ Der in klassischen Sprachen hoch gebildete Humanist Johannes Cuspinian aus Wien stand damals als Diplomat im Dienst des Kaisers. Für unsere Überlegungen ist es nicht unerheblich, dass das Nachrichtenmagazin FOCUS die Aussagen von Erzbischof Zollitsch im Zusammenhang mit der theologischen und geistesgeschichtlichen Einordnung der reformatorischen Ideen Luthers in den Artikel aufgenommen hat.

Meldung der Deutschen Bischofskonferenz

Unverzüglich meldeten KNA und „Katholisch.de“, das offizielle Internetportal der katholischen Kirche in Deutschland, deren Redaktion nach eigenen Angaben im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz arbeitet: „Zollitsch: Katholiken sollen Luther neu entdecken“. Mit Verweis auf den FOCUS-Artikel heißt es: „Angesichts des 500-jährigen Reformationsgedenkens im Jahr 2017 lädt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, die Katholiken ein, sich verstärkt mit Martin Luther zu befassen.“ Und losgelöst vom Gesamtzusammenhang des genannten Beitrags wird die oben zitierte Äußerung des Erzbischofs wiedergegeben. Die Meldung wurde erwartungsgemäß von zahlreichen Medien aufgegriffen oder unverändert veröffentlicht. Das Magazin „Stern“ beispielsweise brachte sie unter der Schlagzeile: „Katholische Bischofskonferenz wirbt für das Lutherjahr 2017“.

Im FOCUS-Artikel ist den Autoren allerdings ein Fehler unterlaufen. Unzutreffend heißt es dort: „Wie schwer sich Rom mit einer Positionierung tut, zeigte gerade der Deutschland-Besuch des Papstes in diesem Sommer. Benedikt sprach im früheren Augustiner-Kloster in Erfurt, dort, wo ein halbes Jahrtausend zuvor der wirkmächtigste Gegner der katholischen Kirche in den Orden aufgenommen worden war. Das Wort ‚Luther‘ aber entfuhr Benedikt bei seiner Rede nicht einmal. Wollte er damit übertriebene Hoffnungen ersticken, oder ging es ihm im Gegenteil darum, die Wucht des symbolischen Besuchs zu verstärken?“

Tatsächlich aber nannte Benedikt XVI. in Erfurt Luther wiederholt beim Namen. Er baute seine Rede von Anfang an auf das Lebenszeugnis Luthers auf. So begann er mit dem Hinweis: „Hier hat Luther Theologie studiert. Hier hat er seine erste Hl. Messe gefeiert. Gegen den Wunsch seines Vaters ist er nicht beim Studium der Rechte geblieben, sondern hat Theologie studiert und sich auf den Weg zum Priestertum in der Ordensgemeinschaft des hl. Augustinus gemacht. Und auf diesem Weg ging es ihm ja nicht um dieses oder jenes. Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist. ‚Wie kriege ich einen gnädigen Gott‘: Diese Frage hat ihn ins Herz getroffen und stand hinter all seinem theologischen Suchen und Ringen. Theologie war für Luther keine akademische Angelegenheit, sondern das Ringen um sich selbst, und dies wiederum war ein Ringen um Gott und mit Gott.“ Und ein wenig später unterstrich der Papst: „Luthers Denken, seine ganze Spiritualität war durchaus christozentrisch: ‚Was Christum treibet‘, war für Luther der entscheidende hermeneutische Maßstab für die Auslegung der Hl. Schrift.“

Diese Aussagen des Papstes veranlassten Bischof Gerhard Ludwig Müller von Regensburg, den Beauftragen der Deutschen Bischofskonferenz für die Fragen der Ökumene, in einem mit der „Zeit“-Beilage „Christ & Welt“ geführten Interview zu der Deutung: „Es ist sicher eine Rehabilitation, wenn der Papst als Oberhaupt der katholischen Kirche die theologische, christozentrische Dimension der Theologie Luthers würdigt.“ Und nachdrücklich bekräftigte er: „Luther wollte die Einheit der Kirche und eine Erneuerung der Kirche in Jesus Christus… Er wollte keine Kirche, die sich nach ihm benennt, und er wollte schon gar nicht, … dass sich seine Bewegung in unterschiedliche kirchliche Gemeinschaften aufgesplittert hat.“

Bemühen der katholischen Kirche

Die Äußerungen der Bischöfe Müller und Zollitsch, die sich beide auf Benedikt XVI. berufen, sind grundsätzlich zu begrüßen. Sie gehen in eine gemeinsame Richtung: Die katholische Kirche ist bemüht, den kämpferischen Konfessionalismus endgültig zu überwinden – mit dem unaufgebbaren Ziel, sobald wie möglich wieder eine sichtbare Einheit herzustellen. Als wichtigen Anknüpfungspunkt betrachtet sie die Gestalt Luthers. Denn seine Verwurzelung in der katholischen Tradition hat er trotz aller Brüche mit der damaligen Kirchenleitung und ihren Gepflogenheiten nie vollkommen beiseite geschoben. Im Abstand von 500 Jahren kann die katholische Kirche die ursprünglichen Anliegen des Reformators ganz anders beurteilen und sich in gewissem Maß auch zu eigen machen. In Erfurt fasste Benedikt XVI. diesen Weg mit den Worten zusammen: „Es war der Fehler des konfessionellen Zeitalters, dass wir weithin nur das Trennende gesehen und gar nicht existentiell wahrgenommen haben, was uns mit den großen Vorgaben der Hl. Schrift und der altchristlichen Bekenntnisse gemeinsam ist.“

In wie weit es wirklich möglich ist, Luther gleichsam wieder in die katholische Kirche zurückzuholen, wie es in diesen Tagen häufig heißt, wird der weitere Verlauf der ökumenischen Beziehungen bezeigen. Jedenfalls ist es von großem Nutzen, dass die Initiative der katholischen Kirche in Richtung Luther von der Öffentlichkeit bemerkt und positiv aufgenommen wird. Es muss uns ein Anliegen sein, dass das Lutherjahr 2017 in einer  gegenseitig wohlwollenden Atmosphäre vorbereitet und gefeiert wird. Nur so kann es für eine weitere ökumenische Annäherung fruchtbar werden.

Problem der Glorifizierung Luthers  

Doch bleiben einige Fragen offen. Einmal geht es um die Person Luthers selbst. Luther war kein Heiliger. Die Darstellungen des Reformators als Helden oder heiligmäßigen Reformer wie z.B. in verschiedenen Filmen provozieren einen unseligen Pendelausschlag in die andere Richtung. Dies ist sowohl bei Christen unterschiedlicher Konfessionen als auch aufseiten atheistischer Kreise zu beobachten. Im Zeitalter des Internets wird bei einer übermäßigen Glorifizierung Luthers geradezu explosionsartig eine Fülle von Informationen über den Reformator ausgeschüttet, welche seine dunkelsten Seiten hervorkehren. Solche Wellen der Aggression aber dienen letztlich nicht der Aufklärung, sondern können die sachliche Auseinandersetzung mit dem Denken Luthers verbauen und der weltweiten Glaubensgemeinschaft protestantischer Christen großes Unrecht tun.

Deshalb sollten wir von katholischer Seite aus sehr behutsam vorgehen, wenn wir Luther beurteilen. Ein undifferenziertes Lob hilft niemandem. Es wird nicht als ehrlich empfunden und löst bei vielen eine Abwehrreaktion aus. Der Papst war in seiner Wortwahl zwar entgegenkommend, aber sehr vorsichtig. Er bezeichnete Luther nicht als einen „zutiefst gläubigen Menschen“, wie Erzbischof Zollitsch es tat. Auch sprach er nicht von einer „Rehabilitierung“ Luthers, wie sie von Bischof Müller behauptet wurde, der im Übrigen auch nicht erklärte, in welchem Sinn nun kirchliche Verurteilungen aufgehoben worden wären oder wie die Kirche ihre Haltung zur Person Luthers geändert hätte. Beide Äußerungen aber erwecken den Eindruck, als sei Luther bisher verkannt worden und müsse endlich als vorbildliche Gestalt des Glaubens „entdeckt“ werden. Wenn außerdem die Katholiken in ihrer Gesamtheit dazu aufgefordert werden, Luther in diesem Licht neu zu begreifen, laufen wir meines Erachtens Gefahr, genau das Gegenteil von dem zu erreichen, was wir mit den gutgemeinten, versöhnlich klingenden Worten ursprünglich beabsichtigt haben.

Geht man den Aussagen von Erzbischof Zollitsch im Internet nach, wird man mit unzähligen empörten Stellungnahmen konfrontiert. Die Polarisierung, die der Vorstoß heraufbeschworen hat, erfüllt mich mit echter Sorge. Eigentlich ist es nicht in meinem Sinn, hier die Zitate Luthers wiedergeben, die dem Leser entgegengeschleudert werden und in der Tat erschreckend sind. Doch möchte ich die verhängnisvolle Wirkung an einem Beispiel verdeutlichen. Schon bei der ersten Suche nach der entsprechenden Meldung wurde ich auf eine politisch ausgerichtete Webseite geführt, die im Impressum als Verantwortlichen die „dts“, „Deutsche Textservice Nachrichtenagentur GmbH“, angibt. Sofort wird dem Bemühen des Erzbischofs ein Zitat aus der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ entgegengehalten, die Luther 1542 verfasst hat, und zwar in folgender Zitierung: „Die Juden sind ein solch verzweifeltes, durchböstes, durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und noch sind. Summa, wir haben rechte Teufel an ihnen...; man sollte ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecken, ... unserem Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien ... ihre Häuser desgleichen zerbrechen und zerstören.“ Und wie nicht anders zu erwarten wird Luther im selben Atemzug mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. Ja, seine Schriften werden gar als Grundlage für die Nazi-Verbrechen ausgemacht. Wer glaubt, diese Keule treffe nur Protestanten, hat sich wohl getäuscht. Sie kann die christenfeindliche Stimmung in Europa anheizen und auch auf die katholische Kirche zurückfallen.

Fragliche Empfehlung der Schriften Luthers

Damit sind wir bereits beim anderen Problem. Ohne Zweifel muss man sich mit Luther, seiner Biographie und seinen Werken beschäftigen, wenn man die europäische Geschichte, die neuzeitliche Philosophie und die Landschaft der heutigen christlichen Glaubensgemeinschaften verstehen will.

Aber die Äußerungen von Erzbischof Zollitsch gehen wesentlich weiter. Sie legen den Katholiken die Beschäftigung mit dem Glaubenszeugnis Luthers ans Herz. Das wirft die Frage auf, ob die Lektüre seiner Schriften den katholischen Gläubigen wirklich zur Vertiefung ihres Glaubens empfohlen werden kann.

Mit einer positiven Voreinstellung habe ich auf den Aufruf des Erzbischofs hin zahlreiche Schriften Luthers studiert: seine 95 Thesen gegen Missbräuche beim Ablass (31. Oktober 1517), seine drei reformatorischen Hauptschriften, zunächst die Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ mit ihrem politischen Reformprogramm (1520), sodann die ursprünglich auf Latein abgefasste Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ über die Reduzierung der Sakramente (1520) und schließlich die Denkschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ in 30 Thesen (Oktober 1520) als Antwort auf die Bann-Androhungsbulle Exurge Domine Papst Leos X. mit 41 als Irrtümer verurteilten Sätzen (15. Juni 1520), außerdem die Schrift „De servo arbitrio“ – „Vom unfreien Willen“ als Antwort auf Erasmus von Rotterdam (1525) sowie weite Teile des Großen Katechismus – Deudsch Catechismus (1529) und Abschnitte des umfangreichen Kommentars zum Galaterbrief (1531 – überarbeitet 1535).

Luther hat mich einige Tage und Nächte lang in Beschlag genommen. Ich bin dankbar, dass ich diese Werke Luthers endlich einmal selbst gelesen und mir im Zusammenhang zu Gemüte geführt habe. Mir ist klar geworden, dass die ganze Sekundärliteratur, die ich bisher in meinem Leben kennengelernt habe, nicht ausreicht, um ein authentisches Gespür für Luther und sein Anliegen zu entwickeln.

Gleichzeitig aber möchte ich meine Einschätzung, die ich hiermit zur Diskussion stelle, vorwegnehmen und folgendermaßen zusammenfassen:

Es wäre meines Erachtens unverantwortlich, einfachen Gläubigen der katholischen Kirche die Lektüre der Schriften Luthers uneingeschränkt zu empfehlen. Sie sind im Großen und Ganzen nicht geeignet, den Glauben zu vertiefen. Im Gegenteil, bei unbedarften Katholiken würde die Lektüre zu einer heillosen Verwirrung führen und viele Fragezeichen hinterlassen. Fast bei jedem Abschnitt müsste eine intensive Auseinandersetzung stattfinden, um aufzuzeigen, was nach katholischem Verständnis falsch und was richtig ist. In unserer schnelllebigen Zeit von normalen Gläubigen eine solche Unterscheidung zu erwarten, ist vollkommen unrealistisch. Dies hat nichts damit zu tun, dass irgendjemandem die Mündigkeit abgesprochen oder das Schriftgut Luthers vorenthalten werden soll. Doch ein kirchlicher Oberhirte darf den Gläubigen nur das ans Herz legen, was aufbaut und dem Glaubenssinn der Kirche uneingeschränkt entspricht. Ansonsten muss er von vornherein aufzeigen, worauf die Gläubigen bei der Lektüre zu achten haben. Gegenüber den Schriften Luthers stellt beispielsweise der „Katechismus der Katholischen Kirche“ aus dem Jahr 1992, der häufig als kompliziert und zu umfangreich abgestempelt wird, eine himmlische Kost dar, verständlich und klar.  

Andererseits ist zu wünschen, dass sich alle, die offiziell bzw. auf hoher Ebene für Fragen der Ökumene verantwortlich sind, mit den Schriften Luthers vertraut machen. Nur so kann überhaupt ein sinnvolles Gespräch zustande kommen. Vor allem aber wächst dadurch ein Verständnis für die Haltung der katholischen Kirche, die sich nicht in der Lage sieht, mit wehenden Fahnen Luther nachzufolgen, sondern die Wahrheitsfrage stellt. Ähnlich wäre auch den Protestanten und evangelischen Freikirchen zu empfehlen, Luther so kennenzulernen, wie er wirklich ist, um ihre eigene Identität zu überprüfen und ihren Glaubensweg zu finden.

Das Anliegen Luthers

Es kann nicht geleugnet werden, dass das Erscheinungsbild der katholischen Kirche im 16. Jhdt. die christliche Botschaft verdunkelt hat. Wir können heute unschwer nachvollziehen, warum das Auftreten Luthers zu einem Befreiungsschlag geworden ist, der das Erlösungswerk Christi tatsächlich wieder in die Mitte des kirchlichen Lebens gestellt hat.

Es war das Hauptanliegen Luthers, dem Menschen wieder ganz deutlich Christus als den einzigen Erlöser vor Augen zu führen. Nur der Herr selbst war in der Lage, den Abgrund zwischen Gott und Mensch zu überwinden. Kein menschliches Bemühen kann das Erlösungswerk Christi ersetzen. Die Gnade der Erlösung bzw. Rechtfertigung, wie Luther sie nannte, aber kann sich der Mensch nie durch irgend welche Werke verdienen, sondern wird ihm vollkommen unverdient als Geschenk angeboten. Und der Mensch kann sich diese Gnade allein durch den Glauben aneignen, und zwar durch den Glauben daran, dass Christus, der Sohn Gottes, unsere Sünden am Kreuz auf sich genommen hat. Aber auch dieser Glaubensakt ist nicht Verdienst des Menschen; denn Glauben ist dem Menschen ohne gnadenhaftes Einwirken des Hl. Geistes nicht möglich. 

Soweit entspricht die zentrale Botschaft Luthers noch ganz der katholischen Lehre. Sie wurde auf dem anschließenden Reformkonzil von Trient sogar in eine dogmatische Form gefasst, vor allem im Dekret „Cum hoc tempore“ über die Rechtfertigung vom 13. Januar 1547.

Doch Luther war bestrebt, das Gewissen von jeglichem Druck zu befreien und die existentielle Heilsgewissheit so weit als möglich zu untermauern. Aus diesem Grund ordnete er dem Prinzip der Rechtfertigung alleine aus Gnade (sola gratia) und allein aus Glauben (sola fide) alle anderen Fragen des Glaubens unter. Keinem menschlichen Tun misst er auch nur die geringste Bedeutung für das ewige Heil bei. So verwirft er einerseits die sakramentale Vollmacht des Priesters und die Wirkung der Sakramente durch den Vollzug der Handlung (ex opere operato), andererseits sogar den freien Willen des Menschen überhaupt.

Bereits 1520 war für Luther der Bruch mit der römischen Kirche unter der Führung des Papstes eine klare Sache. Mit ungestümer Zielstrebigkeit legte er in den drei reformatorischen Hauptschriften das Fundament für eine von Rom unabhängige kirchliche Gemeinschaft der Gläubigen. Als einzige Autorität verblieb das Wort Gottes in der Gestalt der Heiligen Schrift. Doch wie sie ausgelegt und verstanden werden muss, gab er selbst vor. Auf kämpferische und unnachgiebige Weise traf er lehrmäßige und kirchenpolitische Entscheidungen. Nicht selten machen sie den Eindruck von Willkür. All das überspielte er mit Selbstsicherheit und geistlichem Sendungsbewusstsein. Seine umfassende Bibelkenntnis verleitete ihn zu einer unverhohlenen Überheblichkeit gegenüber seinen Gesprächspartnern und der gesamten Tradition der Kirche. Mit welcher Radikalität er beispielsweise die Sakramente umdeutete, reduzierte und selbst einem Apostel Jakobus vorhielt, das Sakrament der Krankensalbung selbst erfunden zu haben, brachte seine Verbündeten in eine prekäre Situation. Luther hatte die Weichen so systematisch, umfassend und unverrückbar gestellt, dass sich die Anhänger der Reformation für einen „Absprung“ von der Tradition entscheiden mussten. Es gab keinen Mittelweg. So wurden sie letztlich von Luther in die Kirchen- und Glaubensspaltung hineingeführt.

Die hier vorgenommene Charakterisierung Luthers und seiner Vorgehensweise findet sich fast durchgehend in allen seinen Schriften. Ein Beispiel ist die Art seines Eintretens für den „Empfang des Abendmahls unter beiderlei Gestalt“ in der Schrift „Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche“. Den „Papisten“ und „Papstschmeichlern“ ruft er zu: „Ihr Römer seid Ketzer und gottlose Rottengeister, weil ihr euch einzig eurer Einbildungen rühmt – gegen die klare Schrift Gottes!“ Und deren Aussage fasst er in der behandelten Frage mit den Worten zusammen: „So komme ich zu dem Schluss: es ist gottlos und tyrannisch, den Laien das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu verwehren. Es steht auch nicht in der Macht eines Engels, geschweige denn des Papstes oder eines Konzils. Ich lasse mich dabei durch das Konzil zu Konstanz nicht beirren.“

Der mühsame Weg zur Einheit

Wer die Schriften Luthers unvoreingenommen studiert, findet keine Grundlage für die Behauptung, Luther habe eine Spaltung nie gewollt. Am Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung im Jahr 1517 mag dies noch zutreffen. Aber bereits drei Jahre später ist die Absicht Luthers unverkennbar. Auch wenn sich Luther noch nicht genau vorstellen konnte, wie sein Kampf gegen den Papst enden würde, so schwingt doch bei allen seinen Äußerungen die Hoffnung mit, dass die römische Kirche untergehen und sein Weg als einzige authentische Form des Christentums überleben wird.

Nimmt man also das Vermächtnis Luthers ernst, so muss ehrlich festgehalten werden: Entweder lösen sich die christlichen Gemeinschaften, die auf die Reformation im 16. Jahrhundert zurückgehen, von grundlegenden Prinzipien Luthers, oder es wird eine wirkliche Einheit mit der katholischen Kirche nicht geben. Zielt man aber aufrichtig und ohne Augenwischerei auf eine Einheit ab, so müssen beide Seiten diese Prinzipien miteinander in den Blick nehmen und in einem sachlichen Ringen um die Wahrheit aufarbeiten. Dies ist die Aufgabe der Dialogkommissionen, die bereits erstaunliche Fortschritte erzielt haben. Ein Beispiel ist die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, die am 31. Oktober 1999 vom Vatikan und vom Lutherischen Weltbund unterzeichnet wurde. Am 23. Juli 2006 schlossen sich die Methodisten der Erklärung an. Allerdings hatte sich eine Mehrheit der evangelischen Theologen in Deutschland offiziell von der Erklärung distanziert und sie dadurch in ihrer Bedeutung enorm geschmälert. An diesem Problem scheitern bislang auch weitere Einigungspapiere wie z.B. über das Wesen der Kirche und das kirchliche Amt.

Der Blick nach vorne

Für den Weg in die Zukunft sehe ich verschiedene Anknüpfungspunkte, die eine weitere Klärung erfordern und gleichzeitig neue Türen öffnen können.

Ein erster Punkt ist die Deutung des freien Willens des Menschen. Die protestantische Seite hat bislang keine Antwort auf die Frage gegeben, was wirklich vom Menschen abhängt, wie der Mensch selbst am Akt des Glaubens mitwirkt, ob er sich der Gnade der Rechtfertigung verschließen kann und ob er mit seiner Entscheidung beeinflusst, welche Früchte der Heilige Geist in seinem Leben hervorbringt. Die Antwort auf diesen Fragenkomplex aber bedingt die gesamte Pastoral, von ihr hängt letztlich das Selbstverständnis der Kirche ab. Auch „Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ lässt diesen Punkt im Grunde genommen offen. Am Ende des Dokuments heißt es: „Die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der lutherischen Kirchen wird nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen. Die Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften treffen nicht die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der römisch-katholischen Kirche“ (Nr. 41). Das ist ein wunderbares Ergebnis, ein historischer Meilenstein. Und dennoch dürfen wir die Aussagen des Trienter Konzils nicht unter den Tisch kehren. Denn sie bringen Licht in die genannte Fragestellung. Wir kommen nicht umhin, die erfrischend klaren Differenzierungen des Dekrets „Cum hoc tempore“ auszuwerten und in den gemeinsamen Diskurs einzubringen, bis ein Konsens erreicht ist. Die Antwort muss nicht erst gefunden werden. Sie ist von katholischer Seite bereits im 16. Jahrhundert gegeben worden, und zwar auf sorgfältige Weise und in einem sachlichen Ton. Solange nämlich die Problematik um die Zweifel am freien Willen des Menschen im Sinn Luthers nicht geklärt ist, liegen zwei Felder theologischen Denkens und religiösen Handelns brach: zum einen ist es die Bedeutung der „Verdienste“ Christi und damit verbunden derjenigen der Gläubigen, zum anderen das Verständnis des „Opfers“, das Christus dem Vater dargebracht und der Kirche anvertraut hat. Die katholische Kirche kann weder auf die eine noch auf die andere theologische Wirklichkeit verzichten, nämlich auf das verdienstliche Handeln und den Opferakt der Kirche. Und oft wird dabei eben nicht erkannt, dass beides mit der Frage des freien Willens steht oder fällt.

Daran schließt sich die Entfaltung der Eschatologie an. Bei Luther selbst gibt es einen aufschlussreichen Satz: „Es ist und bleibt auf der Erde nur ein Anfangen und Zunehmen, das in jener Welt vollendet wird.“ Er findet sich in der 19. These der Denkschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Im Großen Katechismus heißt es allerdings bei der Erklärung des dritten Teils des Glaubensbekenntnisses (sog. Dritter Artikel): „Sieh, das alles soll des Heiligen Geistes Amt und Werk sein: auf Erden fängt er die Heiligkeit an und mehrt sie täglich durch die zwei Stücke, die christliche Kirche und die Vergebung der Sünde; wenn wir aber verwesen, wird er in einem Augenblick es ganz vollführen und uns ewig dabei erhalten durch die letzten zwei Stücke.“ Geklärt werden müssen die Fragen nach dem Zwischenzustand zwischen Tod und leiblicher Auferstehung am Jüngsten Tag, nach der Möglichkeit jenseitiger Sühne und Läuterung sowie nach der „communio sanctorum“ – „Gemeinschaft der Heiligen“ zwischen den Gläubigen, die noch hier auf der Erde leben, und den Seelen der bereits Verstorbenen. Hier kann vor allem eine Durchleuchtung der Ansätze Luthers im Vergleich zu dem hilfreich sein, was die reformatorische Theologie aus dem Erbe Luthers geschaffen hat.

Große Verdienste in der Auseinandersetzung mit dem Gedankengut Luthers hat sich Prälat Theobald Beer erworben. Er engagierte sich vor allem im sog. „Institut für Lutherforschung“, das von den Geschwistern Dietrich und Barbara Emme gegründet und unter Prof. Dr. Alma von Stockhausen der Gustav-Siewerth-Akademie angegliedert wurde. Bekannt geworden ist Beer vor allem durch das Werk „Der fröhliche Wechsel und Streit: Grundzüge der Theologie Martin Luthers“. Was aus meiner Sicht hinterfragt werden muss, ist vor allem die Verhältnisbestimmung von Geist und Materie, wie sie Prof. Alma von Stockhausen vornimmt und vom Institut für Lutherforschung in die Interpretation Luthers hineingetragen wird. Zu beachten ist vor allem, dass Luther auf dem Gebiet der Glaubensgeheimnisse keine philosophischen Erklärungen zulassen wollte, vor allem nicht im Sinn der damaligen Scholastik. Luther löste sich bewusst von allen scholastischen Denkkategorien, um sich unvoreingenommen dem Schriftsinn der Bibel öffnen zu können. Dies ist wichtig, um Luther nicht falsch zu deuten und nicht unnötig Türen zu verschließen.

Einen weiteren Ansatzpunkt bieten die reformatorischen Bekenntnisschriften, allen voran die „Confessio Augustana“, das „Augsburger Bekenntnis“ aus dem Jahr 1530, das von Philipp Melanchthon verfasst und von Luther zumindest gebilligt worden ist. Es ist aber durchaus nicht eindeutig, wie die reformatorischen bzw. protestantischen Gemeinschaften heute zu diesen Bekenntnisschriften stehen und wie sie deren Verhältnis zu den Schriften Luthers sehen. Benedikt XVI. hat als Kardinal wiederholt darauf hingewiesen, dass es in der Ökumene keine wirklichen Fortschritte geben kann, solange diese Zusammenhänge nicht geklärt und keine verbindlichen Grundlagen geschaffen werden.

In der jüngeren Zeit wird auch von evangelischer Seite immer häufiger zugestanden, dass die Prädestinationslehre Luthers Gefahren in sich birgt. Seine Verwicklung in den Deutschen Bauernkrieg, seine verschiedenen Tötungsaufrufe, sein erbitterter Kampf gegen den Papst hängen zweifellos damit zusammen, dass er sich als vorherbestimmtes Instrument Gottes verstand, das gesandt war, um in diese Zeit hinein zu predigen. Deswegen machte sich Luther auch kaum Gewissensbisse über die Folgen seines Handelns. Ein ausgewogenes und breit angelegtes Werk veröffentlichte beispielsweise der evangelische Theologe Dr. Thomas Reinhuber unter dem Titel: „Kämpfender Glaube: Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio“. Was bei der ganzen Diskussion auffallenderweise vermieden wird, ist die Auseinandersetzung mit der Vorstellung Luthers vom Teufel. Weiterführen kann die Frage, ob die Rolle, die Luther dem Widersacher Gottes einräumt, nach katholischem Verständnis der christlichen Offenbarung entspricht und wo sie korrigiert werden müsste.

Schließlich können auf dem Weg einer Aufklärung die großen evangelischen Theologen wie z.B. Adolf von Harnack, Paul Tillich, Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer oder auch Eberhard Jüngel entscheidende Hilfen bieten.

In der Zeitschrift KIRCHE heute möchten wir die zweite Hälfte der Vorbereitungsdekade auf das Lutherjahr 2017 dazu nützen, den verschiedenen Anknüpfungspunkten nachzugehen und so einen Beitrag zur Förderung der Einheit zu leisten. Wir laden alle Interessierten dazu ein, sich an diesem Klärungsprozess zu beteiligen und einen fruchtbaren Austausch in Gang zu bringen.

Hilfestellung für Priester und Gläubige:

Seelsorge nach Abtreibung

Die Publizistin Alexandra Maria Linder ist vor allem durch das Buch „Geschäft Abtreibung“ (2009) bekannt geworden. Nun hat sie ein kleines Handbuch für Priester zum Thema „Seelsorge nach Abtreibung“ vorgelegt. Herausgegeben hat es die „Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)“, in deren Bundesvorstand sie als stellvertretende Vorsitzende mitarbeitet.[1] Linder beantwortet Fragen zur neuen Veröffentlichung und stellt ihr Anliegen vor.

Interview mit Alexandra M. Linder

Kirche heute: Frau Linder, Sie haben das neue Handbüchlein aus dem Amerikanischen übertragen. Wer sind die Autoren?

Linder: Das Original wurde von der US-amerikanischen Bischofskonferenz herausgegeben.

Kirche heute: Was hat Sie dazu bewogen, die Schrift auch auf Deutsch zugänglich zu machen?

Linder: Bisher existiert kein derartiger Leitfaden, den Seelsorger in ihrer Hilfe für Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch als Grundlage verwenden können.

Kirche heute: Wie sieht die Situation in Deutschland aus?

Linder: Das Thema Post Abortion Syndrome ist in Deutschland leider immer noch weitestgehend ein Tabu. Die offizielle Diktion lautet, dass es solche Folgeerscheinungen einer Abtreibung überhaupt nicht gibt, sondern dass man damit versucht, den Frauen ein schlechtes Gewissen einzureden. Dies ist aus Sicht der Ideologen, die Abtreibung überall auf der Welt als normales Menschenrecht durchsetzen wollen, konsequent. Sonst müssten sie zugeben, dass es sich bei einer Abtreibung erstens um die Tötung eines Kindes und zweitens um die ernsthafte Verletzung einer Mutter handelt.

Kirche heute: Können Sie die möglichen Folgen einer Abtreibung skizzieren und die seelischen bzw. körperlichen Leiden der Beteiligten näher beschreiben?

Linder: Die Palette der möglichen negativen Folgeerscheinungen ist sehr groß: die körperlichen Folgen reichen von kurz danach auftretenden Entzündungen oder Schädigungen der Gebärmutter bis zu lang andauernden Menstruationsstörungen und Neigungen zu Früh- oder Fehlgeburten. Der Bereich der psychischen Folgen, die sich auch in körperlichen Beschwerden wie Neurodermitis, chronischen Schmerzen oder orthopädischen Problemen äußern können, ist vor allem gekennzeichnet durch vielschichtige depressive Symptome, Angst- und Panikattacken, Konzentrationsstörungen, Alpträume. Hinzu können emotionale Abstumpfung oder der Verlust der Partnerschaftsfähigkeit kommen. Manche Frauen zeigen Überreaktionen beim Anblick eines Kindes, Studien belegen außerdem, dass auch die Sucht- und Selbstmordgefahr durch eine Abtreibung gesteigert wird. Ganz ausgeprägt sind auch intensive Scham- und Schuldgefühle.

Kirche heute: Welche Hilfen braucht eine Frau, die unter einem Post-Abortion-Syndrom (PAS) leidet?

Linder: Für eine echte Aufarbeitung und Hilfe braucht eine Frau zwei „Heilzweige“: einen ärztlichen/psychischen und einen seelsorgerlichen/geistlichen Zweig. Die ärztliche Behandlung einer Frau mit PAS scheitert vor allem daran, dass die Ärzte oder Psychologen die Symptome nicht mit einer Abtreibung in Verbindung bringen und bei der Anamnese nicht standardmäßig danach fragen. So bleibt die Ursache vieler Erkrankungen und Störungen unerkannt, was dazu führt, dass sie auch nicht geheilt werden können. Das wäre auch für die Krankenkassen ein Anlass zum Nachdenken, weil dadurch immens hohe zusätzliche und bei verbesserter Vorgehensweise vermeidbare Kosten verursacht werden.

Bei der Schwangerenberatung werden die Frauen nicht über solche möglichen Folgen einer Abtreibung aufgeklärt, was verantwortungslos ist, umso mehr, als diese Stellen häufig zur Abtreibung raten. Die Aufklärung über PAS muss unbedingt in die Beratung integriert werden.

Nicht zu vergessen ist das medizinische Personal, das an Abtreibungen mitwirkt oder mitwirken muss. Denn auch in diesem Bereich gibt es viele Erfahrungen und Belastungen, über die man nicht öffentlich sprechen darf.

Kirche heute: Worin besteht die Aufgabe eines Priesters?

Linder: Zunächst besteht seine Aufgabe darin, überhaupt zu erkennen, dass eine Frau aufgrund von PAS/einer Abtreibung Hilfe braucht. Da dieses Thema öffentlich wie privat von einer mittlerweile fast perfekten Verdrängung betroffen ist, ist das eigentlich schon der schwierigste Punkt. Hier könnte er zum Beispiel einen Gottesdienst für verstorbene Kinder anbieten, der ausdrücklich auch abgetriebene Kinder umfasst. In Predigten könnte er das Thema aufgreifen, indem er betroffene Familien zu Seelsorge und Versöhnung einlädt. Das kann ein langwieriger und in der Gemeinde umstrittener Prozess sein. Aber wenn nur eine Frau dieses Angebot annimmt, hat es sich gelohnt.

Kirche heute: Worauf muss der Priester beim Beichtgespräch und in der seelsorglichen Betreuung achten?

Linder: Es ist grundsätzlich sehr schwer für eine Frau, über eine derart intime und traumatisierende Erfahrung wie Abtreibung zu sprechen. In Verbindung mit der den meisten Frauen sehr bewussten Mitschuld am Tod ihres Kindes wird es ihr noch schwerer fallen. Sie hat den Termin gemacht, sie ist hingegangen und hat es zugelassen. Wenn sie die Abtreibungspille RU 486 genommen hat, wiegt das ganze noch schwerer, denn dann hat sie es sogar selbst getan. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass die überwiegende Mehrzahl der Frauen nicht freiwillig oder aus eigenem Antrieb abgetrieben hat, sondern von außen dazu gezwungen wurde: durch die Lebensumstände, zu über zwei Drittel durch ihren Partner, durch ihre Familie etc. Es gibt nur wenige Frauen, die einfach keine Lust auf ein Kind haben. Was an dieser erzwungenen Handlungsweise übrigens selbstbestimmt sein soll, kann kein Abtreibungsverfechter erklären. Daher sollte diese Schuld eindeutig formuliert werden, aber unmittelbar in Verbindung mit der Möglichkeit der Erlösung und Versöhnung. Auch der Zugang zu Kirche insgesamt kann schwierig sein, je nachdem, inwieweit die betroffene Frau vorher eine Verbindung zur Kirche hatte.

Kirche heute: Wie kann „Seelsorge nach Abtreibung“ in einer Pfarrei außerhalb des Bußsakraments aussehen?

Linder: Die Gemeinde kann eine Atmosphäre der Liebe und des Versöhnungsangebotes für Frauen nach Abtreibung schaffen. Sinnvoll können hier zum Beispiel Gebetszettel zu diesem Thema sein, die immer ausliegen, regelmäßige Fürbitten und Gebete in den Gottesdiensten für die abgetriebenen Kinder und ihre Familien. Predigten, die zum Beispiel die entsprechende Passage aus Evangelium vitae zum Thema haben, damit die Betroffenen überhaupt wissen, dass es in der Kirche um Versöhnung geht und nicht um Verdammung. Die meisten Frauen glauben, dass sie kirchlich gewissermaßen unwiderruflich der Inquisition ausgeliefert werden. Menschenwürde und Lebensrecht sind vorrangige Themen des 21. Jahrhunderts und sollten immer präsent sein, so dass auf diese Weise zunächst das Tabu durchbrochen wird. Das schafft Vertrauen und baut Ängste ab, sich damit zu befassen und sich an den Priester zu wenden.

Kirche heute: Gibt es Beispiele, an denen sich Mitarbeiter in der Seelsorge orientieren können?

Linder: In Deutschland bisher leider kaum; in den USA dagegen hat sich bereits einiges entwickelt. Allein der Umgang mit dem Thema ist mittlerweile fast selbstverständlich. Üblich sind zum Beispiel Hilfs- und Gesprächsangebote der einzelnen Gemeinden, feste Ansprechpartner, die man zu jeder Zeit anrufen kann, regelmäßige Möglichkeiten, um für die Kinder zu beten und um sie zu trauern. Positiv für die Trauerarbeit wäre auf jedem katholischen Friedhof ein Sammelgrab und/oder zumindest eine Gedenkstätte für abgetriebene Kinder.

Kirche heute: Wo können sich Seelsorger hinwenden, die Beratung und Unterstützung brauchen?

Linder: Wir haben Experten auf dem Gebiet des Post Abortion Syndromes und Broschüren, in denen man sich über Abtreibung und alle damit in Verbindung stehenden Themen informieren kann. Außerdem verfügt die ALfA zu allen Lebensrechtsthemen über kompetente Referenten. Um auf die Thematik insgesamt aufmerksam zu machen, bietet es sich zum Beispiel an, solche Referenten zu Vorträgen und Diskussionen in Priesterseminare einzuladen, damit schon die Priesteramtsanwärter für diesen wichtigen Bereich sensibilisiert werden. Angesichts von 9 Millionen Abtreibungen innerhalb der letzten 30 Jahre allein in Deutschland gibt es viele Millionen Frauen und andere Angehörige, die ein solches Versöhnungsangebot der Kirche dringend brauchen. Und für die Kirche wäre es eine phantastische Werbung: Kommt her, die Ihr mit Abtreibung beladen seid. Wir verurteilen Euch nicht, wir helfen Euch! Das wäre mal eine interessante Pressekonferenz.

Kirche heute: Welchen Rat würden Sie Gläubigen geben, die betroffenen Mitmenschen einen Weg zur Heilung eröffnen möchten?

Linder: Das hängt von der persönlichen Beziehung zu der betroffenen Frau ab. Je vertrauter diese Beziehung ist, desto offener kann man darüber sprechen. Wenn man vorsichtig agieren möchte, kann man das Thema auf oben geschilderte Weise dauerhaft in die Gemeinde bringen. So kann man den Betroffenen vermitteln, dass die Gemeinde und man selbst die Frau nicht verurteilt, sondern Hilfe anbietet, und sie vielleicht später auch persönlich ansprechen.

Kirche heute: Frau Linder, wir danken Ihnen von ganzem Herzen für das wertvolle Gespräch und wünschen Ihnen sowohl für Ihre eigene Familie als auch für Ihr Engagement im Lebensrechtsbereich Gottes Segen.


[1] Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (Hrsg.), Seelsorge nach Abtreibung – Ein kleines Handbuch für Priester, gratis (Spendenkonto: Augusta Bank eG, BLZ 72090000, Kto. 5040990), Bestelladresse: ALfA, Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg, Tel. 0821-512031, Fax 0821-156407, www.alfa-ev.de

Plädoyer für die Evidenz der „Seele":

Das Leben verteidigen

Die Würde der menschlichen Person ist unantastbar. Das war die Lehre aus dem Schrecken menschenverachtender Ideologien des 20. Jhdts. Und die Völkerfamilie war sich einig, dass Menschenrechte formuliert und verankert werden müssen, die von niemandem verletzt werden dürfen. An erster Stelle wird jedem unschuldigen Menschen das Recht auf Leben zugesprochen. Doch wie leicht ist es geworden, dieses fundamentale Menschenrecht auszuhebeln, wenn es um die ungeborenen Kinder geht. Das Problem besteht plötzlich darin, dass man den Kindern im Mutterschoß kein volles Menschsein mehr zugesteht. Prof. Dr. Horst Seidl plädiert dafür, bewusster mit der menschlichen Seele zu argumentieren. Er überzeugt, dass man ohne den Begriff und das Bewusstsein von der menschlichen Seele das Leben des Menschen nicht mehr vom Beginn seines Daseins an verteidigen kann. Hierfür sei nicht sogleich eine komplizierte philosophische oder offenbarungstheologische Begründung nötig. Die Wirklichkeit der Seele sei evident, im täglichen Leben allen unmittelbar bewusst und bei der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen nicht wegzudenken.

Von Horst Seidl

Ethische Entscheidungen erfordern eine gut begründete Erkenntnis. Bei der gegenwärtigen Abort-Praxis, die nach ihrer Legalisierung erschreckend hohe Zahlen erreicht hat (wo doch schon ein einziger Abort zu viel wäre), muss man sich fragen, ob hier nicht ein Mangel an Erkenntnis vorliegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so viele Frauen abtreiben, im Bewusstsein, menschliches Leben zu töten. Vielmehr sind sie überzeugt, dass in der ersten Phase der Schwangerschaft noch kein menschliches Leben im Mutterschoß keimt. Für die Abort-Praxis ist wohl diese Überzeugung grundlegend, so dass sie auch nicht mehr an die verheerenden Folgen denken lässt, die sich aus dem massenweise praktizierten Abort ergeben:

- die Dezimierung und Überalterung der Bevölkerung,

- die dadurch akzeptierte hohe Ausländerzuwanderung,

- das Problem multikultureller Erziehung an Schulen, usw. 

I) Vorbemerkungen

Das Legalisierungsgesetz, das den Abort straffrei ausgehen lässt, wiewohl er als Tötung menschlichen Lebens ein Unrecht ist, zeigt, mit wie schwachem Bewusstsein dieser Tatbestand begleitet wird. Man weiß zwar noch von der – im Grundgesetz verankerten – Unantastbarkeit der Person und ihrer Würde, aber es bleibt offen, wann das Person-Sein beginnt und was die Person ist. Wer denkt noch an ihr substantielles Sein und nicht vielmehr nur an ihre praktische Bedeutung, geknüpft an personale Akte, die man sicherlich noch nicht der Zygote zuschreiben kann! Die Verdrängung, dass es um Tötung menschlichen Lebens geht, wird durch die Ersetzung von „Abort“ mit „Schwangerschaftsunterbrechung“ begünstigt, die nur noch an die Zustandsänderung der Schwangeren denken lässt.

Zwar gibt es viel Literatur zum Thema des Aborts, die teils von biologisch-wissenschaftlicher Seite, teils von kirchlicher Seite mit pastoralen und moraltheologischen Gesichtspunkten Stellung nimmt. Aber sie hat in der Öffentlichkeit, in welcher der Abort praktiziert wird, nicht die gewünschte Auswirkung. Ein wenig ist dies auch begreiflich; denn einerseits lässt sich aus den biologischen Daten als solchen (Verschmelzung von Samen und Ei, der ersten Zellformationen, der Nidation usw.) keine ethische Norm ableiten, und andererseits setzen die kirchlichen Dokumente, die von der Verantwortung des Menschen vor Gott sprechen, den christlichen Glauben voraus, der aber bei vielen Adressaten verloren gegangen ist.

II) Philosophische Sichtweise

Nach den Vorbemerkungen käme der Philosophie eine besondere Aufgabe zu, das ethische Gebot, nicht zu töten, auch auf den Embryo im ersten Stadium anzuwenden und dies mit der richtigen Auffassung vom Menschen zu begründen.

1) Traditionelle Auffassung

Die abendländische Tradition (sowohl der platonisch-augustinischen als auch der aristotelisch-thomistischen Richtung) lehrt, dass der Mensch – von seinen konstitutiven Materie- und Form-Ursachen aus betrachtet – aus Leib und Seele besteht, sowie die Seele wiederum aus drei Lebensprinzipien: dem vegetativen, dem sinnlichen und dem vernünftigen. Hiernach ist der Mensch definiert als „mit Vernunft begabtes Lebewesen“, wobei das Lebewesen-Sein auf die leiblich-materielle Ursache, der Vernunftbesitz auf die Formursache verweist. Hieran anschließend hat Boethius die Person als „individuelle Substanz von rationaler Natur“ bestimmt. Sie setzt die Definition vom Menschen als Artwesen voraus, betrachtet nun aber den Menschen als Individuum, als Person, in der sich das Zusammengehen der beiden Ursachen, Leib und Seele, im konkreten Individuum auswirkt.

Auf der anthropologischen Grundlage lässt sich die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens eindeutig beantworten, nämlich bei der Empfängnis. Bei ihr tragen die Eltern nicht nur ein Genmaterial bei, sondern auch ein seelisches Lebensprinzip, so dass ein neues menschliches Lebewesen entsteht, konstituiert aus der leiblich-materiellen Ursache und der Form-Ursache, der Seele. Es ist auch intuitiv sogleich einleuchtend, dass aus menschlichen Eltern wieder ein menschliches Lebewesen hervorgeht. Was sonst?!

Dieser traditionellen Auffassung widersetzt sich jedoch beharrlich eine moderne Einstellung, die teils aus naturwissenschaftlicher Richtung, teils aus philosophischer, jede Rede über die Seele strikt ablehnt und sie ins Reich entweder bloßer Vorstellung oder des religiösen Glaubens verweist. Gegenwärtige Philosophie-Richtungen (wie Positivismus, Personalismus, Phänomenologie, Analytische Philosophie u.a., von empiristischer oder transzendentalistischer Art) können nicht mehr über nicht-sinnliche, „metaphysische Dinge“, wie Seele und Gott, sprechen. Der Begründer des Personalismus, É. Mounie[1], hat sich für einen nicht-substantiellen Begriff der Person eingesetzt, die nur im Prozess der „Personalisierung“ fassbar wird. Und dieser ist wiederum nur als „Selbstschöpfung“ in geistigen Akten zu verstehen. Doch wird damit nicht der Schutz des Embryos gewährleistet.

Die heute weithin vorherrschende Phänomenologie setzt Kants Metaphysik-Kritik mit der Wende ins Subjekt voraus und bietet keinen Weg, den Embryo zu verteidigen. Ihr „Zurück zu den Sachen“ ist kein realistisches Zurück zu den Dingen, sondern beschreibt psychische Phänomene subjektiven Erlebens, ohne die Seele als substantielles Subjekt. In ihrem „radikalen Subjektivismus“[2] baut sie eine „Lebenswelt“ durch sinnstiftende Intentionen des Bewusstseins auf. Die Transzendenz Gottes ist „ausgeschaltet“.

Die Rechtslage des Embryos (von seinem ersten Stadium an) ist oft erörtert und klargestellt worden, so auch wieder jüngst vom Politologen und Soziologen Prof. Manfred Spieker[3] und vom Mediziner Prof. Axel W. Bauer[4]. Das Ergebnis ihrer Stellungnahmen, die ich hier nicht referieren muss, ist beiden gemeinsam: Der Embryo ist von der Empfängnis an Subjekt des Grundrechts personaler Unverletzlichkeit. Hinzu kommt der kirchliche Standpunkt[5], dass menschliches Leben in jedem Falle (auch dem von Missbildungen) uns Menschen unverfügbar ist. Dabei wird, soweit ich sehe, immer vorausgesetzt, dass der Embryo von der Empfängnis an Person ist. Gerade dies scheint aber von der Gegenseite nicht angenommen zu werden.

Der sehr bewegende Artikel von Weihbischof Andreas Laun in dieser Zeitschrift[6] setzt sich nicht nur theologisch, sondern auch juristisch für den Schutz des ungeborenen Lebens ein: Schon „mit der bloßen Vernunft“ kann das Lebensrecht aller Menschen erkannt werden. Er beschließt seine Überlegungen mit den ergreifenden, persönlichen Zeugnissen von Frau Alveda King, der Nichte von Martin Luther King, und von einer Frau, die nach der Abtreibung ihr ganzes seelisches Leid mitgeteilt hat.

2) Begründung der traditionellen Auffassung

Nach dem hier wiedergegebenen Diskussionsstand bleibt die Frage, wie sich das Leben des Embryos als Person, d.h. als eines individuellen Menschen von Beginn an, philosophisch verteidigen lässt. Meine Antwort ist: mit der Seele! Denn, wie oben schon erwähnt, tragen die Eltern durch die Empfängnis nicht nur ein Genmaterial bei, sondern auch ein seelisches Lebensprinzip, wodurch sich ein neues Lebewesen der Spezies Mensch konstituiert, wie analog auch bei den anderen Lebewesen. Die Seele kommt in den Diskussionen nicht zur Sprache, vielleicht mit Rücksicht auf jene oben genannte intellektuelle Einstellung unserer Zeit, welche die Seele als Mythus oder als reine Glaubenssache ansieht. Was lässt sich philosophisch hierzu sagen? 

Aus der klassischen Tradition können wir entnehmen, dass die Seele von Anfang an (seit den Vorsokratikern) zu den Gegenständen der Philosophie gehört, wobei, immer unter Voraussetzung ihrer Existenz, ihr Wesen näher erörtert und bestimmt wird: so in Platons Phaedo erstmals als immaterielle Substanz. Bei keinem ihrer Vertreter findet sich ein Beweis ihrer Existenz. Vielmehr sprechen alle von der Seele aus einer Evidenz heraus, mit der sie der Vernunft unmittelbar bewusst und substantiell gegenwärtig ist. Das unmittelbare Realitätsbewusstsein von der Existenz der Dinge, wie auch der Seele, haben alle Menschen und könnten ohne dieses im Alltag keine Stunde leben, auch nicht zwischenmenschlich miteinander verkehren. Es kann aber verdeckt und verunsichert werden durch Theorien, welche das Bewusstsein in traditioneller Bedeutung, als intuitives Einsehen oder „Mitwissen“ (lat. conscientia) der Menschen vom Sein und Gutsein der Dinge, wie auch der Seele, ignorieren. Dann bleibt der Vernunft nur ein diskursives Denken, das seit Descartes und Kant Existenz und Wesen der Dinge, wie auch der Seele, in Frage stellt.

Im praktischen Bereich geht die Bedeutung des Gewissens verloren, welches ja das praktische Bewusstsein vom Guten ist. Doch die Realität des Alltags holt uns alle ein, auch bei der Abort-Praxis, wenn es um die Tötung menschlichen Lebens geht, und zwar hinsichtlich der dem Menschen spezifisch eigenen Sinnesseele; denn der Geist ist unsterblich. 


[1] Émmanuel Mounier, Le personnalism, 1949.
[2] Edmund Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften, 1936, § 26.
[3] in: ALfA „LebensForum“, 98, 2011, 4-10: „Die blinden Flecken der PID-Debatte“, anlässlich der jüngst erfolgten Legalisierung der PID.
[4] Ebd., 11-15: „Die PID und ihre negativen Folgen für den Lebensschutz“.
[5] Siehe die jüngeren Kirchen-Dokumente: „Donum vitae“ von 1987 und „Dignitas personae“ von 2008.
[6] Siehe „KIRCHE heute“, Nr. 7/2011, 12-14.

Die „Singer‘sche Ethik“ lässt grüßen:

Verhängnisvolles Argumentieren mit dem „Individualtod“

Von „Individualtod“ spricht die Medizin, wenn der Mensch irreversibel die Fähigkeit verliert, personale Tätigkeiten auszuüben, vor allem durch den Ausfall des Bewusstseins. Deswegen nennt die Medizin den Individualtod auch „Tod der Person“. Diese Ausdrucksweise entspricht nicht genau den Vorstellungen eines gläubigen Christen, sondern kann irreführend sein. Denn einerseits halten wir daran fest, dass der Mensch bis zu seinem wirklichen Tod als Person geachtet werden muss, auch wenn er schon viel früher seine personalen Fähigkeiten verlieren kann. Andererseits glauben wir als Christen, dass das mit der unsterblichen Seele verbundene Person-Sein des Menschen mit dem leiblichen Tod nicht untergeht, sondern sogar über den Tod hinaus fortdauert. Den Tod identifizieren wir mit dem Augenblick, in dem die Seele den Leib unwiderruflich verlässt. Nachfolgende Theorien müssen wir von diesem Standpunkt aus beurteilen.

Von Anton Graf von Wengersky

Mit dem sog. „Hirntod“ eng verknüpft ist der sog. „Individualtod“ oder Tod der Person, verstanden als Untergang des Subjekts, des „Ich“. Hier geht es, wie auch beim „Hirntod“, nicht um den Tod des Körpers. Denn bei „Individualtod“ wie „Hirntod“ zeigt der Körper der betroffenen menschlichen Person noch nicht (vgl. „Kirche heute“ 11/2011 S. 16f.) „Signs of death“ (Titel des noch von Papst Johannes Paul II. einberufenen Kongresses im Februar 2005 vor der päpstlichen Akademie der Wissenschaften), sondern noch vielfache „Signs of life“ (Titel des Kongresses im Februar 2009 unter Mitwirkung von Mitgliedern der päpstlichen Akademie für das Leben): Herzschlag, Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel usw. sind vorhanden. Der Körper ist biologisch am Leben. Aufgrund körperlicher Defekte fehlen dem „Individualtoten“ allerdings Fähigkeiten, wie Ichbewusstsein, Zukunftssinn und Kommunikationsfähigkeit, die nach Ansicht mancher das Individuum erst ausmachen. Beim Individualtod geht es also weniger um Leben und Tod als um das Menschsein und sein Ende. Oder kann der Verlust von Fähigkeiten doch bereits der Tod des „Ich-Subjekts“ sein, der Tod der Person?

Die Frage nach Beginn und Ende des Menschseins gründet in der Ethik des Cambridge-Professors Peter Singer, niedergelegt in seinem Buch „Practical Ethics“. Prof. Singer geht es in seinem Werk zunächst überhaupt nicht um den Tod. Er beschäftigt sich vielmehr, freilich mit weitreichenden Folgen, mit der Eingrenzung der Begriffe „Mensch“ und „Person“, wofür er den Ausdruck „menschliches Wesen“ verwendet. Wichtig ist Singer vor allem die Abgrenzung dieses „menschlichen Wesens“, also der Person, vom bloßen „menschlichen Leben“.

Für Singer sind wir dabei ganz selbstverständlich von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bis zum letzten Atemzug Mitglieder der Spezies homo sapiens. Nach Ansicht von Prof. Singer ist aber der homo sapiens „menschliches Wesen“, „Person“, „Individuum“, „Mensch“ eben nur mit Bewusstsein, Zukunftssinn und Kommunikationsfähigkeit. Hat er diese Eigenschaften noch nicht oder nicht mehr, so ist er – immer nach Singer – nicht „Mensch“, sondern nur „menschliches Leben“. Peter Singer meint etwa (zit. aus Reclam 8033, S. 119): „Der Fötus, das schwerst geistig behinderte Kind, selbst das neugeborene Kind sind alle Mitglieder der Spezies Homo sapiens, aber niemand von ihnen besitzt ein Selbstbewusstsein oder hat einen Sinn für die Zukunft oder die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen.“ Für Singer ist also der Slogan „Mensch von Anfang an“ schlicht falsch. Nur „Menschliches Leben von Anfang an“ könnte er akzeptieren. Der „Mensch“ beginnt für ihn erst mit Eintritt von Selbstbewusstheit, Zukunftssinn und Kommunikationsfähigkeit und endet mit dem Verlust dieser Fähigkeiten. „Mensch“ wurden wir nach Singer erst lange nach unserer Geburt und unser „Mensch“-Sein endet oft schon lange vor dem natürlichen Tod mit dem Verlust der Fähigkeiten, die nach Singer den Mensch erst ausmachen.

Aus der sprachlichen Neudefinition von Peter Singer stammt also der entscheidende Unterschied zwischen den Begriffen „Person“ oder „Mensch“ auf der einen und auf der anderen Seite dem „menschlichen Leben“. Nach Singer genießt der „Mensch“ den „Würdeschutz“ nach Art. 1 GG und das „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ nach Art. 2 (2) GG nur mit Bewusstsein, Zukunftssinn und Kommunikationsfähigkeit. Ohne diese Eigenschaften ist der homo sapiens bloß „menschliches Leben“, über das der Mitmensch frei und nach Gutdünken utilitaristisch verfügen kann, von der Abtreibung bis hin zur Tötung Neugeborener oder Euthanasierung der dementen Alten. Einen Lebensschutz gibt es bei Singer nur für Singers „Mensch“, nicht für das „menschliche Leben“.

Der Begriff „menschliches Leben“ nach Singers Sprachregelung hat sich trotz seiner eindeutigen Besetzung mit totaler Schutzlosigkeit bei uns in Politik und Kirche (und selbst bei Lebensschützern) längst als Bezeichnung für ungeborene Kinder eingeführt, ohne dass selbst unsere Bischöfe merken, wie sie mit der Fehlverwendung des abqualifizierenden Begriffs „menschliches Leben“ aus der Bioethik in der öffentlichen Diskussion bereits die eigene Position zum Lebensschutz schwächen. Derartige Sprachmanipulationen sind üblich, wenn es um die Durchsetzung von Taten geht, gegen die sich das menschliche Gewissen von Natur aus sträubt. Als weitere Beispiele nenne ich nur den sprachmanipulativen Begriff „Schwangerschaftsunterbrechung“, als könne man nach der Unterbrechung die Schwangerschaft fortsetzen, oder die in „Kirche heute“ 1/2012 S. 20 erläuterten Begriffe „beatmete Leiche“ bzw. „Hirntod“.

„Wenn die Worte nicht mehr stimmen, dann stimmen auch die Taten nicht mehr“ (Laotse). Lieschen Müller sträuben sich schon die Haare bei Singer‘s Vorschlag, ein neugeborenes Kind bei Behinderung, falschem Geschlecht, fehlender Eignung als Organspender für ein krankes Geschwisterchen oder bloßem Nichtgefallen einfach zu töten. Für Singer‘s Schüler hingegen gehört die Euthanasie schon zum selbstverständlichen Instrumentarium. So schlägt etwa der Oxford-Professor Julian Savulescu ganz unabhängig vom Hirntod zur Gewinnung transplantierbarer Organe die „Organspende-Euthanasie“ (Organ Donation Euthanasia, kurz ODE) vor. ODE ist, wie die Euthanasie selbst, in Holland und Belgien heute schon der Schrecken der Krankenhauspatienten und insbesondere unserer altgewordenen Mitmenschen.

Prof. Singer und seine Schüler beschäftigen sich dabei nicht mit einer neuen Definition des Todes, sondern mit einer Neudefinition des „Menschseins“, die an das Vorliegen menschlicher Fähigkeiten geknüpft ist. Der Verlust dieser Fähigkeiten bedeutet in der Singer‘schen Ethik keinesfalls das Überschreiten der Todesgrenze oder gar den Individualtod, stuft aber das Individuum für seine Mitmenschen zur freien Verfügungsmasse herab, gegebenenfalls auch zur Tötung. „Tötung“ wird hier zutreffend als Beendigung des biologischen Lebens angesehen. Mit diesem Tötungszugriff auf Menschen durch Mitmenschen gehen andere Denker skrupulöser um als Singer und seine Schüler. Speziell im Zusammenhang mit dem Hirntod-Kriterium sind hier in den letzten Jahren umfangreiche Überlegungen zu den Möglichkeiten einer Neudefinition des Todes des Menschen angestellt worden, die im Begriff „Individualtod“ oder Tod der Person münden.

Karim Akerma erklärt in seinen Überlegungen zu „Lebensende und Lebensbeginn“ den Tod rein „mentalistisch“: Der Tod wird definiert als das Ende des geistigen Lebens. Konsequent müsste er dann freilich wie den Tod auch das Leben mentalistisch definieren. Logische Folge: Allen nicht geistigen Lebewesen wäre abzusprechen, dass sie überhaupt leben. Eine contradictio in se. Der mentalistische Denkansatz widerlegt sich damit selbst.

Dieter Birnbacher sieht dagegen die Begriffe „Tod“ und „Leben“ primär als biologische Begriffe und nicht an geistige Fähigkeiten geknüpft. Er verweist zur Begründung auf den entscheidenden Unterschied zwischen einem totgeborenen Kind und einem solchen, dass zwar schwerst behindert und ohne die Fähigkeit zu bewusstem Leben (etwa anenzephal), aber doch biologisch lebendig geboren wird. Birnbacher folgt dennoch Singer darin, dass er ethisch nicht die biologische Lebendigkeit des Körpers, sondern den „Bewusstseinstod“ für relevant hält. Seine Schussfolgerung (zitiert aus Birnbacher „Der Hirntod – eine pragmatische Verteidigung“): „Das Hirntodkriterium ist kein adäquates Kriterium für den Tod, sondern ein Kriterium für den unter ethischen Gesichtspunkten primär relevanten, aber mit dem Tod simpliciter nicht zusammenfallenden mentalen Tod“ des Individuums.

Andere Stimmen betonen noch deutlicher, dass „Leben und Tod eine Sache unserer Biologie sind, nicht unseres Personseins“, so Ralf Stoecker in „Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte“. Stoecker stellt darin die Frage: „Ist das Ende des personalen Lebens wirklich schon der Tod des Menschen?“ Er verweist dazu darauf, dass auch manche nicht hirntote Menschen, wie anenzephale Säuglinge, keine mentalen Eigenschaften haben, so dass man sie ebenfalls als tot ansehen müsste, was, so wörtlich, „absurd wäre“. Stoecker weist uns weiter darauf hin, „dass Leben und Tod zu unseren natürlichen Eigenschaften zählen, die wir mit der restlichen belebten Natur teilen, während der Personenbegriff normalerweise gerade dazu dient, dasjenige zu betonen, was an uns Menschen besonders ist und uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet“. Stoecker kommt zum Schluss, dass „am Leben sein“ nicht darin bestehe, gewisse Fähigkeiten zu haben. „Leben“ und „Tod“ seien nicht durch das Vorhandensein oder Fehlen von Fähigkeiten bestimmt, sondern ein Zustand, in dem sich der Lebende oder der Tote befinde.

Josef Seifert distanziert sich in einem akt. Artikel noch deutlicher als Stoecker von der mentalistischen Lösung des Bewusstseinstodes. Er stellt heraus, „dass auch eine irreversibel an der Ausübung personaler Tätigkeiten gehinderte Person noch Person sein kann, genauso wie der ungeborene Mensch, der nicht als Mensch agieren kann, doch menschliche Person ist“.

Ich fasse zusammen: Der Individualtod, Bewusstseinstod oder Tod der Person wurde aus Respekt vor der Menschenwürde in die Diskussion eingeführt. Vom Hirntod-Kriterium unterscheidet sich seine Definition darin entscheidend, dass beim Individualtod das biologische Fortleben des menschlichen Leibes über den Individualtod hinaus auch von den Individualtod-Befürwortern anerkannt wird. So schreibt etwa Stoecker: „Das Problem ist also nicht, ob hirntote Menschen tot sind, sondern wie man sie behandeln darf, obwohl sie noch nicht tot sind.“ Im Gegensatz dazu meinen die Hirntod-Befürworter, nach Eintritt des Hirntodes sei der Körper biologisch nicht mehr am Leben, sondern nur noch eine maschinell „beatmete Leiche“. Gemeinsam ist beiden Positionen jedoch die den jeweiligen Kriterien von ihren Urhebern zugesprochene ethische Relevanz für Entscheidungen, die im Umgang mit Mitmenschen zu treffen sind, auch für utilitaristische Entscheidungen über Leben und Tod.

Festgestellt werden kann der sog. „Individualtod“ höchstens indirekt, jedenfalls aber, wie schon beim biologischen Tod und beim Hirntod, ausschließlich als zu einem früheren, nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt bereits eingetreten, also ex post.

Papst Benedikt XVI. über die hl. Hildegard von Bingen

Im Rahmen der Mittwochskatechesen stellte Papst Benedikt XVI. vom 1. September 2010 bis zum 26. Januar 2011 insgesamt 15 große Frauengestalten des Mittelalters vor.[1] Er begann mit der deutschen Mystikerin Hildegard von Bingen, die Ende 2012 offiziell heiliggesprochen werden soll, und endete mit Jeanne d´Arc, deren 600. Geburtstag am 6. Januar dieses Jahres gefeiert werden konnte. Außerdem befasste er sich mit Angela von Foligno, Birgitta von Schweden, Caterina von Siena, Elisabeth von Thüringen, Gertrud von Helfta, Juliana von Lüttich, Juliana von Norwich, Katharina von Bologna, Katharina von Genua, Klara von Assisi, Marguerite d'Oingt, Mechthild von Hackeborn und Veronica Giuliani.

Benedikt XVI. wählte Heilige und Selige aus, die für die Verteidigung des christlichen Glaubens gekämpft haben und auch für das Glaubensleben in der heutigen Zeit Vorbilder sein können. Vor allem aber stellte er ihre Beziehung zur Kirche heraus, die von gehorsamer Hingabe und prophetischem Mut gekennzeichnet war. Benedikt XVI. sieht in diesen Frauen den Geist und Genius weiblicher Intelligenz und Sensibilität verwirklicht, wie ihn der sel. Johannes Paul II. 1988 im Apostolischen Schreiben Mulieris dignitatem über die Würde der Frau entfaltet hat.

Von Papst Benedikt XVI.

Das Leben der hl. Hildegard 

Anlässlich des Marianischen Jahres 1988 hat der Ehrwürdige Diener Gottes Johannes Paul II. ein Apostolisches Schreiben mit dem Titel Mulieris dignitatem verfasst. Er behandelt darin die wertvolle Rolle, die die Frauen im Leben der Kirche erfüllt haben und erfüllen. Dort heißt es: „Die Kirche sagt Dank für alle Äußerungen des ,weiblichen Geistes‘, die sich im Laufe der Geschichte bei allen Völkern und Nationen gezeigt haben; sie sagt Dank für alle Gnadengaben, mit denen der Heilige Geist die Frauen in der Geschichte des Gottesvolkes beschenkt, für alle Siege, die sie dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe von Frauen verdankt: Sie sagt Dank für alle Früchte fraulicher Heiligkeit“ (Nr. 31).

Auch in jenen Jahrhunderten der Geschichte, die wir gewöhnlich als Mittelalter bezeichnen, gibt es einige weibliche Gestalten, die sich durch die Heiligkeit ihres Lebens und den Reichtum ihrer Lehre besonders auszeichnen. Heute möchte ich beginnen, euch eine von ihnen vorzustellen: die hl. Hildegard von Bingen, die im 12. Jahrhundert in Deutschland lebte. Sie wurde 1098 in Bermersheim bei Alzey in der Pfalz geboren und starb im Jahr 1179 im hohen Alter von einundachtzig Jahren, obwohl ihr Gesundheitszustand stets schwach war. Hildegard kam aus einer vielköpfigen adligen Familie und wurde von Geburt an von ihren Eltern zum Dienst an Gott geweiht. Damit sie eine angemessene menschliche und christliche Bildung erhielt, wurde sie mit acht Jahren der Obhut der im Witwenstand lebenden Uda von Göllheim und dann der Lehrerin Jutta von Sponheim anvertraut, die sich in eine Klause beim Benediktinerkloster des hl. Disibod zurückgezogen hatte. Es entstand ein kleines Klausurkloster für Frauen, die der Regel des hl. Benedikt folgten. Hildegard empfing den Schleier durch Bischof Otto von Bamberg. Und als Mutter Jutta, die Priorin der Gemeinschaft geworden war, im Jahr 1136 starb, beriefen die Mitschwestern sie als ihre Nachfolgerin. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe brachte sie ihre Begabungen als gebildete und geistlich hochstehende Frau ein, die auch in der Lage war, den organisatorischen Aspekten des Lebens in der Klausur mit Sachverstand gegenüberzutreten. Einige Jahre später gründete Hildegard, auch weil immer mehr junge Frauen an die Tore des Klosters klopften, eine weitere Gemeinschaft in Bingen, die nach dem hl. Rupert benannt wurde, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Der Stil, mit dem sie den Dienst der Autorität ausübte, ist vorbildlich für jede Ordensgemeinschaft: Er weckte heiliges Nacheifern im Tun des Guten, sodass, wie aus zeitgenössischen Zeugnissen hervorgeht, Mutter und Töchter einander in gegenseitiger Achtung übertrafen und darin wetteiferten, einander zu dienen.

Bereits in den Jahren, in denen sie Oberin im Kloster des hl. Disibod war, hatte Hildegard begonnen, ihrem geistlichen Berater, dem Mönch Volmar, sowie ihrer Sekretärin, einer Mitschwester, der sie sehr zugetan war, Richardis von Stade, mystische Visionen zu diktieren, die sie seit einiger Zeit empfing. Wie es im Leben wahrer Mystiker immer der Fall ist, wollte auch Hildegard sich der Autorität weiser Personen unterwerfen, um den Ursprung ihrer Visionen zu erkennen, in der Furcht, dass sie Frucht von Täuschungen seien und nicht von Gott kämen. Sie wandte sich daher an die Person, die seinerzeit in der Kirche höchste Wertschätzung besaß: an den hl. Bernhard von Clairvaux, über den ich bereits in einigen Katechesen gesprochen habe. Dieser beruhigte und ermutigte Hildegard. Aber im Jahr 1147 erhielt sie noch eine andere sehr wichtige Anerkennung. Papst Eugen III., der den Vorsitz auf einer Synode in Trier hatte, las einen von Hildegard diktierten Text, der ihm von Erzbischof Heinrich von Mainz vorgelegt wurde. Der Papst gestattete der Mystikerin, ihre Visionen niederzuschreiben und öffentlich zu sprechen. Von diesem Augenblick an stieg das geistliche Ansehen Hildegards immer mehr, sodass ihre Zeitgenossen sie als „deutsche Prophetin“ bezeichneten.

Dies, liebe Freunde, ist das Siegel einer echten Erfahrung des Heiligen Geistes, des Quells jeder Geistesgabe: Die Person, die übernatürliche Gaben empfängt, prahlt niemals damit. Sie stellt sie nicht zur Schau und zeigt vor allem vollkommenen Gehorsam gegenüber der kirchlichen Autorität. Jede vom Heiligen Geist geschenkte Gabe ist nämlich zur Erbauung der Kirche bestimmt und die Kirche erkennt durch ihre Hirten ihre Echtheit an.

Ich werde über diese große Frau und „Prophetin“ sprechen, die mit großer Aktualität auch zu uns heute spricht mit ihrer mutigen Fähigkeit, die Zeichen der Zeiten zu erkennen, mit ihrer Liebe zur Schöpfung, ihrer Medizin, ihrer Dichtung, ihrer Musik, die heute rekonstruiert wird, ihrer Liebe zu Christus und zu seiner Kirche, die auch damals gelitten hat, die auch damals durch die Sünden der Priester und der Laien verwundet war und als Leib Christi noch viel mehr geliebt wurde. So spricht die hl. Hildegard zu uns.

Die Werke der hl. Hildegard

Die hl. Hildegard ist eine bedeutende Frauengestalt des Mittelalters, die sich durch geistliche Weisheit und Heiligkeit des Lebens auszeichnete. Hildegards mystische Visionen ähneln denen der Propheten des Alten Testaments: Sie drückte sich in den kulturellen und religiösen Begriffen ihrer Zeit aus und interpretierte die Heilige Schrift im Licht Gottes, indem sie sie auf die verschiedenen Lebensumstände anwandte. Alle, die ihr zuhörten, fühlten sich aufgefordert, einen konsequenten und engagierten christlichen Lebensstil zu praktizieren. In einem Brief an den hl. Bernhard bekennt die rheinische Mystikerin: „Mein ganzes Sein ist in die Schau einbezogen: Ich schaue nicht mit den leiblichen Augen, sondern sie erscheint mir im Geist der Mysterien. … Ich kenne die tiefe Bedeutung dessen, was im Psalter, in den Evangelien und in anderen Büchern dargelegt ist, die mir in der Schau gezeigt werden. Sie brennt wie eine Flamme in meiner Brust und in meiner Seele und lehrt mich, den Text in seiner ganzen Tiefe zu verstehen“ (Epistolarium pars prima, I–XC: CCCM 91).

Hildegards mystische Visionen sind reich an theologischen Inhalten. Sie nehmen Bezug auf die wichtigsten Ereignisse der Heilsgeschichte und bedienen sich in erster Linie einer poetischen und symbolischen Sprache. In ihrem bekanntesten Werk, das den Titel Scivias trägt – das heißt „Wisse die Wege“ –, fasst sie zum Beispiel in fünfunddreißig Visionen die Ereignisse der Heilsgeschichte zusammen, von der Schöpfung der Welt bis zum Ende der Zeiten. Mit den für die weibliche Sensibilität charakteristischen Zügen entfaltet Hildegard im zentralen Abschnitt ihres Werkes das Thema der mystischen Vermählung zwischen Gott und der Menschheit, die in der Menschwerdung Wirklichkeit wurde. Am Baum des Kreuzes vollzieht sich die Vermählung des Sohnes Gottes mit der Kirche, seiner Braut, die voll der Gnade ist und befähigt wurde, Gott neue Kinder zu schenken in der Liebe des Heiligen Geistes (vgl. Visio tertia: PL 197,453c). Bereits aus diesen kurzen Hinweisen ist ersichtlich, dass auch die Theologie einen besonderen Beitrag von den Frauen erhalten kann, denn sie sind in der Lage, mit der ihnen eigenen Intelligenz und Sensibilität über Gott und die Glaubensgeheimnisse zu sprechen. Ich ermutige daher alle Frauen, die diesen Dienst ausüben, ihn mit zutiefst kirchlichem Bewusstsein durchzuführen, ihre Reflexion durch das Gebet zu nähren und den Blick auf den großen, teilweise noch unergründeten Reichtum der mystischen Überlieferung des Mittelalters zu richten, besonders auf den, der durch leuchtende Beispiele wie eben Hildegard von Bingen verkörpert wird. Die rheinische Mystikerin hat noch weitere Schriften verfasst. Zwei von ihnen sind besonders wichtig, weil sie wie Scivias ihre mystischen Visionen wiedergeben: Liber vitae meritorum („Buch der Lebensverdienste“) und Liber divinorum operum („Buch der göttlichen Werke“), auch De operatione Dei genannt. Im Ersten wird eine einzige gewaltige Vision Gottes beschrieben, der mit seiner Kraft und mit seinem Licht dem Kosmos Leben schenkt. Hildegard hebt die tiefe Beziehung zwischen dem Menschen und Gott hervor und erinnert uns daran, dass die ganze Schöpfung, deren Krone der Mensch ist, von der Dreifaltigkeit Leben empfängt. Im Mittelpunkt der Schrift steht die Beziehung zwischen Tugenden und Lastern: Der Mensch muss sich tagtäglich mit der Herausforderung durch die Laster, die ihn vom Weg zu Gott abbringen, und mit den Tugenden, die diesen Weg fördern, auseinandersetzen. Er ist aufgefordert, sich vom Bösen abzuwenden, um Gott zu verherrlichen und nach einer tugendhaften Existenz in das „ganz mit Freude erfüllte“ Leben einzutreten. Im zweiten Werk, das von vielen als ihr Meisterwerk betrachtet wird, beschreibt sie noch einmal die Schöpfung in ihrer Beziehung zu Gott und die Zentralität des Menschen, wobei eine starke Christozentrik biblischer und patristischer Prägung zutage tritt. Die Heilige legt fünf vom Prolog des Johannesevangeliums inspirierte Visionen dar und gibt die Worte wieder, die der Sohn an den Vater richtet: „Das ganze Werk, das du gewollt und mir anvertraut hast, habe ich zu einem guten Ende geführt, und so bin ich in dir und du in mir, und wir sind eins“ (Pars III, Visio X: PL 197,1025a).

In anderen Schriften schließlich offenbart Hildegard die vielseitigen Interessen und die kulturelle Lebendigkeit der Frauenklöster des Mittelalters, was im Gegensatz steht zu den Vorurteilen, die immer noch auf dieser Epoche lasten. Hildegard befasste sich mit Medizin und Naturwissenschaften ebenso wie mit Musik, da sie künstlerisch begabt war. Sie komponierte auch Hymnen, Antiphonen und Gesänge, die unter dem Titel Symphonia Harmoniae Caelestium Revelationum („Symphonie der Harmonie der himmlischen Offenbarungen“) gesammelt sind. Sie wurden in ihren Klöstern mit Freude gesungen, wo sie eine Atmosphäre der Ruhe und des Frieden verströmten und sind auch uns überliefert. Für Hildegard ist die ganze Schöpfung eine Symphonie des Heiligen Geistes, der in sich selbst Freude und Jubel ist.

Die Popularität, die Hildegard in ihrem Umfeld genoss, brachte viele Menschen dazu, sie um Rat zu fragen; daher sind viele ihrer Briefe überliefert. Gemeinschaften von Männer- und Frauenklöstern, Bischöfe und Äbte wandten sich an sie. Viele Antworten sind auch für uns weiterhin gültig. An eine weibliche Ordensgemeinschaft schrieb Hildegard zum Beispiel: „Das geistliche Leben muss mit viel Hingabe gepflegt werden. Am Anfang ist es mühsam und bitter. Man muss manchen Äußerlichkeiten und fleischlichen Gelüsten und anderen ähnlichen Dingen entsagen. Aber wenn man sich von der Heiligkeit faszinieren lässt, dann wird eine heilige Seele die Abkehr von der Welt als süß und erfüllend empfinden. Man muss nur klug darauf achten, dass die Seele nicht verwelkt“ (vgl. E. Gronau: Hildegard, Prophetische Lehrerin der Kirche an der Schwelle und am Ende der Neuzeit, Stein am Rhein 1999). Und als Kaiser Friedrich Barbarossa eine Kirchenspaltung hervorrief, indem er gegen den rechtmäßigen Papst Alexander III. gleich drei Gegenpäpste aufstellte, zögerte Hildegard nicht, ihn von ihren Visionen inspiriert daran zu erinnern, dass auch er, der Kaiser, dem Urteil Gottes unterworfen sei. Mit der Kühnheit, die jeden Propheten auszeichnet, schrieb sie dem Kaiser vonseiten Gottes folgende Worte: „Wehe, wehe der Niederträchtigkeit dieser Gottlosen, die mich beleidigen! Höre, geschwind, o König, wenn du leben willst! Sonst wird mein Schwert dich durchbohren!“ (vgl. ebd.).

Mit der geistlichen Autorität, die ihr zu eigen war, machte sich Hildegard in ihren letzten Lebensjahren auf, um trotz ihres vorgerückten Alters und der Mühsal, die das Reisen bedeutete, zu den Menschen von Gott zu sprechen. Alle hörten ihr gerne zu, auch wenn sie einen strengen Ton anschlug: Sie wurde als eine von Gott gesandte Botin betrachtet. Sie ermahnte vor allem die Klostergemeinschaften und den Klerus zu einer Lebensführung, die ihrer Berufung entsprach. Insbesondere trat Hildegard der Bewegung der deutschen Katharer entgegen. Diese – Katharer heißt wörtlich die „Reinen“ – traten für eine radikale Reform der Kirche ein, vor allem, um Missbräuche durch den Klerus zu bekämpfen. Sie warf ihnen mit harten Worten vor, das Wesen der Kirche verändern zu wollen und erinnerte sie daran, dass eine wahre Erneuerung der kirchlichen Gemeinschaft nicht so sehr durch die Veränderung von Strukturen erlangt wird, sondern vielmehr durch einen aufrichtigen Geist der Buße und einen tätigen Weg der Umkehr. Dies ist eine Botschaft, die wir nie vergessen sollten. Wir wollen stets den Heiligen Geist bitten, dass er in der Kirche heilige und mutige Frauen wie die hl. Hildegard von Bingen erwecke, die in der Wertschätzung und mit dem Einsatz der von Gott empfangenen Gaben ihren eigenen wertvollen Beitrag zum geistlichen Wachstum unserer Gemeinden und der Kirche in unserer Zeit leisten.


[1] Die Katechesen des Papstes sind in dem Buch „Benedikt XVI.: Heilige und Selige – Große Frauengestalten des Mittelalters“ zusammengestellt. Die Veröffentlichung wird mit einem Vorwort von Joachim Kardinal Meisner eingeleitet und ist mit zahlreichen Abbildungen aus der Kunstgeschichte illustriert. Media Maria Verlag, geb., 160 S., Fadenheftung, ISBN: 978-3-9814444-2-1, Euro 19,95.

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